STUDIE Gemeinsinn-Teil III

JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
TeilIII:GemeinsinnundEigensinn:ParadoxienderModerne
DerMenschistursprünglicheinWir.NurdurchengeKooperationund
GemeinsinnorientierunghabendiekleinenGemeinschaftendesHomosapiens
überlebenundsichausbreitenkönnen;dashabeichimTeilIderStudieaufzuzeigen
versucht.
ImTeilIIhabeichzentralehistorischeUmbrücheundEntwicklungeninihren
AuswirkungenaufdasZusammenlebenskizziert,indenennunEigensinneineimmer
größereBedeutungerfährt.EinigeAspekteundFragengreifeichnunnocheinmalauf:
1. DieEntwicklungvonsozialerUngleichheit,HierarchisierungundHerrschaftim
RahmenvonursprünglicheheregalitärstrukturiertenGemeinschaften(Wie
entstehenHerrschaftundsozialeUngleichheitbzw.Ungerechtigkeit?)
2. IndividualisierungsprozesseimRahmeneinerursprünglichaufGemeinsinnund
KooperationbasierendenGesellschaft(WiekommteszumIndividualismus?Wie
gestaltetsichdasVerhältnisIndividuum-Gemeinschaft?),
3. UniversalisierungsprozesseaufderBasisvonursprünglichethnozentrischen
OrientierungenunddemexistentiellenGefühlderZugehörigkeitzueinerkleinen,
verlässlichenGemeinschaft(WiekommteszumUniversalismusundwiegestaltet
sichdasVerhältnisUniversalismusund„Ethnozentrismus“?).
Deutlichgewordenistauch,dassdieseEntwicklungenhochambivalentsind:Das
„archaischeErbe“bestehttrotzallerVeränderungenfortundbleibt(sicherin
veränderterForm)virulent:
•
AnsprücheaufGleichheit,PartizipationundsozialeGerechtigkeitstoßenaufeine
komplexegesellschaftlicheRealitätextremunterschiedlicher(ungleicher)
Lebens-undAusgangsbedingungenfürIndividuenundFamilien,eine
gesellschaftlicheRealität,diezudemohneHierarchie(d.h.Ungleichheit)nicht
funktionsfähigzuseinscheint;
•
WünschenacheinemEingebettetseinineineenge,verlässlicheGemeinschaft
stoßenaufAnsprücheaufindividuelleFreiheitund„Selbstverwirklichung“,diese
wiederumbedarfdersozialenSpiegelungundBestätigung;
•
„ethnozentrischeOrientierungen“bleibenauchinZeitenderGlobalisierung
virulent,führeninden„Massengesellschaften“undvordemHintergrundvon
Macht-undVerteilungskämpfenimmerwiederzuaggressivenKonflikten,
KriegenundMassakernunderschwerendieDurchsetzunguniversaler
Verständigung.
DieFragennachEntstehungundhistorischerEntwicklungvonHierarchie,
IndividualismusundUniversalismusfassendieDarstellungenausdemTeilIInoch
einmalzusammen.SiesindalsoteilweiseeinRückblick,dernocheinmalzentrale
Thesenfokussiert.
DieThematisierungderdamitzusammenhängendenAmbivalenzenundParadoxien,die
m.E.dieheutigeZeitprägen,fälltleidernurknappundeherstichwortartigaus.Eine
differenzierteAnalysewürdedenRahmendieserStudiesprengen.Ichwerde
stattdessenversuchen,dazuineinem(begonnenen)TeilIV(„Gerechtigkeitund
Freiheit“)einigephilosophischePositionenundAntwortenzusammenzustellen.
1
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
1. HierarchisierungundEgalität
EntwicklungvonMacht-undHerrschaftsstrukturenbeigleichzeitigemAnspruchder
GemeinsinnorientierungundEgalität(„Gleichheit“).
ArchäologischeFunde(Gräber,GrabbeigabenundRestevonBehausungen)ausdem
PaläolithikumundfrühenNeolithikum(vor8.000v.h.)zeigenkeineHinweiseauf
stratifizierteGesellschaftenbzw.aufinstitutionalisierteHerrschaft.Diearchaischen
Gemeinschaftensindoffenbarrelativegalitärorganisiert.Dieprinzipielle„Gleichheit“
(Gleichstellung)allerMitgliederistGrundlagederKooperationund
GemeinsinnorientierungindiesenfrühenExistenzgemeinschaften.DieseGleichheitist
einzentralesElementdesIdealsvonHarmoniesichernder„Gerechtigkeit’“(vgl.TeilI,1.
und7.Kapitel)1;siebeziehtsichm.E.auffolgendeKernaspektedesZusammenlebens:
-
AlleMitgliederderGemeinschafthabenbedarfsgerecht„gleiche“Anrechteund
ZugriffsmöglichkeitenaufvorhandeneRessourcen(Nahrung,Vorräte,Rohstoffe
fürHaus-,Werkzeug-oderWaffenherstellungusw.)-undgleicheAnrechteauf
SicherheitundSchutz(z.B.vorGewalt,Feinden,Raubtieren).InNotzeitenwird
„gerecht“analleverteilt.Heutesprechenwirvon„Verteilungsgerechtigkeit“bzw.
von„sozialerGleichheit“bezogenaufdieGrundbedürfnissedesLebensund
Überlebens“.
-
AlleMitgliederderGemeinschaftwerdenbeiStreitigkeiten,Vergehenoder
Gewalttatenusw.nachdentradiertenNormenundRegelnderSozietätgleich
behandelt.EsherrschtkeinewillkürlicheBevorzugungoderBenachteiligung
einzelner.HeutesprechenwirvonderGleichheitvordemGesetz.
-
AlleMitgliederhabendieMöglichkeit,am„öffentlichen“Lebenteilzunehmenund
sichanDiskussionenundEntscheidungen,diedieGemeinschaftbetreffen,zu
beteiligen.(DaswirdsichernichtimmerimvollenUmfangzutreffen!)Heute
sprechenwirvon„politischerGleichheit“.
-
DieVerteilungvonAufgaben,Pflichten,BelastungensowievonRechtenund
BefugnissenerfolgtinnerhalbderGemeinschaftnichtwillkürlich,sondern
„gerecht“imSinnedertradiertenRegelnundderquasinaturwüchsigen
Arbeitsteilung.Dieseorientiertsichi.d.R.anGeschlecht,Alter,individueller
LeistungsfähigkeitoderBeeinträchtigung.
UnsereheutigenVorstellungenvonGleichheitundGerechtigkeitsindsichersehrviel
komplexerundvielstärkerformalisiert.IndenfrühenSozietätenhatesdurchaus
„Ungleichheit“bezogenaufdieo.g.Kernaspektegegeben:beibesonderenindividuellen
LeistungenundVerdiensten,z.B.erfolgreicheJäger,Krieger,Heilkundige,
(LeistungsprinzipalsBegründungfürUngleichheit)–oderinbesonderenNotfällenoder
Bedarfslagen,z.B.VersorgungvonUnfallopfern,Kranken,Kleinkindern,
(BedürfnisprinzipalsBegründungfürUngleichheit).AberdieseUngleichheitensind
wederwillkürlichnochimSinnedauerhafterund„vererbter“Privilegienoder
Diskriminierungeninstitutionalisiert.
1GleichheitundGerechtigkeitsindunterschiedlicheKategorienundnichtidentisch.Gleichheit
(Gleichstellung)giltgemeinhinalswichtigesElementfürdasIdealbzw.denWertoderdassubjektive
Empfindenvon„Gerechtigkeit“.MitunterkannUngleichheitals„gerecht“empfundenwerden,wennsie
mitbestimmtenindividuellenLeistungenoderBedarfslagenverbundenist,dieallgemeinakzeptiert
werden–oderGleichheit(z.B.beiderVerteilungvonRessourcen)erscheint„ungerecht“,wennsiediese
entsprechendeberechtigteundanerkannteUnterschiedeignoriert.
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DasAlltaghandelnorientiertsichvermutlichwenigeranbewusstkommunizierten
WertenundNormen(„Gleichheitwahren,damitesgerechtzugeht!“),alsaneiner
selbstverständlichenGemeinsinnorientierung.„Gerecht“(=richtigundangemessen)ist
alles,wasFriedenundHarmonieinnerhalbderGemeinschaftsichert,wasden
ZusammenhaltunddieZusammenarbeitfördert.
DasursprünglicheheregalitäreMusterzwischenmenschlicherBeziehungeninkleinen
Gemeinschaften(Gemeinsinnorientierung,„archaischesWir“)wird
entwicklungsgeschichtlichinrelativkurzerZeitaufgelöstinz.T.extremen
Hierarchisierungen.DürftenamEndederletztenEiszeitvorrund12.000Jahrendie
damalsvielleichtrund1Mio.(ggf.auch5Mio.)Menschenweltweitausschließlich–so
wieinJahrzehntausendenzuvor–inrelativkleinenGemeinschaftengelebthaben,so
entstehenschonwenigetausendJahrespäterGroßgesellschaftenmitvielenMillionen
Einwohnern,mitgottähnlichenHerrschernundstarrenHierarchisierungen.Die
GesellschaftstrukturiertsichalsKlassengesellschaft,egal,obsicheineAlleinherrschaft
odereineOligarchievonAdelsfamilienetabliert.
DieserProzessfindetzumTeiloffenbarvölligunabhängigvoneinander(!)infastallen
dichterbevölkertenRegionenderErdestatt.ErstehtaufeklatanteWeiseim
WiderspruchzurursprünglichenGemeinsinnorientierungundzurTraditionsozialer
Gleichheit.IchhabeunterRückgriffaufbekannteÜberlegungendarzulegenversucht,
wieesdazukommenkonnte.InjedemFalldürftemitderHierarchisierungeine(wie
auchimmerbeimHomosapienslatentodermanifestvorhandene)Neigungzu
pointierterindividuellerNutzenoptimierungundzueinemfürPrimatenansich
typischenRangordnungsverhaltenwiederbelebtoder„entfesselt“wordensein.
IndividuelleUnterschiede(auchimHinblickaufAggressivität,Durchsetzungsvermögen,
Empathie,Intelligenzusw.)findennunzunehmendRahmenbedingungenzurEntfaltung
undleiteneinensichselbstreproduzierendenProzesshinzusozialerUngleichheitein:
SinddieLebensbedingungenerstmalunterschiedlichundungleich,reproduziertsich
sozialeUngleichheitauchohnedirekteGewalt„vonselbst“(durchdiejeweiligen
familiärenBedingungen,dieunterschiedlichenRessourcenusw.).
IchblickezunächstnocheinmalauffolgendeFragen:
•
WieentstehenHerrschaftundHierarchisierungindeneheregalitären
Gemeinschaftenundwiesokönnensiesichdurchsetzen?
•
WieüberdauerndieursprünglichenIdeenderGleichheitundGerechtigkeitundder
„Volkssouveränität“(bzw.kollektiveSelbstbestimmung)dieseEntwicklung?
•
WiestelltsichheutedasVerhältnisvonGleichheitundUngleichheit,vonHerrschaft
undFreiheitbzw.Partizipationdar?
ZudiesenFragensollenimFolgendeneinigeGedankenundAnregungenvorgestellt
werden.
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
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(1)WieentstehtHerrschaft?–Die„K+K-Hypothese“
„Herrschaft“meintinstitutionalisierteundlegitimierteMachtausübung.DerBegriffgeht
wohlauf„hehr“(=ehrenvoll,würdevoll)zurück,meintalsoursprünglichein
ehrenvollesAmt,istaberzugleichmit„Herr“verbunden,alsopatriarchalischkonnotiert.
HerrschaftentstehtimVerlaufderEntwicklungvonAckerbauundViehzuchtund
insbesonderevonHochkulturensukzessive,fastschleichendaufderBasiseiner
Überschussproduktion.Vielerortsbildensog.„Chiefdoms“,einvererbtesHäuptlingstum
(einHäuptlingbeherrschtmehrereDörfer),eineZwischenstufezwischengrundsätzlich
eheregalitärausgerichtetenGemeinschaftenundsozialerElitebildung.Daraufgeheich
hiernichtweiterein.2
ArchäologischzeigtsichdieEntwicklungundEtablierungvonHerrschaftvorallemin
besonderenGrabanlagenundGrabbeigaben:DieGrabanlagenderGottkönigein
Altägypten(Pyramiden)undChina(MausoleumQinShihaungdismitdersog.
Terrakotta-Armee)3gehörenzudengrößtenBauwerkenderAntike!Zudemlassensich
nunindenZentralortenpalastartigeMonumentalbautennachweisen.Darüberhinaus
werdenHerrscherundihremeistmilitärischenTateninReliefsundStelensowie
anderenKunstformen(z.B.Wandmalereien)dargestellt.InetlichenRegionen(z.B.
China,Mittel-undSüd-Amerika:vgl.„FürstvonSipan“derMoche-Kultur)müssenden
verstorbenenHerrschernvieleBediensteteundKonkubinenindenTodfolgen,um
ihnendortimJenseitsweiterhinzudienen(„Totenfolge“).Siewerdenermordetoder
lebendigbegraben.4
ÜberdieOrganisationundDurchführungvonkultischenZeremonien(-dazusind
„Geheimwissen“undbesonderemagischeFähigkeitennötig!)und,damitverbunden,
überdieLeitungundKoordinationvonGemeinschaftsaktivitäten(BauundPflegevon
BewässerungsanlagenoderTerrassen;OrganisationderVerteidigungoderLeitungder
AuswanderunginandereRegionen)erlangeneinigeMännerundihreFamilieneine
besondersgeachteteStellung,diebaldauchmitgewissenPrivilegienverbundenist.
DauerhafteHerrschaftentstehtindenzunächstrelativegalitärenGemeinschaftenm.E.
primärausdengroßengemeinsamenZeremonien,diedieUnterstützungderGötterund
damitdasÜberlebenderGemeinschaftsichernsollen.DazukommendieMitgliederder
KultgemeinschaftenregelmäßiganzentralenOrtenzusammen.Hierwerden
gemeinschaftlichgroße,oftgigantischeKultanlagen(Tempelpyramidenu.a.)errichtet,
umdenGötternzuopfern.ImZusammenhangvonKultundProduktion(oft
Bewässerungsfeldbau)sichertdieGemeinschaftunterAnleitungkultischerFührer(das
könnenzunächstauchFrauensein!)ihreExistenzundvergewissertsichihres
Zusammenhalts.DenKultführernobliegtdabeiinderRegelauchdieLagerungund
VerteilungderÜberschüsse,dieteilweiseebenauchfürdieKultfeiernreserviertund
zentralgelagertwerden!TempelsindnichtseltenzugleichVerwaltungsstellender
Güterverteilung,sieverfügenüberdieÜberschüsse!Siekontrollierenundregistrieren
dieAbgabenderBauernoderDorfgemeinschaftenunddieTributzahlungender
besiegtenStädteundTerritorienundsteuerndenEinsatzvonKriegsgefangenen
(Sklaven).
DiePrivilegien(=„Vorrechte“wieMacht-bzw.Entscheidungsbefugnisse,Entlastungvon
Arbeit,VerfügungüberLuxusgüter,GeheimwissenderKultdurchführungusw.)sind
2https://de.wikipedia.org/wiki/Häuptlingstum
3https://de.wikipedia.org/wiki/Mausoleum_Qin_Shihuangdis
4http://www.indianer-welt.de/sued/mochica/moche-sipan.htm
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überall,daszeigtderBlickindieGeschichtedersog.Hochkulturen,sowirkmächtig,dass
Herrscherfunktionenbaldvererbtwerden,alsoineinzelnenFamilienbleiben–und
wennnötigmitGewaltdurchgesetztwerden(-werüberentsprechendeRessourcen
verfügtkannbekanntlichseineInteressenauchmitgekaufterGewaltdurchsetzen).
Indenfrühensog.HochkulturenistdieEntwicklungvonabsolutistischerHerrschaft
Einzelnerbzw.ihrerFamilien(Dynastien)engverbundenmitderEntwicklungeiner
striktenKlassengesellschaft,alsovonrigorossepariertensozialenSchichten,Kasten
oderKlassen,denenjederMenschperGeburtzugeordnetwird:Meisthandeltessichum
einekleineOberschicht(adligeElite)undeineUnterschicht(dieMasseder
produzierendenBauernundHandwerker),dazukommenggf.weitereSchichtenwie
Händler,VerwaltungsbeamteundPriesterusw.–sowieSklaven.Sklavenkönneneinen
unterschiedlichenStatushaben,siesindnichtüberallvölligrechtlos.Oftwerdenweitere
differenzierteSchicht-oderKastenunterteilungenvorgenommen.
DurchvorgeschriebeneKleidungundAusstattung,vorgegebeneWohnviertelund
vielerleispezifischeRechteundPflichten(z.B.militärische)wirddieSpaltungder
Gesellschaftzementiert.SchwerpunktmäßigkonzentriertsichdieKlassenzuordnung
überzulässigeodernichtzulässigeAufgaben,ArbeitenundEheschließungen;ein
sozialerAbstiegistmöglich,einAufstiegnurinseltenen,strenggeregeltenAusnahmen.
Interessantist,dassz.B.gemeinsameMahlzeitenimindischenKastenwesen(4Kasten
bzw.VarnasmitjeweilsvielenUntergruppen=Jatis)ursprünglichnurzwischen
MitgliederdergleichenKasteerlaubtsind.
DiesesehrstarreStratifizierungscheintfürlangeZeitdaseinzigeKonzeptzusein,in
denneuenGroßgesellschaften„geordneteVerhältnisse“zuetablieren.Ichhabedarauf
hingewiesen,dassdiesestarreRegelhaftigkeitanRitualeerinnert,die
KontingenzerfahrungenundChaosängstebewältigenhelfen.SozialeOrdnunginden
großenGemeinwesenundStaatenscheintzunächstnurüberstrengritualisierteAbläufe
undStrukturenherstellbarzusein.
