JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 TeilIII:GemeinsinnundEigensinn:ParadoxienderModerne DerMenschistursprünglicheinWir.NurdurchengeKooperationund GemeinsinnorientierunghabendiekleinenGemeinschaftendesHomosapiens überlebenundsichausbreitenkönnen;dashabeichimTeilIderStudieaufzuzeigen versucht. ImTeilIIhabeichzentralehistorischeUmbrücheundEntwicklungeninihren AuswirkungenaufdasZusammenlebenskizziert,indenennunEigensinneineimmer größereBedeutungerfährt.EinigeAspekteundFragengreifeichnunnocheinmalauf: 1. DieEntwicklungvonsozialerUngleichheit,HierarchisierungundHerrschaftim RahmenvonursprünglicheheregalitärstrukturiertenGemeinschaften(Wie entstehenHerrschaftundsozialeUngleichheitbzw.Ungerechtigkeit?) 2. IndividualisierungsprozesseimRahmeneinerursprünglichaufGemeinsinnund KooperationbasierendenGesellschaft(WiekommteszumIndividualismus?Wie gestaltetsichdasVerhältnisIndividuum-Gemeinschaft?), 3. UniversalisierungsprozesseaufderBasisvonursprünglichethnozentrischen OrientierungenunddemexistentiellenGefühlderZugehörigkeitzueinerkleinen, verlässlichenGemeinschaft(WiekommteszumUniversalismusundwiegestaltet sichdasVerhältnisUniversalismusund„Ethnozentrismus“?). Deutlichgewordenistauch,dassdieseEntwicklungenhochambivalentsind:Das „archaischeErbe“bestehttrotzallerVeränderungenfortundbleibt(sicherin veränderterForm)virulent: • AnsprücheaufGleichheit,PartizipationundsozialeGerechtigkeitstoßenaufeine komplexegesellschaftlicheRealitätextremunterschiedlicher(ungleicher) Lebens-undAusgangsbedingungenfürIndividuenundFamilien,eine gesellschaftlicheRealität,diezudemohneHierarchie(d.h.Ungleichheit)nicht funktionsfähigzuseinscheint; • WünschenacheinemEingebettetseinineineenge,verlässlicheGemeinschaft stoßenaufAnsprücheaufindividuelleFreiheitund„Selbstverwirklichung“,diese wiederumbedarfdersozialenSpiegelungundBestätigung; • „ethnozentrischeOrientierungen“bleibenauchinZeitenderGlobalisierung virulent,führeninden„Massengesellschaften“undvordemHintergrundvon Macht-undVerteilungskämpfenimmerwiederzuaggressivenKonflikten, KriegenundMassakernunderschwerendieDurchsetzunguniversaler Verständigung. DieFragennachEntstehungundhistorischerEntwicklungvonHierarchie, IndividualismusundUniversalismusfassendieDarstellungenausdemTeilIInoch einmalzusammen.SiesindalsoteilweiseeinRückblick,dernocheinmalzentrale Thesenfokussiert. DieThematisierungderdamitzusammenhängendenAmbivalenzenundParadoxien,die m.E.dieheutigeZeitprägen,fälltleidernurknappundeherstichwortartigaus.Eine differenzierteAnalysewürdedenRahmendieserStudiesprengen.Ichwerde stattdessenversuchen,dazuineinem(begonnenen)TeilIV(„Gerechtigkeitund Freiheit“)einigephilosophischePositionenundAntwortenzusammenzustellen. 1 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 1. HierarchisierungundEgalität EntwicklungvonMacht-undHerrschaftsstrukturenbeigleichzeitigemAnspruchder GemeinsinnorientierungundEgalität(„Gleichheit“). ArchäologischeFunde(Gräber,GrabbeigabenundRestevonBehausungen)ausdem PaläolithikumundfrühenNeolithikum(vor8.000v.h.)zeigenkeineHinweiseauf stratifizierteGesellschaftenbzw.aufinstitutionalisierteHerrschaft.Diearchaischen Gemeinschaftensindoffenbarrelativegalitärorganisiert.Dieprinzipielle„Gleichheit“ (Gleichstellung)allerMitgliederistGrundlagederKooperationund GemeinsinnorientierungindiesenfrühenExistenzgemeinschaften.DieseGleichheitist einzentralesElementdesIdealsvonHarmoniesichernder„Gerechtigkeit’“(vgl.TeilI,1. und7.Kapitel)1;siebeziehtsichm.E.auffolgendeKernaspektedesZusammenlebens: - AlleMitgliederderGemeinschafthabenbedarfsgerecht„gleiche“Anrechteund ZugriffsmöglichkeitenaufvorhandeneRessourcen(Nahrung,Vorräte,Rohstoffe fürHaus-,Werkzeug-oderWaffenherstellungusw.)-undgleicheAnrechteauf SicherheitundSchutz(z.B.vorGewalt,Feinden,Raubtieren).InNotzeitenwird „gerecht“analleverteilt.Heutesprechenwirvon„Verteilungsgerechtigkeit“bzw. von„sozialerGleichheit“bezogenaufdieGrundbedürfnissedesLebensund Überlebens“. - AlleMitgliederderGemeinschaftwerdenbeiStreitigkeiten,Vergehenoder Gewalttatenusw.nachdentradiertenNormenundRegelnderSozietätgleich behandelt.EsherrschtkeinewillkürlicheBevorzugungoderBenachteiligung einzelner.HeutesprechenwirvonderGleichheitvordemGesetz. - AlleMitgliederhabendieMöglichkeit,am„öffentlichen“Lebenteilzunehmenund sichanDiskussionenundEntscheidungen,diedieGemeinschaftbetreffen,zu beteiligen.(DaswirdsichernichtimmerimvollenUmfangzutreffen!)Heute sprechenwirvon„politischerGleichheit“. - DieVerteilungvonAufgaben,Pflichten,BelastungensowievonRechtenund BefugnissenerfolgtinnerhalbderGemeinschaftnichtwillkürlich,sondern „gerecht“imSinnedertradiertenRegelnundderquasinaturwüchsigen Arbeitsteilung.Dieseorientiertsichi.d.R.anGeschlecht,Alter,individueller LeistungsfähigkeitoderBeeinträchtigung. UnsereheutigenVorstellungenvonGleichheitundGerechtigkeitsindsichersehrviel komplexerundvielstärkerformalisiert.IndenfrühenSozietätenhatesdurchaus „Ungleichheit“bezogenaufdieo.g.Kernaspektegegeben:beibesonderenindividuellen LeistungenundVerdiensten,z.B.erfolgreicheJäger,Krieger,Heilkundige, (LeistungsprinzipalsBegründungfürUngleichheit)–oderinbesonderenNotfällenoder Bedarfslagen,z.B.VersorgungvonUnfallopfern,Kranken,Kleinkindern, (BedürfnisprinzipalsBegründungfürUngleichheit).AberdieseUngleichheitensind wederwillkürlichnochimSinnedauerhafterund„vererbter“Privilegienoder Diskriminierungeninstitutionalisiert. 1GleichheitundGerechtigkeitsindunterschiedlicheKategorienundnichtidentisch.Gleichheit (Gleichstellung)giltgemeinhinalswichtigesElementfürdasIdealbzw.denWertoderdassubjektive Empfindenvon„Gerechtigkeit“.MitunterkannUngleichheitals„gerecht“empfundenwerden,wennsie mitbestimmtenindividuellenLeistungenoderBedarfslagenverbundenist,dieallgemeinakzeptiert werden–oderGleichheit(z.B.beiderVerteilungvonRessourcen)erscheint„ungerecht“,wennsiediese entsprechendeberechtigteundanerkannteUnterschiedeignoriert. 2 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 DasAlltaghandelnorientiertsichvermutlichwenigeranbewusstkommunizierten WertenundNormen(„Gleichheitwahren,damitesgerechtzugeht!“),alsaneiner selbstverständlichenGemeinsinnorientierung.„Gerecht“(=richtigundangemessen)ist alles,wasFriedenundHarmonieinnerhalbderGemeinschaftsichert,wasden ZusammenhaltunddieZusammenarbeitfördert. DasursprünglicheheregalitäreMusterzwischenmenschlicherBeziehungeninkleinen Gemeinschaften(Gemeinsinnorientierung,„archaischesWir“)wird entwicklungsgeschichtlichinrelativkurzerZeitaufgelöstinz.T.extremen Hierarchisierungen.DürftenamEndederletztenEiszeitvorrund12.000Jahrendie damalsvielleichtrund1Mio.(ggf.auch5Mio.)Menschenweltweitausschließlich–so wieinJahrzehntausendenzuvor–inrelativkleinenGemeinschaftengelebthaben,so entstehenschonwenigetausendJahrespäterGroßgesellschaftenmitvielenMillionen Einwohnern,mitgottähnlichenHerrschernundstarrenHierarchisierungen.Die GesellschaftstrukturiertsichalsKlassengesellschaft,egal,obsicheineAlleinherrschaft odereineOligarchievonAdelsfamilienetabliert. DieserProzessfindetzumTeiloffenbarvölligunabhängigvoneinander(!)infastallen dichterbevölkertenRegionenderErdestatt.ErstehtaufeklatanteWeiseim WiderspruchzurursprünglichenGemeinsinnorientierungundzurTraditionsozialer Gleichheit.IchhabeunterRückgriffaufbekannteÜberlegungendarzulegenversucht, wieesdazukommenkonnte.InjedemFalldürftemitderHierarchisierungeine(wie auchimmerbeimHomosapienslatentodermanifestvorhandene)Neigungzu pointierterindividuellerNutzenoptimierungundzueinemfürPrimatenansich typischenRangordnungsverhaltenwiederbelebtoder„entfesselt“wordensein. IndividuelleUnterschiede(auchimHinblickaufAggressivität,Durchsetzungsvermögen, Empathie,Intelligenzusw.)findennunzunehmendRahmenbedingungenzurEntfaltung undleiteneinensichselbstreproduzierendenProzesshinzusozialerUngleichheitein: SinddieLebensbedingungenerstmalunterschiedlichundungleich,reproduziertsich sozialeUngleichheitauchohnedirekteGewalt„vonselbst“(durchdiejeweiligen familiärenBedingungen,dieunterschiedlichenRessourcenusw.). IchblickezunächstnocheinmalauffolgendeFragen: • WieentstehenHerrschaftundHierarchisierungindeneheregalitären Gemeinschaftenundwiesokönnensiesichdurchsetzen? • WieüberdauerndieursprünglichenIdeenderGleichheitundGerechtigkeitundder „Volkssouveränität“(bzw.kollektiveSelbstbestimmung)dieseEntwicklung? • WiestelltsichheutedasVerhältnisvonGleichheitundUngleichheit,vonHerrschaft undFreiheitbzw.Partizipationdar? ZudiesenFragensollenimFolgendeneinigeGedankenundAnregungenvorgestellt werden. 3 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 (1)WieentstehtHerrschaft?–Die„K+K-Hypothese“ „Herrschaft“meintinstitutionalisierteundlegitimierteMachtausübung.DerBegriffgeht wohlauf„hehr“(=ehrenvoll,würdevoll)zurück,meintalsoursprünglichein ehrenvollesAmt,istaberzugleichmit„Herr“verbunden,alsopatriarchalischkonnotiert. HerrschaftentstehtimVerlaufderEntwicklungvonAckerbauundViehzuchtund insbesonderevonHochkulturensukzessive,fastschleichendaufderBasiseiner Überschussproduktion.Vielerortsbildensog.„Chiefdoms“,einvererbtesHäuptlingstum (einHäuptlingbeherrschtmehrereDörfer),eineZwischenstufezwischengrundsätzlich eheregalitärausgerichtetenGemeinschaftenundsozialerElitebildung.Daraufgeheich hiernichtweiterein.2 ArchäologischzeigtsichdieEntwicklungundEtablierungvonHerrschaftvorallemin besonderenGrabanlagenundGrabbeigaben:DieGrabanlagenderGottkönigein Altägypten(Pyramiden)undChina(MausoleumQinShihaungdismitdersog. Terrakotta-Armee)3gehörenzudengrößtenBauwerkenderAntike!Zudemlassensich nunindenZentralortenpalastartigeMonumentalbautennachweisen.Darüberhinaus werdenHerrscherundihremeistmilitärischenTateninReliefsundStelensowie anderenKunstformen(z.B.Wandmalereien)dargestellt.InetlichenRegionen(z.B. China,Mittel-undSüd-Amerika:vgl.„FürstvonSipan“derMoche-Kultur)müssenden verstorbenenHerrschernvieleBediensteteundKonkubinenindenTodfolgen,um ihnendortimJenseitsweiterhinzudienen(„Totenfolge“).Siewerdenermordetoder lebendigbegraben.4 ÜberdieOrganisationundDurchführungvonkultischenZeremonien(-dazusind „Geheimwissen“undbesonderemagischeFähigkeitennötig!)und,damitverbunden, überdieLeitungundKoordinationvonGemeinschaftsaktivitäten(BauundPflegevon BewässerungsanlagenoderTerrassen;OrganisationderVerteidigungoderLeitungder AuswanderunginandereRegionen)erlangeneinigeMännerundihreFamilieneine besondersgeachteteStellung,diebaldauchmitgewissenPrivilegienverbundenist. DauerhafteHerrschaftentstehtindenzunächstrelativegalitärenGemeinschaftenm.E. primärausdengroßengemeinsamenZeremonien,diedieUnterstützungderGötterund damitdasÜberlebenderGemeinschaftsichernsollen.DazukommendieMitgliederder KultgemeinschaftenregelmäßiganzentralenOrtenzusammen.Hierwerden gemeinschaftlichgroße,oftgigantischeKultanlagen(Tempelpyramidenu.a.)errichtet, umdenGötternzuopfern.ImZusammenhangvonKultundProduktion(oft Bewässerungsfeldbau)sichertdieGemeinschaftunterAnleitungkultischerFührer(das könnenzunächstauchFrauensein!)ihreExistenzundvergewissertsichihres Zusammenhalts.DenKultführernobliegtdabeiinderRegelauchdieLagerungund VerteilungderÜberschüsse,dieteilweiseebenauchfürdieKultfeiernreserviertund zentralgelagertwerden!TempelsindnichtseltenzugleichVerwaltungsstellender Güterverteilung,sieverfügenüberdieÜberschüsse!Siekontrollierenundregistrieren dieAbgabenderBauernoderDorfgemeinschaftenunddieTributzahlungender besiegtenStädteundTerritorienundsteuerndenEinsatzvonKriegsgefangenen (Sklaven). DiePrivilegien(=„Vorrechte“wieMacht-bzw.Entscheidungsbefugnisse,Entlastungvon Arbeit,VerfügungüberLuxusgüter,GeheimwissenderKultdurchführungusw.)sind 2https://de.wikipedia.org/wiki/Häuptlingstum 3https://de.wikipedia.org/wiki/Mausoleum_Qin_Shihuangdis 4http://www.indianer-welt.de/sued/mochica/moche-sipan.htm 4 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 überall,daszeigtderBlickindieGeschichtedersog.Hochkulturen,sowirkmächtig,dass Herrscherfunktionenbaldvererbtwerden,alsoineinzelnenFamilienbleiben–und wennnötigmitGewaltdurchgesetztwerden(-werüberentsprechendeRessourcen verfügtkannbekanntlichseineInteressenauchmitgekaufterGewaltdurchsetzen). Indenfrühensog.HochkulturenistdieEntwicklungvonabsolutistischerHerrschaft Einzelnerbzw.ihrerFamilien(Dynastien)engverbundenmitderEntwicklungeiner striktenKlassengesellschaft,alsovonrigorossepariertensozialenSchichten,Kasten oderKlassen,denenjederMenschperGeburtzugeordnetwird:Meisthandeltessichum einekleineOberschicht(adligeElite)undeineUnterschicht(dieMasseder produzierendenBauernundHandwerker),dazukommenggf.weitereSchichtenwie Händler,VerwaltungsbeamteundPriesterusw.