MeinezentraleTheseistalso:HerrschaftentstehtinersterLinieausdemKult,genauer
ausderOrganisationundspirituellenLeitungdergroßenreligiös-kultischen
Zeremonial-undOpferfeste,diedenZusammenhaltderaufAckerbaubasierenden
GemeinschaftenzelebriertunddenSchutzderGötterunddamitdieExistenzder
Gemeinschaftsichert.
EsgibtabernocheinenzweitenWegderEntstehungvonHerrschaft(undPatriarchat).
HerrschaftkannauchausEroberungundKriegresultieren.Trägersinddann
insbesonderemobileHirtennomaden,diesichaufRaubundÜberfällespezialisieren
oderentsprechendeGelegenheitennutzen.GroßviehherdenwerdeninderRegelvon
bewaffnetenMännernbewachtundbegleitet,diemitihremVieh(Rinder,Kamele,
Pferde)oftweiteEntfernungenzurücklegen,alsosehrmobilsind.Solche
Hirtennomadensindimmer(?)patriarchalischstrukturiert.Zudemkönnenzuvor
sesshafteGemeinschaftendurchklimatischeVeränderungen(oftdurchandauernde
Dürre),NaturkatastrophenoderandereEreignisseinBewegunggeraten,inandere
Regioneneinwandernundsichdortfestzusetzenversuchen.Auchhierbeispielen
bewaffneteMännergruppeneinezentraleRolle.
DieVorfahrenvielerHochkulturenimNahenOsten,IndienundinEuropa(Hethiter,
Mitanni,Griechen,Perser,Indoarieru.a.),aberauchderMaya,derAztekenundderInka
inMittel-undSüdamerikasindzugewandertundhabenübereinestarkmilitaristische
StrategiedieHerrschaftüberansässigeKulturenübernommenundausgeweitet.Die
AnführerdieserkriegerischenGruppenetablierensichdannoftalsHerrscherauchin
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Friedenszeiten.DerTiteldererstenInka-Herrscherlautet„Sinchi“=„Kriegsherr“,erst
spätereHerrschertragendenTitel„SapaInka“=„ErsterInka“.RobertGraves
(„GriechischeMythologie“)vermutet,dassGötternamenwie„Zeus“oder„Poseidon“
ursprünglichdieNamenvonKriegsherrnderinsvorindoeuropäischeGriechenland
eindringendenGriechengewesensind.
IndiesenKulturenkönnenpolitisch-militärischeundreligiös-kultischeFührung
verbundenodergetrenntsein;aberauchmilitärischeErfolgewerdenalsUnterstützung
derGöttererlebtundentsprechendindenMythendargestelltundimKultzelebriert.Die
Geschichte(z.B.derrömischenoderchinesischenHerrschaftsfolgen)zeigt,dass
HerrschafteinerseitsüberFamiliendynastienvererbt,andererseitsübererfolgreiche
Kriegsherrnokkupiertwird.
InteressantistindemZusammenhang,dassz.B.auchderbisheuteanhaltendeKonflikt
zwischenSunnitenundSchiitenimIslamauseinemStreitumdieLegitimitätder
NachfolgedesProphetenMohammedresultiert:WährenddieSchiiten(Schiat-Ali=
AnhängerAlis,desSchwiegersohnsdesPropheten)nurdiefamiliäreLinieder
nachfolgendenHerrscher(KalifenundImame)anerkennt,akzeptierendieSunniten
letztlichdiepolitisch-militärischerfolgreicheNachfolge.
Einmaletabliert,reproduziertsichHerrschhaftfastautomatisch:zuverlockendsinddie
PrivilegienfürEinzelne,ihreFamilienundAnhängerundzuverführerischistdie
narzisstischeBefriedigung,„ganzoben“zustehenals„Auserwählter“derGötter.
Dasmeineichmitderetwasflapsigformulierten„K+K-HypothesederEntstehungvon
Herrschaft“:Kultund/oderKriegsindderMotor;regelmäßigeÜberschussproduktionist
dieVoraussetzung.
IchsprechehiervonmännlichenHerrschern,dadiesdieRegelist.Eshatallerdingsin
etlichenKulturenauchHerrscherinnengegeben(z.B.dieals„SenoradeCao“bekannte
MumieausderMoche-KulturinPeruca.500/600n.Chr.).Bekanntsindauchdie
einzelnePharaoninnen(wieHatschepsut),derenHerrschaftallerdingsauseiner
dynastischenSondersituationentsteht.Ähnlichesgiltwohlfürvieleandere
Herrscherinnen.(ZuhistorischenAnnahmeneines„Matriarchats“habeichmichschon
imTeilII,Kapitel2derStudiegeäußert.)
SoodersoistHerrschaftalsozunächstandieGemeinschaftgebundenunddadurch
legitimiert.SieistmitPrivilegienverbunden,dievonderGemeinschaftmitgetragenund
unterstütztwerden,wirdaberimmermehrzumSelbstzweck–underzwingt
irgendwann(ggf.gewaltsam!)dieZustimmungderGemeinschaft.
(2)AkzeptanzvonHerrschaftundUnterwerfung
Wiesoakzeptiertbzw.erträgteineJahrtausendelangaufGemeinsinn„geprägte“
Gemeinschaft„plötzlich“denHerrschaftsansprucheinerElite?
DieEntwicklungistinunterschiedlichstenKulturenoffenbarsehrähnlichverlaufen.Der
HerrscheristzunächstnurgeachteterKult-oderKriegsführer:vonseinenkultischen
KenntnissenundFähigkeitenodervonseinenkriegerischenErfolgen,d.h.auchvon
seineroffenbarvorhandenenbesonderenBeziehungzudenGöttern,hängtdasWohlder
Gemeinschaftab.
DernächsteSchrittistdieApotheose(=„Vergötterung“:ErhebungeinesMenschenzum
Gott):BehauptetwirddieeigenemythischeAbstammungvondenGöttern,dieeigene
GöttlichkeitoderdochGottähnlichkeit.SiewirdimMythosderGemeinschaft„erzählt“
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undvonGenerationzuGenerationweitergegeben–undindieKulteintegriert.5Wie
schnelldieseApotheoseablaufenkann,erlebenwirauchheuteimmerwieder,indem
lebendeoderverstorbenepolitischeFührervonihrenAnhängernwieGötterverehrt
werden;Kim-il-SunginNordkoreaoderMao-Tse-tunginChinasindnurzweiBeispiele.
DieKultemüsseneindrucksvoll-schreckliche,hochemotionaleEreignissegewesensein,
verbundenmitOpferhandlungenundFestgelagen.Opferkulte(inklusive
Menschenopfer)sindzumindestseitderEntstehungdersog.Hochkulturenweltweit
verbreitet.DieKultesindnunimmerauchDarstellungbzw.Zelebrierungder
GöttlichkeitdesHerrschers.
ImMythosderInkaistderersteInkaherrscherderSohndesSonnengottesInti,
zusammenmitseinerSchwester(!)wirderaufdieErdegeschickt,umdieMenschheitzu
retten.(Kommteinemirgendwiebekanntvor.)JederInkaherrscheristverpflichtet,eine
seinerSchwesternzuheiraten.NurausdieserBeziehungerhaltenneueInkaherrscher
ihreLegitimität.DerinstitutionalisierteInzestsichertdieReinheitdergöttlichen
Abstammung.DieInka-HerrscherundvorallemihreAhnenwerdenalsgöttlichverehrt;
demSapaInkadarfmansichnurbarfußundmiteinersymbolischenLastnähern;er
sprichtdieGesprächspartnerauchniedirektan,sondernverbirgtKörperbzw.Gesicht
hintereinemStoff.DaskostbareGewandwirdtäglichgewechselt,dieKleidung,ebenso
seineSpeiserestewerdensorgfältiggesammeltundjährlichimRahmeneinergroßen
Feierverbrannt.6
Esistbezeichnend,dassHerrschaftzunächstüberall(?)mythologisch-religiös
begründetwird.DieoffenkundigeBeseitigungoderEinschränkungdesursprünglichen
GemeinsinnssiehtsichoffenbarvonAnfanganLegitimationserfordernissenausgesetzt.
DieextremeHierarchisierungderGesellschaftmitgottgleicherPositionderHerrscher
vielerImperien(z.B.PharaoinÄgypten,PriesterkönigeinMesopotamienundMittel-
undSüd-Amerika,römischeundchinesischeKaiseru.a.)wirdausdemMythosoderder
Religionabgeleitet.„Hierarchie“wirdhieralsowörtlichgenommenundlegitimiertals
„heiligeHerrschaft“;derHerrschervertrittdieGottheit,istSohndesGottesoderwird
selbstalsGottverehrt.
DasFortbestehenderGemeinsinnorientierungzeigtsichallerdingsinverschiedenen
Ritualen,denenselbstgottgleicheHerrscherunterworfensind;jaeigentlichliegtihre
AufgabeundLegitimitätursprünglichgenaudarin,dasWohlderGemeinschaft
sicherzustellen.ZumindestderScheinmussgewahrtwerden,dasgiltselbstfür
rücksichtslosegoistischeDespoten;heutelassensichdieseinScheinwahlendie
„Zustimmung“desVolkesbestätigen.
AuchwodieHerrschernichtzugleichGottoderOberpriestersind(z.B.imeuropäischen
Mittelalter)werdenihreHerrschaftunddieHierarchisierungderGesellschaftals
„gottgewollt“dargestellt.DieursprünglicheZustimmungderGemeinschaftwirdnun
alsozueinerZustimmungGottesoderderGötter!DasVolkjedenfallsakzeptiertdiese
gottgewollteHerrschaftweitgehend;wermagsichschongegendieGötterstellen?Zur
NotwirdmitGewaltundgrausamenStrafennachgeholfen.
DieextremstarreHierarchisierungderGesellschaft(Klassen,Kasten)schafft
selbstverständlichspezifischeSozialisationsbedingungen,durchdiesichderjeweilige
5AlleKulturenundSozietätenerfindenbzw.erdichtenErzählungenübersichselbst(Mythen).Ineiner
MischungausRealitätbzw.ErinnerungundVisionbeschreibensieihreHerkunft,ihreherausragenden
BesonderheitenundihreerhoffteZukunft(vgl.Exodus-MythosderIsraeliten).ImMythosbeschreibtund
beschwörtdieGemeinschaftihreVerbundenheitundihrenZusammenhalt.
6https://de.wikipedia.org/wiki/Inka
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sozialeRangreproduziert.AufdiesepsychodynamischeSeitederReproduktionvon
Herrschaft,dieinneuererZeitjaunteranderemunterdemStichwort„autoritärer
Charakter“(E.Fromm)diskutiertwird,geheichhierabernichtnäherein.Mitgeht’shier
umdenursprünglichmythologisch-religiösenAspektderHerrschaftundihregöttliche
Legitimation.
Dasheißtaberauch:ErstalsdieseGötterweltinsWankengerät,alsZweifelaufkommen
anderAllmachtderGötterodergaranihrerExistenz,geratenauchdieGöttlichkeitder
HierarchieundHerrschaftinsWanken,wächstderMutzumWiderstand.
(3)WiederbelebungegalitärerundherrschaftskritischerIdeale
Wiekommtes,dasssichzumindestindereuropäischen(bzw.sog.abendländischen)
KulturdieursprünglicheGemeinsinnorientierungunddieIdeenvonsozialer
GerechtigkeitundGleichheitwiederbeleben:inFormvondemokratischenundsozialen,
undheutzutageauchökologischenBewegungen?DieIdeenderVolkssouveränitätund
Demokratiewendensichzunächstgegenscheinbargottgewollteautokratischeund
tyrannischeHerrschaftsformenundzielenaufformaleGleichheitundkollektive
Selbstbestimmung.SiegehenaberauchimZugederhistorischen
IndividualisierungsprozessemiteinerimmerstärkerwerdendenGewichtung
persönlicherFreiheitundindividuellerRechte(Menschenrechte)einherundmitder
IdeeeinerquasinatürlichenWürdejedeseinzelnen(Menschenwürde).Dasletzteistm.
E.deninverlässlicheKollektiveeingebundenMenschenprämodernerGesellschaften
vermutlichvölligfremd.ImGegenteil:Insbesonderetraditionellverfeindetenoder
verachtetenNachbargruppenwirdderMensch-Statusabgesprochen,siewerdennicht
seltenals„Monster“oderTierwesenbeschrieben.
AberdieIdeenderVolkssouveränität,dersozialenGleichheitundGerechtigkeitkönnten
sozusagenarchaischeWurzelnhabenbzw.auchnachJahrhundertenderDespotie,der
gottgleichenHerrschaftundRepressionimkollektivenGedächtnisbewahrtwordensein.
(Ichweiß,eineetwasgewagteThese–mehreinGedankenspiel!)
DieIdeederVolkssouveränität:EntwicklungzuDemokratieundFreiheit
IchkannundwillhiernichtdieeuropäischeoderwestlicheEntwicklungderDemokratie
(hier:Selbstbestimmungdes„Volkes“)nachzeichnen,nurineinigenStichwortenan
einigeQuellenunddemokratischeTraditionslinienerinnern.
IchseheimWesentlichenzweiQuellen:Dieeinekommtausdergriechischenund
römischenTradition,dieandereausderchristlichenbzw.jüdisch-christlichenTradition.
DaraufbinichimTeilIIderStudieimExkurs„VonderAntikezurModerne“bereitskurz
eingegangen.
InderPolisAthenkommtesimZugevonMachtkonfliktenzueinersukzessiven
EntmachtungderOligarchievonAdelsfamilienundzueinerpartiellenWiederbelebung
derGemeinschaftderBürger,dieallerdingsnichtalleMitgliederderPoliseinschließt
undRechtederBürgerauchgemäßEinkommensklassendefiniert.Dennoch:Über
umfassendeBeteiligungsrechtedermännlichenBürger(Mitwirkunginder
„Volksversammlung“,inden„Volksgerichten“,im„Ratder500“)undeinausgeklügeltes
SystemderMachtkontrollefindeteinesehrrationaldurchorganisierteNeugestaltung
derGemeinschaftstatt,werdenGemeinwohlorientierungundinAnsätzenauchegalitärdemokratischePrinzipien(Volksabstimmungen)wiederbelebt.Allerdingsgenießennur
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maximal25%derEinwohnerderPolisAthendieseBürgerrechte,Frauen,
Zugewanderte,SklavenundandereGruppensindausgeschlossen.Demokratieistin
AthenprimäreinKonstruktzurVerhinderungvonTyranneiundvonAlleinherrschaft
einigerwenigeradeligerFamiliendynastien.AberdiesesKonstruktistenggekoppeltan
ErfahrungenvonindividuellerPartizipationundFreiheit.
AufdemokratischePrinzipienbeidenRömerngeheichauchhiernichtnäherein.Ein
zentralerAspektist,dassdieRömer,vielleichtnachdemVorbildAthens,eine
detaillierteVerrechtlichungvonHerrschaftsstrukturenundderBürgerbeteiligung
vornehmen.SelbstzuZeitendeskaiserlichenImperialismussinddieKaisergenötigt,
bestimmteRechtsvorgabeneinzuhalten.DieserVersucheinersystematischen
VerrechtlichungpolitischerEntscheidungsprozessewirdeinzentralesElementder
europäischenModerneundderdurch„Verfassungen“geprägtenDemokratien.
DiezweiteQuelle„demokratischer“Strukturenseheich,wennauchnichtohneZweifel,
imfrühenChristentum,zumindestsolangedieGläubigenverfolgtwerdenundihre
ReligionnochnichtStaatsreligionist.
Der„Bischof“,heuteeinehochrangigePositioninderKirchenhierarchie,istzunächstnur
der„Aufseher“(grie.episcopos“),derAnerkanntesteunterdenÄltesten(grie.
presbyteroi“,daherheute„Priester“)derGemeinde,einprimusinterpares.Undder
Gemeinde(unddenÄltesten)gehörenzunächstganzselbstverständlichauchFrauenan.
AllerdingsistderBegründerdesChristentumsalseigenständigerReligion,Paulus,alles
anderealsdemokratischgesonnen.ImRömerbrief(13,1)schreibter:„Jederleisteden
TrägernderstaatlichenGewaltdenschuldigenGehorsam.Dennesgibtkeinestaatliche
Gewalt,dienichtvonGottstammt;jedeistvonGotteingesetzt.Wersichdaherder
staatlichenGewaltwidersetzt,stelltsichgegendieOrdnungGottes,undwersichihm
entgegenstellt,wirddemGerichtverfallen.“JedeHerrschaftistalsovonGotteingesetzt
undGehorsamistGewissenspflicht.MartinLutherwirdJahrhundertespäterdieses
Obrigkeitsdenkenerneutrechtfertigenbzw.fordern.
ImMittelaltersindesvorallemdie(christlich-rationalen)Scholastiker,diesichu.a.mit
FragennachdemUrsprungundderLegitimitätdesStaatesundvonHerrschaftbefassen;
einigeleitenaustheologischenReflexionen(erstmals?)dieIdeeder„Volkssouveränität“
ab.
FürWilliamvonOccam,gest.1347,undMarsiliusvonPadua,gest.1342,istdie
SouveränitätdesVolkeseinNaturrecht:VordemSündenfalllebtendieMenschenin
harmonischer,egalitärerGemeinschaft,nachdemSündenfallkannnurderStaatundein
vonderGemeinschaftlegitimierterHerrscherChaosundUnordnungverhindern.Der
KönigmussdahervomVolkgewähltoderernanntwerdenunddannzumWohledes
Volkesregieren,allerdingsdurchausmitabsoluterMacht.„Volkssouveränität“meint
hieralsolediglichdieLegitimationderHerrschaftdurchdasVolk,nichtdie
demokratischeBeteiligungdesVolkesanEntscheidungsprozessen.7
EntscheidendfürdieEntwicklungvonDemokratieundFreiheitimsog.Westenistnach
H.A.Winkler(„GeschichtedesWestens“)dieIdeederGewaltenteilung.Ersiehtsie
letztlichebenfallsimChristentumbegründet(Jesustrenntzwischendemweltlichen
ReichdesKaisersunddemReichGottes,Mt.22,18-21).DasKonzeptder
GewaltenteilungistfürWinklerdiewesentlicheGrundlagefürindividuelleund
ständisch-korporativeFreiheitenderBürgerinMittel-undWesteuropaimMittelalter.