–sowieSklaven.Sklavenkönneneinen unterschiedlichenStatushaben,siesindnichtüberallvölligrechtlos.Oftwerdenweitere differenzierteSchicht-oderKastenunterteilungenvorgenommen. DurchvorgeschriebeneKleidungundAusstattung,vorgegebeneWohnviertelund vielerleispezifischeRechteundPflichten(z.B.militärische)wirddieSpaltungder Gesellschaftzementiert.SchwerpunktmäßigkonzentriertsichdieKlassenzuordnung überzulässigeodernichtzulässigeAufgaben,ArbeitenundEheschließungen;ein sozialerAbstiegistmöglich,einAufstiegnurinseltenen,strenggeregeltenAusnahmen. Interessantist,dassz.B.gemeinsameMahlzeitenimindischenKastenwesen(4Kasten bzw.VarnasmitjeweilsvielenUntergruppen=Jatis)ursprünglichnurzwischen MitgliederdergleichenKasteerlaubtsind. DiesesehrstarreStratifizierungscheintfürlangeZeitdaseinzigeKonzeptzusein,in denneuenGroßgesellschaften„geordneteVerhältnisse“zuetablieren.Ichhabedarauf hingewiesen,dassdiesestarreRegelhaftigkeitanRitualeerinnert,die KontingenzerfahrungenundChaosängstebewältigenhelfen.SozialeOrdnunginden großenGemeinwesenundStaatenscheintzunächstnurüberstrengritualisierteAbläufe undStrukturenherstellbarzusein. MeinezentraleTheseistalso:HerrschaftentstehtinersterLinieausdemKult,genauer ausderOrganisationundspirituellenLeitungdergroßenreligiös-kultischen Zeremonial-undOpferfeste,diedenZusammenhaltderaufAckerbaubasierenden GemeinschaftenzelebriertunddenSchutzderGötterunddamitdieExistenzder Gemeinschaftsichert. EsgibtabernocheinenzweitenWegderEntstehungvonHerrschaft(undPatriarchat). HerrschaftkannauchausEroberungundKriegresultieren.Trägersinddann insbesonderemobileHirtennomaden,diesichaufRaubundÜberfällespezialisieren oderentsprechendeGelegenheitennutzen.GroßviehherdenwerdeninderRegelvon bewaffnetenMännernbewachtundbegleitet,diemitihremVieh(Rinder,Kamele, Pferde)oftweiteEntfernungenzurücklegen,alsosehrmobilsind.Solche Hirtennomadensindimmer(?)patriarchalischstrukturiert.Zudemkönnenzuvor sesshafteGemeinschaftendurchklimatischeVeränderungen(oftdurchandauernde Dürre),NaturkatastrophenoderandereEreignisseinBewegunggeraten,inandere Regioneneinwandernundsichdortfestzusetzenversuchen.Auchhierbeispielen bewaffneteMännergruppeneinezentraleRolle. DieVorfahrenvielerHochkulturenimNahenOsten,IndienundinEuropa(Hethiter, Mitanni,Griechen,Perser,Indoarieru.a.),aberauchderMaya,derAztekenundderInka inMittel-undSüdamerikasindzugewandertundhabenübereinestarkmilitaristische StrategiedieHerrschaftüberansässigeKulturenübernommenundausgeweitet.Die AnführerdieserkriegerischenGruppenetablierensichdannoftalsHerrscherauchin 5 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 Friedenszeiten.DerTiteldererstenInka-Herrscherlautet„Sinchi“=„Kriegsherr“,erst spätereHerrschertragendenTitel„SapaInka“=„ErsterInka“.RobertGraves („GriechischeMythologie“)vermutet,dassGötternamenwie„Zeus“oder„Poseidon“ ursprünglichdieNamenvonKriegsherrnderinsvorindoeuropäischeGriechenland eindringendenGriechengewesensind. IndiesenKulturenkönnenpolitisch-militärischeundreligiös-kultischeFührung verbundenodergetrenntsein;aberauchmilitärischeErfolgewerdenalsUnterstützung derGöttererlebtundentsprechendindenMythendargestelltundimKultzelebriert.Die Geschichte(z.B.derrömischenoderchinesischenHerrschaftsfolgen)zeigt,dass HerrschafteinerseitsüberFamiliendynastienvererbt,andererseitsübererfolgreiche Kriegsherrnokkupiertwird. InteressantistindemZusammenhang,dassz.B.auchderbisheuteanhaltendeKonflikt zwischenSunnitenundSchiitenimIslamauseinemStreitumdieLegitimitätder NachfolgedesProphetenMohammedresultiert:WährenddieSchiiten(Schiat-Ali= AnhängerAlis,desSchwiegersohnsdesPropheten)nurdiefamiliäreLinieder nachfolgendenHerrscher(KalifenundImame)anerkennt,akzeptierendieSunniten letztlichdiepolitisch-militärischerfolgreicheNachfolge. Einmaletabliert,reproduziertsichHerrschhaftfastautomatisch:zuverlockendsinddie PrivilegienfürEinzelne,ihreFamilienundAnhängerundzuverführerischistdie narzisstischeBefriedigung,„ganzoben“zustehenals„Auserwählter“derGötter. Dasmeineichmitderetwasflapsigformulierten„K+K-HypothesederEntstehungvon Herrschaft“:Kultund/oderKriegsindderMotor;regelmäßigeÜberschussproduktionist dieVoraussetzung. IchsprechehiervonmännlichenHerrschern,dadiesdieRegelist.Eshatallerdingsin etlichenKulturenauchHerrscherinnengegeben(z.B.dieals„SenoradeCao“bekannte MumieausderMoche-KulturinPeruca.500/600n.Chr.).Bekanntsindauchdie einzelnePharaoninnen(wieHatschepsut),derenHerrschaftallerdingsauseiner dynastischenSondersituationentsteht.Ähnlichesgiltwohlfürvieleandere Herrscherinnen.(ZuhistorischenAnnahmeneines„Matriarchats“habeichmichschon imTeilII,Kapitel2derStudiegeäußert.) SoodersoistHerrschaftalsozunächstandieGemeinschaftgebundenunddadurch legitimiert.SieistmitPrivilegienverbunden,dievonderGemeinschaftmitgetragenund unterstütztwerden,wirdaberimmermehrzumSelbstzweck–underzwingt irgendwann(ggf.gewaltsam!)dieZustimmungderGemeinschaft. (2)AkzeptanzvonHerrschaftundUnterwerfung Wiesoakzeptiertbzw.erträgteineJahrtausendelangaufGemeinsinn„geprägte“ Gemeinschaft„plötzlich“denHerrschaftsansprucheinerElite? DieEntwicklungistinunterschiedlichstenKulturenoffenbarsehrähnlichverlaufen.Der HerrscheristzunächstnurgeachteterKult-oderKriegsführer:vonseinenkultischen KenntnissenundFähigkeitenodervonseinenkriegerischenErfolgen,d.h.auchvon seineroffenbarvorhandenenbesonderenBeziehungzudenGöttern,hängtdasWohlder Gemeinschaftab. DernächsteSchrittistdieApotheose(=„Vergötterung“:ErhebungeinesMenschenzum Gott):BehauptetwirddieeigenemythischeAbstammungvondenGöttern,dieeigene GöttlichkeitoderdochGottähnlichkeit.SiewirdimMythosderGemeinschaft„erzählt“ 6 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 undvonGenerationzuGenerationweitergegeben–undindieKulteintegriert.5Wie schnelldieseApotheoseablaufenkann,erlebenwirauchheuteimmerwieder,indem lebendeoderverstorbenepolitischeFührervonihrenAnhängernwieGötterverehrt werden;Kim-il-SunginNordkoreaoderMao-Tse-tunginChinasindnurzweiBeispiele. DieKultemüsseneindrucksvoll-schreckliche,hochemotionaleEreignissegewesensein, verbundenmitOpferhandlungenundFestgelagen.Opferkulte(inklusive Menschenopfer)sindzumindestseitderEntstehungdersog.Hochkulturenweltweit verbreitet.DieKultesindnunimmerauchDarstellungbzw.Zelebrierungder GöttlichkeitdesHerrschers. ImMythosderInkaistderersteInkaherrscherderSohndesSonnengottesInti, zusammenmitseinerSchwester(!)wirderaufdieErdegeschickt,umdieMenschheitzu retten.(Kommteinemirgendwiebekanntvor.)JederInkaherrscheristverpflichtet,eine seinerSchwesternzuheiraten.NurausdieserBeziehungerhaltenneueInkaherrscher ihreLegitimität.DerinstitutionalisierteInzestsichertdieReinheitdergöttlichen Abstammung.DieInka-HerrscherundvorallemihreAhnenwerdenalsgöttlichverehrt; demSapaInkadarfmansichnurbarfußundmiteinersymbolischenLastnähern;er sprichtdieGesprächspartnerauchniedirektan,sondernverbirgtKörperbzw.Gesicht hintereinemStoff.DaskostbareGewandwirdtäglichgewechselt,dieKleidung,ebenso seineSpeiserestewerdensorgfältiggesammeltundjährlichimRahmeneinergroßen Feierverbrannt.6 Esistbezeichnend,dassHerrschaftzunächstüberall(?)mythologisch-religiös begründetwird.DieoffenkundigeBeseitigungoderEinschränkungdesursprünglichen GemeinsinnssiehtsichoffenbarvonAnfanganLegitimationserfordernissenausgesetzt. DieextremeHierarchisierungderGesellschaftmitgottgleicherPositionderHerrscher vielerImperien(z.B.PharaoinÄgypten,PriesterkönigeinMesopotamienundMittel- undSüd-Amerika,römischeundchinesischeKaiseru.a.)wirdausdemMythosoderder Religionabgeleitet.„Hierarchie“wirdhieralsowörtlichgenommenundlegitimiertals „heiligeHerrschaft“;derHerrschervertrittdieGottheit,istSohndesGottesoderwird selbstalsGottverehrt. DasFortbestehenderGemeinsinnorientierungzeigtsichallerdingsinverschiedenen Ritualen,denenselbstgottgleicheHerrscherunterworfensind;jaeigentlichliegtihre AufgabeundLegitimitätursprünglichgenaudarin,dasWohlderGemeinschaft sicherzustellen.ZumindestderScheinmussgewahrtwerden,dasgiltselbstfür rücksichtslosegoistischeDespoten;heutelassensichdieseinScheinwahlendie „Zustimmung“desVolkesbestätigen. AuchwodieHerrschernichtzugleichGottoderOberpriestersind(z.B.imeuropäischen Mittelalter)werdenihreHerrschaftunddieHierarchisierungderGesellschaftals „gottgewollt“dargestellt.DieursprünglicheZustimmungderGemeinschaftwirdnun alsozueinerZustimmungGottesoderderGötter!DasVolkjedenfallsakzeptiertdiese gottgewollteHerrschaftweitgehend;wermagsichschongegendieGötterstellen?Zur NotwirdmitGewaltundgrausamenStrafennachgeholfen. DieextremstarreHierarchisierungderGesellschaft(Klassen,Kasten)schafft selbstverständlichspezifischeSozialisationsbedingungen,durchdiesichderjeweilige 5AlleKulturenundSozietätenerfindenbzw.erdichtenErzählungenübersichselbst(Mythen).Ineiner MischungausRealitätbzw.ErinnerungundVisionbeschreibensieihreHerkunft,ihreherausragenden BesonderheitenundihreerhoffteZukunft(vgl.Exodus-MythosderIsraeliten).ImMythosbeschreibtund beschwörtdieGemeinschaftihreVerbundenheitundihrenZusammenhalt. 6https://de.wikipedia.org/wiki/Inka 7 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 sozialeRangreproduziert.AufdiesepsychodynamischeSeitederReproduktionvon Herrschaft,dieinneuererZeitjaunteranderemunterdemStichwort„autoritärer Charakter“(E.Fromm)diskutiertwird,geheichhierabernichtnäherein.Mitgeht’shier umdenursprünglichmythologisch-religiösenAspektderHerrschaftundihregöttliche Legitimation. Dasheißtaberauch:ErstalsdieseGötterweltinsWankengerät,alsZweifelaufkommen anderAllmachtderGötterodergaranihrerExistenz,geratenauchdieGöttlichkeitder HierarchieundHerrschaftinsWanken,wächstderMutzumWiderstand. (3)WiederbelebungegalitärerundherrschaftskritischerIdeale Wiekommtes,dasssichzumindestindereuropäischen(bzw.sog.abendländischen) KulturdieursprünglicheGemeinsinnorientierungunddieIdeenvonsozialer GerechtigkeitundGleichheitwiederbeleben:inFormvondemokratischenundsozialen, undheutzutageauchökologischenBewegungen?DieIdeenderVolkssouveränitätund Demokratiewendensichzunächstgegenscheinbargottgewollteautokratischeund tyrannischeHerrschaftsformenundzielenaufformaleGleichheitundkollektive Selbstbestimmung.SiegehenaberauchimZugederhistorischen IndividualisierungsprozessemiteinerimmerstärkerwerdendenGewichtung persönlicherFreiheitundindividuellerRechte(Menschenrechte)einherundmitder IdeeeinerquasinatürlichenWürdejedeseinzelnen(Menschenwürde).Dasletzteistm. E.deninverlässlicheKollektiveeingebundenMenschenprämodernerGesellschaften vermutlichvölligfremd.ImGegenteil:Insbesonderetraditionellverfeindetenoder verachtetenNachbargruppenwirdderMensch-Statusabgesprochen,siewerdennicht seltenals„Monster“oderTierwesenbeschrieben. AberdieIdeenderVolkssouveränität,dersozialenGleichheitundGerechtigkeitkönnten sozusagenarchaischeWurzelnhabenbzw.auchnachJahrhundertenderDespotie,der gottgleichenHerrschaftundRepressionimkollektivenGedächtnisbewahrtwordensein. (Ichweiß,eineetwasgewagteThese–mehreinGedankenspiel!) DieIdeederVolkssouveränität:EntwicklungzuDemokratieundFreiheit IchkannundwillhiernichtdieeuropäischeoderwestlicheEntwicklungderDemokratie (hier:Selbstbestimmungdes„Volkes“)nachzeichnen,nurineinigenStichwortenan einigeQuellenunddemokratischeTraditionslinienerinnern. IchseheimWesentlichenzweiQuellen:Dieeinekommtausdergriechischenund römischenTradition,dieandereausderchristlichenbzw.jüdisch-christlichenTradition. DaraufbinichimTeilIIderStudieimExkurs„VonderAntikezurModerne“bereitskurz eingegangen. InderPolisAthenkommtesimZugevonMachtkonfliktenzueinersukzessiven EntmachtungderOligarchievonAdelsfamilienundzueinerpartiellenWiederbelebung derGemeinschaftderBürger,dieallerdingsnichtalleMitgliederderPoliseinschließt undRechtederBürgerauchgemäßEinkommensklassendefiniert.Dennoch:Über umfassendeBeteiligungsrechtedermännlichenBürger(Mitwirkunginder „Volksversammlung“,inden„Volksgerichten“,im„Ratder500“)undeinausgeklügeltes SystemderMachtkontrollefindeteinesehrrationaldurchorganisierteNeugestaltung derGemeinschaftstatt,werdenGemeinwohlorientierungundinAnsätzenauchegalitärdemokratischePrinzipien(Volksabstimmungen)wiederbelebt.Allerdingsgenießennur 8 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 maximal25%derEinwohnerderPolisAthendieseBürgerrechte,Frauen, Zugewanderte,SklavenundandereGruppensindausgeschlossen.Demokratieistin AthenprimäreinKonstruktzurVerhinderungvonTyranneiundvonAlleinherrschaft einigerwenigeradeligerFamiliendynastien.AberdiesesKonstruktistenggekoppeltan ErfahrungenvonindividuellerPartizipationundFreiheit. AufdemokratischePrinzipienbeidenRömerngeheichauchhiernichtnäherein.Ein zentralerAspektist,dassdieRömer,vielleichtnachdemVorbildAthens,eine detaillierteVerrechtlichungvonHerrschaftsstrukturenundderBürgerbeteiligung vornehmen.SelbstzuZeitendeskaiserlichenImperialismussinddieKaisergenötigt, bestimmteRechtsvorgabeneinzuhalten.DieserVersucheinersystematischen VerrechtlichungpolitischerEntscheidungsprozessewirdeinzentralesElementder europäischenModerneundderdurch„Verfassungen“geprägtenDemokratien. DiezweiteQuelle„demokratischer“Strukturenseheich,wennauchnichtohneZweifel, imfrühenChristentum,zumindestsolangedieGläubigenverfolgtwerdenundihre ReligionnochnichtStaatsreligionist. Der„Bischof“,heuteeinehochrangigePositioninderKirchenhierarchie,istzunächstnur der„Aufseher“(grie.episcopos“),derAnerkanntesteunterdenÄltesten(grie. presbyteroi“,daherheute„Priester“)derGemeinde,einprimusinterpares.Undder Gemeinde(unddenÄltesten)gehörenzunächstganzselbstverständlichauchFrauenan. AllerdingsistderBegründerdesChristentumsalseigenständigerReligion,Paulus,alles anderealsdemokratischgesonnen.ImRömerbrief(13,1)schreibter:„Jederleisteden TrägernderstaatlichenGewaltdenschuldigenGehorsam.Dennesgibtkeinestaatliche Gewalt,dienichtvonGottstammt;jedeistvonGotteingesetzt.Wersichdaherder staatlichenGewaltwidersetzt,stelltsichgegendieOrdnungGottes,undwersichihm entgegenstellt,wirddemGerichtverfallen.“JedeHerrschaftistalsovonGotteingesetzt undGehorsamistGewissenspflicht.MartinLutherwirdJahrhundertespäterdieses Obrigkeitsdenkenerneutrechtfertigenbzw.fordern. ImMittelaltersindesvorallemdie(christlich-rationalen)Scholastiker,diesichu.a.mit FragennachdemUrsprungundderLegitimitätdesStaatesundvonHerrschaftbefassen; einigeleitenaustheologischenReflexionen(erstmals?)dieIdeeder„Volkssouveränität“ ab. FürWilliamvonOccam,gest.1347,undMarsiliusvonPadua,gest.1342,istdie SouveränitätdesVolkeseinNaturrecht:VordemSündenfalllebtendieMenschenin harmonischer,egalitärerGemeinschaft,nachdemSündenfallkannnurderStaatundein vonderGemeinschaftlegitimierterHerrscherChaosundUnordnungverhindern.Der KönigmussdahervomVolkgewähltoderernanntwerdenunddannzumWohledes Volkesregieren,allerdingsdurchausmitabsoluterMacht.„Volkssouveränität“meint hieralsolediglichdieLegitimationderHerrschaftdurchdasVolk,nichtdie demokratischeBeteiligungdesVolkesanEntscheidungsprozessen.7 EntscheidendfürdieEntwicklungvonDemokratieundFreiheitimsog.Westenistnach H.A.Winkler(„GeschichtedesWestens“)dieIdeederGewaltenteilung.Ersiehtsie letztlichebenfallsimChristentumbegründet(Jesustrenntzwischendemweltlichen ReichdesKaisersunddemReichGottes,Mt.22,18-21).DasKonzeptder GewaltenteilungistfürWinklerdiewesentlicheGrundlagefürindividuelleund ständisch-korporativeFreiheitenderBürgerinMittel-undWesteuropaimMittelalter. DieFreiheitsspielräumeentstehenimWesten,weilKaiserundPapst,alsopolitischeund 7vgl.MaxBeer,„AllgemeineGeschichtedesSozialismusunddersozialenKämpfe“,1931,S.182f. 9 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 kirchlicheMacht,sichüberlangeZeiträumeneutralisieren(Investiturstreit)–dasistim Ostenanders!DieTrennungvonstaatlicherundkirchlicherMachtisteineEntwicklung desWestens. Der„dualistischeGeistdesAbendlandes“(O.Hintze)zeigesich,soWinkler,abernicht nurinderTrennungvongeistlicherundweltlicherMacht,sondernauchinder TrennungderweltlichenMachtinHerrschereinerseitsundVasallenbzw.Vertretervon AdelundBürgertum(„Stände“)andererseits,zudemauchinderTrennungvon gutsherrlicher(Adelsgüter)undbäuerlicherLandwirtschaft.Winklerbetont:Dieser innerweltlicheDualismus„trägtdenKeimderFreiheit“insich.Wichtigist,dass Gewaltenteilungverrechtlichwird. DieMagnaChartavon1215,inderderenglischeKönigdenrebellischenBaronenetliche Rechtezugestehenmuss,istsoeinRechtsdokument.SieleitetdieEntwicklungdes westlichenParlamentarismusundderrepräsentativenVerfassungein.Der Kronvasallenrat,dieVertretungderBarone,mussnunbeiallenwichtigen EntscheidungendesKönigsbefragtwerden,etwabeiderErhebungvonAbgabenoder beiderGefangennahmeoderEnteignungvonfreienMännern. DieweitereEntwicklungseinurinStichwortenangefügt. EssinddannvorallemdieEntwicklungeninEngland(„GloriousRevolution“1689,„rule oflaw“,Parlamentarismus),inNordamerika(AmerikanischeUnabhängigkeitserklärung 1776)undFrankreich(Aufklärung1750-80undFranzösischeRevolution1789),die dieIdeenvonDemokratieundSelbstbestimmungpopulärmachen–auchhiernoch ohneEinbeziehungderFrauenundderSklaven. BarondeMontesquieu,gest.1755,formuliertinseinem,vonderKircheverbotenen Buch„Del’espritdeslois“dieGewaltenteilungzwischenLegislative,Exekutiveund Judikative.FürMontesquieuistsieeinKonstrukt,umsowohlAbsolutismusalsauch „Pöbelherrschaft“zuverhindern.HeuteistsieeinKernelementderDemokratieundder persönlichenFreiheit. MitderAufklärungunddengenanntenpolitischenEntwicklungenkommendieIdeen derMenschenwürdebzw.derMenschenrechteinsSpiel,dieMeinungsfreiheit,die PressefreiheitundindemZusammenhangdiebürgerlicheÖffentlichkeitalszentrales InstrumentimChorderDemokratie.EigentumwirdzumNaturrecht.Rechtssicherheit wirdVoraussetzungfürwissenschaftlicheForschungundkapitalistisches Unternehmertum.NochsindDemokratie,FreiheitundMenschenrechtevorallem KampfinstrumentedesBürgertums,seinerunternehmerischenInteressen,undder nationalenBefreiungsbewegungen. ZentraleErgebnissedieserEntwicklungundEckpunktemodernerdemokratischer Verfassungensindm.E.u.a.folgendeIdeenundPrinzipien. - MenschenwürdeundMenschenrechte,siegeltenfürjedesmenschliche IndividuumundbegründenseineFreiheitbzw.Freiheitsansprüche,seinRecht aufkörperlicheUnversehrtheit,aufBewegungs-,Religions-undMeinungsfreiheit usw., - derVolkssouveränität:inFormdirekterVolksabstimmungen,wievonJ.J. Rousseauim„Contratsocial“formuliert,oderalsparlamentarischeDemokratie nachenglischemMuster, - MöglichkeitenindividuellerPartizipationanderVerwaltungundGestaltungdes Gemeinwesensbzw.Staates, 10 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 - Rechtssicherheit(„ruleoflaw“):DazugehörenderrechtlichabgesicherteSchutz desEigentums,dieEinhaltungvonVerträgen,dieUnabhängigkeitder Rechtsprechung,dieVerpflichtungauchderMächtigenaufdasGesetzusw. - strikteGewaltenteilung(m.E.fastnirgendsidealumgesetzt) - freieÖffentlichkeitundöffentlicheDiskurseallerrelevantenAngelegenheiten: Meinungs-undPressefreiheit,FreiheitderForschungusw.(direkteundmediale Öffentlichkeit;fachwissenschaftlicheDiskurseinderscientificcommunity). BegriffewieDemokratiebzw.VolkssouveränitätlassensichvielleichtmitetwasMühe nochandieAlltagspraxisunddasSelbstverständnis derarchaischenundprämodernen Gemeinschaftenanschließen.DieGemeinschaftenberatenundklärenihre„politischen Angelegenheiten“kollektivundtendenziellegalitär.AberdieVorstellungenvon individuellenFreiheitsrechten,diejabedeuten,dassmansichgegendasKollektiv wendenodervonihmabwendenkann,sindm.E.neubzw.„modern“.Letztlichgiltdas sicherauchfürdiemeistenanderenbeispielhaftgenanntenKernpunktemoderner Demokratien.SiekonstituiereneineneueGemeinschaftformalgleicherundfreier Individuen(BürgerinnenundBürger)–allerdingsaufderBasiserheblicher UnterschiedeindenLebensverhältnissenunddamitindenLebenschancen.Die deutlichenundtendenzielleherzunehmendenUnterschiedebetreffendieEigentums- undVermögensverhältnisse,dieArbeits-undBerufs-und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten,dieChancenaufökonomischeundpolitische Karriere,dassog.sozialeundkulturelleKapitalusw.Sieführenfaktischzuerheblicher sozialerUngleichheit,eineFolgederkapitalistischenLogik,diezugleichanindividuelle Freiheitgebundenist.IndemderKapitalismusaberzueinererheblichen,historischnie dagewesenenVerbesserungdesLebensstandardsführt(Wohlstandfüralle!),undeine nunmöglicheSozialgesetzgebungschlimmsteHärtenabfedert,verlierenreproduzierte sozialeUngleichheitenanpolitischerBrisanzundSprengkraft. Demokratieschafftzwaru.a.aufdemFeldderdemokratischenMitbestimmung (Volksabstimmungen,WahlenzuParlamentenusw.)undweitgehendauchimBereich derRechtsprechungformaleGleichheit,siekannabernichtgrundlegendesozialeund ökonomischeUngleichheitaufheben,siekannsieallenfallssozial-undreformpolitisch abmildern. SoführtdieDemokratisierungalsRückgewinnungderSouveränitätdesKollektivsbzw. derGemeinschaft,indemsiemitderkapitalistischenProduktionsweiseverbunden bleibt,zuzunehmenderUngleichheit.AusderPerspektivedesarchaischenWiristdas eineparadoxeEntwicklung!DerGewinnanVolkssouveränitätundindividuellerFreiheit wirderkauftmitsozialerUngleichheitundmitvielfältigenUngerechtigkeitenund Benachteiligungen(z.B.fehlendeChancengleichheitinBildungundKarrierechancen). ImTeilIVderStudie„Freiheitund/oderGerechtigkeit“werdeichdasaufgreifen. DieIdeederGleichheit:ImpulseeinerEntwicklungzusozialerGerechtigkeit AuchIdeenundIdealeeinesherrschaftsfreienZusammenlebensinegalitären GemeinschaftenoderzumindestIdealevonsozialerGerechtigkeitbleibenimsog. Westenlebendigoderwerdenwiederbelebt.DaszeigtMaxBeerinseiner1931 veröffentlichten„AllgemeinenGeschichtedesSozialismusunddersozialenKämpfe“.Ich gehenuraufwenigeAspektekurzein. 11 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 AusdemChristentumentstehenweitereEntwicklungen(z.B.mittelalterlichesMönch- undKlosterwesen,Katharerbewegung),dieimKern„demokratisch“sindbzw.sich gegendasStrebennachMachtundReichtumrichten.Idealesinddiesog.„apostolische Armut“undeinLebenin„brüderlicherGemeinschaft“(die„Schwestern“sindnur anfangsnochrelativgleichberechtigtdabei).AberdieseEntwicklungenbleibeninsular undrudimentär(Mönchtum)bzw.werdenblutigunterdrückt(Katharer, Täuferbewegung),bevorsieindenPraxistestgehenkönnen–odersielebennurals utopischerEntwurfweiter(ThomasMorus„Utopia“,TommasoCampanella„Der Sonnenstaat“,eigentlicheinfurchtbaresExperimentderZüchtungidealer Kollektivmenschen).8 MitdemIndustriekapitalismusentstehtdanndiehistorischfolgenreichsteBewegungfür sozialeGleichheitundGerechtigkeit:dieArbeiterbewegungundderSozialismusin seinenverschiedenenStrömungen.9EinzelneVersuche,eineSozietätderGleichheitund desGemeineigentums,eine„Kommune“oder„Räterepublik“,aufzubauen,gelingen meistnurindeneuphorischenPhasenerfolgreicherKämpfegegenreaktionäreKräfte, siewerdendannzumeistblutigniedergeschlagen:sodie„PariserKommune“(1871) unddieanarchosyndikalistischenKommuneninKatalonienundinsbesonderein Barcelona(1936)im„KurzenSommerderAnarchie“(Enzensberger).Michhatdiese eindrucksvolleenthusiastischeBewegunginmeinerStudentenzeitsehrberührt,gerade weilhierdieUtopieeinerVerbindungvonFreiheitundEgalitätfürkurzeZeit Wirklichkeitzuwerdenscheint;sieistinderFolge(1937)vondenanfänglichen BündnispartnerngegendieFranco-Truppen,denKommunisten(Stalinisten),blutig bekämpftundunterdrücktworden. EsgibteinigeweitereVersuche,eine„Rätedemokratie“zuerrichten:insbesonderenach demErstenWeltkrieginUngarn,Münchenu.a.–IndiesemSystemliegtdieMachtbei direktgewählten„Räten“,dieeinimperativesMandathaben,alsoandenWillender Wähler/innengebundenbleiben,wennmansowill:striktgemeinsinn-orientiert.Die Wähler/innensindinBasiseinheitenorganisiert,beispielsweisedieArbeitereines Betriebes,dieBewohnereinesBezirkesoderdieSoldateneinerKaserne.Diegewählten RätenehmenAufgabenalsöffentlicheFunktionsträgerwahr,siesindGesetzgeber, RegierungundGerichteineinem.DieGewaltenteilungistaufgehoben,alleFunktionen werdendurchdirektgewählteRäteausgeübt,diejederzeitrechenschaftspflichtigund abwählbarsind.SowirdeinbasisdemokratischesSystementwickelt,dasauchdieersten JahrederRussischenRevolutionundderSowjetunion(=„Räte-Union“)bestimmt.Mit derMachtübernahmeStalinsbestehtdiesesSystemzunächstnurformalweiterund wirddannganzaufgelöst,nurderName„Sowjetunion“bleibtbis1989/90.10 DieseEntwicklungensindallesamtgescheitertbzw.führenzum(inzwischenauch gescheiterten)StaatssozialismussowjetrussischerPrägung,derletztlicheinetotalitäre HerrschaftderKommunistischenParteiund/oderihresFührersdarstellt. ImmerhinhabenesderMarxismusunddiesozialistischenundanarchosyndikalistischen Bewegungengeschafft,diealtenIdeenundIdealeeineregalitärenGemeinschaftaufder BasisvonGemeineigentumundSolidarität(Gemeinwohlorientierung)wiederzubeleben –undzwarweltweit.DieseIdealezeigensichinvielfältigenBewegungenund 8MaxBeer,AllgemeinenGeschichtedesSozialismusunddersozialenKämpfe“,S.317ff.undS.336ff. 9Parallelundkonkurrierenddazuentwickeltsichm19.Jhd.diekatholischeSoziallehre(bzw.die christlicheSoziallehre),dieebenfallsaufGemeinsinnundSolidaritätzieltunddieIdealevonEmpathie undGerechtigkeitimAlltag(nichtalspolitischesKampfinstrument)zurealisierenversucht.Daraufgehe ichhiernichtnäherein. 10https://de.wikipedia.org/wiki/Räterepublik 12 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 gesellschaftlichenInitiativen(Genossenschaftswesen,selbstorganisierteUmwelt-und Nachhaltigkeitsinitiativen,usw.),letztlichauchinderIdeedes"Wohlfahrtsstaates",der dasWohlergehenaller(!)sicherstellensoll.Aberdiessindzumeistlokale,bestenfalls regionaleBewegungen,gesamtgesellschaftlichehermarginalisiert,oder sozialdemokratischebzw.christlich-sozialeReformprogrammeimRahmendes Kapitalismus.Immerhin,inihnen"leben"dieIdeederGemeinsinnorientierungund praktischeVersucheeinerRealisierungfort.11 ParadoxerweisemündenaberalleVersucheeineegalitäreGemeinschaftauf gesamtstaatlicherEbenezurekonstruierenbzw.wiederzubelebeninSystemen,diedie Volkssouveränität(bzw.diekollektiveSelbstbestimmung)undindividuelle Freiheitsrechteignorierenodermassivunterdrücken.Sieführendort,wosiesichreal odervermeintlichgegenreaktionäreKräftezubehauptenversuchen,letztlichund bisherausnahmslos(!)zuneuenFormenautokratischerodersogarterroristischer HerrschafteinzelneroderkleinerCliquen;unddasauchdort,wo„dieRevolution“ vermeintlich„gesiegt“hat(UdSSR,VRChina,DDR,Kuba).„Volkssouveränität“wirddort nurnochdeklamatorischbehauptet,faktischhatdasVolknichtszusagenoderzu bestimmen. (4)HierarchieundEgalitätheute:ZwischenDemokratieundDespotie HeuteerlebenwirHerrschaftinunterschiedlichstenFormen.DiePolelassensichso kennzeichnen: • einerseitsalsdemokratischlegitimierteundrechtsstaatlichorganisierte MachtausübungimAuftragderGemeinschaft, • andererseitsalsAlleinherrschaftohnedemokratischeLegitimationvoneinzelnen Personen(Diktatoren)oderelitärenGruppen(z.B.dieKommunistischeParteiin Chinau.a.).VieleStaatensindirgendwiezwischendiesenPolenzuverorten. Mankannesauchsoformulieren:DieOrganisationvonHerrschafterfolgtentweder tendenziellimGeistederegalitär-partizipativenSelbstorganisationderursprünglichen kleinenGemeinschaften–oderimSinnederhistorischjüngeren,aberdochsehr wirkmächtigenErfahrungvonzentralerAlleinherrschaft.HierwerdendieGemeinschaft, dienunallerdingsMillionenMenschenumfasstundallesanderealsüberschaubarist, bzw.derStaatdurcheine(gottähnlicheodergottgewollte)absolutistischeFührungbzw. Führerperson(Kaiser,König,Diktator)geleitet,dieihreHerrschaftgewaltsamabsichert undsichdurchreligiöseodersäkulareKulte(Personenkult)quasiindenAuftrag höhererMächtestellt. Demokratisierungals„Erinnerung“andieSelbstbestimmungundSouveränitäteiner egalitärenGemeinschaftversusautoritäreFührung,dersichdieGemeinschaftinder HoffnungaufUnterstützungdurchhöhereMächtemehroderwenigerfreiwillig anvertraut,fürbeidesgibtesweitzurückreichendehistorischeWurzeln. HeutelebenwirnichtmehrinkleinenüberschaubarenGemeinschaften,sondernin komplexenGesellschaften.Eigensinnhatsichoffenbargegenüberderursprünglichen Gemeinsinnorientierungweitgehenddurchgesetzt.DaszeigtsichinindividuellenMacht- 11IchergänzediesePassage,nachdemmichderÖkonomW.AltkrügerineinemKommentarimJuli 2016aufdasPrinzipderGemeinwirtschaftundaufdieverschiedenenFormenvonGenossenschaften hinweist.AuchderKommentarvonH.J.MeyerzumFeldezuProjekten"solidarischerLandwirtschaft" passtindieseReihe. 