DieFreiheitsspielräumeentstehenimWesten,weilKaiserundPapst,alsopolitischeund
7vgl.MaxBeer,„AllgemeineGeschichtedesSozialismusunddersozialenKämpfe“,1931,S.182f.
9
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
kirchlicheMacht,sichüberlangeZeiträumeneutralisieren(Investiturstreit)–dasistim
Ostenanders!DieTrennungvonstaatlicherundkirchlicherMachtisteineEntwicklung
desWestens.
Der„dualistischeGeistdesAbendlandes“(O.Hintze)zeigesich,soWinkler,abernicht
nurinderTrennungvongeistlicherundweltlicherMacht,sondernauchinder
TrennungderweltlichenMachtinHerrschereinerseitsundVasallenbzw.Vertretervon
AdelundBürgertum(„Stände“)andererseits,zudemauchinderTrennungvon
gutsherrlicher(Adelsgüter)undbäuerlicherLandwirtschaft.Winklerbetont:Dieser
innerweltlicheDualismus„trägtdenKeimderFreiheit“insich.Wichtigist,dass
Gewaltenteilungverrechtlichwird.
DieMagnaChartavon1215,inderderenglischeKönigdenrebellischenBaronenetliche
Rechtezugestehenmuss,istsoeinRechtsdokument.SieleitetdieEntwicklungdes
westlichenParlamentarismusundderrepräsentativenVerfassungein.Der
Kronvasallenrat,dieVertretungderBarone,mussnunbeiallenwichtigen
EntscheidungendesKönigsbefragtwerden,etwabeiderErhebungvonAbgabenoder
beiderGefangennahmeoderEnteignungvonfreienMännern.
DieweitereEntwicklungseinurinStichwortenangefügt.
EssinddannvorallemdieEntwicklungeninEngland(„GloriousRevolution“1689,„rule
oflaw“,Parlamentarismus),inNordamerika(AmerikanischeUnabhängigkeitserklärung
1776)undFrankreich(Aufklärung1750-80undFranzösischeRevolution1789),die
dieIdeenvonDemokratieundSelbstbestimmungpopulärmachen–auchhiernoch
ohneEinbeziehungderFrauenundderSklaven.
BarondeMontesquieu,gest.1755,formuliertinseinem,vonderKircheverbotenen
Buch„Del’espritdeslois“dieGewaltenteilungzwischenLegislative,Exekutiveund
Judikative.FürMontesquieuistsieeinKonstrukt,umsowohlAbsolutismusalsauch
„Pöbelherrschaft“zuverhindern.HeuteistsieeinKernelementderDemokratieundder
persönlichenFreiheit.
MitderAufklärungunddengenanntenpolitischenEntwicklungenkommendieIdeen
derMenschenwürdebzw.derMenschenrechteinsSpiel,dieMeinungsfreiheit,die
PressefreiheitundindemZusammenhangdiebürgerlicheÖffentlichkeitalszentrales
InstrumentimChorderDemokratie.EigentumwirdzumNaturrecht.Rechtssicherheit
wirdVoraussetzungfürwissenschaftlicheForschungundkapitalistisches
Unternehmertum.NochsindDemokratie,FreiheitundMenschenrechtevorallem
KampfinstrumentedesBürgertums,seinerunternehmerischenInteressen,undder
nationalenBefreiungsbewegungen.
ZentraleErgebnissedieserEntwicklungundEckpunktemodernerdemokratischer
Verfassungensindm.E.u.a.folgendeIdeenundPrinzipien.
-
MenschenwürdeundMenschenrechte,siegeltenfürjedesmenschliche
IndividuumundbegründenseineFreiheitbzw.Freiheitsansprüche,seinRecht
aufkörperlicheUnversehrtheit,aufBewegungs-,Religions-undMeinungsfreiheit
usw.,
-
derVolkssouveränität:inFormdirekterVolksabstimmungen,wievonJ.J.
Rousseauim„Contratsocial“formuliert,oderalsparlamentarischeDemokratie
nachenglischemMuster,
-
MöglichkeitenindividuellerPartizipationanderVerwaltungundGestaltungdes
Gemeinwesensbzw.Staates,
10
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
-
Rechtssicherheit(„ruleoflaw“):DazugehörenderrechtlichabgesicherteSchutz
desEigentums,dieEinhaltungvonVerträgen,dieUnabhängigkeitder
Rechtsprechung,dieVerpflichtungauchderMächtigenaufdasGesetzusw.
-
strikteGewaltenteilung(m.E.fastnirgendsidealumgesetzt)
-
freieÖffentlichkeitundöffentlicheDiskurseallerrelevantenAngelegenheiten:
Meinungs-undPressefreiheit,FreiheitderForschungusw.(direkteundmediale
Öffentlichkeit;fachwissenschaftlicheDiskurseinderscientificcommunity).
BegriffewieDemokratiebzw.VolkssouveränitätlassensichvielleichtmitetwasMühe
nochandieAlltagspraxisunddasSelbstverständnis derarchaischenundprämodernen
Gemeinschaftenanschließen.DieGemeinschaftenberatenundklärenihre„politischen
Angelegenheiten“kollektivundtendenziellegalitär.AberdieVorstellungenvon
individuellenFreiheitsrechten,diejabedeuten,dassmansichgegendasKollektiv
wendenodervonihmabwendenkann,sindm.E.neubzw.„modern“.Letztlichgiltdas
sicherauchfürdiemeistenanderenbeispielhaftgenanntenKernpunktemoderner
Demokratien.SiekonstituiereneineneueGemeinschaftformalgleicherundfreier
Individuen(BürgerinnenundBürger)–allerdingsaufderBasiserheblicher
UnterschiedeindenLebensverhältnissenunddamitindenLebenschancen.Die
deutlichenundtendenzielleherzunehmendenUnterschiedebetreffendieEigentums-
undVermögensverhältnisse,dieArbeits-undBerufs-und
Selbstverwirklichungsmöglichkeiten,dieChancenaufökonomischeundpolitische
Karriere,dassog.sozialeundkulturelleKapitalusw.Sieführenfaktischzuerheblicher
sozialerUngleichheit,eineFolgederkapitalistischenLogik,diezugleichanindividuelle
Freiheitgebundenist.IndemderKapitalismusaberzueinererheblichen,historischnie
dagewesenenVerbesserungdesLebensstandardsführt(Wohlstandfüralle!),undeine
nunmöglicheSozialgesetzgebungschlimmsteHärtenabfedert,verlierenreproduzierte
sozialeUngleichheitenanpolitischerBrisanzundSprengkraft.
Demokratieschafftzwaru.a.aufdemFeldderdemokratischenMitbestimmung
(Volksabstimmungen,WahlenzuParlamentenusw.)undweitgehendauchimBereich
derRechtsprechungformaleGleichheit,siekannabernichtgrundlegendesozialeund
ökonomischeUngleichheitaufheben,siekannsieallenfallssozial-undreformpolitisch
abmildern.
SoführtdieDemokratisierungalsRückgewinnungderSouveränitätdesKollektivsbzw.
derGemeinschaft,indemsiemitderkapitalistischenProduktionsweiseverbunden
bleibt,zuzunehmenderUngleichheit.AusderPerspektivedesarchaischenWiristdas
eineparadoxeEntwicklung!DerGewinnanVolkssouveränitätundindividuellerFreiheit
wirderkauftmitsozialerUngleichheitundmitvielfältigenUngerechtigkeitenund
Benachteiligungen(z.B.fehlendeChancengleichheitinBildungundKarrierechancen).
ImTeilIVderStudie„Freiheitund/oderGerechtigkeit“werdeichdasaufgreifen.
DieIdeederGleichheit:ImpulseeinerEntwicklungzusozialerGerechtigkeit
AuchIdeenundIdealeeinesherrschaftsfreienZusammenlebensinegalitären
GemeinschaftenoderzumindestIdealevonsozialerGerechtigkeitbleibenimsog.
Westenlebendigoderwerdenwiederbelebt.DaszeigtMaxBeerinseiner1931
veröffentlichten„AllgemeinenGeschichtedesSozialismusunddersozialenKämpfe“.Ich
gehenuraufwenigeAspektekurzein.
11
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
AusdemChristentumentstehenweitereEntwicklungen(z.B.mittelalterlichesMönch-
undKlosterwesen,Katharerbewegung),dieimKern„demokratisch“sindbzw.sich
gegendasStrebennachMachtundReichtumrichten.Idealesinddiesog.„apostolische
Armut“undeinLebenin„brüderlicherGemeinschaft“(die„Schwestern“sindnur
anfangsnochrelativgleichberechtigtdabei).AberdieseEntwicklungenbleibeninsular
undrudimentär(Mönchtum)bzw.werdenblutigunterdrückt(Katharer,
Täuferbewegung),bevorsieindenPraxistestgehenkönnen–odersielebennurals
utopischerEntwurfweiter(ThomasMorus„Utopia“,TommasoCampanella„Der
Sonnenstaat“,eigentlicheinfurchtbaresExperimentderZüchtungidealer
Kollektivmenschen).8
MitdemIndustriekapitalismusentstehtdanndiehistorischfolgenreichsteBewegungfür
sozialeGleichheitundGerechtigkeit:dieArbeiterbewegungundderSozialismusin
seinenverschiedenenStrömungen.9EinzelneVersuche,eineSozietätderGleichheitund
desGemeineigentums,eine„Kommune“oder„Räterepublik“,aufzubauen,gelingen
meistnurindeneuphorischenPhasenerfolgreicherKämpfegegenreaktionäreKräfte,
siewerdendannzumeistblutigniedergeschlagen:sodie„PariserKommune“(1871)
unddieanarchosyndikalistischenKommuneninKatalonienundinsbesonderein
Barcelona(1936)im„KurzenSommerderAnarchie“(Enzensberger).Michhatdiese
eindrucksvolleenthusiastischeBewegunginmeinerStudentenzeitsehrberührt,gerade
weilhierdieUtopieeinerVerbindungvonFreiheitundEgalitätfürkurzeZeit
Wirklichkeitzuwerdenscheint;sieistinderFolge(1937)vondenanfänglichen
BündnispartnerngegendieFranco-Truppen,denKommunisten(Stalinisten),blutig
bekämpftundunterdrücktworden.
EsgibteinigeweitereVersuche,eine„Rätedemokratie“zuerrichten:insbesonderenach
demErstenWeltkrieginUngarn,Münchenu.a.–IndiesemSystemliegtdieMachtbei
direktgewählten„Räten“,dieeinimperativesMandathaben,alsoandenWillender
Wähler/innengebundenbleiben,wennmansowill:striktgemeinsinn-orientiert.Die
Wähler/innensindinBasiseinheitenorganisiert,beispielsweisedieArbeitereines
Betriebes,dieBewohnereinesBezirkesoderdieSoldateneinerKaserne.Diegewählten
RätenehmenAufgabenalsöffentlicheFunktionsträgerwahr,siesindGesetzgeber,
RegierungundGerichteineinem.DieGewaltenteilungistaufgehoben,alleFunktionen
werdendurchdirektgewählteRäteausgeübt,diejederzeitrechenschaftspflichtigund
abwählbarsind.SowirdeinbasisdemokratischesSystementwickelt,dasauchdieersten
JahrederRussischenRevolutionundderSowjetunion(=„Räte-Union“)bestimmt.Mit
derMachtübernahmeStalinsbestehtdiesesSystemzunächstnurformalweiterund
wirddannganzaufgelöst,nurderName„Sowjetunion“bleibtbis1989/90.10
DieseEntwicklungensindallesamtgescheitertbzw.führenzum(inzwischenauch
gescheiterten)StaatssozialismussowjetrussischerPrägung,derletztlicheinetotalitäre
HerrschaftderKommunistischenParteiund/oderihresFührersdarstellt.
ImmerhinhabenesderMarxismusunddiesozialistischenundanarchosyndikalistischen
Bewegungengeschafft,diealtenIdeenundIdealeeineregalitärenGemeinschaftaufder
BasisvonGemeineigentumundSolidarität(Gemeinwohlorientierung)wiederzubeleben
–undzwarweltweit.DieseIdealezeigensichinvielfältigenBewegungenund
8MaxBeer,AllgemeinenGeschichtedesSozialismusunddersozialenKämpfe“,S.317ff.undS.336ff.
9Parallelundkonkurrierenddazuentwickeltsichm19.Jhd.diekatholischeSoziallehre(bzw.die
christlicheSoziallehre),dieebenfallsaufGemeinsinnundSolidaritätzieltunddieIdealevonEmpathie
undGerechtigkeitimAlltag(nichtalspolitischesKampfinstrument)zurealisierenversucht.Daraufgehe
ichhiernichtnäherein.
10https://de.wikipedia.org/wiki/Räterepublik
12
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
gesellschaftlichenInitiativen(Genossenschaftswesen,selbstorganisierteUmwelt-und
Nachhaltigkeitsinitiativen,usw.),letztlichauchinderIdeedes"Wohlfahrtsstaates",der
dasWohlergehenaller(!)sicherstellensoll.Aberdiessindzumeistlokale,bestenfalls
regionaleBewegungen,gesamtgesellschaftlichehermarginalisiert,oder
sozialdemokratischebzw.christlich-sozialeReformprogrammeimRahmendes
Kapitalismus.Immerhin,inihnen"leben"dieIdeederGemeinsinnorientierungund
praktischeVersucheeinerRealisierungfort.11
ParadoxerweisemündenaberalleVersucheeineegalitäreGemeinschaftauf
gesamtstaatlicherEbenezurekonstruierenbzw.wiederzubelebeninSystemen,diedie
Volkssouveränität(bzw.diekollektiveSelbstbestimmung)undindividuelle
Freiheitsrechteignorierenodermassivunterdrücken.Sieführendort,wosiesichreal
odervermeintlichgegenreaktionäreKräftezubehauptenversuchen,letztlichund
bisherausnahmslos(!)zuneuenFormenautokratischerodersogarterroristischer
HerrschafteinzelneroderkleinerCliquen;unddasauchdort,wo„dieRevolution“
vermeintlich„gesiegt“hat(UdSSR,VRChina,DDR,Kuba).„Volkssouveränität“wirddort
nurnochdeklamatorischbehauptet,faktischhatdasVolknichtszusagenoderzu
bestimmen.
(4)HierarchieundEgalitätheute:ZwischenDemokratieundDespotie
HeuteerlebenwirHerrschaftinunterschiedlichstenFormen.DiePolelassensichso
kennzeichnen:
•
einerseitsalsdemokratischlegitimierteundrechtsstaatlichorganisierte
MachtausübungimAuftragderGemeinschaft,
•
andererseitsalsAlleinherrschaftohnedemokratischeLegitimationvoneinzelnen
Personen(Diktatoren)oderelitärenGruppen(z.B.dieKommunistischeParteiin
Chinau.a.).VieleStaatensindirgendwiezwischendiesenPolenzuverorten.
Mankannesauchsoformulieren:DieOrganisationvonHerrschafterfolgtentweder
tendenziellimGeistederegalitär-partizipativenSelbstorganisationderursprünglichen
kleinenGemeinschaften–oderimSinnederhistorischjüngeren,aberdochsehr
wirkmächtigenErfahrungvonzentralerAlleinherrschaft.HierwerdendieGemeinschaft,
dienunallerdingsMillionenMenschenumfasstundallesanderealsüberschaubarist,
bzw.derStaatdurcheine(gottähnlicheodergottgewollte)absolutistischeFührungbzw.
Führerperson(Kaiser,König,Diktator)geleitet,dieihreHerrschaftgewaltsamabsichert
undsichdurchreligiöseodersäkulareKulte(Personenkult)quasiindenAuftrag
höhererMächtestellt.
Demokratisierungals„Erinnerung“andieSelbstbestimmungundSouveränitäteiner
egalitärenGemeinschaftversusautoritäreFührung,dersichdieGemeinschaftinder
HoffnungaufUnterstützungdurchhöhereMächtemehroderwenigerfreiwillig
anvertraut,fürbeidesgibtesweitzurückreichendehistorischeWurzeln.
HeutelebenwirnichtmehrinkleinenüberschaubarenGemeinschaften,sondernin
komplexenGesellschaften.Eigensinnhatsichoffenbargegenüberderursprünglichen
Gemeinsinnorientierungweitgehenddurchgesetzt.DaszeigtsichinindividuellenMacht-
11IchergänzediesePassage,nachdemmichderÖkonomW.AltkrügerineinemKommentarimJuli
2016aufdasPrinzipderGemeinwirtschaftundaufdieverschiedenenFormenvonGenossenschaften
hinweist.AuchderKommentarvonH.J.MeyerzumFeldezuProjekten"solidarischerLandwirtschaft"
passtindieseReihe.
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
undBereicherungsansprüchen,imrücksichtlosenUmgangmitpolitischenGegnernoder
KonkurrentenundinderebensorücksichtlosenAusbeutungvonNaturressourcen,aber
auchimPrimatindividuellerLebensansprüche.
AberGemeinsinnistnichtverschwunden:ErgewinntinDemokratisierungsprozessen
derModernehistorischundgesellschaftlichwiederanGewicht–leiderauchinreligiösfundamentalistischen,nationalistischen,ethnozentrischenBewegungen.
DieradikalesozialistischeVariantegesellschaftlicherOrganisationvonGemeinsinnund
Egalitätistvorerstgescheitert.Dienationalistischeoderreligiös-fundamentalistische
Varianteistunverändertpopulär–mitihrsindIntoleranz,FanatismusundRepression
sowiedieständigeGefahrvonKriegundBürgerkriegverbunden.