13 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 undBereicherungsansprüchen,imrücksichtlosenUmgangmitpolitischenGegnernoder KonkurrentenundinderebensorücksichtlosenAusbeutungvonNaturressourcen,aber auchimPrimatindividuellerLebensansprüche. AberGemeinsinnistnichtverschwunden:ErgewinntinDemokratisierungsprozessen derModernehistorischundgesellschaftlichwiederanGewicht–leiderauchinreligiösfundamentalistischen,nationalistischen,ethnozentrischenBewegungen. DieradikalesozialistischeVariantegesellschaftlicherOrganisationvonGemeinsinnund Egalitätistvorerstgescheitert.Dienationalistischeoderreligiös-fundamentalistische Varianteistunverändertpopulär–mitihrsindIntoleranz,FanatismusundRepression sowiedieständigeGefahrvonKriegundBürgerkriegverbunden. DiefreiheitlichindividualistischeVarianteinFormdermodernenDemokratienmit BürgerbeteiligungundsozialreformerischerGemeinwohlorientierungisteineechte Errungenschaft;siegiltinweitenTeilenderWeltalsIdealundVorbild,auchwenndie RealitätinvielenStaatendemIdealkeineswegsentspricht.DasVerhältnisvon individuellerFreiheitundGemeinwohlorientierungbleibtheikelund(u.a.politisch) umstritten. SelbstverständlichbleibenauchinetabliertenDemokratienerhebliche Hierarchisierungenerhalten:KomplexesozialeGroßsystemeerzeugennotwendig Funktionshierarchien(inStaatundVerwaltung,Militär,Wirtschaft,Bildung,Kirche usw.),derenZugangdefinierterRegelungenundBegründungenbedarf.Dasistz.B.ein wichtigesElementinJohnRawlsKonzeptvonGerechtigkeit(mehrdazuimTeilIV.). StattWillkürherrschennunverbindlicheRegelnundGesetze.Dasisteinerheblicher FortschrittauchinRichtungEgalität;auchwenndieRegulierungsdichtemitunterzu schwerfälligenBürokratienführenkannundFreiheitsspielräumedadurchwiederum eingeschränktwerden(vgl.dieweitverbreiteteKritikanderEUbzw.der„Brüsseler Bürokratie“). Kritischanzumerkenist:TrotzallerSozialreformenschaffenesdieDemokratienbisher nicht,egalitäreVerhältnisseauchindenLebensbedingungen,imZugangzuBildung, ArbeitundKapitalzuentwickeln,siekönnenauchnurdieschlimmstenAuswüchse sozialerUngerechtigkeitabfedern. SozialeGerechtigkeitversusindividuelleFreiheit–dasisteinGrunddilemmaunserer Zeit.DieSpannungzwischendenindersog.ModernereaktiviertenGleichheits-und GerechtigkeitsvorstellungeneinerseitsunddenAnsprüchenaufindividuelle FreiheitsrechteandererseitsunddamitverbundenauchaufPrivilegien,dienunnicht mehrprimärmitderAbstammungsondernmitindividuellerLeistungund gesellschaftlicherFunktionverknüpftsind,ziehtsichbisheutedurchphilosophische undpolitischeAuseinandersetzungenundModelle(vgl.AbschnittIV). WiestelltsichpolitischeHerrschaftheutedar? IndenmodernenDemokratienist„Herrschaft“andenVolkswillen(Wahlen,Plebiszite, FormenderBürgerbeteiligungusw.)undanrechtlichdefinierteÄmterundAufgaben gebunden.Sieistverpflichtetsichzulegitimieren(vordemVolkbzw.vordem ParlamentalsVolksvertretung)undkann„abgewählt“werden.Professionelle Machtbefugnisse(Polizei,Gerichte,Verwaltung)erhaltennurMenschen,dieaufder BasisnachgewiesenerQualifikationenintransparentenVerfahrenausgewähltwerden– zumindestistdasderAnspruch. 14 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 Daserinnert,wiegesagt,wennauchnursehrvageundentfernt,andie„politischen“ EntscheidungsprozesseindenarchaischenGemeinschaften,dieichimTeilIderStudie skizzierthabe:AuchhiernehmenvonderGemeinschaftlegitimierte,besondersfähige PersonenjenachHerausforderungbefristetbestimmteFührungsaufgabenwahr. VielerortshabensichabererneutoderweiterhinAlleinherrschaftsstrukturenetabliert (-nurca.60derrund200StaatenderErdelassensich–wohlwollend–alsDemokratien bezeichnen).IchsehedabeifolgendeVarianten,zwischendenenfließendeÜbergänge bestehen: Despotie(Gewaltherrschaft):HierunterversteheicheineHerrschaft,dievorallemein MittelzurAnhäufungvonReichtumundanderenPrivilegienist:fürdieeigenePerson undFamilieunddenKreisderUnterstützer;siedientmeistauchdermegalomanen SelbstinszenierungdesHerrschers.EsgibtzwarBerührungspunktezuTraditionen,nach denendieFührungselitedurchausAnspruchaufPrivilegienhat,diedurchbesondere AufgabenundLeistungenfürdieGemeinschaftgerechtfertigtsind,inderRegelberuht die„Akzeptanz“aberaufGewaltandrohungund-anwendung.Despotensichernihre HerrschaftnichtprimärübereineLegitimierungdurchdasVolk,sonderndurch Sicherheitsapparate,PolizeiundMilitärunddurchrücksichtsloseVerfolgung, InhaftierungundFoltermöglicherOppositioneller. Herrschaft„charismatischerFührer“:Diesen„Führern“gehtesauchumMacht, allerdingswenigerumReichtumoderLuxus.Siefühlensichberufen,dieGemeinschaft, dasVolk,dasImperiumusw.zu„retten“oderzuneuerGrößezuführen.Essind Herrscher,dieals„charismatischeFührer“derGemeinschaftauftretenundvondieser mehrheitlichoderingroßenTeileneuphorischunterstütztwerden.DieseMenschen (fastimmerMänner)treteninKriegs-oderKrisenzeitenauf,versprechenLösungen oderSiege.Diese„Heroen“undTyrannenderWeltgeschichte,vonAlexanderdem GroßenbisAdolfHitlerwirkenaufdasVolkofteindrucksvollselbstsicher;siezeigen zumeistdeutlichmegalomaneTendenzen.Auchhierhandeltessichnichtseltenum Gewaltherrschaftbzw.eintotalitäresRegime.Diesog.charismatischenFührererinnern michandieKultführerderfrühenHochkulturenmitihremGeheimwissenunddem „besonderenDraht“zudenhöheren,dasSchicksalbestimmendenMächten. InweitenTeilenderBevölkerungbestehtdurchauseineArtSehnsuchtnacheinem starkenFührer,insbesondereinZeitenderNotundGefahroderderpolitischen UnterdrückungundinBefreiungs-undEmanzipationsbewegungen.Dannkönnen durchaus„charismatischePersönlichkeiten“auftreten,dieOrientierung,Hoffnungund Siegeszuversichtvermittelnunddenenesoffensichtlichnichtodernichtprimärumdie InszenierungdereigenenPersonoderumAlleinherrschaftgeht(z.B.NelsonMandela, CheGuevara,MahatmaGandhi).DerUnterschiedzwischeneinemVölkermörderwie HitlerundeinemBefreiungskämpferwieNelsonMandelawäreauchaus narzissmustheoretischerPerspektive(z.B.HeinzKohut)nochmalzubeleuchten.12 Oligarchie:GemeintisthierdieHerrschafteinerelitärenpolitischenoderreligiösen Gruppierung(Partei,Religionsgruppe,nationalistischeBewegung).DieseHerrschaft wirdideologischbegründet,dieHerrschaftsausübungerfolgtimDienstderIdeologie,z. B.derReligionoderder„Nation“.Dazuzähleichz.B.dasHerrschaftssystemindensog. staatssozialistischenStaaten(ehem.SowjetunionoderVolksrepublikChinamitdem HerrschaftsanspruchderKP-Parteiführung),aberauchdieHerrschaftderMullahsim 12HeinzKohut,„CharismatischeundmessianischePersönlichkeiten“,in:„DieZukunftderPsychoanalyse“, 1975,S.114f.. 15 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 IranoderdienationalistischenAutokraten,ihreParteienundGefolgsleuteinvielen StaatenderErde.InderPraxisgibtesoftengeVerknüpfungenzudenbeiden erstgenanntenFormen.DieKaderoderreligiösenFührernutzensehrschnelldie Machtpositionen,umsich,ihreFamilienundVertrautenzubereichernbzw.in einflussreichePositionenzuhieven–odersichalsRetterderNationzuinszenieren. Elitenetzwerke:AberauchinvielenvorgeblichdemokratischenLänderngibtesfaktisch eineOligarchieeinflussreicherFamilienundvernetzterElitenausPolitik,Wirtschaft, SicherheitsapparatundMilitär–ohneerkennbarenideologischenBezug. InvielenStaatendessog.„Südens“(Afrika,Asien,Lateinamerika)ohnedemokratische Tradition,ohneeinetabliertesBürgertumundohneeinegewerkschaftlichundpolitisch organisierteArbeiterklasseregiertsoetwaswieein„politisch-ökonomisch-militärischer Komplex“,einElitenetzwerk,daspolitischeMachtzurpersönlichenundfamiliären BereicherungnutztundalleMachtpositionensystematischmitVerwandtenund Anhängernbesetzt.SelbstwennformaldemokratischeStrukturenbestehen,versucht dasElitennetzmitallenTricksundggf.mitGewaltgegenOppositionspolitikerdie finanzielleinträglicheMachtzuhalten.PolitischeMachtsichertReichtum. StaatseinnahmenstehenindenmeistendieserStaatennurüberspezielle Rohstoffexporte(Erdöl,ErzeundMineralien,Kaffee,Südfrüchteusw.),Renditenausder TourismuswirtschaftoderVerpachtungvonStaatslandanausländischeKonzerne („Landgrabbing“)zurVerfügung.NennenswerteheimischeIndustrienfehlen weitgehend;dieBevölkerungversuchtvielerortsüberkreativeJobentwicklungder ArmutzuentkommenoderindiereichenWohlfahrtsstaaten„desNordens“zufliehen. MigrationstattRevolteoderRevolution.Dersog.„ArabischeFrühling“(2011-14)ist offenbarnureine(zudemweitgehendgescheiterte)Ausnahmegewesen. BlickindieZukunft:KrisederDemokratie? Ist„unsere“westlicheDemokratieeinZukunftsmodellauchfürdenRestderWelt?Sie funktioniertinderPraxisbekanntlichweitwenigeridealalsihreBefürworter behaupten.ProblemeundKonfliktewerdenzwaroftöffentlichdiskutiert(immerhin!), aberimParteiengezänkkommtesoftnurzuhalbherzigenKompromissen,notwenige Entscheidungenwerdenendlosdiskutiert,„aufdielangeBankgeschoben“,echte Bürger/innen-Beteiligungfindetnurpartiellstatt(allerdingszunehmend!).... DemokratienschaffenesimIdealfalldieFreiheitsräumefürdieBürgerinnenundBürger relativweitzuöffnen–siesindabernureingeschränktinderLage,soziale UngerechtigkeitabzubauenundChancengleichheitherzustellen.Siesindauchnur eingeschränktinderLage,denMenschendasGefühlzuvermitteln,ineinesolidarische Gemeinschaftverlässlicheingebundenzusein.Dasmachtinsbesonderemarginalisierte GruppenundverunsicherteMenschenanfälligfürGemeinschaftssurrogateund -konstruktewie„Nation“oder„Volk“(vgl.die„WirsinddasVolk“-Bewegungen). FormalunddeklamatorischbefindetsichdieDemokratiescheinbaraufeinem weltweitenSiegeszug;diePraxissiehtvielerortsdeutlichwenigerglanzvollaus (ManipulationvonWahlen,VerfolgungvonOppositionellen,Einschränkungder Pressefreiheit,fehlendeUnabhängigkeitderGerichte,UnterdrückungvonMinderheiten durchdie„demokratisch“gewählteMehrheiten,usw.).EineaktuelleUS-amerikanische StudiesprichtsogarvoneinerautoritärenWendeinderWelt:DieZahlderStaatenmit „Wahldemokratien“undmiteinerZivilgesellschaft,inderBürger/innensichfrei organisierenundihreInteressenvertretenkönnen,istderzeitrückläufig.Auch 16 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 innerhalbgefestigterDemokratien(z.B.USA)gewinnendemokratiefeindlicheKräfte undEntwicklungenanGewicht.13Die„westliche“Politikeinerpolitisch-militärischen UnterstützungvermeintlichdemokratischerKräftegegendiktatorischeRegimes (Libyen,Irak,Syrienusw.)erweistsichvielfachalsunglaubwürdigbzw.als VerschleierungganzandererInteressen.DiedemokratischeMissionierungderWelt drohtzuscheitern. ZudemwirdDemokratievonstarkreligiösundtraditionalistischgeprägten KulturräumenundGesellschaftenbzw.vonautoritärbzw.nationalistischausgerichteten StaatenkeineswegsalsidealeodererstrebenswerteHerrschaftsformwahrgenommen. Eswirdm.E.immeroffensichtlicher,dass„Demokratie“mitihremPrimatindividueller Freiheits-undPartizipationsrechteundmitihrenAnsprüchenaufGleichberechtigung derFrauenundSchutzvonMinderheitenallenDeklarationenzumTrotzfürdie MehrheitderStaatenundKulturenaußerhalbdes„Westens“keinzukunftsfähiges Modellist.EsfindetglobalnichtwirklichAkzeptanz. NureinMehranGerechtigkeitundPartizipation(Bürgerbeteiligung)kannzumindest dieAkzeptanzimInnerenderbestehendenDemokratienstärkenundeinGegengewicht zupopulistischenStrömungenbilden.Daszieltaufdasu.a.vonJürgenHabermas vertreteneKonzeptder„deliberativen(=beteiligungsorientierten)Demokratie“,dasauf einekritischeÖffentlichkeitsetzt,auföffentlicheDiskursegesellschaftlicherThemen,auf TeilhabederBürger/innenanderPlanung,BeratungundEvaluationvonpolitischen Maßnahmen,aufeinePolitikderrationalen,argumentativenAbwägung,usw.–Auch wenndieseAnsätzenurbegrenztumsetzbarseindürftenundm.E.dieRationalität öffentlicheDiskurseüberschätzen,sindsiedocheineChance,zumindestpartiell GemeinsinnorientierungundindividuelleSelbst-undMitbestimmungzuversöhnen.14 DieMöglichkeitenundGrenzendieserKonzepteverdieneneineausführlichere Diskussion,dieaberdenRahmendieserStudiesprengenwürde. 13ArnoWidmann,„RezessionderDemokratie“,FRvom21.03.2016mitBezugzurStudie„Authoritarism goesglobal–TheChallengetoDemocracy“ 14DieserAbsatzgreiftHinweisevonW.AltkrügerineinemKommentarvomJuli2016auf. 17 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 2. Individualisierung:ZwischenFreiheitundGemeinschaftssuche SpannungsverhältniszwischenFreiheitsanspruchdesEinzelnenbzw.dem individuellemStrebennachNutzenmaximierung(Egoismus)unddemWunschnach sozialerEingebundenheitundZugehörigkeit (1)EinzelpersönlichkeitenindenfrühenGemeinschaften Ichbindavonausgegangen,dassdieursprünglichenGemeinschaftenim Jungpaläolithikum,MesolithikumundfrühenNeolithikum(ersteDorfgemeinschaften) überwiegendegalitärstrukturiertsind,alsokeinefestenHierarchienkennen.Die gleichwertigeAusstattungderGräber(beiFrauen,MännernundsogarbeiKindern)ist dafüreinstarkesIndiz.Dasschließtabernichtaus,dasseinzelneMänneroderFrauen einebesondereWertschätzunginderGemeinschaftgenießen,dasieüber herausragendeFähigkeitenverfügen:beiderWerkzeug-undWaffenherstellung,der Jagdbzw.OrganisationvonGemeinschaftsjagden,alsHeilkundigeoder „Schamanen/innen“usw.–oderdasseinzelneals„Häuptling“,„Älteste“o.a.anerkannt werdenundbesonderenRespektgenießen.AberdiesePersönlichkeitensindnachwie voreingebundenindieGemeinschaft,siehandelnfürdieGemeinschaftbzw.im InteressederGemeinschaft,nichtumindividuelleVorteilezuerlangen.Zudemistmit dergeachtetenStellungkein„vererbbarer“Herrschaftsanspruchverbunden. EinzelpersönlichkeitentretenerstimVerlaufdesNeolithikumsstärkerinErscheinung: insbesonderedort,wogrößereKoordinationsaufgabenanfallen(z.B.Anlagevon Bewässerungskulturen,EroberungeinesneuenSiedlungsgebietes)oderwoaufwändige Kultfeiernorganisiertunddurchgeführtwerden,beidenenvieleMenschender Umgebungzusammenkommen,oderwoHandelbetriebenwird.DieerstenStempel- oderRollsiegelmit„individuellen“Markierungenstammenausdermesopotamischen Hassuna-Kulturum6.000v.Chr.,siemarkierenvermutlichindividuellesEigentum.15 (2)IndividualitätindenGrenzenderfrühenKlassengesellschaft IndenfrühenHochkulturen(abca.3.000v.Chr.)lassensicheinzelneHerrscher(i.d. RegelsindesMänner,nurinAusnahmen,derenUrsachennochmalzuuntersuchen wären,auchFrauen)inKunstwerkenundRitualenundinErzählungenundMythenals herausragendePersönlichkeitennamentlich(!)feiernundverewigen.Individualität wirdvorallemalsHerrschaftbzw.inHerrschern(z.B.Priesterkönige)undin herausgehobenenPositioneninVerwaltung.KultundMilitärgreifbar,vielleichtnochin besondersgeachtetenHandwerken(Schmiede-,Töpfer-Kunst). IndividualitätistindenantikenHochkulturenundbisweitindieZeitendersog. ModernegebundenandefiniertegesellschaftlicheRollenundanFunktionenineiner stratifiziertenGesellschaft(Klassengesellschaft).Diesspiegelnheutenochviele Nachnamenwider,dietypischeBerufsbezeichnungenbeinhaltenunddamit ursprünglichzugleichsozialeStatusbeschreibungen.16 15H.Parzinger,„DieKinderdesPrometheus“,S.159 16SosindNamenwieVogt,Schulze,MeyeroderSchultheißbesondereAmtsbezeichnungen,während Bäcker,Schneider,Schuster,Zimmermann,Fleischer,Löffler(Löffelhersteller),Salzmann(Salzverkäufer) oderEppler(Apfelverkäufer)usw.einfachehandwerklich-kaufmännischeBerufebezeichnen,Vgl. http://www.bedeutung-von-namen.de/nachnamen-aus-berufsbezeichnungen 18 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 DerRespektderMitmenschengiltalsonichtalleinderPersönlichkeitundihren Leistungen,sondersstetsauchder(oftunverdientenbzw.unverschuldeten) gesellschaftlichenStellung.Oderandersformuliert:Herausragendeindividuelle Leistungen,diefrüherindenarchaischenGemeinschaftenRespektundAnsehen begründen,könnennurbegrenztdieengenundstarrenGrenzenderKlassenschranken durchbrechen,indenendasIndividuumweitgehendgefangenbleibt. Gemeinschaften,denensichder/dieEinzelnezugehörigfühlt,sindnunerstens „angeborene“familiäreVerbindungen(Sippe,Clan),diesichauchkultischauf gemeinsameAhnenodermythologischeVorfahrenbeziehen,zweitensquasi „angeborene“(mitderGeburtzugewiesene)Klassen-oderStandeszugehörigkeiten,die durchfesteRegelnundhäufigebenfallskultischausgewiesenwerdenunddrittens Stadtstaaten,ReicheoderImperien,andiemanüberdenzentralenHerrscherkult gebundenist.Die„unveräußerliche“Clan-ZugehörigkeitüberdauertinvielenRegionen bisheute. WiestarkeinzelneMenschenauchheutenochsozialenGruppenzugeordnetunddafür ersatzweisebestraftodergetötetwerden,zeigenBeispielevonEntführungendurch Terroristen,ErpressungderjeweiligenRegierungoderErmordungderEntführten,um sichandessenRegierungzurächen(z.B.durchdensog.„IslamischerStaat“).–Im ländlichenIndiengibtesbisheutediefurchtbareTraditiondes„RevengeRape“:vonsog. DorfrichternangeordneteMassenvergewaltigungenvonFrauenundMädchenalsStrafe füreinangeblichesVergehenandererFamilienmitglieder.Diesesantiquierte, barbarischeRechtsempfindenistnochganzdemSippenhaft-Prinzipverhaftet.Der Mensch,insbesonderedieFrau,wirdnichtalsunabhängigesIndividuumgesehen, sondernalsTeileinerFamilie,Sippe,Kasteusw.bzw.alsBesitzdesVatersoderMannes. Erstspäter,z.B.imantikenGriechenlandabdem8.Jhd.v.Chr.,tretenIndividuen(-es sindfastnurMänner!)auchalsKünstler,Dichter,RednerundPhilosophennamentlich hervor.DieattischeDemokratiemitihrerFörderungindividuellerTeilhabeund öffentlicherMitsprache(indenVolksversammlungenundVolksgerichten)bietethier dieVoraussetzungen(sozusagendie„Bühne“)dafür,dassPersönlichkeitenund individuelleKompetenzeneinbesonderesGewichterlangen.DerBegriff„Person“ scheintsichvonlat.persona=Maske(desSchauspielersaufderBühne)abzuleiten.Aber dieindividuelle,unveräußerlicheZugehörigkeitzueinem„Demos“ (Verwandtschaftsgruppe)istfürlangeZeitkonstitutivesElementderdurchunddurch rationalenOrdnunginderPolisAttika. (3)DerWunschdesIndividuumsnachUnsterblichkeit Dort,wodasIndividuumsichausdemWirderGemeinschaftzulösenbeginnt,gewinnt auchderTodeineneue,buchstäblichexistenzielleBedeutung. DieSehnsuchtnachUnsterblichkeitistausgesprochenauffälligindenfrühen Hochkulturen.IchhaltediesfüreineFolgederIndividualisierungsprozesse.Auffälligste HinweisesinddieaufwändigenGrabstättenderHerrscher(z.B.dieägyptischen PyramidenoderdiegewaltigenGrabanlagenchinesischerKaiser)oderdieVersuche, durchEinbalsamierungendeneigenenKörperzuerhalten.DieSuchenach UnsterblichkeitistauchdasLeitmotivimsumerisch-akkadischenGilgamesch-Epos,der ältestenüberliefertenDichtung(ca.1.800v.Chr.).DieErzählunghandeltdavon,dass 19 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 sichderHerosGilgamesch,derallesimLebenerreichthat,aufdieabenteuerlicheSuche nachdemKrautdesewigenLebensbegibt.17 DerZusammenhangIndividualisierung–Unsterblichkeitswunschzeigtsichauchinder Götterwelt:ErstalsauchdieGötterstärkerals„Individuen“mittypischenEigenschaften hervortreten,wirdihnenausdrücklich„Unsterblichkeit“alsherausragendeEigenschaft undentscheidenderUnterschiedzumMenschenzugesprochen.WalterF.Otto beschreibtdasamBeispieldergriechischenReligionundGötterwelt.Dieolympischen GötterundGöttinnensindewigjunge,unsterblichePersönlichkeitenmiteigenem Charakter.DievorolympischenGöttinnenundGöttersinddagegeneherin verschiedenenGestaltenundErscheinungsformenauftretendeoderwirksamwerdende Urkräfte,vielgestaltigeSchicksalsmächte,dieüberLebenundTodbestimmen,aber keine„unsterblichenIndividuen“sind.18 DieAngstvordemTodundderWunschnachUnsterblichkeitsinddenineine archaischeGemeinschafteingebundenenMenscheneherfremd.DieseMenschenkennen sicherdieAngstvorFeinden,vorbösenGeisternusw.,sietrauernundbeklagendenTod vonAngehörigen,siekennenabermeinesWissenskeineAngstvordemTodals absolutemEndederindividuellenExistenz,dennsiewerdeninihrerVorstellungauch nachihremTodalsGeisterseelenmitihrenAngehörigenverbundensein.DieToten,die zurückgekehrtsindindie„heiligeErde“,werdeninvielfältigenTotenkultenverehrt;sie bleibensoinKontaktmitdenLebendenundhelfenihnenbeimÜberleben. DievölligandereSichtderarchaischenGemeinschaftenaufdenTodunddieTotenzeigt sichindenuniversellverbreitetenTotenkultenundderdortpraktizierten Totenverehrung.WalterF.Ottoskizziertdasfürdiemutterrechtliche(vorolympische) ReligionGriechenlandsso:„InderErdreligionscheidetderToteausderGemeinschaftder Lebendennichtaus.Eristnurmächtigerundehrwürdigergeworden.Erwohntinder mütterlichenErde–Demetreios,d.h.AngehörigerderDemeter,der„Erdmutter“,nannte manihnvonaltersinAthen(...)–unddorterreichenihndieGebeteundSpendender Lebenden,vondortschickterdenSegenzuihnenhinauf.AngewissenTagen,wenndie ErdesichlockertunddasneueLebenheraufsprießt,kommendieTotenallewiederund werdenfestlichempfangen,bisdieZeitihresBesucheszuEndeist.“19 Inderneuen(olympischen)GötterweltfindetkeinTotenkultmehrstatt:DieTotensind einfürallemalvondenLebendengetrennt.–ImFernsehenistkürzlich(Nov.2015)ein BerichtzusehenüberDorfgemeinschaften(inMexiko?),dietatsächlichToteausgraben, neueinkleidenundimfestlichenUmzugdurchsDorftragen,mitihnenfeiernundsie dannerneutbestatten. DietiefeAngstvordemTododerauchdasVerdrängendesTodessowiederWunsch nachUnsterblichkeitsind,someineThese,eineFolgederAuflösungdesarchaischen Wir.DasistsichereineHypothese,dienochgenauerzuprüfenwäre.DasGefühl existentiellerSingularitätverbindetsichinderAuseinandersetzungmitdeneigenen LebenszielenundderUnausweichlichkeitdesTodesnurzuleichtmitwiederkehrenden Sinnlosigkeitskrisen.ImExistenzialismus(J.P.Sartre,A.Camus,vgl.TeilIVderStudie) wirddieserZusammenhangm.E.besondersdeutlich. 17https://de.wikipedia.org/wiki/Gilgamesch-Epos 18WalterF.Otto,„DieGötterGriechenlands“,S.164,178f. 19WalterF.Otto,„DieGötterGriechenlands“,S.32 20 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 (4)DasmoderneIndividuum–ZwischenSelbstverwirklichungundSuchenach demWir Durchdieo.g.gesellschaftlichenUmbrüchetrittder/dieEinzelneausderGemeinschaft heraus.Damitsind–insbesondereimsog„abendländischenKulturkreis“(?)– AnsprücheaufindividuelleFreiheitundpersönlicheRechtegewachsen,oftim SpannungsverhältniszuWünschennachZugehörigkeitbzw.verbundenmitdem Bedürfnis,fürdieGemeinschaftbzw.fürandere(Menschenbzw.Lebewesen)wichtige Aufgabenwahrzunehmen. ImTeilIIderStudiehabeicheinigeAspektederIndividualisierungsprozesseskizziert: DerneueIndividualismusderModernezeigtsichdemnachu.a.inIch-Bezogenheit,im AnspruchaufRationalitätundGefühlskontrolle,inderWertschätzungvon Selbstdisziplin,Leistungs-undAnstrengungsbereitschaft(„JederistseinesGlückes Schmied“),imGlaubenandieMachbarkeitunddenFortschritt(„Problemewerdennicht hingenommen,sondernangepacktundgelöst!“),imGefühleinerkulturellen Überlegenheit,aberauchin(zumindestlatentvorhandenen)GefühlenderEinsamkeit undEntfremdung. AllerdingswäredashierbehaupteteBesonderedes„westlichenIndividualismus“ zumindestergänzendauchausderPerspektiveandererKulturkreisezubeschreiben, umesbesserzuverstehen,vielleichtauch,umdasvermeintlichBesonderezu relativieren.DerSiegeszugdesKapitalismussetztjedenfallsgesellschaftliche Rahmenbedingungen,dienichtnur„imWesten“gelten:Erfordertundfördertdie EntwicklungundFreisetzungerstaunlicherindividuellerPotenziale(inWissenschaft, Technik,Kunst,Wirtschaft,Militär,usw.),zugleichaberaucheinenrücksichtslosen Egoismus,Konkurrenzdenken,Machtstreben.SeinindividualistischesLeistungsprinzip konfrontiertvielemitdemScheiternihrerWünscheundTräume,mitderUnmöglichkeit („Unfähigkeit“),sichausArmutundNotherauszuarbeitenbzw.beruflicheKarrieren oderprivatesGlückzurealisieren–nunerlebtalsindividuellesVersagen. DieIdeenderAufklärung,dievonderWürde,derFreiheitundanderenRechtenjedes einzelnenMenschensprechen,diedasBesondereundEinmaligejedesMenschen betonen,einerseitsunddiekapitalistischeLogikderGewinnmaximierungunddes individuellenErfolgsstrebensandererseitslieferneineArtgesellschaftliche„Brille“, durchdiediejeweiligenBiographien,LebensschicksaleundKarrierenwahrgenommen undbewertetwerden. Individualisierungsprozessescheinensichheuteehernochzuverstärken.Inder modernenanonymenMassengesellschaftkannder/dieEinzelneauchals„Single“ (Einzelgänger),bzw.alsEinzelhaushaltüberleben;sieoderermusssichnichtinfeste Kollektiveeinbinden.Nichtwenigewollenundkönnensoleben:allein,mit wechselnden,mehroderweniger(un)verbindlichenKontakten.....-Siezelebrierenihr Alleinsein,genießendieFreiheitsräume,sichbeliebigundanlassbezogensozialund medialzuvernetzen.Eskönntesein,dassdiesfürdiewachsendeZahlderMenschenin denMega-CitiesderZukunfteindurchausattraktivesLebensmodellist. Die„ÜberbetonungdesIndividuellen“inunsererZeit,dieextremeICH-Bezogenheit unddiedamitverbundenenFolgenfürMenschundUmweltstoßenvielfachaufKritik (vgl.TeilIV,CharlesTayloru.a.). UnterderinteressantenÜberschrift„VomIchzumWir“(!!)leseicheinenArtikelvon PeterUnfriedüberdasneueBuchdesPhilosophenPeterSloterdijk„Dieschrecklichen KinderderNeuzeit“:IndiesemBuch„führterdenPreisaus,dendieMenschenfürdie 21 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 Freiheit,dieEmanzipationunddasIch-Wachstumzuzahlenhaben,Sieseienzu ‚Niemandskindern’geworden,demLebensgefühlnach‚wievomHimmelgefallen’.Nichts hinterihnen,nichtsvorihnen,dasistderKontextderindividuellenFreiheitund gleichzeitigderKontextderökologischenMisere.‚NuntrittjederEinzelneals Endverbraucherseinerselbst,alsNutznießerseinereigenenLebenschancenaufsGasund setztdabeieinendereguliertenStoffwechselmitderäußerenNaturinGang,auswelchem dieLetzterealsVerliererinhervorgeht.’(....)HabenwiresmitderIndividualisierungalso übertrieben?20 Sicher,derIndividualismusfeiertinFormvon(narzisstischer)Selbstverliebtheit, „Beziehungsproblemen“,egoistischerRücksichtslosigkeitusw.traurigeTriumpfe– zumindestindenwestlichenKonsum-undFreizeitgesellschaften.Eigensinn triumphiert:Vielewerdensagen,dassderMensch„ebendochegoistisch“ist,nurdie eigenenInteressenundVorteileunddaseigeneStrebennach„Selbstverwirklichung“im BlickhatunddabeiwenigRücksichtnimmtaufMitmenschen,NaturundUmwelt.Dafür magesungezählteBeispielegeben. UnddochgehörtdieSozialitätdesMenschen,seingrundlegendesAngewiesenseinauf sozialeBindungundAnerkennung,zumevolutionsbiologischenErbe. Entwicklungspsychologie21,Psychoanalyse(vgl.diePsychologiedesSelbstvonH. Kohut)undSozialisationsforschungbestätigendasm.E.eindrucksvoll.Wiralle,auch (undgerade!)diebesonders„autonom“erscheinendenEgoistenundNarzissten,bleiben abhängigvonder(bewundernden,bestätigenden)Spiegelungdurchdie(wieauch immerdefinierte)Gemeinschaft.Insoferntrittauchdas„autonomeIndividuum“nie ganzausdem„Wir“heraus. MeinesErachtensführendiegesellschaftlichenIndividualisierungsprozessezueiner SpannungzwischenindividuellenFreiheits-undSelbstverwirklichungsansprüchen einerseitsunddemWunschnachZugehörigkeitundGemeinschaftandererseits. „Entfremdung“22isteinSchlüsselbegriffmodernerIndividualität,sichermitvielen Facetten.Ichverstehe,ihnvorallemalsein„Sich-selbst-fremd-fühlen“,„Sich-nichtzugehörig-fühlen“,alsnichtwissen,wohinmangehört,welcheAufgabenundZieledas eigeneLebenorientierensollen;kurz:alsAusdruckeinesVerlustesanZugehörigkeit. DazuimFolgendennureinigeHinweiseoderStichworte,dieeinesystematischere Analysesichernichtersetzenkönnen. MassenphänomenEinsamkeit PsychologischzeigtsichdasSpannungsverhältnisIndividuum–Gemeinschaftin typischenAmbivalenzen:DiesozialeGemeinschaftkannalsBegrenzungindividueller 20PeterUnfried,„VomIchzumWir“,„taz“vom01.12.2015 21DerEntwicklungspsychologeLawrenceKohlberg,derimAnschlussanJeanPiagetdie MoralentwicklungbeiHeranwachsendenuntersucht,stelltfest,dasssichdieseinihremHandelnineiner bestimmtenAltersphasestarkanderZustimmungundAnerkennungdessozialenUmfeldesorientieren bzw.versuchen,zumWohlderGemeinschaftbeizutragen,indemsiederenRegelnbeachtenundPflichten erfüllen(„konventionelleMoral“).Dasentsprichtdochsehreiner(archaischen)Gemeinsinnorientierung: dieZustimmungunddasWohlergehendereigenenGemeinschaft,dermansichzugehörigfühlt,sind handlungsleitend.ErstaufdemoberstenNiveau(„postkonventionelleMoral“)findeteineOrientierungan allgemeinenuniversellenethischenPrinzipienstatt.HierlöstsichdasIndividuumausdenKonventionen desKollektivs. 