DiefreiheitlichindividualistischeVarianteinFormdermodernenDemokratienmit
BürgerbeteiligungundsozialreformerischerGemeinwohlorientierungisteineechte
Errungenschaft;siegiltinweitenTeilenderWeltalsIdealundVorbild,auchwenndie
RealitätinvielenStaatendemIdealkeineswegsentspricht.DasVerhältnisvon
individuellerFreiheitundGemeinwohlorientierungbleibtheikelund(u.a.politisch)
umstritten.
SelbstverständlichbleibenauchinetabliertenDemokratienerhebliche
Hierarchisierungenerhalten:KomplexesozialeGroßsystemeerzeugennotwendig
Funktionshierarchien(inStaatundVerwaltung,Militär,Wirtschaft,Bildung,Kirche
usw.),derenZugangdefinierterRegelungenundBegründungenbedarf.Dasistz.B.ein
wichtigesElementinJohnRawlsKonzeptvonGerechtigkeit(mehrdazuimTeilIV.).
StattWillkürherrschennunverbindlicheRegelnundGesetze.Dasisteinerheblicher
FortschrittauchinRichtungEgalität;auchwenndieRegulierungsdichtemitunterzu
schwerfälligenBürokratienführenkannundFreiheitsspielräumedadurchwiederum
eingeschränktwerden(vgl.dieweitverbreiteteKritikanderEUbzw.der„Brüsseler
Bürokratie“).
Kritischanzumerkenist:TrotzallerSozialreformenschaffenesdieDemokratienbisher
nicht,egalitäreVerhältnisseauchindenLebensbedingungen,imZugangzuBildung,
ArbeitundKapitalzuentwickeln,siekönnenauchnurdieschlimmstenAuswüchse
sozialerUngerechtigkeitabfedern.
SozialeGerechtigkeitversusindividuelleFreiheit–dasisteinGrunddilemmaunserer
Zeit.DieSpannungzwischendenindersog.ModernereaktiviertenGleichheits-und
GerechtigkeitsvorstellungeneinerseitsunddenAnsprüchenaufindividuelle
FreiheitsrechteandererseitsunddamitverbundenauchaufPrivilegien,dienunnicht
mehrprimärmitderAbstammungsondernmitindividuellerLeistungund
gesellschaftlicherFunktionverknüpftsind,ziehtsichbisheutedurchphilosophische
undpolitischeAuseinandersetzungenundModelle(vgl.AbschnittIV).
WiestelltsichpolitischeHerrschaftheutedar?
IndenmodernenDemokratienist„Herrschaft“andenVolkswillen(Wahlen,Plebiszite,
FormenderBürgerbeteiligungusw.)undanrechtlichdefinierteÄmterundAufgaben
gebunden.Sieistverpflichtetsichzulegitimieren(vordemVolkbzw.vordem
ParlamentalsVolksvertretung)undkann„abgewählt“werden.Professionelle
Machtbefugnisse(Polizei,Gerichte,Verwaltung)erhaltennurMenschen,dieaufder
BasisnachgewiesenerQualifikationenintransparentenVerfahrenausgewähltwerden–
zumindestistdasderAnspruch.
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
Daserinnert,wiegesagt,wennauchnursehrvageundentfernt,andie„politischen“
EntscheidungsprozesseindenarchaischenGemeinschaften,dieichimTeilIderStudie
skizzierthabe:AuchhiernehmenvonderGemeinschaftlegitimierte,besondersfähige
PersonenjenachHerausforderungbefristetbestimmteFührungsaufgabenwahr.
VielerortshabensichabererneutoderweiterhinAlleinherrschaftsstrukturenetabliert
(-nurca.60derrund200StaatenderErdelassensich–wohlwollend–alsDemokratien
bezeichnen).IchsehedabeifolgendeVarianten,zwischendenenfließendeÜbergänge
bestehen:
Despotie(Gewaltherrschaft):HierunterversteheicheineHerrschaft,dievorallemein
MittelzurAnhäufungvonReichtumundanderenPrivilegienist:fürdieeigenePerson
undFamilieunddenKreisderUnterstützer;siedientmeistauchdermegalomanen
SelbstinszenierungdesHerrschers.EsgibtzwarBerührungspunktezuTraditionen,nach
denendieFührungselitedurchausAnspruchaufPrivilegienhat,diedurchbesondere
AufgabenundLeistungenfürdieGemeinschaftgerechtfertigtsind,inderRegelberuht
die„Akzeptanz“aberaufGewaltandrohungund-anwendung.Despotensichernihre
HerrschaftnichtprimärübereineLegitimierungdurchdasVolk,sonderndurch
Sicherheitsapparate,PolizeiundMilitärunddurchrücksichtsloseVerfolgung,
InhaftierungundFoltermöglicherOppositioneller.
Herrschaft„charismatischerFührer“:Diesen„Führern“gehtesauchumMacht,
allerdingswenigerumReichtumoderLuxus.Siefühlensichberufen,dieGemeinschaft,
dasVolk,dasImperiumusw.zu„retten“oderzuneuerGrößezuführen.Essind
Herrscher,dieals„charismatischeFührer“derGemeinschaftauftretenundvondieser
mehrheitlichoderingroßenTeileneuphorischunterstütztwerden.DieseMenschen
(fastimmerMänner)treteninKriegs-oderKrisenzeitenauf,versprechenLösungen
oderSiege.Diese„Heroen“undTyrannenderWeltgeschichte,vonAlexanderdem
GroßenbisAdolfHitlerwirkenaufdasVolkofteindrucksvollselbstsicher;siezeigen
zumeistdeutlichmegalomaneTendenzen.Auchhierhandeltessichnichtseltenum
Gewaltherrschaftbzw.eintotalitäresRegime.Diesog.charismatischenFührererinnern
michandieKultführerderfrühenHochkulturenmitihremGeheimwissenunddem
„besonderenDraht“zudenhöheren,dasSchicksalbestimmendenMächten.
InweitenTeilenderBevölkerungbestehtdurchauseineArtSehnsuchtnacheinem
starkenFührer,insbesondereinZeitenderNotundGefahroderderpolitischen
UnterdrückungundinBefreiungs-undEmanzipationsbewegungen.Dannkönnen
durchaus„charismatischePersönlichkeiten“auftreten,dieOrientierung,Hoffnungund
Siegeszuversichtvermittelnunddenenesoffensichtlichnichtodernichtprimärumdie
InszenierungdereigenenPersonoderumAlleinherrschaftgeht(z.B.NelsonMandela,
CheGuevara,MahatmaGandhi).DerUnterschiedzwischeneinemVölkermörderwie
HitlerundeinemBefreiungskämpferwieNelsonMandelawäreauchaus
narzissmustheoretischerPerspektive(z.B.HeinzKohut)nochmalzubeleuchten.12
Oligarchie:GemeintisthierdieHerrschafteinerelitärenpolitischenoderreligiösen
Gruppierung(Partei,Religionsgruppe,nationalistischeBewegung).DieseHerrschaft
wirdideologischbegründet,dieHerrschaftsausübungerfolgtimDienstderIdeologie,z.
B.derReligionoderder„Nation“.Dazuzähleichz.B.dasHerrschaftssystemindensog.
staatssozialistischenStaaten(ehem.SowjetunionoderVolksrepublikChinamitdem
HerrschaftsanspruchderKP-Parteiführung),aberauchdieHerrschaftderMullahsim
12HeinzKohut,„CharismatischeundmessianischePersönlichkeiten“,in:„DieZukunftderPsychoanalyse“,
1975,S.114f..
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IranoderdienationalistischenAutokraten,ihreParteienundGefolgsleuteinvielen
StaatenderErde.InderPraxisgibtesoftengeVerknüpfungenzudenbeiden
erstgenanntenFormen.DieKaderoderreligiösenFührernutzensehrschnelldie
Machtpositionen,umsich,ihreFamilienundVertrautenzubereichernbzw.in
einflussreichePositionenzuhieven–odersichalsRetterderNationzuinszenieren.
Elitenetzwerke:AberauchinvielenvorgeblichdemokratischenLänderngibtesfaktisch
eineOligarchieeinflussreicherFamilienundvernetzterElitenausPolitik,Wirtschaft,
SicherheitsapparatundMilitär–ohneerkennbarenideologischenBezug.
InvielenStaatendessog.„Südens“(Afrika,Asien,Lateinamerika)ohnedemokratische
Tradition,ohneeinetabliertesBürgertumundohneeinegewerkschaftlichundpolitisch
organisierteArbeiterklasseregiertsoetwaswieein„politisch-ökonomisch-militärischer
Komplex“,einElitenetzwerk,daspolitischeMachtzurpersönlichenundfamiliären
BereicherungnutztundalleMachtpositionensystematischmitVerwandtenund
Anhängernbesetzt.SelbstwennformaldemokratischeStrukturenbestehen,versucht
dasElitennetzmitallenTricksundggf.mitGewaltgegenOppositionspolitikerdie
finanzielleinträglicheMachtzuhalten.PolitischeMachtsichertReichtum.
StaatseinnahmenstehenindenmeistendieserStaatennurüberspezielle
Rohstoffexporte(Erdöl,ErzeundMineralien,Kaffee,Südfrüchteusw.),Renditenausder
TourismuswirtschaftoderVerpachtungvonStaatslandanausländischeKonzerne
(„Landgrabbing“)zurVerfügung.NennenswerteheimischeIndustrienfehlen
weitgehend;dieBevölkerungversuchtvielerortsüberkreativeJobentwicklungder
ArmutzuentkommenoderindiereichenWohlfahrtsstaaten„desNordens“zufliehen.
MigrationstattRevolteoderRevolution.Dersog.„ArabischeFrühling“(2011-14)ist
offenbarnureine(zudemweitgehendgescheiterte)Ausnahmegewesen.
BlickindieZukunft:KrisederDemokratie?
Ist„unsere“westlicheDemokratieeinZukunftsmodellauchfürdenRestderWelt?Sie
funktioniertinderPraxisbekanntlichweitwenigeridealalsihreBefürworter
behaupten.ProblemeundKonfliktewerdenzwaroftöffentlichdiskutiert(immerhin!),
aberimParteiengezänkkommtesoftnurzuhalbherzigenKompromissen,notwenige
Entscheidungenwerdenendlosdiskutiert,„aufdielangeBankgeschoben“,echte
Bürger/innen-Beteiligungfindetnurpartiellstatt(allerdingszunehmend!)....
DemokratienschaffenesimIdealfalldieFreiheitsräumefürdieBürgerinnenundBürger
relativweitzuöffnen–siesindabernureingeschränktinderLage,soziale
UngerechtigkeitabzubauenundChancengleichheitherzustellen.Siesindauchnur
eingeschränktinderLage,denMenschendasGefühlzuvermitteln,ineinesolidarische
Gemeinschaftverlässlicheingebundenzusein.Dasmachtinsbesonderemarginalisierte
GruppenundverunsicherteMenschenanfälligfürGemeinschaftssurrogateund
-konstruktewie„Nation“oder„Volk“(vgl.die„WirsinddasVolk“-Bewegungen).
FormalunddeklamatorischbefindetsichdieDemokratiescheinbaraufeinem
weltweitenSiegeszug;diePraxissiehtvielerortsdeutlichwenigerglanzvollaus
(ManipulationvonWahlen,VerfolgungvonOppositionellen,Einschränkungder
Pressefreiheit,fehlendeUnabhängigkeitderGerichte,UnterdrückungvonMinderheiten
durchdie„demokratisch“gewählteMehrheiten,usw.).EineaktuelleUS-amerikanische
StudiesprichtsogarvoneinerautoritärenWendeinderWelt:DieZahlderStaatenmit
„Wahldemokratien“undmiteinerZivilgesellschaft,inderBürger/innensichfrei
organisierenundihreInteressenvertretenkönnen,istderzeitrückläufig.Auch
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innerhalbgefestigterDemokratien(z.B.USA)gewinnendemokratiefeindlicheKräfte
undEntwicklungenanGewicht.13Die„westliche“Politikeinerpolitisch-militärischen
UnterstützungvermeintlichdemokratischerKräftegegendiktatorischeRegimes
(Libyen,Irak,Syrienusw.)erweistsichvielfachalsunglaubwürdigbzw.als
VerschleierungganzandererInteressen.DiedemokratischeMissionierungderWelt
drohtzuscheitern.
ZudemwirdDemokratievonstarkreligiösundtraditionalistischgeprägten
KulturräumenundGesellschaftenbzw.vonautoritärbzw.nationalistischausgerichteten
StaatenkeineswegsalsidealeodererstrebenswerteHerrschaftsformwahrgenommen.
Eswirdm.E.immeroffensichtlicher,dass„Demokratie“mitihremPrimatindividueller
Freiheits-undPartizipationsrechteundmitihrenAnsprüchenaufGleichberechtigung
derFrauenundSchutzvonMinderheitenallenDeklarationenzumTrotzfürdie
MehrheitderStaatenundKulturenaußerhalbdes„Westens“keinzukunftsfähiges
Modellist.EsfindetglobalnichtwirklichAkzeptanz.
NureinMehranGerechtigkeitundPartizipation(Bürgerbeteiligung)kannzumindest
dieAkzeptanzimInnerenderbestehendenDemokratienstärkenundeinGegengewicht
zupopulistischenStrömungenbilden.Daszieltaufdasu.a.vonJürgenHabermas
vertreteneKonzeptder„deliberativen(=beteiligungsorientierten)Demokratie“,dasauf
einekritischeÖffentlichkeitsetzt,auföffentlicheDiskursegesellschaftlicherThemen,auf
TeilhabederBürger/innenanderPlanung,BeratungundEvaluationvonpolitischen
Maßnahmen,aufeinePolitikderrationalen,argumentativenAbwägung,usw.–Auch
wenndieseAnsätzenurbegrenztumsetzbarseindürftenundm.E.dieRationalität
öffentlicheDiskurseüberschätzen,sindsiedocheineChance,zumindestpartiell
GemeinsinnorientierungundindividuelleSelbst-undMitbestimmungzuversöhnen.14
DieMöglichkeitenundGrenzendieserKonzepteverdieneneineausführlichere
Diskussion,dieaberdenRahmendieserStudiesprengenwürde.
13ArnoWidmann,„RezessionderDemokratie“,FRvom21.03.2016mitBezugzurStudie„Authoritarism
goesglobal–TheChallengetoDemocracy“
14DieserAbsatzgreiftHinweisevonW.AltkrügerineinemKommentarvomJuli2016auf.
17
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
2. Individualisierung:ZwischenFreiheitundGemeinschaftssuche
SpannungsverhältniszwischenFreiheitsanspruchdesEinzelnenbzw.dem
individuellemStrebennachNutzenmaximierung(Egoismus)unddemWunschnach
sozialerEingebundenheitundZugehörigkeit
(1)EinzelpersönlichkeitenindenfrühenGemeinschaften
Ichbindavonausgegangen,dassdieursprünglichenGemeinschaftenim
Jungpaläolithikum,MesolithikumundfrühenNeolithikum(ersteDorfgemeinschaften)
überwiegendegalitärstrukturiertsind,alsokeinefestenHierarchienkennen.Die
gleichwertigeAusstattungderGräber(beiFrauen,MännernundsogarbeiKindern)ist
dafüreinstarkesIndiz.Dasschließtabernichtaus,dasseinzelneMänneroderFrauen
einebesondereWertschätzunginderGemeinschaftgenießen,dasieüber
herausragendeFähigkeitenverfügen:beiderWerkzeug-undWaffenherstellung,der
Jagdbzw.OrganisationvonGemeinschaftsjagden,alsHeilkundigeoder
„Schamanen/innen“usw.–oderdasseinzelneals„Häuptling“,„Älteste“o.a.anerkannt
werdenundbesonderenRespektgenießen.AberdiesePersönlichkeitensindnachwie
voreingebundenindieGemeinschaft,siehandelnfürdieGemeinschaftbzw.im
InteressederGemeinschaft,nichtumindividuelleVorteilezuerlangen.Zudemistmit
dergeachtetenStellungkein„vererbbarer“Herrschaftsanspruchverbunden.
EinzelpersönlichkeitentretenerstimVerlaufdesNeolithikumsstärkerinErscheinung:
insbesonderedort,wogrößereKoordinationsaufgabenanfallen(z.B.Anlagevon
Bewässerungskulturen,EroberungeinesneuenSiedlungsgebietes)oderwoaufwändige
Kultfeiernorganisiertunddurchgeführtwerden,beidenenvieleMenschender
Umgebungzusammenkommen,oderwoHandelbetriebenwird.DieerstenStempel-
oderRollsiegelmit„individuellen“Markierungenstammenausdermesopotamischen
Hassuna-Kulturum6.000v.Chr.,siemarkierenvermutlichindividuellesEigentum.15
(2)IndividualitätindenGrenzenderfrühenKlassengesellschaft
IndenfrühenHochkulturen(abca.3.000v.Chr.)lassensicheinzelneHerrscher(i.d.
RegelsindesMänner,nurinAusnahmen,derenUrsachennochmalzuuntersuchen
wären,auchFrauen)inKunstwerkenundRitualenundinErzählungenundMythenals
herausragendePersönlichkeitennamentlich(!)feiernundverewigen.Individualität
wirdvorallemalsHerrschaftbzw.inHerrschern(z.B.Priesterkönige)undin
herausgehobenenPositioneninVerwaltung.KultundMilitärgreifbar,vielleichtnochin
besondersgeachtetenHandwerken(Schmiede-,Töpfer-Kunst).
IndividualitätistindenantikenHochkulturenundbisweitindieZeitendersog.
ModernegebundenandefiniertegesellschaftlicheRollenundanFunktionenineiner
stratifiziertenGesellschaft(Klassengesellschaft).Diesspiegelnheutenochviele
Nachnamenwider,dietypischeBerufsbezeichnungenbeinhaltenunddamit
ursprünglichzugleichsozialeStatusbeschreibungen.16
15H.Parzinger,„DieKinderdesPrometheus“,S.159
16SosindNamenwieVogt,Schulze,MeyeroderSchultheißbesondereAmtsbezeichnungen,während
Bäcker,Schneider,Schuster,Zimmermann,Fleischer,Löffler(Löffelhersteller),Salzmann(Salzverkäufer)
oderEppler(Apfelverkäufer)usw.einfachehandwerklich-kaufmännischeBerufebezeichnen,Vgl.
http://www.bedeutung-von-namen.de/nachnamen-aus-berufsbezeichnungen
18
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
DerRespektderMitmenschengiltalsonichtalleinderPersönlichkeitundihren
Leistungen,sondersstetsauchder(oftunverdientenbzw.unverschuldeten)
gesellschaftlichenStellung.Oderandersformuliert:Herausragendeindividuelle
Leistungen,diefrüherindenarchaischenGemeinschaftenRespektundAnsehen
begründen,könnennurbegrenztdieengenundstarrenGrenzenderKlassenschranken
durchbrechen,indenendasIndividuumweitgehendgefangenbleibt.
Gemeinschaften,denensichder/dieEinzelnezugehörigfühlt,sindnunerstens
„angeborene“familiäreVerbindungen(Sippe,Clan),diesichauchkultischauf
gemeinsameAhnenodermythologischeVorfahrenbeziehen,zweitensquasi
„angeborene“(mitderGeburtzugewiesene)Klassen-oderStandeszugehörigkeiten,die
durchfesteRegelnundhäufigebenfallskultischausgewiesenwerdenunddrittens
Stadtstaaten,ReicheoderImperien,andiemanüberdenzentralenHerrscherkult
gebundenist.Die„unveräußerliche“Clan-ZugehörigkeitüberdauertinvielenRegionen
bisheute.
WiestarkeinzelneMenschenauchheutenochsozialenGruppenzugeordnetunddafür
ersatzweisebestraftodergetötetwerden,zeigenBeispielevonEntführungendurch
Terroristen,ErpressungderjeweiligenRegierungoderErmordungderEntführten,um
sichandessenRegierungzurächen(z.B.durchdensog.„IslamischerStaat“).–Im
ländlichenIndiengibtesbisheutediefurchtbareTraditiondes„RevengeRape“:vonsog.
DorfrichternangeordneteMassenvergewaltigungenvonFrauenundMädchenalsStrafe
füreinangeblichesVergehenandererFamilienmitglieder.Diesesantiquierte,
barbarischeRechtsempfindenistnochganzdemSippenhaft-Prinzipverhaftet.Der
Mensch,insbesonderedieFrau,wirdnichtalsunabhängigesIndividuumgesehen,
sondernalsTeileinerFamilie,Sippe,Kasteusw.bzw.alsBesitzdesVatersoderMannes.
Erstspäter,z.B.imantikenGriechenlandabdem8.Jhd.v.Chr.,tretenIndividuen(-es
sindfastnurMänner!)auchalsKünstler,Dichter,RednerundPhilosophennamentlich
hervor.DieattischeDemokratiemitihrerFörderungindividuellerTeilhabeund
öffentlicherMitsprache(indenVolksversammlungenundVolksgerichten)bietethier
dieVoraussetzungen(sozusagendie„Bühne“)dafür,dassPersönlichkeitenund
individuelleKompetenzeneinbesonderesGewichterlangen.DerBegriff„Person“
scheintsichvonlat.persona=Maske(desSchauspielersaufderBühne)abzuleiten.Aber
dieindividuelle,unveräußerlicheZugehörigkeitzueinem„Demos“
(Verwandtschaftsgruppe)istfürlangeZeitkonstitutivesElementderdurchunddurch
rationalenOrdnunginderPolisAttika.
(3)DerWunschdesIndividuumsnachUnsterblichkeit
Dort,wodasIndividuumsichausdemWirderGemeinschaftzulösenbeginnt,gewinnt
auchderTodeineneue,buchstäblichexistenzielleBedeutung.
DieSehnsuchtnachUnsterblichkeitistausgesprochenauffälligindenfrühen
Hochkulturen.IchhaltediesfüreineFolgederIndividualisierungsprozesse.Auffälligste
HinweisesinddieaufwändigenGrabstättenderHerrscher(z.B.dieägyptischen
PyramidenoderdiegewaltigenGrabanlagenchinesischerKaiser)oderdieVersuche,
durchEinbalsamierungendeneigenenKörperzuerhalten.DieSuchenach
UnsterblichkeitistauchdasLeitmotivimsumerisch-akkadischenGilgamesch-Epos,der
ältestenüberliefertenDichtung(ca.1.800v.Chr.).DieErzählunghandeltdavon,dass
19
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
sichderHerosGilgamesch,derallesimLebenerreichthat,aufdieabenteuerlicheSuche
nachdemKrautdesewigenLebensbegibt.17
DerZusammenhangIndividualisierung–Unsterblichkeitswunschzeigtsichauchinder
Götterwelt:ErstalsauchdieGötterstärkerals„Individuen“mittypischenEigenschaften
hervortreten,wirdihnenausdrücklich„Unsterblichkeit“alsherausragendeEigenschaft
undentscheidenderUnterschiedzumMenschenzugesprochen.WalterF.Otto
beschreibtdasamBeispieldergriechischenReligionundGötterwelt.Dieolympischen
GötterundGöttinnensindewigjunge,unsterblichePersönlichkeitenmiteigenem
Charakter.DievorolympischenGöttinnenundGöttersinddagegeneherin
verschiedenenGestaltenundErscheinungsformenauftretendeoderwirksamwerdende
Urkräfte,vielgestaltigeSchicksalsmächte,dieüberLebenundTodbestimmen,aber
keine„unsterblichenIndividuen“sind.18
DieAngstvordemTodundderWunschnachUnsterblichkeitsinddenineine
archaischeGemeinschafteingebundenenMenscheneherfremd.DieseMenschenkennen
sicherdieAngstvorFeinden,vorbösenGeisternusw.,sietrauernundbeklagendenTod
vonAngehörigen,siekennenabermeinesWissenskeineAngstvordemTodals
absolutemEndederindividuellenExistenz,dennsiewerdeninihrerVorstellungauch
nachihremTodalsGeisterseelenmitihrenAngehörigenverbundensein.DieToten,die
zurückgekehrtsindindie„heiligeErde“,werdeninvielfältigenTotenkultenverehrt;sie
bleibensoinKontaktmitdenLebendenundhelfenihnenbeimÜberleben.
DievölligandereSichtderarchaischenGemeinschaftenaufdenTodunddieTotenzeigt
sichindenuniversellverbreitetenTotenkultenundderdortpraktizierten
Totenverehrung.WalterF.Ottoskizziertdasfürdiemutterrechtliche(vorolympische)
ReligionGriechenlandsso:„InderErdreligionscheidetderToteausderGemeinschaftder
Lebendennichtaus.Eristnurmächtigerundehrwürdigergeworden.Erwohntinder
mütterlichenErde–Demetreios,d.h.AngehörigerderDemeter,der„Erdmutter“,nannte
manihnvonaltersinAthen(...)–unddorterreichenihndieGebeteundSpendender
Lebenden,vondortschickterdenSegenzuihnenhinauf.AngewissenTagen,wenndie
ErdesichlockertunddasneueLebenheraufsprießt,kommendieTotenallewiederund
werdenfestlichempfangen,bisdieZeitihresBesucheszuEndeist.“19
Inderneuen(olympischen)GötterweltfindetkeinTotenkultmehrstatt:DieTotensind
einfürallemalvondenLebendengetrennt.–ImFernsehenistkürzlich(Nov.2015)ein
BerichtzusehenüberDorfgemeinschaften(inMexiko?),dietatsächlichToteausgraben,
neueinkleidenundimfestlichenUmzugdurchsDorftragen,mitihnenfeiernundsie
dannerneutbestatten.
DietiefeAngstvordemTododerauchdasVerdrängendesTodessowiederWunsch
nachUnsterblichkeitsind,someineThese,eineFolgederAuflösungdesarchaischen
Wir.DasistsichereineHypothese,dienochgenauerzuprüfenwäre.DasGefühl
existentiellerSingularitätverbindetsichinderAuseinandersetzungmitdeneigenen
LebenszielenundderUnausweichlichkeitdesTodesnurzuleichtmitwiederkehrenden
Sinnlosigkeitskrisen.ImExistenzialismus(J.P.Sartre,A.Camus,vgl.TeilIVderStudie)
wirddieserZusammenhangm.E.besondersdeutlich.
17https://de.wikipedia.org/wiki/Gilgamesch-Epos
18WalterF.Otto,„DieGötterGriechenlands“,S.164,178f.
19WalterF.Otto,„DieGötterGriechenlands“,S.32
20
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
(4)DasmoderneIndividuum–ZwischenSelbstverwirklichungundSuchenach
demWir
Durchdieo.g.gesellschaftlichenUmbrüchetrittder/dieEinzelneausderGemeinschaft
heraus.Damitsind–insbesondereimsog„abendländischenKulturkreis“(?)–
AnsprücheaufindividuelleFreiheitundpersönlicheRechtegewachsen,oftim
SpannungsverhältniszuWünschennachZugehörigkeitbzw.verbundenmitdem
Bedürfnis,fürdieGemeinschaftbzw.fürandere(Menschenbzw.Lebewesen)wichtige
Aufgabenwahrzunehmen.
ImTeilIIderStudiehabeicheinigeAspektederIndividualisierungsprozesseskizziert:
DerneueIndividualismusderModernezeigtsichdemnachu.a.inIch-Bezogenheit,im
AnspruchaufRationalitätundGefühlskontrolle,inderWertschätzungvon
Selbstdisziplin,Leistungs-undAnstrengungsbereitschaft(„JederistseinesGlückes
Schmied“),imGlaubenandieMachbarkeitunddenFortschritt(„Problemewerdennicht
hingenommen,sondernangepacktundgelöst!“),imGefühleinerkulturellen
Überlegenheit,aberauchin(zumindestlatentvorhandenen)GefühlenderEinsamkeit
undEntfremdung.
AllerdingswäredashierbehaupteteBesonderedes„westlichenIndividualismus“
zumindestergänzendauchausderPerspektiveandererKulturkreisezubeschreiben,
umesbesserzuverstehen,vielleichtauch,umdasvermeintlichBesonderezu
relativieren.DerSiegeszugdesKapitalismussetztjedenfallsgesellschaftliche
Rahmenbedingungen,dienichtnur„imWesten“gelten:Erfordertundfördertdie
EntwicklungundFreisetzungerstaunlicherindividuellerPotenziale(inWissenschaft,
Technik,Kunst,Wirtschaft,Militär,usw.),zugleichaberaucheinenrücksichtslosen
Egoismus,Konkurrenzdenken,Machtstreben.SeinindividualistischesLeistungsprinzip
konfrontiertvielemitdemScheiternihrerWünscheundTräume,mitderUnmöglichkeit
(„Unfähigkeit“),sichausArmutundNotherauszuarbeitenbzw.beruflicheKarrieren
oderprivatesGlückzurealisieren–nunerlebtalsindividuellesVersagen.
DieIdeenderAufklärung,dievonderWürde,derFreiheitundanderenRechtenjedes
einzelnenMenschensprechen,diedasBesondereundEinmaligejedesMenschen
betonen,einerseitsunddiekapitalistischeLogikderGewinnmaximierungunddes
individuellenErfolgsstrebensandererseitslieferneineArtgesellschaftliche„Brille“,
durchdiediejeweiligenBiographien,LebensschicksaleundKarrierenwahrgenommen
undbewertetwerden.
Individualisierungsprozessescheinensichheuteehernochzuverstärken.Inder
modernenanonymenMassengesellschaftkannder/dieEinzelneauchals„Single“
(Einzelgänger),bzw.alsEinzelhaushaltüberleben;sieoderermusssichnichtinfeste
Kollektiveeinbinden.Nichtwenigewollenundkönnensoleben:allein,mit
wechselnden,mehroderweniger(un)verbindlichenKontakten.....-Siezelebrierenihr
Alleinsein,genießendieFreiheitsräume,sichbeliebigundanlassbezogensozialund
medialzuvernetzen.Eskönntesein,dassdiesfürdiewachsendeZahlderMenschenin
denMega-CitiesderZukunfteindurchausattraktivesLebensmodellist.
Die„ÜberbetonungdesIndividuellen“inunsererZeit,dieextremeICH-Bezogenheit
unddiedamitverbundenenFolgenfürMenschundUmweltstoßenvielfachaufKritik
(vgl.TeilIV,CharlesTayloru.a.).
UnterderinteressantenÜberschrift„VomIchzumWir“(!!)leseicheinenArtikelvon
PeterUnfriedüberdasneueBuchdesPhilosophenPeterSloterdijk„Dieschrecklichen
KinderderNeuzeit“:IndiesemBuch„führterdenPreisaus,dendieMenschenfürdie
21
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
Freiheit,dieEmanzipationunddasIch-Wachstumzuzahlenhaben,Sieseienzu
‚Niemandskindern’geworden,demLebensgefühlnach‚wievomHimmelgefallen’.Nichts
hinterihnen,nichtsvorihnen,dasistderKontextderindividuellenFreiheitund
gleichzeitigderKontextderökologischenMisere.‚NuntrittjederEinzelneals
Endverbraucherseinerselbst,alsNutznießerseinereigenenLebenschancenaufsGasund
setztdabeieinendereguliertenStoffwechselmitderäußerenNaturinGang,auswelchem
dieLetzterealsVerliererinhervorgeht.’(....)HabenwiresmitderIndividualisierungalso
übertrieben?20
Sicher,derIndividualismusfeiertinFormvon(narzisstischer)Selbstverliebtheit,
„Beziehungsproblemen“,egoistischerRücksichtslosigkeitusw.traurigeTriumpfe–
zumindestindenwestlichenKonsum-undFreizeitgesellschaften.Eigensinn
triumphiert:Vielewerdensagen,dassderMensch„ebendochegoistisch“ist,nurdie
eigenenInteressenundVorteileunddaseigeneStrebennach„Selbstverwirklichung“im
BlickhatunddabeiwenigRücksichtnimmtaufMitmenschen,NaturundUmwelt.Dafür
magesungezählteBeispielegeben.
UnddochgehörtdieSozialitätdesMenschen,seingrundlegendesAngewiesenseinauf
sozialeBindungundAnerkennung,zumevolutionsbiologischenErbe.
Entwicklungspsychologie21,Psychoanalyse(vgl.diePsychologiedesSelbstvonH.
Kohut)undSozialisationsforschungbestätigendasm.E.eindrucksvoll.Wiralle,auch
(undgerade!)diebesonders„autonom“erscheinendenEgoistenundNarzissten,bleiben
abhängigvonder(bewundernden,bestätigenden)Spiegelungdurchdie(wieauch
immerdefinierte)Gemeinschaft.Insoferntrittauchdas„autonomeIndividuum“nie
ganzausdem„Wir“heraus.
MeinesErachtensführendiegesellschaftlichenIndividualisierungsprozessezueiner
SpannungzwischenindividuellenFreiheits-undSelbstverwirklichungsansprüchen
einerseitsunddemWunschnachZugehörigkeitundGemeinschaftandererseits.
„Entfremdung“22isteinSchlüsselbegriffmodernerIndividualität,sichermitvielen
Facetten.Ichverstehe,ihnvorallemalsein„Sich-selbst-fremd-fühlen“,„Sich-nichtzugehörig-fühlen“,alsnichtwissen,wohinmangehört,welcheAufgabenundZieledas
eigeneLebenorientierensollen;kurz:alsAusdruckeinesVerlustesanZugehörigkeit.
DazuimFolgendennureinigeHinweiseoderStichworte,dieeinesystematischere
Analysesichernichtersetzenkönnen.
MassenphänomenEinsamkeit
PsychologischzeigtsichdasSpannungsverhältnisIndividuum–Gemeinschaftin
typischenAmbivalenzen:DiesozialeGemeinschaftkannalsBegrenzungindividueller
20PeterUnfried,„VomIchzumWir“,„taz“vom01.12.2015
21DerEntwicklungspsychologeLawrenceKohlberg,derimAnschlussanJeanPiagetdie
MoralentwicklungbeiHeranwachsendenuntersucht,stelltfest,dasssichdieseinihremHandelnineiner
bestimmtenAltersphasestarkanderZustimmungundAnerkennungdessozialenUmfeldesorientieren
bzw.versuchen,zumWohlderGemeinschaftbeizutragen,indemsiederenRegelnbeachtenundPflichten
erfüllen(„konventionelleMoral“).Dasentsprichtdochsehreiner(archaischen)Gemeinsinnorientierung:
dieZustimmungunddasWohlergehendereigenenGemeinschaft,dermansichzugehörigfühlt,sind
handlungsleitend.ErstaufdemoberstenNiveau(„postkonventionelleMoral“)findeteineOrientierungan
allgemeinenuniversellenethischenPrinzipienstatt.HierlöstsichdasIndividuumausdenKonventionen
desKollektivs.
22https://de.wikipedia.org/wiki/Entfremdung
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
FreiheitundalsZwangerlebtwerden–dieindividuelleFreiheitwiederumals
EinsamkeitundalsGefühlderBedeutungslosigkeitbzw.desNichtgebrauchtwerdens.
WirlebeninweitgehendanonymenMassengesellschaften,indenender/dieEinzelne
zunächstkaumauffälltoderwahrgenommenwird.Sichnichtwahrgenommenundnicht
gebrauchtzuerlebenisteinverbreitetesPsychodramaderModerne.DasLeiden
verschärftsich,wenneinzelnezudemmitoffenersozialerAblehnungkonfrontiert
werden;alsosichimmerwiederalsnichternstgenommen,gehänseltoderverspottet
erleben,usw.
DerWunschnachRespekt,WertschätzungundAnerkennungwirdzueinemzentralen
ThemaderindividuellenLebensgestaltungbzw.zumpersönlichenDramaimFalldes
Misslingens.ImmetaphorischenKernderBegriffe„Erniedrigung“,„Demütigung“zeigt
sich,wieRespektlosigkeiterlebtwird:Manfühltsichniedergedrückt,amBoden,mutlos.