22https://de.wikipedia.org/wiki/Entfremdung 22 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 FreiheitundalsZwangerlebtwerden–dieindividuelleFreiheitwiederumals EinsamkeitundalsGefühlderBedeutungslosigkeitbzw.desNichtgebrauchtwerdens. WirlebeninweitgehendanonymenMassengesellschaften,indenender/dieEinzelne zunächstkaumauffälltoderwahrgenommenwird.Sichnichtwahrgenommenundnicht gebrauchtzuerlebenisteinverbreitetesPsychodramaderModerne.DasLeiden verschärftsich,wenneinzelnezudemmitoffenersozialerAblehnungkonfrontiert werden;alsosichimmerwiederalsnichternstgenommen,gehänseltoderverspottet erleben,usw. DerWunschnachRespekt,WertschätzungundAnerkennungwirdzueinemzentralen ThemaderindividuellenLebensgestaltungbzw.zumpersönlichenDramaimFalldes Misslingens.ImmetaphorischenKernderBegriffe„Erniedrigung“,„Demütigung“zeigt sich,wieRespektlosigkeiterlebtwird:Manfühltsichniedergedrückt,amBoden,mutlos. TypischeReaktionsbildungensindDepressionen(insbesonderebeiFrauenverbreitet)– oderaberHassbzw.aggressiveWut(häufigerbeiJugendlichenundjungenMännern), diesichletztlichauchinAmokläufenäußernkann. WienarzisstischeKränkungenundErfahrungenvonEinsamkeitundsozialerIsolierung mitDepressivitätundaggressiverWutzusammenhängen,verdienteinegenauere Analyse,dieindieserStudienichtgeleistetwerdenkann. SuchenachAnerkennung,Beachtungund„Selbsterfahrung“ AuchhierzunureinpaarStichworte:DieSuchenachpersönlichenHerausforderungen, nachbesonderenLeistungenundentsprechendersozialerAnerkennung(z.B.Beruf,im Sport)isteinverbreitetesPhänomenunsererZeit,vielleichtdersog.Moderne,wenn mananalldie(überwiegendmännlichen)Entdecker,Eroberer,Polarforscher, Bergsteigerusw.,aberauchanvieleDichter,PhilosophenundKünstlerdenkt.Nicht seltenistdasmithoherRisikobereitschaft(z.B.indenvielenneuenExtremsportarten) odermit„Grenzüberschreitungen“(z.B.inderKunst)verbunden,dieAufmerksamkeit provozieren–undzugleichzeigen,wiewichtigesdenbetreffendenMenschenist,als einmaliges,herausragendesIndividuum,als„Siegertyp“,„Erfolgsmensch“odergarals „Genie“wahrgenommenzuwerden,RuhmundAuszeichnungenzuerhalten,zumindest öffentlichesAufsehenzuerregen.DieseSuchenachAufmerksamkeitundAnerkennung kannzuerstaunlichenindividuellenLeistungen,aberauchzu„Verrücktheiten“allerArt (ver)führen. StärkerselbstreflexivgewendetistdieverbreiteteSuchenachdemeigenenbzw.dem eigentlichen„Selbst“,nach„Selbstfindung“und„Selbstverwirklichung“usw.,fürdiein meditativen,psychosozialenundkreativenZirkelnundSchuleneineVielzahlvon Angebotenentwickeltwird.Dort,woeigeneRollenundAufgabennichtmehrklar definiertundvorgegebenwerden,beginnenFragennachdem„Werbinichundwaswill ich?“;Fragen,diefürMenschen,dieinfesteGemeinschaftenmitklarenRollen-und Aufgabenverteilungeneingebundensind,völligfremdseindürften.DasAngebotan potenziellenAntwortenistvielfältig,esumfasstu.a.religiöse,esoterische,künstlerischkreativeWege. DassdieneuenMedienheutzutageenormerweiterteMöglichkeitenpermanenter Selbstdarstellungbieten,habeichschonerwähnt(imTeilII,Kapitel6derStudie).Nun könnensichwirklichalleüberSelfies,YouTube,Facebook,Instagramundanderesoziale Netze„öffentlich“präsentieren,Aufmerksamkeitproduzierenundprovozieren,zeigen, dasssie„dabei“sind.DiedigitalenMedien(insbesondereSmartphonesundTablets) 23 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 sindnichtnurAusdruckdergesellschaftlichenIndividualisierung,siesindschonfast zumunverzichtbarenBestandteildesIndividuumsgeworden,geradeweilsie persönlicheSelbstdarstellungundsozialeVernetzungverbinden. HeutemussmansichnichtmehrzumgemeinsamenMahl(Nahrungsteilung) versammeln,umGemeinschaft,ZugehörigkeitundVerbundenheitzudemonstrieren, heutereichtdieInformationsteilungimsozialenNetz. „Selbstfindung“,„Selbstverwirklichung“,SuchenachAnerkennungdurchbesondere Leistungen–alleskonzentriertsichaufdiepersönlicheSuchenachIdentität,nach einemsinnvollenLebeninderMassen-undMediengesellschaft.VieleMenschenleisten dabeiErstaunlichesoderVerrücktes,füranderewirdIdentitätssuchezurunendlichen GeschichteundbuchstäblichzurLebensaufgabe. DieSuchenachGemeinschaftundZugehörigkeit Eserscheintparadox,aberdieSuchenachverlässlicherGemeinschaftundnach ZugehörigkeitisteintypischesPhänomeninZeitenderIndividualisierung.Das IndividuumkannaufGemeinschaftletztlichnichtverzichten,auchwenndieAnzahlder (unfreiwilligen)Einsamenundder(freiwilligen)EremitenundSingleszugenommenhat. DieserWunschnachZugehörigkeitundGemeinschaftzeigtsichheuteinvielfältigen Formen: TraditionelleFormenderZugehörigkeit(Familie,Sippe,Dorfgemeinschaft)spielen vielerortsnachwievoreinegroßeRolle-insbesondereinländlichenoder migrantischenMilieus.NeueFormenentstehenindenstädtischenBallungsräumenin alternativenMilieus,teilsehersozial,teilseherpolitischoderwirtschaftlichmotiviert: Kommunen,Kollektive,Solidargemeinschaften.....(-imTeilIVkommeichimAbschnitt „Kommunitarismus“daraufzurück). PolitischerlebenwireineRenaissancenationalistischerundreligiösfundamentalistischerBewegungen,diemitihrenstarken,partikularistischenWirIdeologienbesondersfürverunsicherteodersichalsgedemütigterlebteMenscheneine starkeAnziehungskraftentwickeln. „Gemeinschaft“und„Sinn“bietenauchreligiöseoderterroristischeGruppierungenan. LetztereentwickelninderRegelbesondersrigideFormenderverbindlichenEinbindung deseinzelnenindieGruppe.GeradestriktideologischausgerichteteGruppenbieten OrientierungundSinn(bzw.einevermeintlich„sinnvolle“Aufgabe),vermittelnein starkesZusammengehörigkeitsgefühl–umdenPreisindividuellerUnterordnungund oftgnadenloserAggressivitätgegenüberinnerenundäußeren„Feinden“. AuchandereBeziehungsmusterverändernsichimZugederweiteren Individualisierungstendenzen. FreundschaftundLiebehabeninunsererGesellschafteineherausragendeBedeutung; daskönntedurchauseineBegleiterscheinungvonIndividualisierungsprozessensein. VerliebtheitundFreundschaftstehenimZentrumderWünscheundder AufmerksamkeitgeradejungerMenschen;siegreifenzwarbasaleEmotionendes Menschen(unddesPrimatenerbes)auf,sindnunaberoft„überladen“mit unrealistischenAnsprüchenundErwartungen;entsprechendeEnttäuschungsdramen sindvorprogrammiert. 24 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 AuchdienachwievorgroßeBedeutungderFamiliebzw.einerverlässlichenfamiliären Einbindungistauffällig;auchsiegehenmitdemmodernenIndividualismusHandin Hand.FamiliescheintfürnichtwenigejungeMenschenverlässlicherzuseinalsdie Freundschaftsgruppe,wenigerdurchFluktuationundkleineRivalitätenoder Eifersüchteleiengefährdet;auchwenndiefamiliäreRealität(ZunahmederScheidungen, Verbreitungsog.Patchworkfamilien)dieseHoffnungkonterkariert. SurrogatfunktionenfüreineverloreneGemeinschafthabensicherauchHaustiere:Sie sindfürvieleMenschen,insbesonderefürAlleinstehende,Partnerersatz;siebietendie Möglichkeit„sichzukümmern“undvermittelndasGefühl,eineAufgabezuhaben.Aber auchsonstsindvielefamiliäreGemeinschaftenlängstdurchHaustiereergänzt.Welche RolleTierefürdensozialenZusammenhaltderMenschenhaben,wärenochmalzu klären;tiergestützteTherapieformenjedenfallsgewinnenanBedeutung. ObsozialeNetzwerkeimInternet(online-Communities,Chat-Gruppen,onlineGesellschaftsspieleusw)diesenWunschnachGemeinschaftundZugehörigkeitersetzen können,magmanbezweifeln,zumindestkönnensieRealkontakteergänzen.Vermutlich lebendieMenschenindenMega-CitieskünftigohnehininvielfältigensozialenNetzen undGemeinschaften–dierealundmedial,ggf.sogarfiktivsindundjenachBedarfund Stimmungslagegenutztwerden. Soziales,ökologischesundhumanitäresEngagement DiesesEngagementversteheichalsSuchenacheinerneuenBalancezwischen IndividualismusundGemeinsinn.EngagierteMenschentretenfürdieeigenen FreiheitsrechteundfürdieindividuelleWürdeunddieRechteanderer(z.B.Flüchtlinge, OpfervonGewaltundVerfolgung)oderfürNatur-undUmweltschutzein:inAktionen undKampagnen,inregionalenoderinternationalenVerbändenoderOrganisationen. DafürstehenUNICEF,„ÄrzteohneGrenzen“,GesellschaftfürbedrohteVölker, GreenpeaceundvieleandereOrganisationenundGruppen. GetragenwirddiesesEngagementvonEmpathieundSolidarität,alsovoneinemGespür fürdasLeidenanderer,vonHilfsbereitschaftundMitverantwortung.ImZentrumstehen dieMenschenrechte,dasRechtaufeinLebeninWürde,aufeineselbstbestimmte Lebensgestaltung,aufdemokratischeMitbestimmung–dasheißt,diesesEngagement beziehtsichaufdieFreiheitundWürdeeinzelnerMenschenundGruppen,inder PerspektiveaberaufdieMenschheitalsGanzes–unabhängigvonEthnien,Sprachen, KulturenoderGeschlechtern.ZugleichverbindetesdiebeteiligtenMenschenundschafft einneuesWir-GefühlaufderBasishumanistischerIdeale.Deroderdieeinzelnehandelt alsMitgliedderGemeinschaftallerMenschen. DiesehumanistischenIdealeundWertesindheute(grund)gesetzlichverankertund (zunehmend?)auchTeilgesellschaftlicherPraxisbzw.öffentlicherKommunikationund Selbstverständigung.DieGesellschaftdefiniertsichüberdieSicherungindividueller Freiheitsrechte,überMitmenschlichkeitundüberSolidaritätmitHilfsbedürftigen,auch wenndasnichtimmerundinallenBereichenumgesetztwird. AufeinigeweitereEntwicklungenseikurzhingewiesen: DieTierrechtsbewegung23möchteAnsprüchedersog.Menschenrechte(z.B.Rechtauf Unversehrtheit,auf„selbstbestimmte“bzw.artgerechteLebensführung)auchauf andere,höherentwickelte,leidens-undbewusstseinsfähigeTiere(z.B.Primaten) 23Vgl.https://de.wikipedia.org/wiki/Animal_Liberation._Die_Befreiung_der_Tiere 25 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 ausweiten.DamitgeräteineweitereSchrankezwischenMenschenundTierenins Wanken.AuchdenhöherenTieren,zumindestunserennächstenVerwandteninder FamiliederHominiden(Menschenaffen),werden„Individualität“unddamitbestimmte Rechtezugestanden,auchwennsiediesenichtselbstreklamierenkönnen.DerBegriff der„Familie“erhältdamiteineerweiterteBedeutung.Die„Menschheitsfamilie“würde dannperspektivischdietaxonomischeFamiliederHominidenumfassen. DieUmweltbewegungwiederumerweitertdieuniversalistischePerspektiveumden LebensraumdesMenschenaufdemPlanetenErde,umdieSicherungder überlebenswichtigenNaturressourcenundÖkosysteme–undumdenErhaltder Biodiversität.DaszieltnichtaufjedeseinzelneLebewesen,wohlaberaufArten, PopulationenundLebensgemeinschaften.DerGerechtigkeitsgedankewirdauf„Natur“ ausgeweitet;NaturisthiernichtnurLebensgrundlage,sondernauch „Kooperationspartner“desMenschen.EinkooperativesVerhältniszurNaturwirdTeil dermenschlichenÜberlebensstrategien.24 PädagogischsetztsichdiesesEngagementuminKonzeptenderSelbstwirksamkeit,des EmpowermentsinVerbindungmithumanitär-sozialenNormenundWerten.Diese habensichindenletzten30-40JahrenbeiunsimmermehrindenFamilienundinden Erziehungseinrichtungen(Kita,Schule)durchgesetzt;u.a.befördertdurchdieradikale Kritikandertraditionell„autoritärenErziehung“inElternhaus,Kindergartenund Schule.WieengdieFörderungselbstbewussterIndividualitätunddieBereitschaftund FähigkeitzuEmpathie,sozialemEngagementundSolidaritätzusammenhängen, verdeutlichennarzissmustheoretischeKonzepte. ZurDialektikzwischenNarzissmusundSozialitätschreibtmeinleiderfrühverstorbener FreundundLehrer,derErziehungswissenschaftlerundBildungstheoretikerAlbertIlien unterBezugnahmeaufden1981verstorbenenamerikanischenPsychoanalytikerHeinz Kohut: „NarzissmuserscheintzunächstalsAusdruckderzutiefstsubjektzentrischenBedürfnisse, alsumfassendesGrößen-GefühlundrücksichtsloseAnsprüchlichkeitbeginnend,allesauf sichbeziehend,derInbegriffdessen,wasinderabendländischenTradition–christlichund bürgerlich–alsegozentrischgilt.Geradehier,imNarzissmus,entdecktKohutdie Empathie:sieistdurchangemessenen(empathischen)UmgangmitdemNarzissmusdes Kindes,alsdesseneigentlichmenschlicheAnlagebildbar.Dieangeborene,phasengerechte Ego-ZentrikdesKindesistinWahrheitsozialeAngewiesenheitundsozialeFähigkeit. DurchEmpathiewirdEmpathie.Empathieistein‚grundlegendesBandzwischen Individuen’,alsodas,wasdieSozialitäteigentlichausmacht.“25 Selbstbewusst,sozial,liebes-undgemeinschaftsfähigwerdenHerabwachsende,diesich alsKindauchinihremkindlichenNarzissmusverstanden,ernstgenommenund herausgeforderterlebthaben.Dieseangemessene(empathische)SpiegelungdesSelbst durchandere,fürdaseigeneLebenwichtigeMitmenschenistkonstitutivfüreine Individualität,diesichstetsmitMitmenschenverbundenweiß. HeinzKohutfasstseineAnsichtenzurBedeutungderEmpathie,diefürihneine lebenserhaltendeundzivilisierendeKraftist,indreiSätzenzusammen: „1.Empathie,dasErkennendesSelbstimAnderen,isteinunentbehrlichesMittelder Beobachtung,ohnedasweiteBereichedesmenschlichenLebens,einschließlichdes menschlichenVerhaltensimsozialenUmfeld,unverständlichbleiben.2.Empathie,die 24vgl.https://www.rechte-der-natur.de/die-idee.html 25AlbertIlien,„LiebeundErziehung.ZurBegründungderErziehungsidee“,1986,S.130f. 26 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 ErweiterungdesSelbst,umandereeinzuschließen,stellteinstarkespsychologischesBand darzwischenIndividuen,das–vielleichtmehrnochalsdieLiebe,Ausdruckund SublimationdesSexualtriebes–derDestruktivitätdesMenschengegenüberseinen Mitmenschenentgegenwirkt.3.Empathie,dasannehmende,bestätigendeundverstehende Echo,dasvomSelbsthervorgerufenwird,isteinepsychologischeNahrung,ohnedie menschlichesLeben,wiewirkennenundschätzen,nichtbestehenkönnte.“ FürKohutistEmpathie„dieResonanzessentiellermenschlicherÄhnlichkeit“unddie Kraft,„diederNeigungdesMenschenentgegenwirkt,Sinnlosigkeitzusehenund Verzweiflungzufühlen“.Dort,wodurcheinenMangelanEmpathiedaskindlicheSelbst „unterernährt“bleibt,werdenMenschen„zurleichtenBeutejedesVerführers(...),der ihnenverspricht,ihrGefühlderLeerezubesiegen.“26 26HeinzKohut,DieZukunftderPsychoanalyse,1975,S.44,S.51ff. 27 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 3. Universalisierung:WeltoffenheitundneueKollektive SpannungsverhältniszwischendemLebeninanonymen,globalen Vernetzungszusammenhängenundder(ursprünglich)aufkleineüberschaubare („personalisierte“)GemeinschaftenausgerichtetenKommunikations-und Wertsysteme (1)EntstehunggrößererGemeinschaften:KultgemeinschaftenundStaaten WiewirdausdemursprünglichenEthnozentrismuseineuniversalistischeHaltung?Die ursprünglichenGemeinschaftensindeindeutig„ethnozentrisch“ausgerichtet,nurdie MitgliederdereigenenSozietätundverwandtschaftlichverbundeneNachbargruppen habenMenschen-Status.