TypischeReaktionsbildungensindDepressionen(insbesonderebeiFrauenverbreitet)–
oderaberHassbzw.aggressiveWut(häufigerbeiJugendlichenundjungenMännern),
diesichletztlichauchinAmokläufenäußernkann.
WienarzisstischeKränkungenundErfahrungenvonEinsamkeitundsozialerIsolierung
mitDepressivitätundaggressiverWutzusammenhängen,verdienteinegenauere
Analyse,dieindieserStudienichtgeleistetwerdenkann.
SuchenachAnerkennung,Beachtungund„Selbsterfahrung“
AuchhierzunureinpaarStichworte:DieSuchenachpersönlichenHerausforderungen,
nachbesonderenLeistungenundentsprechendersozialerAnerkennung(z.B.Beruf,im
Sport)isteinverbreitetesPhänomenunsererZeit,vielleichtdersog.Moderne,wenn
mananalldie(überwiegendmännlichen)Entdecker,Eroberer,Polarforscher,
Bergsteigerusw.,aberauchanvieleDichter,PhilosophenundKünstlerdenkt.Nicht
seltenistdasmithoherRisikobereitschaft(z.B.indenvielenneuenExtremsportarten)
odermit„Grenzüberschreitungen“(z.B.inderKunst)verbunden,dieAufmerksamkeit
provozieren–undzugleichzeigen,wiewichtigesdenbetreffendenMenschenist,als
einmaliges,herausragendesIndividuum,als„Siegertyp“,„Erfolgsmensch“odergarals
„Genie“wahrgenommenzuwerden,RuhmundAuszeichnungenzuerhalten,zumindest
öffentlichesAufsehenzuerregen.DieseSuchenachAufmerksamkeitundAnerkennung
kannzuerstaunlichenindividuellenLeistungen,aberauchzu„Verrücktheiten“allerArt
(ver)führen.
StärkerselbstreflexivgewendetistdieverbreiteteSuchenachdemeigenenbzw.dem
eigentlichen„Selbst“,nach„Selbstfindung“und„Selbstverwirklichung“usw.,fürdiein
meditativen,psychosozialenundkreativenZirkelnundSchuleneineVielzahlvon
Angebotenentwickeltwird.Dort,woeigeneRollenundAufgabennichtmehrklar
definiertundvorgegebenwerden,beginnenFragennachdem„Werbinichundwaswill
ich?“;Fragen,diefürMenschen,dieinfesteGemeinschaftenmitklarenRollen-und
Aufgabenverteilungeneingebundensind,völligfremdseindürften.DasAngebotan
potenziellenAntwortenistvielfältig,esumfasstu.a.religiöse,esoterische,künstlerischkreativeWege.
DassdieneuenMedienheutzutageenormerweiterteMöglichkeitenpermanenter
Selbstdarstellungbieten,habeichschonerwähnt(imTeilII,Kapitel6derStudie).Nun
könnensichwirklichalleüberSelfies,YouTube,Facebook,Instagramundanderesoziale
Netze„öffentlich“präsentieren,Aufmerksamkeitproduzierenundprovozieren,zeigen,
dasssie„dabei“sind.DiedigitalenMedien(insbesondereSmartphonesundTablets)
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
sindnichtnurAusdruckdergesellschaftlichenIndividualisierung,siesindschonfast
zumunverzichtbarenBestandteildesIndividuumsgeworden,geradeweilsie
persönlicheSelbstdarstellungundsozialeVernetzungverbinden.
HeutemussmansichnichtmehrzumgemeinsamenMahl(Nahrungsteilung)
versammeln,umGemeinschaft,ZugehörigkeitundVerbundenheitzudemonstrieren,
heutereichtdieInformationsteilungimsozialenNetz.
„Selbstfindung“,„Selbstverwirklichung“,SuchenachAnerkennungdurchbesondere
Leistungen–alleskonzentriertsichaufdiepersönlicheSuchenachIdentität,nach
einemsinnvollenLebeninderMassen-undMediengesellschaft.VieleMenschenleisten
dabeiErstaunlichesoderVerrücktes,füranderewirdIdentitätssuchezurunendlichen
GeschichteundbuchstäblichzurLebensaufgabe.
DieSuchenachGemeinschaftundZugehörigkeit
Eserscheintparadox,aberdieSuchenachverlässlicherGemeinschaftundnach
ZugehörigkeitisteintypischesPhänomeninZeitenderIndividualisierung.Das
IndividuumkannaufGemeinschaftletztlichnichtverzichten,auchwenndieAnzahlder
(unfreiwilligen)Einsamenundder(freiwilligen)EremitenundSingleszugenommenhat.
DieserWunschnachZugehörigkeitundGemeinschaftzeigtsichheuteinvielfältigen
Formen:
TraditionelleFormenderZugehörigkeit(Familie,Sippe,Dorfgemeinschaft)spielen
vielerortsnachwievoreinegroßeRolle-insbesondereinländlichenoder
migrantischenMilieus.NeueFormenentstehenindenstädtischenBallungsräumenin
alternativenMilieus,teilsehersozial,teilseherpolitischoderwirtschaftlichmotiviert:
Kommunen,Kollektive,Solidargemeinschaften.....(-imTeilIVkommeichimAbschnitt
„Kommunitarismus“daraufzurück).
PolitischerlebenwireineRenaissancenationalistischerundreligiösfundamentalistischerBewegungen,diemitihrenstarken,partikularistischenWirIdeologienbesondersfürverunsicherteodersichalsgedemütigterlebteMenscheneine
starkeAnziehungskraftentwickeln.
„Gemeinschaft“und„Sinn“bietenauchreligiöseoderterroristischeGruppierungenan.
LetztereentwickelninderRegelbesondersrigideFormenderverbindlichenEinbindung
deseinzelnenindieGruppe.GeradestriktideologischausgerichteteGruppenbieten
OrientierungundSinn(bzw.einevermeintlich„sinnvolle“Aufgabe),vermittelnein
starkesZusammengehörigkeitsgefühl–umdenPreisindividuellerUnterordnungund
oftgnadenloserAggressivitätgegenüberinnerenundäußeren„Feinden“.
AuchandereBeziehungsmusterverändernsichimZugederweiteren
Individualisierungstendenzen.
FreundschaftundLiebehabeninunsererGesellschafteineherausragendeBedeutung;
daskönntedurchauseineBegleiterscheinungvonIndividualisierungsprozessensein.
VerliebtheitundFreundschaftstehenimZentrumderWünscheundder
AufmerksamkeitgeradejungerMenschen;siegreifenzwarbasaleEmotionendes
Menschen(unddesPrimatenerbes)auf,sindnunaberoft„überladen“mit
unrealistischenAnsprüchenundErwartungen;entsprechendeEnttäuschungsdramen
sindvorprogrammiert.
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
AuchdienachwievorgroßeBedeutungderFamiliebzw.einerverlässlichenfamiliären
Einbindungistauffällig;auchsiegehenmitdemmodernenIndividualismusHandin
Hand.FamiliescheintfürnichtwenigejungeMenschenverlässlicherzuseinalsdie
Freundschaftsgruppe,wenigerdurchFluktuationundkleineRivalitätenoder
Eifersüchteleiengefährdet;auchwenndiefamiliäreRealität(ZunahmederScheidungen,
Verbreitungsog.Patchworkfamilien)dieseHoffnungkonterkariert.
SurrogatfunktionenfüreineverloreneGemeinschafthabensicherauchHaustiere:Sie
sindfürvieleMenschen,insbesonderefürAlleinstehende,Partnerersatz;siebietendie
Möglichkeit„sichzukümmern“undvermittelndasGefühl,eineAufgabezuhaben.Aber
auchsonstsindvielefamiliäreGemeinschaftenlängstdurchHaustiereergänzt.Welche
RolleTierefürdensozialenZusammenhaltderMenschenhaben,wärenochmalzu
klären;tiergestützteTherapieformenjedenfallsgewinnenanBedeutung.
ObsozialeNetzwerkeimInternet(online-Communities,Chat-Gruppen,onlineGesellschaftsspieleusw)diesenWunschnachGemeinschaftundZugehörigkeitersetzen
können,magmanbezweifeln,zumindestkönnensieRealkontakteergänzen.Vermutlich
lebendieMenschenindenMega-CitieskünftigohnehininvielfältigensozialenNetzen
undGemeinschaften–dierealundmedial,ggf.sogarfiktivsindundjenachBedarfund
Stimmungslagegenutztwerden.
Soziales,ökologischesundhumanitäresEngagement
DiesesEngagementversteheichalsSuchenacheinerneuenBalancezwischen
IndividualismusundGemeinsinn.EngagierteMenschentretenfürdieeigenen
FreiheitsrechteundfürdieindividuelleWürdeunddieRechteanderer(z.B.Flüchtlinge,
OpfervonGewaltundVerfolgung)oderfürNatur-undUmweltschutzein:inAktionen
undKampagnen,inregionalenoderinternationalenVerbändenoderOrganisationen.
DafürstehenUNICEF,„ÄrzteohneGrenzen“,GesellschaftfürbedrohteVölker,
GreenpeaceundvieleandereOrganisationenundGruppen.
GetragenwirddiesesEngagementvonEmpathieundSolidarität,alsovoneinemGespür
fürdasLeidenanderer,vonHilfsbereitschaftundMitverantwortung.ImZentrumstehen
dieMenschenrechte,dasRechtaufeinLebeninWürde,aufeineselbstbestimmte
Lebensgestaltung,aufdemokratischeMitbestimmung–dasheißt,diesesEngagement
beziehtsichaufdieFreiheitundWürdeeinzelnerMenschenundGruppen,inder
PerspektiveaberaufdieMenschheitalsGanzes–unabhängigvonEthnien,Sprachen,
KulturenoderGeschlechtern.ZugleichverbindetesdiebeteiligtenMenschenundschafft
einneuesWir-GefühlaufderBasishumanistischerIdeale.Deroderdieeinzelnehandelt
alsMitgliedderGemeinschaftallerMenschen.
DiesehumanistischenIdealeundWertesindheute(grund)gesetzlichverankertund
(zunehmend?)auchTeilgesellschaftlicherPraxisbzw.öffentlicherKommunikationund
Selbstverständigung.DieGesellschaftdefiniertsichüberdieSicherungindividueller
Freiheitsrechte,überMitmenschlichkeitundüberSolidaritätmitHilfsbedürftigen,auch
wenndasnichtimmerundinallenBereichenumgesetztwird.
AufeinigeweitereEntwicklungenseikurzhingewiesen:
DieTierrechtsbewegung23möchteAnsprüchedersog.Menschenrechte(z.B.Rechtauf
Unversehrtheit,auf„selbstbestimmte“bzw.artgerechteLebensführung)auchauf
andere,höherentwickelte,leidens-undbewusstseinsfähigeTiere(z.B.Primaten)
23Vgl.https://de.wikipedia.org/wiki/Animal_Liberation._Die_Befreiung_der_Tiere
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
ausweiten.DamitgeräteineweitereSchrankezwischenMenschenundTierenins
Wanken.AuchdenhöherenTieren,zumindestunserennächstenVerwandteninder
FamiliederHominiden(Menschenaffen),werden„Individualität“unddamitbestimmte
Rechtezugestanden,auchwennsiediesenichtselbstreklamierenkönnen.DerBegriff
der„Familie“erhältdamiteineerweiterteBedeutung.Die„Menschheitsfamilie“würde
dannperspektivischdietaxonomischeFamiliederHominidenumfassen.
DieUmweltbewegungwiederumerweitertdieuniversalistischePerspektiveumden
LebensraumdesMenschenaufdemPlanetenErde,umdieSicherungder
überlebenswichtigenNaturressourcenundÖkosysteme–undumdenErhaltder
Biodiversität.DaszieltnichtaufjedeseinzelneLebewesen,wohlaberaufArten,
PopulationenundLebensgemeinschaften.DerGerechtigkeitsgedankewirdauf„Natur“
ausgeweitet;NaturisthiernichtnurLebensgrundlage,sondernauch
„Kooperationspartner“desMenschen.EinkooperativesVerhältniszurNaturwirdTeil
dermenschlichenÜberlebensstrategien.24
PädagogischsetztsichdiesesEngagementuminKonzeptenderSelbstwirksamkeit,des
EmpowermentsinVerbindungmithumanitär-sozialenNormenundWerten.Diese
habensichindenletzten30-40JahrenbeiunsimmermehrindenFamilienundinden
Erziehungseinrichtungen(Kita,Schule)durchgesetzt;u.a.befördertdurchdieradikale
Kritikandertraditionell„autoritärenErziehung“inElternhaus,Kindergartenund
Schule.WieengdieFörderungselbstbewussterIndividualitätunddieBereitschaftund
FähigkeitzuEmpathie,sozialemEngagementundSolidaritätzusammenhängen,
verdeutlichennarzissmustheoretischeKonzepte.
ZurDialektikzwischenNarzissmusundSozialitätschreibtmeinleiderfrühverstorbener
FreundundLehrer,derErziehungswissenschaftlerundBildungstheoretikerAlbertIlien
unterBezugnahmeaufden1981verstorbenenamerikanischenPsychoanalytikerHeinz
Kohut:
„NarzissmuserscheintzunächstalsAusdruckderzutiefstsubjektzentrischenBedürfnisse,
alsumfassendesGrößen-GefühlundrücksichtsloseAnsprüchlichkeitbeginnend,allesauf
sichbeziehend,derInbegriffdessen,wasinderabendländischenTradition–christlichund
bürgerlich–alsegozentrischgilt.Geradehier,imNarzissmus,entdecktKohutdie
Empathie:sieistdurchangemessenen(empathischen)UmgangmitdemNarzissmusdes
Kindes,alsdesseneigentlichmenschlicheAnlagebildbar.Dieangeborene,phasengerechte
Ego-ZentrikdesKindesistinWahrheitsozialeAngewiesenheitundsozialeFähigkeit.
DurchEmpathiewirdEmpathie.Empathieistein‚grundlegendesBandzwischen
Individuen’,alsodas,wasdieSozialitäteigentlichausmacht.“25
Selbstbewusst,sozial,liebes-undgemeinschaftsfähigwerdenHerabwachsende,diesich
alsKindauchinihremkindlichenNarzissmusverstanden,ernstgenommenund
herausgeforderterlebthaben.Dieseangemessene(empathische)SpiegelungdesSelbst
durchandere,fürdaseigeneLebenwichtigeMitmenschenistkonstitutivfüreine
Individualität,diesichstetsmitMitmenschenverbundenweiß.
HeinzKohutfasstseineAnsichtenzurBedeutungderEmpathie,diefürihneine
lebenserhaltendeundzivilisierendeKraftist,indreiSätzenzusammen:
„1.Empathie,dasErkennendesSelbstimAnderen,isteinunentbehrlichesMittelder
Beobachtung,ohnedasweiteBereichedesmenschlichenLebens,einschließlichdes
menschlichenVerhaltensimsozialenUmfeld,unverständlichbleiben.2.Empathie,die
24vgl.https://www.rechte-der-natur.de/die-idee.html
25AlbertIlien,„LiebeundErziehung.ZurBegründungderErziehungsidee“,1986,S.130f.
26
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
ErweiterungdesSelbst,umandereeinzuschließen,stellteinstarkespsychologischesBand
darzwischenIndividuen,das–vielleichtmehrnochalsdieLiebe,Ausdruckund
SublimationdesSexualtriebes–derDestruktivitätdesMenschengegenüberseinen
Mitmenschenentgegenwirkt.3.Empathie,dasannehmende,bestätigendeundverstehende
Echo,dasvomSelbsthervorgerufenwird,isteinepsychologischeNahrung,ohnedie
menschlichesLeben,wiewirkennenundschätzen,nichtbestehenkönnte.“
FürKohutistEmpathie„dieResonanzessentiellermenschlicherÄhnlichkeit“unddie
Kraft,„diederNeigungdesMenschenentgegenwirkt,Sinnlosigkeitzusehenund
Verzweiflungzufühlen“.Dort,wodurcheinenMangelanEmpathiedaskindlicheSelbst
„unterernährt“bleibt,werdenMenschen„zurleichtenBeutejedesVerführers(...),der
ihnenverspricht,ihrGefühlderLeerezubesiegen.“26
26HeinzKohut,DieZukunftderPsychoanalyse,1975,S.44,S.51ff.
27
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
3. Universalisierung:WeltoffenheitundneueKollektive
SpannungsverhältniszwischendemLebeninanonymen,globalen
Vernetzungszusammenhängenundder(ursprünglich)aufkleineüberschaubare
(„personalisierte“)GemeinschaftenausgerichtetenKommunikations-und
Wertsysteme
(1)EntstehunggrößererGemeinschaften:KultgemeinschaftenundStaaten
WiewirdausdemursprünglichenEthnozentrismuseineuniversalistischeHaltung?Die
ursprünglichenGemeinschaftensindeindeutig„ethnozentrisch“ausgerichtet,nurdie
MitgliederdereigenenSozietätundverwandtschaftlichverbundeneNachbargruppen
habenMenschen-Status.ÜbergemeinsameKultzeremonienundFeste(Austauschvon
Geschenken,„Frauentausch“27u.a.)werdendieBindungenzuNachbargruppenimmer
wiederneugefestigtundggf.erweitert.
DieerstendauerhaftenSiedlungen(Dörfer)sindsichernichtnur
KooperationsgemeinschaftenkollektiverLandbewirtschaftung(oftmitgemeinsamen
Speichergebäuden),sondernauchKultgemeinschaften(mitgemeinsamenKultanlagen).
AuchspäteregrößereGemeinschaften(Clan,Stamm,„Chiefdoms“)beziehensichinder
RegelaufeinengemeinsamenmythologischenUrsprung.