ÜbergemeinsameKultzeremonienundFeste(Austauschvon Geschenken,„Frauentausch“27u.a.)werdendieBindungenzuNachbargruppenimmer wiederneugefestigtundggf.erweitert. DieerstendauerhaftenSiedlungen(Dörfer)sindsichernichtnur KooperationsgemeinschaftenkollektiverLandbewirtschaftung(oftmitgemeinsamen Speichergebäuden),sondernauchKultgemeinschaften(mitgemeinsamenKultanlagen). AuchspäteregrößereGemeinschaften(Clan,Stamm,„Chiefdoms“)beziehensichinder RegelaufeinengemeinsamenmythologischenUrsprung. Darüber,wiesichsozialeVerhältnisseundStrukturenmitdersteigenden BevölkerungszahlimVerlaufdesNeolithikumsverändern,kannnurspekuliertwerden: AusdehnungverwandtschaftlicherNetze(Clans,Stämme),Erweiterungder KultgemeinschaftenunterEinbeziehungmehrererdörflicherSiedlungen.Esistzu vermuten,dassdieBindungskraftmitderGrößederGruppenschwächerwird,alsoder besonderenundkontinuierlichenPflegebedarf. SpracheundReligion(Kultzeremonien)bildenüberdirekteVerwandtschaft(Sippe, Clan)undalltäglicheZusammenarbeithinaus(z.B.beimErrichtenzentralerKultstätten) AnknüpfungspunktefürdieGemeinsinnorientierungauchingrößerenGemeinschaften; diesekönnennunhunderteodersogartausendeMenscheneinschließen.IndenKulten spieltdiegemeinsamemythischeAbstammungeinezentraleRolle;sieistdieBasisfür einerweitertesZusammengehörigkeitsgefühl. MitderUrbanisierung,derEntstehungvonzentralenGroßsiedlungenundStaaten (Städte,Stadtstaaten,ReicheundImperien),indenennunschonhunderttausende Menschenzusammenleben,entwickelnsichneue„Angebote“oderVorgabenfürsoziale EinbindungundZugehörigkeit:dieBindungandaspolitischeSystemundseinen Herrscher,andiesozialeSchicht,KasteoderKlasse,andieBerufsgruppeusw.(vgl.Teil II).AbernochimmersindReligionundKultederzentralesozialeKitt–zunehmend ausgerichtetaufdieHerrscher.DieIdeeder„Nation“kommterstsehrvielspäterdazu. DiehistorischeTendenzzuimmerumfassenderensozialenSystemenundNetzwerken versuchtu.a.derHistorikerYuvalN.Hararinachzuzeichnen.„AbdemerstenJahrtausend vorunsererZeitrechnungentstandenjedochdreipotenzielluniverselleOrdnungen,deren AngehörigeerstmalsdiegesamteWeltindenBlicknahmenundsichdieMenschheitals einegroßeEinheitvorstellten,dieeinemeinzigenGesetzunterstand.Zumindestpotenziell warenalleMenschen>wir<,undesgabkeine>anderen<mehr.“28 27https://de.wikipedia.org/wiki/Frauentausch-Vgl.dazuauchdieTheseder„Kreuzcousinenheiraten“ vonClaudeLévi-Strauss. 28Y.N.Harari.„EinekurzeGeschichtederMenschheit“,2013,S.211ff. 28 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 DieseuniversellenOrdnungenbzw.TriebkräfteeinerUniversalisierungsindnachY.N. Harari(1)Handel(ökonom.Interessen;Geldakkumulation),(2)politisch-militärische Eroberung(MachtinteressenderImperien)und(3)religiös-ideologischeMissionierung (WeltreligionenwieChristentum,Buddhismus,IslammituniversalemAnspruch). (2)ZurGeburtuniversalistischerIdeen InderGeschichteeinigerZivilisationenkommtesim1.JahrtausendvorChr.zu Entwicklungen,diesichalsBeginneinesuniversalistisch-humanistischenDenkens interpretierenlassen. ImantikenJudentumsetztsichum600bzw.500v.Chr.derJahwe-Kultdeseinenund einzigenGottesgegendiverseanderepraktizierteGötterkulte(z.B.Baal,Ashera, Astarte)durch–u.a.übereinemassiveAblehnungvonMenschenopfernundEinführung strengerreligiöserRegeln(über600Ge-undVerbote,vorallemim„Levitikus“,dem3. BuchMoseniedergelegt;vgl.„jemandemdieLevitenlesen“),darunterauchdiefürdie damaligeZeitwirklichbeachtlicheForderung,FremdeimeigenenLandsowie Einheimischezubehandelnundnichtzu„schinden“(Lev.19,33f.). SoelitärdiejüdischeReligionauchist,inihremradikalenMonotheismusmit AlleinvertretungsanspruchtritteinuniversalistischesElementhervor:Jahweistder einzigeGott–damitsindletztlichalleMenschenKinderJahwes,nichtnurdieMitglieder des„auserwähltenVolkes“(vgl.Genesis). DasfrüheChristentumundderIslam:MissionierungderWelt Einenpolitisch-religiösenMissionierungsauftraggibtesimJudentumnicht,wohlaber imChristentumundimIslam–undwohlauchimBuddhismus.Insbesondereüberden hellenistischgeprägtenPaulusfindenuniversalistischeAnsätzeEinganginsfrühe Christentum.DazukommteinausdrücklicherMissionierungsauftrag: „DieelfJüngergingennachGaliläaaufdenBerg,denJesusihnengenannthatte.Undalssie Jesussahen,fielensievorihmnieder.EinigeaberhattenZweifel.DatratJesusaufsiezu undsagtezuihnen:MiristalleMachtgegebenimHimmelundaufErden.Darumgehtzu allenVölkern,undmachtalleMenschenzumeinenJüngern;tauftsieaufdenNamendes VatersunddesSohnesunddesHeiligenGeistes,undlehrtsie,alleszubefolgen,wasich euchgebotenhabe.Seidgewiss:IchbinbeieuchalleTagebiszumEndederWelt“(Mt28, 16-20). ChristentumundspäterderIslamstrebeneineuniversalistischeGlaubensgemeinschaft an,indiealleMenschen,nötigenfallsmitGewalt,eingebundenwerden.Sowohldie christliche,alsauchdieislamischeMissionierunggehthistorischmitimperialer Eroberungspolitikeinher:Eswerden„heilige“ReicheundImperiengeschaffen.Die GläubigensindunabhängigvonihrerethnischenHerkunftoderSpracheKinderGottes. WersichaberderMissionierungwidersetzt,wirdinderRegelverfolgt,unterdrückt oderermordet.„Die„anderen“,dassindnundie„Ungläubigen“,diekeinenMenschenStatusunddamitkeineRechtehaben.Sicher,JudenundChristenhabenimIslam durchausgewisse,nachgeordneteRechte,ebensoJudenzumindestzeitweiseim prämodernenEuropa;Rechte,dieinwiederkehrendenPogrom-Wellenvölligignoriert werden;aberdieseRechterelativierendiescharfeTrennungzwischenderGemeinschaft derGläubigenunddenUngläubigennurwenig.Vielfachwerdendie„anderen“nichtmal gefragt,obsie„denwahrenGlauben“annehmenwollen,sonderngleichermordet(z.B. sog.Indianernachder„Entdeckung“Amerikas). 29 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 DerUniversalisierungsanspruchderWeltreligionenziehtalsoeineblutigeSpurdurch dieGeschichte–bekanntlichbisinunsereTage.Erüberwindetdietraditionellen ethnozentrischenGrenzen,fördertsicherauchdieIdeedereinenMenschheitundführt dochneuetiefeSpaltungenein:DieMenschheitbestehtnunaus„Gläubigen“und „Ungläubigen“. ImperienunddieIdeedereinenMenschheit AuchdiefrühenReicheundImperien(ReichAlexanderdesGroßenund Nachfolgereiche,RömischesReich,KaiserreichChinau.a.)überwindenethnozentrische Grenzen.ImperiensindmultiethnischeGebilde,unddieHerrscherverstehensichinder RegelalsBeschützerallerBewohnerihresReiches.Dazukommt:DieMenschender ehemalserobertenTerritorienverlangenbalddiegleichenRechtewiedieBürgerdes Kerngebietes.Imgriechisch-römischenKulturkreisderAntikewirddasunterstütztoder vorbereitetdurcheinspezifischesVerständnisvonRationalitätunddurchein verbreitetesRechtsbewusstsein. Ichhabedaraufhingewiesen(TeilII),dassdieattischeDemokratieim5.Jhd.v.Chr. keineswegsuniversalistischorientiertist,imGegenteil:DasEigeninteresseAthenssteht fastimmerimVordergrundundwirdrücksichtslosverfolgt.AberdiePoliskultiviertund fördertdieindividuellePartizipationundMitspracheunddamitdieEntfaltung individuellerPotenziale.KonsequenterRationalismus,dasheißtjaauchdie HerausforderungandasIndividuum,überMenschundNaturvernünftignachzudenken, unddieFormulierungundFixierungvonBürgerrechtensindsicheraucheinNährboden füruniversalistischeIdeenundOrientierungen. DiesetauchendannindenantikenPhilosophenschulenabca.300v.Chr.,insbesondere inderStoaauf.AbererstmitderEntstehungdererstengroßen,multinationalen ImperienerweiternPhilosophenausdenRandgebietenundausnichtgriechischen StädtendierationalistischenundhumanistischenDenkansätzeüberdenethnozentrisch verengtenPolis-Bezughinaus. DieImperiensindinihremirrationalenAnspruchauf„Weltherrschaft“sicherzunächst durchkriegerischeEroberungs-undUnterdrückungspolitikgeprägt,siesindaberauch Keimzellenvölkerübergreifender,letztlichuniversalistischerIdeen.Imperiensind Schmelztiegel,dasgiltinsbesonderefürdiegroßenMetropolen(Rom,Athen,Alexandria u.a.).AuchKelten,Germanen,Libyerusw.könnenrömischeBürgerwerden, vorausgesetztsieerfüllenbestimmteVoraussetzungenundakzeptierendieHerrschaft desKaisers.IndenSöldnerheerendesImperatorskämpfenSoldatenunterschiedlichster VölkerfürdieSachedesKaisers.AuchdieKriegederImperienvernichtenund verbinden. DieImperienschaffenauchdieVoraussetzungenfüreinenletztlichglobalenHandel, indemsieeineeinheitlicheGeldwährungeinführen,dieHandelsroutensichernundden WarenaustauschinnerhalbdesImperiumsundmitNachbarreichenfördern.Mitdem HandelbreitensichnichtnurWaren,sondernauchneueErfindungenundIdeenaus.29 BishersinddieMenschendurchdieethnischeAbstammunginvorgegebeneKollektive eingebunden,nunkommen„bewusste“politischeoderreligiöseEntscheidungenhinzu. 29SchoninderAntikehatsicheinnahezuglobalerHandelentwickelt,BeispielenenntW.Altkrügerin seinemKommentarvomJuli2016. 30 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 DasführtnochnichtzurIdeederallgemeinenMenschenrechteunddergrundsätzlichen GleichheitallerMenschen,aberesbereitetdieseEntwicklungenvor. EuropäischeAufklärungunddieMenschenrechte DieIdeenderMenschenwürdeundderMenschenrechtenehmenmitderAufklärung GestaltanundverbreitensichalsbürgerlicheEmanzipationsideologieüberdie FranzösischeRevolutionunddieAmerikanischeUnabhängigkeitsbewegung.(Dashabe ichimTeilIIskizziert.)Aberesdauertbisins20.Jahrhundert(Völkerbund,Vereinte Nationen,Menschenrechtscharta)bissichtatsächlicheinweitgehenduneingeschränktes VerständnisderallgemeinenMenschenrechteentwickelt,dasnunauchFrauen, (ehemalige)Sklavenundsog.Primitiveeinschließt.Streitfelderbleibenbisheute(z.B. imHinblickaufgeistigSchwerstbehinderteoderDauerkoma-Patienten,menschliche EmbryonenoderunserePrimatenverwandtschaft). Mitdensog,„Menschenrechten“gewinnteinübergreifendesGerechtigkeitskonzept besondereBedeutung:dieGleichberechtigungallerMenschen. DasPrinzipderEgalitätistwesentlicherKernderMenschenrechte,denjeweils einzelnenRechtensozusagenübergeordnet: - DieallgemeinenMenschenrechtegeltenfüralleMenscheningleicherWeise,sie sindegalitär. - AlleMenschenhabendiegleichenGrundrechte:dasRechtaufUnversehrtheit, dasRechtaufNahrung,Unterkunft,medizinischeVersorgungusw.,dasRechtauf persönlicheFreiheit(Bewegungs-,Meinungs-,Religionsfreiheitu.a.),dasRecht aufGleichbehandlungvorGerichtu.a. - KeinMenschdarfaufgrundvonGeschlecht,Sprache,Rasse,Religion, Weltanschauung,sexuellerOrientierung,sozialerHerkunftusw.diskriminiert (bzw.privilegiert)werden. DieMenschenrechteformulierenalsoauchAnsprüchedesEinzelnengegenüberdem StaatundstaatlichenInstitutionen.So„verbietet“dasEgalitätsprinzipdieerwähnten Diskriminierungen(Differenzierungsverbot),esformuliertzudemauchAnsprücheauf Gleichstellung(z.B.GleichberechtigungvonMannundFrau),aufdieVermeidungvon Benachteiligungenund„fordert“dieSchaffungvonChancengleichheit. ZumKonzeptderMenschenrechtegehörenweiterePrinzipien: DasPrinzipderUniversalitätderMenschenrechtebesagt,dassdiesekulturübergreifend unduniversell,alsoüberallgelten,woMenschenleben. DasPrinzipderUnteilbarkeitderMenschenrechtebesagt:Siekönnennurinihrer Gesamtheitverwirklichtwerdenundnichtpartikular. DasPrinzipderUnveräußerlichkeitderMenschenrechtestelltfest:Siegeltenabsolut, unabhängigvomWillendesEinzelnen;keinMenschkanndaraufverzichten.30 30Vgl.www.netzwerk-menschenrechte.de-„Menschenrechte“sindvon„Bürgerrechten“zu unterscheiden.LetzteregeltennurfürdiejeweiligenStaatsbürger/innen:z.B.Wahlrecht;Übernahmevon staatlichenÄmternundFunktionen;AnsprücheaufbesonderestaatlicheUnterstützung 31 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 MitderAufklärungunddenEntwicklungenindenUSAundinFrankreichfindendie IdeenderMenschenrechte,derVölkergemeinschaftbzw.dereinenMenschheit VerbreitungundAkzeptanz;siehabenaberaucherheblicheKonkurrenz. (3)Nation,Volk,Rasse,Klasse:KonstituierungneuerGemeinschaften InderModernesindesnebenFamilieundVerwandtschaft(Großfamilie,Sippe,Clan) zunächstvorallemsprachlich,religiös,sozialundpolitischeausgerichtete „Gemeinschaften“(Volk,Nation,Religionsgemeinschaft,„Rasse“,„revolutionäreKlasse“), diealsneues„Wir“fungieren;wiewirausderGeschichtewissensehroftmit furchtbarenFolgen,dahierdas„Wir“und„dieanderen“nichtnurGrundmusterbleibt, sondernhäufig(inderRegelausMachtinteressen)dramatisiertundzugespitztwird. DerHistorikerH.A.WinklerverweistaufunterschiedlicheStaatsbildungsprozessein Europa.DieIdeeeinereinheitlichenNationalstaatesmitgemeinsamerSpracheund KulturwarimMittelalternochfremd–bisins15.Jhd.DiemittelalterlichenKönigreiche sindkeineNationalstaaten,alleumfassenauchfremdsprachigeVölker. DannentwickelnsichzweiStaatskonzepte:1.daseinerstaatlich-politischen„Nation“ miteinemzentralenHerrscherundständischenVertretungen:England,Frankreich, Spanienund2.daseinersprachlich-kulturellen„Nation“(Deutschland,Italien, Osteuropa).31 EintypischesWesensmerkmalEuropasundeinmittelalterlichesErbeistnachWinkler dieVielfaltderSprachenundNationen:DieserPluralismusbirgt,soWinkler,ein ElementderFreiheit.DasKonzeptderNationhataberauchzuzweiWeltkriegengeführt underweistsichimmerwiederalsschweresHemmnisbeiVersucheneiner internationalenVerständigung. NationalistischeundvölkischeKonzeptesindperdefinitionemnichtuniversalistisch,im Gegenteil,sieunterlaufenundkonterkarierendiehumanistischeIdeedereinen Menschheit,indemsiedasPrimatdereigenenNationformulierenundoft(meist!) fanatischdurchzusetzenversuchen. Diesozialistisch-kommunistischenKonzeptenehmenschoneheraufuniversalistische IdealeBezug.SiereklamierenzwarnurdieinternationaleEinheitundSolidaritätder „Arbeiterklasse“,ihreBegründerim19.Jhd.gehenaberdavonaus,dassdamitdie überwältigendeMehrheitderMenschheitangesprochenwird.Wirwissenheute(und erlebenestäglich),dassdiesozialeundökonomischeLagederMenschenaufdiesem Planetenhöchstunterschiedlichist,dasseskeineswegseingemeinsames „Klasseninteresse“gibt,vielmehreinekaumüberschaubarePluralitätextrem unterschiedlicherInteressenlagen. DieIdeenvon„Volk“,„Nation“und„Rasse“entwickelnheuteinbestimmten Bevölkerungskreisenwiedereinehohe,starkemotionalisierteAnziehungskraft.Siesind immerverbundenmitderAbwertunganderer,mitAggressionundHassgegen Abweichler(Oppositionelle)oderMinderheiten.UniversalistischeKonzepte(z.B. allgemeineMenschenrechte)werdenalsfeindlichinspiriertwahrgenommen.Wohlund Interessendereigenen„Nation“unddeseigenen„Volkes“habenabsolutePriorität(vgl. TeilII,5.Kapitel). 31H.A.Winkler,„GeschichtedesWestens“ 32 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 (4)GemeinschaftinZeitenderGlobalisierung MitderGlobalisierungderWirtschafts-undKommunikationsbeziehungenundmit tendenziellglobalenKonfliktenundKrisen(„Weltkriege“,„Weltwirtschafts-und Finanzkrisen“,„internationalerTerrorismus“,„globaleUmweltkrise“,weltweite Flüchtlings-undMigrationsbewegungen,usw.)rücktzunehmend„dieMenschheitals Ganzes“indenFokus.WenndieneueGemeinschaft,dasmoderne„Wir“,aberdie MenschheitalsGanzesist,dannsolltendieAnsprüchealleranderenGruppenoder Gemeinschaftenzunächsteinmallediglichnachgeordnetsein.DieRealitätsieht bekanntlichandersaus. EsisteineparadoxeEntwicklung:IndemMaße,wiedieIdeedereinenMenschheitsich historischdurchsetzt,wieGlobalisierungsprozessebestimmendwerden,erlebenwir eineWiederbelebungpartikularer,separatistischerpolitisch-religiöserIdeenund Bewegungen–unddamitvonGruppenegoismen. UniversalisierungundGlobalisierung,ihrerealeundmedialeDauerpräsenz,gehenmit vielfältigen,oftirritierendenVeränderungenauchimAlltagderMenscheneinher. „FremdheitisteinGrundzugderModerne“,soderPhilosophundSoziologeGunzelin SchmidNoerr32.Ersprichtzugleichvoneinemlegitimen„Grundbedürfnisnach vertrauterUmgebung“:„Daraufvertrauenzukönnen,dassanderediesozialwichtigen Bezügeähnlichsehen,istfürdieEinzelneneinhohesGutundTeileinerstabilenIchIdentität.Istdiesebedroht,reagierenvielmitAngstund,alskurzschlüssigeFormender Bewältigung,mitHassundVerachtung.“ EsscheinteinelementaresBedürfnisnachZugehörigkeitundVertrautheitzugeben, früherhättemanvermutlichvon„Heimat“gesprochen. DieentscheidendenFragensindm.E., -obsichsoetwaswieeinuniverselles„Wir“auchinstitutionellundindenKöpfender Menschenverankernlässtund -obundwiesichinZeitenderGlobalisierungauchimAlltagderMenschen Gemeinschaftenentwickelnkönnen,dieeinerseitsZugehörigkeitundVertrautheit erfahrbarmachen,zugleichaber„weltoffen“sind,offenfürNeues,fürdieIdeedereinen MenschheitundfürglobaleSolidaritätundVerantwortung. EsgibtdurchausauchEntwicklungen,dieein„globalesWir“fördern.Heutewerdendie großenStädtebzw.Metropolregionenimmermehrzumultiethnischenbzw. transkulturellenZentren,indennverschiedenkulturelleTraditionen zusammenkommen,sichwechselseitigbeeinflussenundverändern.KulturundSport sindVorreiter:DiegroßenOrchester,Chöre,Musik-undTheatergruppenoder FußballmannschaftensindmultiethnischeEnsembles.DasgiltauchfürBank-und KonzernzentralenundihreDependenzenundfüralleinternationalagierenden Organisationen. Transkulturalitätmeintmehr:„DerBegriffderTranskulturalitätgehtimGegensatzzur InterkulturalitätundMultikulturalitätdavonaus,dassKulturennichthomogene,klar voneinanderabgrenzbareEinheitensind,sondern,besondersinfolgederGlobalisierung, zunehmendvernetztundvermischtwerden.DieTranskulturalitätumschreibtgenau 32GundelinSchmid-Noerr,„DieFremdheitdesNachbarn“,FR08-06-2016 33 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 diesenAspektderEntwicklungvonklarabgrenzbarenEinzelkulturenzueiner Globalkultur.“33 DieMenschenrechtesindinzwischenüberdieChartaderVereintenNationen internationalanerkannt:DieganzeMenschheitalsGemeinschaftgleichberechtigter IndividuenundVölker,sozusagenalseinÜbergeordnetes„Wir“,demesaberan direktenmitmenschlichenBezügenundanAbgrenzungsmöglichkeitenmangelt.Die überwältigendeMehrheitderinzwischen7,5Mrd.Mitmenschenbleibtfürdieeinzelnen Menschenheutenotgedrungenanonym.EinGefühl„Wir“gegen„dieanderen“(Wersoll dassein?Viren?Außerirdische?)lässtsichnichtherstellen,allenfallsein„Wirsitzenalle ineinemBoot“,wirlebenallegemeinsamaufeinemkleinen,höchstanfälligenPlaneten vonbegrenzter„Lebensdauer“. MenschenkönnenvorallemüberdieneuenMedienzunehmendmiteinerimmer größerenAnzahlanderer„inKontakttreten“,dieseKontaktebleibenabervielfachoder überwiegendanonymundunpersönlich,damitfehlenwichtigeElementedes ursprünglichenZusammenlebensalsFundamentderGemeinsinnorientierung. InformationsteilunghatnichtdiegleicheexistenzielleBedeutungwiediearchaische Nahrungsteilung.AberdieMedieneröffnenVernetzungsmöglichkeitenüberalle nationalen,religiösenoderethnischenGrenzenhinweg. EsgibtersteVersuche,fürdieGemeinschaftderMenschheitInstitutionenzuschaffen: dieVollversammlungderVereintenNationen,derUN-Sicherheitsrat,derInternationale GerichtshofinDenHaag,dieWeltbankusw.–Nochdominierenhierdiesog. Supermächte,diesichggf.auchüberBeschlüssehinwegsetzen.Zudemfehltetwas Entscheidendes:einwirklichgemeinsamesundinNormenoderGesetzenfestgelegtes VerständnisderMenschenrechteunddesVölkerrechtssowieeinwirksames Monitoring-undSanktionssystem. Derzeitsiehtesnichtsoaus,dassdieVölkergemeinschaftsichaufeinemit entsprechendenBefugnissenausgestatteteWeltregierungverständigenkönntewiesie schon1974derHistorikerArnoldToynbeeinseinemletztenBuchfordert: „DiegegenwärtigenunabhängigenRegionalstaatensindwederimstande,denFriedenzu bewahren,nochdieBiosphäredurchdieVerunreinigungdurchdenMenschenzuschützen oderihreunersetzlichenRohstoffquellenzuerhalten.DiesepolitischeAnarchiedarfnicht längerandauernineinerÖkumene,dielängstauftechnischemundwirtschaftlichem GebieteineEinheitgewordenist.WasseitfünftausendJahrennötigist–undsichinder TechnologieseithundertJahrenalsdurchführbarerwiesenhat–,isteineweltumfassende politischeOrganisation,bestehendauseinzelnenZellenvondenAusmaßender neolithischenDorfgemeinschaften–sokleinundüberschaubar,daßjedesMitglieddas anderekenntunddocheinBürgerdesWeltstaatesist.[...]IneinemZeitalter,indemsich dieMenschheitdieBeherrschungderAtomkraftangeeignethat,kanndiepolitische Einigungnurfreiwilligerfolgen.Dasiejedochoffenbarnurwiderstrebendakzeptiert werdenwird,wirdsiewahrscheinlichsolangehinausgezögertwerden,bisdieMenschheit sichweitereKatastrophenzugefügthat,KatastrophensolchenAusmaßes,dasssie schließlichineineglobalepolitischeEinheitalskleineremÜbeleinwilligenwird.“34 33http://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaet-transkulturalitaet-und- plurikulturalitaet.html 34ArnoldJ.Toynbee(1889–1975):MenschheitundMutterErde.DieGeschichtedergroßenZivilisationen, 1979,S.501f.–vgl.https://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_J._Toynbee 34 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 EinerseitsgibteseineweitereAusweitungderTendenzzurUniversalisierung(z.B.wird inderTierrechtsbewegungdasmitmoralischerVerantwortungverbundene„Wir“auf alleleidensfähigenLebewesenausgeweitet),andererseitsgibtesstarke Gegenbewegungen,dieaufdasPrimatderNationbzw.desNationalstaatesundauf Regionalisierungsetzen.InsbesonderedieimZugederHerausbildungvon ZentralstaatenundImperienandenRandgedrücktenVölkerfordernverstärkt AnerkennungundEigenstaatlichkeit(vgl.inEuropadieBasken,Schotten);andere GruppenoderStaatenfühlensichdurchpolitischeUnionenübermäßigbelastetund beharrenaufAutonomie,umPrivilegienundWohlstandnichtteilenzumüssen(z.B. FlameninBelgien,LegaNordinItalien,EU-AustrittsbefürworterinEngland).Die aktuelleKrisederEUinZeitenderFlüchtlingswellenzeigt,wiewenigbelastbardieIdee einerpolitischenUnionselbstdortist,wosieamweitestenrealisiertzuseinscheint:in Europa.WederdieUnabhängigkeitsbestrebungeneinzelnerRegionenundschongar nichtdieimmerweiterumsichgreifendepopulistischeAnti-EU-Politik,diesichmit einerBetonungnationalerInteressenverbindet,werdenzueinerStärkungder Demokratieführen.ImGegenteil. Imneuen„rechten“,anti-europäischenPopulismus35siehtderniederländischeSoziologe DickPelseine„völligeUmwertungderWerte“.DieserPopulismusberuftsichzwar„auf dasVolk“.Aber„nichtimSinnedesgriechischenDemosalsStaatsvolk,sondernimSinne einesPlebs,einesgefühltenUnten.Im„WirsinddasVolk“derPegidalässtsichdasgut beobachten.EsberuftsichaufeinegefühlteGemeinschaftundschließtalleanderen,etwa Neuankömmlinge,aus.(...)insofernsehenwireineNeudefinitionderVolkssouveränität. DasgipfeltineinemmoralischenÜberlegenheitsgefühltgegenüberderElite–ausPolitik, aberauchMedienundWirtschaft:„Wirhabenimmerrecht.“Unddieses„Wir“isteine homogeneGemeinschaft.“36Demokratieheißt,soD.Pels,ebennicht(nur)„Herrschaft derMehrheit“,sondernvorallemauch„SchutzderMinderheit“.DieEntwicklungenin EuropaundindenUSAsinddiesbezüglichderzeitnichtbesondersermutigend. Dazukommt,dassgrobgeschätztnureinSiebtelodereinSechstelallerMenschenin StaatenundKulturräumenleben,indenenDemokratieundWertewieMenschenwürde undMenschenrechteeinegewisseTraditionhabenundimgesellschaftlichenAlltag verankertsind.VoralleminaußereuropäischenKulturkreisendominierenseit JahrhundertenautokratischeStrukturenundrelativstarresozialeKlassen-und Kastensysteme;dortbestehennachwievorstarkegroßfamiliäreBindungenfort.Die MenschenlebeninFamilienclansundsozialenOrdnungen,dieineinemSystem wechselseitigerUnterstützungundVerpflichtungGemeinschaftbietenund repräsentieren.GemeinschaftstattFreiheit.DiemultiethnischenStaateninAfrikaund AsienfördernnichtetwaföderaleoderländerübergreifendepolitischeKonzepte, sonderneinenmitunterfanatischenNationalismus,indemMehrheitsethnienoderreligionenihreDominanzansprücherigorosgegenüberMinderheitendurchsetzen. DieglobaleVerantwortungfürdieMenschheitalsGanzes,fürdieSicherungdes ÜberlebensaufdemPlaneten,fürmenschenwürdigeLebensbedingungenundfürdie WahrungderMenschenwürdeundderMenschenrechteistnochlangenichtwirksam institutionalisiert.EinVerständnisvon„Gemeinwohl“,dassichaufdieeineMenschheit bezieht,bestehtallenfallsinAnsätzen. 35TypischfürpopulistischeBewegungenistdieBehauptungeinesnationalenKernvolkes,dem Zugewandertegrundsätzlichnichtangehören,unddieAblehnungderherrschendenEliteninkl.der staatlichenMedien,diealstendenziell„internationalistisch“,d.h.als„Verräter“amVolkgelten. 36„Das‚Wir’hatimmerRecht“,InterviewmitdemSoziologenDickPelsinFR04.04.2016 35 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 DieZukunftderMenschheitistoffenundm.E.auchnichtwirklichprognostizierbar.Das hat„Zukunft“soansich.ZuvieleEventualitätenspielenindieweiterenEntwicklungen hinein. WiesichderKlimawandelauswirkenwird,welcheFolgendieinsgesamtvomMenschen vorgenommenenmassivenEingriffeinStoffkreisläufeundÖkosystemehaben,istnur vageabzuschätzen.DasindnochvieleÜberraschungenmöglich.Vonmöglichen geologischenodermeteorologischenKatastrophen(z.B.ExplosioneinesSupervulkans, Meteoriteneinschlag),diediegesamtemenschlicheZivilisationauslöschenkönnten, ganzzuschweigen.Siesindnichtzusteuernundnichtzuverhindern,dagibteskeine wirklichePrävention.Siesindaber,„GottseiDank“,ausderPerspektiveeines Menschenlebensextremselten. DieWeltbevölkerungsdynamik,dienochaufJahrzehnteeinrasantes BevölkerungswachstuminsbesondereindenvonextremerArmut,Umweltzerstörung Korruption,politischerRepressionbetroffenenStaatenundRegionenprognostiziert, wirdalleökologischen,sozialenundpolitischenProblemlagenverschärfen.Diesistwohl kaumzubestreiten,auchwenneinigeExpertenundOrganisationendieMeinung vertreten,dieErdekönnelockerauch9oder10MilliardenMenschenverkraftenbzw. ernähren,undPlänezurGeburtenkontrollezudemoftmit„rassistischen“Unterton daherkommen.Faktist,dassesinfastallenStaatendes„Südens“nichtgelingt,fürdie wachsendeZahljungerMenschenWegeausderArmutzueröffnenbzw.fürsieeine realistischeArbeits-undLebensperspektivezuentwickeln,dieauchangesichtsder inzwischenüberSmartphonesundTVallgegenwärtigenBilderausden WohlstandsregionendieserWeltBestandhat.„Auswege“bietenfundamentalistische religiöseundpolitisch-militärischeBewegungenundGruppierungen,kriminelleBanden –oderdieMigration„insgelobteLand“. Dievielenlobens-undliebenswertenEntwicklungsprojekteindenLänderndessog. „Südens“sindangesichtsderstrukturellenProblemlagen(Wirtschafts-und Machtinteressen,diefürBevölkerungsmehrheitenkeinePerspektivenaufBildung, Ausbildung,Arbeitusw.bieten)nureinTropfenaufdemheißenStein.DieZahlder „Armutsmigranten“,derBürgerkriegs-undder„Umweltflüchtlinge“wirdzunehmen. ZunehmenwerdenaberauchdieHerausforderungenindenglobalenMetropolregionen, indenenbalddieMehrheitderMenschheitinmulti-undtranskulturellen Agglomerationenlebenwird,dieZig-MillionenMenscheneinschließen......... Dieungelöstenökologischen,sozialenundpolitischenKrisen-undKonfliktherde schreiensozusagennacheinergemeinsamenReaktionderMenschheit.Sierufennach einemneuen„Wir“,dasalleMenschenumfasst–undnachentsprechenden internationalenRegelungenundInstitutionen,diesichu.a.anPrinzipiensozialerund internationalerGerechtigkeitorientieren.37HierstehtdieMenschheiterstamAnfang– undderGegenwindistleiderheftig. DanebenwerdenaberwohlauchweiterhinkleinereGemeinschaftenunverzichtbarsein, indenenverlässlichepersönlicheFormenderKooperationundKommunikationundein GefühlderZugehörigkeitentwickeltwerdenkönnen.Vielleichtentwickelnsiesich längstindentranskulturellenBallungsräumendieserWelt,vielleichtinFormflexibler 37Das„CapabilityApproach“-KonzeptdesindischenPhilosophenundWirtschaftswissenschaftlers AmartyaSen,dasdie„Verwirklichungschancen“(MöglichkeitendesEinzelnen,einerfolgreichesLeben nacheigenenWünschenzuverwirklichen)unterdenjeweiligengesellschaftlichenundkulturellen Bedingungenbewertet,istdazueininteressanterundvonderUNbereitsgenutzterAnsatz(„Human DevelopmentIndex“,HumanPovertyIndex“).-https://de.wikipedia.org/wiki/Capability_Approach 36 JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII Stand:Juli2016 GruppenundNetzwerke,diedeneinzelnenFreiräumeundvielfältigeOptioneneröffnen undzugleichUnterstützunganbieten:inneuenFormendes„realen“Zusammenlebens undZusamenarbeitensund/oderals„fiktive“Netzgemeinschaft. "Globaldenken–lokalhandeln":DieBalancezwischenuniversalistisch-humanistischer Orientierungundpartizipativ-kooperativenGemeinschaftsformenvorOrtistm.E.eine zentraleHerausforderungfürheutigeundkünftigePolitikundPädagogik(vgl.imTeil IV:Kommunitarismus). Ichfürchteallerdings,dasswirMenschenmitdenrationaleinsehbarenundauch umsetzbarenLösungenletztlichüberfordertsind,daGruppenegoismen,kurzfristige individuelleVorteilssuche,nationalistischeundreligiös-fundamentalistischeIdeologien, diemitheftigenEmotionenundkaumsteuerbarensozialenBewegungeneinhergehen, undnichtzuletztdieLogikkapitalistischerGewinnmaximierungalleLösungsversuche torpedieren,zumindestmassiverschweren.WiesagtederSchauspielerund SchriftstellerPeterUstinov(gest.2004)mitmildemSarkasmus:„DasGuteamMenschen sindseineIdeenundVorsätze,dasSchlechteist,dassersienichtumsetzenkann.“ Sorry,vielleichtfälltmirjanocheinbessererSchlussein. 37
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