Darüber,wiesichsozialeVerhältnisseundStrukturenmitdersteigenden
BevölkerungszahlimVerlaufdesNeolithikumsverändern,kannnurspekuliertwerden:
AusdehnungverwandtschaftlicherNetze(Clans,Stämme),Erweiterungder
KultgemeinschaftenunterEinbeziehungmehrererdörflicherSiedlungen.Esistzu
vermuten,dassdieBindungskraftmitderGrößederGruppenschwächerwird,alsoder
besonderenundkontinuierlichenPflegebedarf.
SpracheundReligion(Kultzeremonien)bildenüberdirekteVerwandtschaft(Sippe,
Clan)undalltäglicheZusammenarbeithinaus(z.B.beimErrichtenzentralerKultstätten)
AnknüpfungspunktefürdieGemeinsinnorientierungauchingrößerenGemeinschaften;
diesekönnennunhunderteodersogartausendeMenscheneinschließen.IndenKulten
spieltdiegemeinsamemythischeAbstammungeinezentraleRolle;sieistdieBasisfür
einerweitertesZusammengehörigkeitsgefühl.
MitderUrbanisierung,derEntstehungvonzentralenGroßsiedlungenundStaaten
(Städte,Stadtstaaten,ReicheundImperien),indenennunschonhunderttausende
Menschenzusammenleben,entwickelnsichneue„Angebote“oderVorgabenfürsoziale
EinbindungundZugehörigkeit:dieBindungandaspolitischeSystemundseinen
Herrscher,andiesozialeSchicht,KasteoderKlasse,andieBerufsgruppeusw.(vgl.Teil
II).AbernochimmersindReligionundKultederzentralesozialeKitt–zunehmend
ausgerichtetaufdieHerrscher.DieIdeeder„Nation“kommterstsehrvielspäterdazu.
DiehistorischeTendenzzuimmerumfassenderensozialenSystemenundNetzwerken
versuchtu.a.derHistorikerYuvalN.Hararinachzuzeichnen.„AbdemerstenJahrtausend
vorunsererZeitrechnungentstandenjedochdreipotenzielluniverselleOrdnungen,deren
AngehörigeerstmalsdiegesamteWeltindenBlicknahmenundsichdieMenschheitals
einegroßeEinheitvorstellten,dieeinemeinzigenGesetzunterstand.Zumindestpotenziell
warenalleMenschen>wir<,undesgabkeine>anderen<mehr.“28
27https://de.wikipedia.org/wiki/Frauentausch-Vgl.dazuauchdieTheseder„Kreuzcousinenheiraten“
vonClaudeLévi-Strauss.
28Y.N.Harari.„EinekurzeGeschichtederMenschheit“,2013,S.211ff.
28
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
DieseuniversellenOrdnungenbzw.TriebkräfteeinerUniversalisierungsindnachY.N.
Harari(1)Handel(ökonom.Interessen;Geldakkumulation),(2)politisch-militärische
Eroberung(MachtinteressenderImperien)und(3)religiös-ideologischeMissionierung
(WeltreligionenwieChristentum,Buddhismus,IslammituniversalemAnspruch).
(2)ZurGeburtuniversalistischerIdeen
InderGeschichteeinigerZivilisationenkommtesim1.JahrtausendvorChr.zu
Entwicklungen,diesichalsBeginneinesuniversalistisch-humanistischenDenkens
interpretierenlassen.
ImantikenJudentumsetztsichum600bzw.500v.Chr.derJahwe-Kultdeseinenund
einzigenGottesgegendiverseanderepraktizierteGötterkulte(z.B.Baal,Ashera,
Astarte)durch–u.a.übereinemassiveAblehnungvonMenschenopfernundEinführung
strengerreligiöserRegeln(über600Ge-undVerbote,vorallemim„Levitikus“,dem3.
BuchMoseniedergelegt;vgl.„jemandemdieLevitenlesen“),darunterauchdiefürdie
damaligeZeitwirklichbeachtlicheForderung,FremdeimeigenenLandsowie
Einheimischezubehandelnundnichtzu„schinden“(Lev.19,33f.).
SoelitärdiejüdischeReligionauchist,inihremradikalenMonotheismusmit
AlleinvertretungsanspruchtritteinuniversalistischesElementhervor:Jahweistder
einzigeGott–damitsindletztlichalleMenschenKinderJahwes,nichtnurdieMitglieder
des„auserwähltenVolkes“(vgl.Genesis).
DasfrüheChristentumundderIslam:MissionierungderWelt
Einenpolitisch-religiösenMissionierungsauftraggibtesimJudentumnicht,wohlaber
imChristentumundimIslam–undwohlauchimBuddhismus.Insbesondereüberden
hellenistischgeprägtenPaulusfindenuniversalistischeAnsätzeEinganginsfrühe
Christentum.DazukommteinausdrücklicherMissionierungsauftrag:
„DieelfJüngergingennachGaliläaaufdenBerg,denJesusihnengenannthatte.Undalssie
Jesussahen,fielensievorihmnieder.EinigeaberhattenZweifel.DatratJesusaufsiezu
undsagtezuihnen:MiristalleMachtgegebenimHimmelundaufErden.Darumgehtzu
allenVölkern,undmachtalleMenschenzumeinenJüngern;tauftsieaufdenNamendes
VatersunddesSohnesunddesHeiligenGeistes,undlehrtsie,alleszubefolgen,wasich
euchgebotenhabe.Seidgewiss:IchbinbeieuchalleTagebiszumEndederWelt“(Mt28,
16-20).
ChristentumundspäterderIslamstrebeneineuniversalistischeGlaubensgemeinschaft
an,indiealleMenschen,nötigenfallsmitGewalt,eingebundenwerden.Sowohldie
christliche,alsauchdieislamischeMissionierunggehthistorischmitimperialer
Eroberungspolitikeinher:Eswerden„heilige“ReicheundImperiengeschaffen.Die
GläubigensindunabhängigvonihrerethnischenHerkunftoderSpracheKinderGottes.
WersichaberderMissionierungwidersetzt,wirdinderRegelverfolgt,unterdrückt
oderermordet.„Die„anderen“,dassindnundie„Ungläubigen“,diekeinenMenschenStatusunddamitkeineRechtehaben.Sicher,JudenundChristenhabenimIslam
durchausgewisse,nachgeordneteRechte,ebensoJudenzumindestzeitweiseim
prämodernenEuropa;Rechte,dieinwiederkehrendenPogrom-Wellenvölligignoriert
werden;aberdieseRechterelativierendiescharfeTrennungzwischenderGemeinschaft
derGläubigenunddenUngläubigennurwenig.Vielfachwerdendie„anderen“nichtmal
gefragt,obsie„denwahrenGlauben“annehmenwollen,sonderngleichermordet(z.B.
sog.Indianernachder„Entdeckung“Amerikas).
29
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
DerUniversalisierungsanspruchderWeltreligionenziehtalsoeineblutigeSpurdurch
dieGeschichte–bekanntlichbisinunsereTage.Erüberwindetdietraditionellen
ethnozentrischenGrenzen,fördertsicherauchdieIdeedereinenMenschheitundführt
dochneuetiefeSpaltungenein:DieMenschheitbestehtnunaus„Gläubigen“und
„Ungläubigen“.
ImperienunddieIdeedereinenMenschheit
AuchdiefrühenReicheundImperien(ReichAlexanderdesGroßenund
Nachfolgereiche,RömischesReich,KaiserreichChinau.a.)überwindenethnozentrische
Grenzen.ImperiensindmultiethnischeGebilde,unddieHerrscherverstehensichinder
RegelalsBeschützerallerBewohnerihresReiches.Dazukommt:DieMenschender
ehemalserobertenTerritorienverlangenbalddiegleichenRechtewiedieBürgerdes
Kerngebietes.Imgriechisch-römischenKulturkreisderAntikewirddasunterstütztoder
vorbereitetdurcheinspezifischesVerständnisvonRationalitätunddurchein
verbreitetesRechtsbewusstsein.
Ichhabedaraufhingewiesen(TeilII),dassdieattischeDemokratieim5.Jhd.v.Chr.
keineswegsuniversalistischorientiertist,imGegenteil:DasEigeninteresseAthenssteht
fastimmerimVordergrundundwirdrücksichtslosverfolgt.AberdiePoliskultiviertund
fördertdieindividuellePartizipationundMitspracheunddamitdieEntfaltung
individuellerPotenziale.KonsequenterRationalismus,dasheißtjaauchdie
HerausforderungandasIndividuum,überMenschundNaturvernünftignachzudenken,
unddieFormulierungundFixierungvonBürgerrechtensindsicheraucheinNährboden
füruniversalistischeIdeenundOrientierungen.
DiesetauchendannindenantikenPhilosophenschulenabca.300v.Chr.,insbesondere
inderStoaauf.AbererstmitderEntstehungdererstengroßen,multinationalen
ImperienerweiternPhilosophenausdenRandgebietenundausnichtgriechischen
StädtendierationalistischenundhumanistischenDenkansätzeüberdenethnozentrisch
verengtenPolis-Bezughinaus.
DieImperiensindinihremirrationalenAnspruchauf„Weltherrschaft“sicherzunächst
durchkriegerischeEroberungs-undUnterdrückungspolitikgeprägt,siesindaberauch
Keimzellenvölkerübergreifender,letztlichuniversalistischerIdeen.Imperiensind
Schmelztiegel,dasgiltinsbesonderefürdiegroßenMetropolen(Rom,Athen,Alexandria
u.a.).AuchKelten,Germanen,Libyerusw.könnenrömischeBürgerwerden,
vorausgesetztsieerfüllenbestimmteVoraussetzungenundakzeptierendieHerrschaft
desKaisers.IndenSöldnerheerendesImperatorskämpfenSoldatenunterschiedlichster
VölkerfürdieSachedesKaisers.AuchdieKriegederImperienvernichtenund
verbinden.
DieImperienschaffenauchdieVoraussetzungenfüreinenletztlichglobalenHandel,
indemsieeineeinheitlicheGeldwährungeinführen,dieHandelsroutensichernundden
WarenaustauschinnerhalbdesImperiumsundmitNachbarreichenfördern.Mitdem
HandelbreitensichnichtnurWaren,sondernauchneueErfindungenundIdeenaus.29
BishersinddieMenschendurchdieethnischeAbstammunginvorgegebeneKollektive
eingebunden,nunkommen„bewusste“politischeoderreligiöseEntscheidungenhinzu.
29SchoninderAntikehatsicheinnahezuglobalerHandelentwickelt,BeispielenenntW.Altkrügerin
seinemKommentarvomJuli2016.
30
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
DasführtnochnichtzurIdeederallgemeinenMenschenrechteunddergrundsätzlichen
GleichheitallerMenschen,aberesbereitetdieseEntwicklungenvor.
EuropäischeAufklärungunddieMenschenrechte
DieIdeenderMenschenwürdeundderMenschenrechtenehmenmitderAufklärung
GestaltanundverbreitensichalsbürgerlicheEmanzipationsideologieüberdie
FranzösischeRevolutionunddieAmerikanischeUnabhängigkeitsbewegung.(Dashabe
ichimTeilIIskizziert.)Aberesdauertbisins20.Jahrhundert(Völkerbund,Vereinte
Nationen,Menschenrechtscharta)bissichtatsächlicheinweitgehenduneingeschränktes
VerständnisderallgemeinenMenschenrechteentwickelt,dasnunauchFrauen,
(ehemalige)Sklavenundsog.Primitiveeinschließt.Streitfelderbleibenbisheute(z.B.
imHinblickaufgeistigSchwerstbehinderteoderDauerkoma-Patienten,menschliche
EmbryonenoderunserePrimatenverwandtschaft).
Mitdensog,„Menschenrechten“gewinnteinübergreifendesGerechtigkeitskonzept
besondereBedeutung:dieGleichberechtigungallerMenschen.
DasPrinzipderEgalitätistwesentlicherKernderMenschenrechte,denjeweils
einzelnenRechtensozusagenübergeordnet:
-
DieallgemeinenMenschenrechtegeltenfüralleMenscheningleicherWeise,sie
sindegalitär.
-
AlleMenschenhabendiegleichenGrundrechte:dasRechtaufUnversehrtheit,
dasRechtaufNahrung,Unterkunft,medizinischeVersorgungusw.,dasRechtauf
persönlicheFreiheit(Bewegungs-,Meinungs-,Religionsfreiheitu.a.),dasRecht
aufGleichbehandlungvorGerichtu.a.
-
KeinMenschdarfaufgrundvonGeschlecht,Sprache,Rasse,Religion,
Weltanschauung,sexuellerOrientierung,sozialerHerkunftusw.diskriminiert
(bzw.privilegiert)werden.
DieMenschenrechteformulierenalsoauchAnsprüchedesEinzelnengegenüberdem
StaatundstaatlichenInstitutionen.So„verbietet“dasEgalitätsprinzipdieerwähnten
Diskriminierungen(Differenzierungsverbot),esformuliertzudemauchAnsprücheauf
Gleichstellung(z.B.GleichberechtigungvonMannundFrau),aufdieVermeidungvon
Benachteiligungenund„fordert“dieSchaffungvonChancengleichheit.
ZumKonzeptderMenschenrechtegehörenweiterePrinzipien:
DasPrinzipderUniversalitätderMenschenrechtebesagt,dassdiesekulturübergreifend
unduniversell,alsoüberallgelten,woMenschenleben.
DasPrinzipderUnteilbarkeitderMenschenrechtebesagt:Siekönnennurinihrer
Gesamtheitverwirklichtwerdenundnichtpartikular.
DasPrinzipderUnveräußerlichkeitderMenschenrechtestelltfest:Siegeltenabsolut,
unabhängigvomWillendesEinzelnen;keinMenschkanndaraufverzichten.30
30Vgl.www.netzwerk-menschenrechte.de-„Menschenrechte“sindvon„Bürgerrechten“zu
unterscheiden.LetzteregeltennurfürdiejeweiligenStaatsbürger/innen:z.B.Wahlrecht;Übernahmevon
staatlichenÄmternundFunktionen;AnsprücheaufbesonderestaatlicheUnterstützung
31
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
MitderAufklärungunddenEntwicklungenindenUSAundinFrankreichfindendie
IdeenderMenschenrechte,derVölkergemeinschaftbzw.dereinenMenschheit
VerbreitungundAkzeptanz;siehabenaberaucherheblicheKonkurrenz.
(3)Nation,Volk,Rasse,Klasse:KonstituierungneuerGemeinschaften
InderModernesindesnebenFamilieundVerwandtschaft(Großfamilie,Sippe,Clan)
zunächstvorallemsprachlich,religiös,sozialundpolitischeausgerichtete
„Gemeinschaften“(Volk,Nation,Religionsgemeinschaft,„Rasse“,„revolutionäreKlasse“),
diealsneues„Wir“fungieren;wiewirausderGeschichtewissensehroftmit
furchtbarenFolgen,dahierdas„Wir“und„dieanderen“nichtnurGrundmusterbleibt,
sondernhäufig(inderRegelausMachtinteressen)dramatisiertundzugespitztwird.
DerHistorikerH.A.WinklerverweistaufunterschiedlicheStaatsbildungsprozessein
Europa.DieIdeeeinereinheitlichenNationalstaatesmitgemeinsamerSpracheund
KulturwarimMittelalternochfremd–bisins15.Jhd.DiemittelalterlichenKönigreiche
sindkeineNationalstaaten,alleumfassenauchfremdsprachigeVölker.
DannentwickelnsichzweiStaatskonzepte:1.daseinerstaatlich-politischen„Nation“
miteinemzentralenHerrscherundständischenVertretungen:England,Frankreich,
Spanienund2.daseinersprachlich-kulturellen„Nation“(Deutschland,Italien,
Osteuropa).31
EintypischesWesensmerkmalEuropasundeinmittelalterlichesErbeistnachWinkler
dieVielfaltderSprachenundNationen:DieserPluralismusbirgt,soWinkler,ein
ElementderFreiheit.DasKonzeptderNationhataberauchzuzweiWeltkriegengeführt
underweistsichimmerwiederalsschweresHemmnisbeiVersucheneiner
internationalenVerständigung.
NationalistischeundvölkischeKonzeptesindperdefinitionemnichtuniversalistisch,im
Gegenteil,sieunterlaufenundkonterkarierendiehumanistischeIdeedereinen
Menschheit,indemsiedasPrimatdereigenenNationformulierenundoft(meist!)
fanatischdurchzusetzenversuchen.
Diesozialistisch-kommunistischenKonzeptenehmenschoneheraufuniversalistische
IdealeBezug.SiereklamierenzwarnurdieinternationaleEinheitundSolidaritätder
„Arbeiterklasse“,ihreBegründerim19.Jhd.gehenaberdavonaus,dassdamitdie
überwältigendeMehrheitderMenschheitangesprochenwird.Wirwissenheute(und
erlebenestäglich),dassdiesozialeundökonomischeLagederMenschenaufdiesem
Planetenhöchstunterschiedlichist,dasseskeineswegseingemeinsames
„Klasseninteresse“gibt,vielmehreinekaumüberschaubarePluralitätextrem
unterschiedlicherInteressenlagen.
DieIdeenvon„Volk“,„Nation“und„Rasse“entwickelnheuteinbestimmten
Bevölkerungskreisenwiedereinehohe,starkemotionalisierteAnziehungskraft.Siesind
immerverbundenmitderAbwertunganderer,mitAggressionundHassgegen
Abweichler(Oppositionelle)oderMinderheiten.UniversalistischeKonzepte(z.B.
allgemeineMenschenrechte)werdenalsfeindlichinspiriertwahrgenommen.Wohlund
Interessendereigenen„Nation“unddeseigenen„Volkes“habenabsolutePriorität(vgl.
TeilII,5.Kapitel).
31H.A.Winkler,„GeschichtedesWestens“
32
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
(4)GemeinschaftinZeitenderGlobalisierung
MitderGlobalisierungderWirtschafts-undKommunikationsbeziehungenundmit
tendenziellglobalenKonfliktenundKrisen(„Weltkriege“,„Weltwirtschafts-und
Finanzkrisen“,„internationalerTerrorismus“,„globaleUmweltkrise“,weltweite
Flüchtlings-undMigrationsbewegungen,usw.)rücktzunehmend„dieMenschheitals
Ganzes“indenFokus.WenndieneueGemeinschaft,dasmoderne„Wir“,aberdie
MenschheitalsGanzesist,dannsolltendieAnsprüchealleranderenGruppenoder
Gemeinschaftenzunächsteinmallediglichnachgeordnetsein.DieRealitätsieht
bekanntlichandersaus.
EsisteineparadoxeEntwicklung:IndemMaße,wiedieIdeedereinenMenschheitsich
historischdurchsetzt,wieGlobalisierungsprozessebestimmendwerden,erlebenwir
eineWiederbelebungpartikularer,separatistischerpolitisch-religiöserIdeenund
Bewegungen–unddamitvonGruppenegoismen.
UniversalisierungundGlobalisierung,ihrerealeundmedialeDauerpräsenz,gehenmit
vielfältigen,oftirritierendenVeränderungenauchimAlltagderMenscheneinher.
„FremdheitisteinGrundzugderModerne“,soderPhilosophundSoziologeGunzelin
SchmidNoerr32.Ersprichtzugleichvoneinemlegitimen„Grundbedürfnisnach
vertrauterUmgebung“:„Daraufvertrauenzukönnen,dassanderediesozialwichtigen
Bezügeähnlichsehen,istfürdieEinzelneneinhohesGutundTeileinerstabilenIchIdentität.Istdiesebedroht,reagierenvielmitAngstund,alskurzschlüssigeFormender
Bewältigung,mitHassundVerachtung.“
EsscheinteinelementaresBedürfnisnachZugehörigkeitundVertrautheitzugeben,
früherhättemanvermutlichvon„Heimat“gesprochen.
DieentscheidendenFragensindm.E.,
-obsichsoetwaswieeinuniverselles„Wir“auchinstitutionellundindenKöpfender
Menschenverankernlässtund
-obundwiesichinZeitenderGlobalisierungauchimAlltagderMenschen
Gemeinschaftenentwickelnkönnen,dieeinerseitsZugehörigkeitundVertrautheit
erfahrbarmachen,zugleichaber„weltoffen“sind,offenfürNeues,fürdieIdeedereinen
MenschheitundfürglobaleSolidaritätundVerantwortung.
EsgibtdurchausauchEntwicklungen,dieein„globalesWir“fördern.Heutewerdendie
großenStädtebzw.Metropolregionenimmermehrzumultiethnischenbzw.
transkulturellenZentren,indennverschiedenkulturelleTraditionen
zusammenkommen,sichwechselseitigbeeinflussenundverändern.KulturundSport
sindVorreiter:DiegroßenOrchester,Chöre,Musik-undTheatergruppenoder
FußballmannschaftensindmultiethnischeEnsembles.DasgiltauchfürBank-und
KonzernzentralenundihreDependenzenundfüralleinternationalagierenden
Organisationen.
Transkulturalitätmeintmehr:„DerBegriffderTranskulturalitätgehtimGegensatzzur
InterkulturalitätundMultikulturalitätdavonaus,dassKulturennichthomogene,klar
voneinanderabgrenzbareEinheitensind,sondern,besondersinfolgederGlobalisierung,
zunehmendvernetztundvermischtwerden.DieTranskulturalitätumschreibtgenau
32GundelinSchmid-Noerr,„DieFremdheitdesNachbarn“,FR08-06-2016
33
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
diesenAspektderEntwicklungvonklarabgrenzbarenEinzelkulturenzueiner
Globalkultur.“33
DieMenschenrechtesindinzwischenüberdieChartaderVereintenNationen
internationalanerkannt:DieganzeMenschheitalsGemeinschaftgleichberechtigter
IndividuenundVölker,sozusagenalseinÜbergeordnetes„Wir“,demesaberan
direktenmitmenschlichenBezügenundanAbgrenzungsmöglichkeitenmangelt.Die
überwältigendeMehrheitderinzwischen7,5Mrd.Mitmenschenbleibtfürdieeinzelnen
Menschenheutenotgedrungenanonym.EinGefühl„Wir“gegen„dieanderen“(Wersoll
dassein?Viren?Außerirdische?)lässtsichnichtherstellen,allenfallsein„Wirsitzenalle
ineinemBoot“,wirlebenallegemeinsamaufeinemkleinen,höchstanfälligenPlaneten
vonbegrenzter„Lebensdauer“.
MenschenkönnenvorallemüberdieneuenMedienzunehmendmiteinerimmer
größerenAnzahlanderer„inKontakttreten“,dieseKontaktebleibenabervielfachoder
überwiegendanonymundunpersönlich,damitfehlenwichtigeElementedes
ursprünglichenZusammenlebensalsFundamentderGemeinsinnorientierung.
InformationsteilunghatnichtdiegleicheexistenzielleBedeutungwiediearchaische
Nahrungsteilung.AberdieMedieneröffnenVernetzungsmöglichkeitenüberalle
nationalen,religiösenoderethnischenGrenzenhinweg.
EsgibtersteVersuche,fürdieGemeinschaftderMenschheitInstitutionenzuschaffen:
dieVollversammlungderVereintenNationen,derUN-Sicherheitsrat,derInternationale
GerichtshofinDenHaag,dieWeltbankusw.–Nochdominierenhierdiesog.
Supermächte,diesichggf.auchüberBeschlüssehinwegsetzen.Zudemfehltetwas
Entscheidendes:einwirklichgemeinsamesundinNormenoderGesetzenfestgelegtes
VerständnisderMenschenrechteunddesVölkerrechtssowieeinwirksames
Monitoring-undSanktionssystem.
Derzeitsiehtesnichtsoaus,dassdieVölkergemeinschaftsichaufeinemit
entsprechendenBefugnissenausgestatteteWeltregierungverständigenkönntewiesie
schon1974derHistorikerArnoldToynbeeinseinemletztenBuchfordert:
„DiegegenwärtigenunabhängigenRegionalstaatensindwederimstande,denFriedenzu
bewahren,nochdieBiosphäredurchdieVerunreinigungdurchdenMenschenzuschützen
oderihreunersetzlichenRohstoffquellenzuerhalten.DiesepolitischeAnarchiedarfnicht
längerandauernineinerÖkumene,dielängstauftechnischemundwirtschaftlichem
GebieteineEinheitgewordenist.WasseitfünftausendJahrennötigist–undsichinder
TechnologieseithundertJahrenalsdurchführbarerwiesenhat–,isteineweltumfassende
politischeOrganisation,bestehendauseinzelnenZellenvondenAusmaßender
neolithischenDorfgemeinschaften–sokleinundüberschaubar,daßjedesMitglieddas
anderekenntunddocheinBürgerdesWeltstaatesist.[...]IneinemZeitalter,indemsich
dieMenschheitdieBeherrschungderAtomkraftangeeignethat,kanndiepolitische
Einigungnurfreiwilligerfolgen.Dasiejedochoffenbarnurwiderstrebendakzeptiert
werdenwird,wirdsiewahrscheinlichsolangehinausgezögertwerden,bisdieMenschheit
sichweitereKatastrophenzugefügthat,KatastrophensolchenAusmaßes,dasssie
schließlichineineglobalepolitischeEinheitalskleineremÜbeleinwilligenwird.“34
33http://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaet-transkulturalitaet-und-
plurikulturalitaet.html
34ArnoldJ.Toynbee(1889–1975):MenschheitundMutterErde.DieGeschichtedergroßenZivilisationen,
1979,S.501f.–vgl.https://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_J._Toynbee
34
JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
EinerseitsgibteseineweitereAusweitungderTendenzzurUniversalisierung(z.B.wird
inderTierrechtsbewegungdasmitmoralischerVerantwortungverbundene„Wir“auf
alleleidensfähigenLebewesenausgeweitet),andererseitsgibtesstarke
Gegenbewegungen,dieaufdasPrimatderNationbzw.desNationalstaatesundauf
Regionalisierungsetzen.InsbesonderedieimZugederHerausbildungvon
ZentralstaatenundImperienandenRandgedrücktenVölkerfordernverstärkt
AnerkennungundEigenstaatlichkeit(vgl.inEuropadieBasken,Schotten);andere
GruppenoderStaatenfühlensichdurchpolitischeUnionenübermäßigbelastetund
beharrenaufAutonomie,umPrivilegienundWohlstandnichtteilenzumüssen(z.B.
FlameninBelgien,LegaNordinItalien,EU-AustrittsbefürworterinEngland).Die
aktuelleKrisederEUinZeitenderFlüchtlingswellenzeigt,wiewenigbelastbardieIdee
einerpolitischenUnionselbstdortist,wosieamweitestenrealisiertzuseinscheint:in
Europa.WederdieUnabhängigkeitsbestrebungeneinzelnerRegionenundschongar
nichtdieimmerweiterumsichgreifendepopulistischeAnti-EU-Politik,diesichmit
einerBetonungnationalerInteressenverbindet,werdenzueinerStärkungder
Demokratieführen.ImGegenteil.
Imneuen„rechten“,anti-europäischenPopulismus35siehtderniederländischeSoziologe
DickPelseine„völligeUmwertungderWerte“.DieserPopulismusberuftsichzwar„auf
dasVolk“.Aber„nichtimSinnedesgriechischenDemosalsStaatsvolk,sondernimSinne
einesPlebs,einesgefühltenUnten.Im„WirsinddasVolk“derPegidalässtsichdasgut
beobachten.EsberuftsichaufeinegefühlteGemeinschaftundschließtalleanderen,etwa
Neuankömmlinge,aus.(...)insofernsehenwireineNeudefinitionderVolkssouveränität.
DasgipfeltineinemmoralischenÜberlegenheitsgefühltgegenüberderElite–ausPolitik,
aberauchMedienundWirtschaft:„Wirhabenimmerrecht.“Unddieses„Wir“isteine
homogeneGemeinschaft.“36Demokratieheißt,soD.Pels,ebennicht(nur)„Herrschaft
derMehrheit“,sondernvorallemauch„SchutzderMinderheit“.DieEntwicklungenin
EuropaundindenUSAsinddiesbezüglichderzeitnichtbesondersermutigend.
Dazukommt,dassgrobgeschätztnureinSiebtelodereinSechstelallerMenschenin
StaatenundKulturräumenleben,indenenDemokratieundWertewieMenschenwürde
undMenschenrechteeinegewisseTraditionhabenundimgesellschaftlichenAlltag
verankertsind.VoralleminaußereuropäischenKulturkreisendominierenseit
JahrhundertenautokratischeStrukturenundrelativstarresozialeKlassen-und
Kastensysteme;dortbestehennachwievorstarkegroßfamiliäreBindungenfort.Die
MenschenlebeninFamilienclansundsozialenOrdnungen,dieineinemSystem
wechselseitigerUnterstützungundVerpflichtungGemeinschaftbietenund
repräsentieren.GemeinschaftstattFreiheit.DiemultiethnischenStaateninAfrikaund
AsienfördernnichtetwaföderaleoderländerübergreifendepolitischeKonzepte,
sonderneinenmitunterfanatischenNationalismus,indemMehrheitsethnienoderreligionenihreDominanzansprücherigorosgegenüberMinderheitendurchsetzen.
DieglobaleVerantwortungfürdieMenschheitalsGanzes,fürdieSicherungdes
ÜberlebensaufdemPlaneten,fürmenschenwürdigeLebensbedingungenundfürdie
WahrungderMenschenwürdeundderMenschenrechteistnochlangenichtwirksam
institutionalisiert.EinVerständnisvon„Gemeinwohl“,dassichaufdieeineMenschheit
bezieht,bestehtallenfallsinAnsätzen.
35TypischfürpopulistischeBewegungenistdieBehauptungeinesnationalenKernvolkes,dem
Zugewandertegrundsätzlichnichtangehören,unddieAblehnungderherrschendenEliteninkl.der
staatlichenMedien,diealstendenziell„internationalistisch“,d.h.als„Verräter“amVolkgelten.
36„Das‚Wir’hatimmerRecht“,InterviewmitdemSoziologenDickPelsinFR04.04.2016
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
DieZukunftderMenschheitistoffenundm.E.auchnichtwirklichprognostizierbar.Das
hat„Zukunft“soansich.ZuvieleEventualitätenspielenindieweiterenEntwicklungen
hinein.
WiesichderKlimawandelauswirkenwird,welcheFolgendieinsgesamtvomMenschen
vorgenommenenmassivenEingriffeinStoffkreisläufeundÖkosystemehaben,istnur
vageabzuschätzen.DasindnochvieleÜberraschungenmöglich.Vonmöglichen
geologischenodermeteorologischenKatastrophen(z.B.ExplosioneinesSupervulkans,
Meteoriteneinschlag),diediegesamtemenschlicheZivilisationauslöschenkönnten,
ganzzuschweigen.Siesindnichtzusteuernundnichtzuverhindern,dagibteskeine
wirklichePrävention.Siesindaber,„GottseiDank“,ausderPerspektiveeines
Menschenlebensextremselten.
DieWeltbevölkerungsdynamik,dienochaufJahrzehnteeinrasantes
BevölkerungswachstuminsbesondereindenvonextremerArmut,Umweltzerstörung
Korruption,politischerRepressionbetroffenenStaatenundRegionenprognostiziert,
wirdalleökologischen,sozialenundpolitischenProblemlagenverschärfen.Diesistwohl
kaumzubestreiten,auchwenneinigeExpertenundOrganisationendieMeinung
vertreten,dieErdekönnelockerauch9oder10MilliardenMenschenverkraftenbzw.
ernähren,undPlänezurGeburtenkontrollezudemoftmit„rassistischen“Unterton
daherkommen.Faktist,dassesinfastallenStaatendes„Südens“nichtgelingt,fürdie
wachsendeZahljungerMenschenWegeausderArmutzueröffnenbzw.fürsieeine
realistischeArbeits-undLebensperspektivezuentwickeln,dieauchangesichtsder
inzwischenüberSmartphonesundTVallgegenwärtigenBilderausden
WohlstandsregionendieserWeltBestandhat.„Auswege“bietenfundamentalistische
religiöseundpolitisch-militärischeBewegungenundGruppierungen,kriminelleBanden
–oderdieMigration„insgelobteLand“.
Dievielenlobens-undliebenswertenEntwicklungsprojekteindenLänderndessog.
„Südens“sindangesichtsderstrukturellenProblemlagen(Wirtschafts-und
Machtinteressen,diefürBevölkerungsmehrheitenkeinePerspektivenaufBildung,
Ausbildung,Arbeitusw.bieten)nureinTropfenaufdemheißenStein.DieZahlder
„Armutsmigranten“,derBürgerkriegs-undder„Umweltflüchtlinge“wirdzunehmen.
ZunehmenwerdenaberauchdieHerausforderungenindenglobalenMetropolregionen,
indenenbalddieMehrheitderMenschheitinmulti-undtranskulturellen
Agglomerationenlebenwird,dieZig-MillionenMenscheneinschließen.........
Dieungelöstenökologischen,sozialenundpolitischenKrisen-undKonfliktherde
schreiensozusagennacheinergemeinsamenReaktionderMenschheit.Sierufennach
einemneuen„Wir“,dasalleMenschenumfasst–undnachentsprechenden
internationalenRegelungenundInstitutionen,diesichu.a.anPrinzipiensozialerund
internationalerGerechtigkeitorientieren.37HierstehtdieMenschheiterstamAnfang–
undderGegenwindistleiderheftig.
DanebenwerdenaberwohlauchweiterhinkleinereGemeinschaftenunverzichtbarsein,
indenenverlässlichepersönlicheFormenderKooperationundKommunikationundein
GefühlderZugehörigkeitentwickeltwerdenkönnen.Vielleichtentwickelnsiesich
längstindentranskulturellenBallungsräumendieserWelt,vielleichtinFormflexibler
37Das„CapabilityApproach“-KonzeptdesindischenPhilosophenundWirtschaftswissenschaftlers
AmartyaSen,dasdie„Verwirklichungschancen“(MöglichkeitendesEinzelnen,einerfolgreichesLeben
nacheigenenWünschenzuverwirklichen)unterdenjeweiligengesellschaftlichenundkulturellen
Bedingungenbewertet,istdazueininteressanterundvonderUNbereitsgenutzterAnsatz(„Human
DevelopmentIndex“,HumanPovertyIndex“).-https://de.wikipedia.org/wiki/Capability_Approach
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JensReißmann,GemeinsinnundEigensinn–TeilIII
Stand:Juli2016
GruppenundNetzwerke,diedeneinzelnenFreiräumeundvielfältigeOptioneneröffnen
undzugleichUnterstützunganbieten:inneuenFormendes„realen“Zusammenlebens
undZusamenarbeitensund/oderals„fiktive“Netzgemeinschaft.
"Globaldenken–lokalhandeln":DieBalancezwischenuniversalistisch-humanistischer
Orientierungundpartizipativ-kooperativenGemeinschaftsformenvorOrtistm.E.eine
zentraleHerausforderungfürheutigeundkünftigePolitikundPädagogik(vgl.imTeil
IV:Kommunitarismus).
Ichfürchteallerdings,dasswirMenschenmitdenrationaleinsehbarenundauch
umsetzbarenLösungenletztlichüberfordertsind,daGruppenegoismen,kurzfristige
individuelleVorteilssuche,nationalistischeundreligiös-fundamentalistischeIdeologien,
diemitheftigenEmotionenundkaumsteuerbarensozialenBewegungeneinhergehen,
undnichtzuletztdieLogikkapitalistischerGewinnmaximierungalleLösungsversuche
torpedieren,zumindestmassiverschweren.WiesagtederSchauspielerund
SchriftstellerPeterUstinov(gest.2004)mitmildemSarkasmus:„DasGuteamMenschen
sindseineIdeenundVorsätze,dasSchlechteist,dassersienichtumsetzenkann.“
Sorry,vielleichtfälltmirjanocheinbessererSchlussein.
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