MANIMAL.EU • ZWILLINGSFORSCHUNG Jens van Nimwegen Zwillingsforschung Roman Nimwegen 2014 © Jens van Nimwegen, Nijmegen 2016 manimal.eu/zwillinge Dritte Auflagea Samstag. Ausgerechnet heute hat die Wäscherei falsch geliefert. Ich brauche ein gestärktes Hemd, keine Damenwäsche. Niemand hier braucht Damenwäsche. Das kommt davon, wenn man hier in Brandenburg örtliche Kleinfirmen unterstützen will. Die verwechseln gestärkte Hemden mit Damenwäsche. Jim hat noch frische Hemden und leiht mir eines. Es ist mir etwas zu weit, und ich muss mir seinen Spott anhören. Und in Naturalien bezahlen. Es eilt, denn gleich kommt der Minister. Also Haare und Bart auf 1 mm trimmen, dunklen Anzug an, unauffällige Krawatte, Knopf ins Ohr. Dieser Knopf, dessen Leitungs-Spirale im Hemdkragen verschwindet, ist eigentlich fast nie nötig, aber die Leute müssen ja erkennen, dass wir nur die Bodyguards sind. In diesem Haushalt droht schon genug Verwechslungsgefahr. Der Dienstwagen des Ministers kommt total verdreckt hier an; der Chauffeur ist abgenervt. Zehn Kilometer Waldweg bei diesem Regenwetter hinterlassen ihre Spuren. Der Sekretär des Ministers nimmt mich beiseite und will, dass ich gleich ein Zeichen gebe, wer wer ist. Ich muss ihn enttäuschen: auch nach vier Jahren kann ich meine Chefs nicht unterscheiden. Das macht aber nichts. Tillmann und Timotheus Thier sind seit dem Tode ihrer Eltern die einzigen, die sich zuverlässig unterscheiden können, weil eben der eine er selbst und der andere der andere ist. Sogar Frau Bichler, die Chefsekretärin, würde sie verwechseln, aber da beide Besitzer und Direktor sind, alles zusammen machen und beide mit T. Thier unterschreiben, gibt es nichts zu verwechseln. Schon als kleine Kinder wollten sie immer gleich angezogen werden und haben das bis heute so gehalten. Auch die Krawatten sind immer gleich. Jim, der eigentlich heute bis zum Abend frei hat, bittet den Chauffeur in die Küche, ich Minister und Sekretär in den Salon. Ich serviere Kaffee und werde dann entlassen. Schnell ins Dorf, um meine Hemden aufzutreiben. Heute Abend geht es nach Berlin, in die Oper. Da müssen wir beide mit. Meine Chefs sind sich einig: Bei Tosca kommt man erst zum zweiten Akt, weil der erste ja langwei- 5 lig ist. Ich rufe zur Sicherheit die Oper noch einmal an, damit die Loge bis dahin freigehalten wird. Auf meinen Namen, nicht auf Thier. Wir betreten die Oper am Ende der Pause, als alle ihre Plätze suchen, und fallen nicht auf. Till und Tim Thier leben zurückgezogen und wollen nie auffallen. Sie haben erlaubt, dass ich dieses Tagebuch schreibe; aber wenn wir mit Paparazzi plaudern würden, hätten wir unsere Stelle wohl die längste Zeit gehabt. Jim fragt, ob er vor der Logentür im Gang warten darf. Er hat einen MP3-Spieler an seinen Knopf im Ohr angeschlossen. „Damit ich meine Negermusik hören kann, wolltest du doch gerade sagen.” Auf dem Heimweg reden die beiden über die Sänger und das Bühnenbild und nur wenig übers Geschäft. Sonntag. Jim und ich haben frei, außer dass ich heute mit Kochen dran bin. Unsere Chefs arbeiten im Garten. Wir dürfen uns aufhalten, wo wir wollen, sogar zuschauen bei der Gartenarbeit. Der Garten ist riesig, halb frei und halb unter alten Bäumen, und wird jedes Jahr schöner. Überall findet man verwunschene Sitzecken, je nach Stimmung. Es gibt auch einen Kamin für Abende unterm Sternhimmel. Die Brüder gärtnern manchmal acht Stunden am Tag, auch heute wieder. Kochen tu ich gerne, vor allem weil die beiden und Jim alles mögen, „wenn es nur lecker ist”. Der Chauffeur von Piëch hat mir mal erzählt, wie anstrengend es ist, wenn der Chef Vegetarier ist und was man da alles organisieren muss, damit ihm bei keinem Besuch etwas Falsches vorgesetzt wird. Montag. In die Firmenzentrale. Dort herrscht ungewohnte Unruhe. Es wird viel telefoniert. Leute, die wie Anwälte aussehen, kommen und gehen. Irgendetwas stimmt nicht. Ich bekomme mit, wie Frau Bichler immer wieder Journalisten abwimmelt. Dienstag. NRC Handelsblad ruft mich an, der Chefredakteur selbst mit seinem belgischen Zungenschlag. „Also, Herr Berkhout, ver6 gessen Sie’s. Sie bekommen natürlich Ihr Honorar für die ganze Woche; aber das Tagebuch wird nicht erscheinen.” – „Wie bitte? Haben Sie etwa was Besseres?” – „Nein, wir nehmen die Reserve. Studentin auf Zimmersuche.” – „Aber warum? Schreibe ich nicht gut genug? Ich habe doch Ihre Richtlinien im Stijlboek genau befolgt.” – „Sie schreiben gut. Natürlich kämen mir Ausdrücke wie in Naturalien bezahlen oder abgenervt nicht in die Zeitung. Und schon gar nicht in die Zeit. Doch daran liegt es nicht. Nein, mein Hamburger Kollege ist zu dem Schluss gekommen, dass wir den Thier-Zwillingen das nicht antun können. „Die Gräfin würde sich im Grabe umdrehen” waren seine letzten Worte. Nicht in unseren Blättern. Nicht so. Also hängen Sie sich ihre Schreibübung übers Bett. Das Geld ist unterwegs. Machen Sie’s gut!” Was soll das denn? Er sieht ja gut aus mit seinen Bartstoppeln, aber sowas?! Also, ich schreibe jetzt erst mal weiter, allein schon um meine Gedanken zu ordnen. Vorige Woche wusste ich gar nicht, dass Tagebuch Schreiben Spaß machen kann. Ich lese das NRC Handelsblad hier auf dem iPad. Samstags erscheint immer ein Hollands Dagboek, ungefähr eine halbe Seite haben die dafür. Jede Woche schreibt es jemand anders. Das ist immer jemand, der in der Woche irgendetwas besonders erlebt, meist ein Prominenter. Manchmal weiß der, wenn er anfängt, noch nicht, was geschehen wird. Die Redaktion ist unglaublich gut im Finden der richtigen Leute. Für diese Woche wurden meine Chefs gebeten, aber die würden nie in der Zeitung schreiben oder im Fernsehen auftreten. Als dann der Herausgeber der Zeit anrief und ihnen vorjammerte, dass diesmal das Holländische Tagebuch auch in der Zeit selbst erscheinen soll, und überhaupt, dass das doch wirklich etwas Besonderes sei, dass es diesmal in Deutschland geschrieben würde, haben sie mich auserkoren. Sie vertrauen mir, dass ich nichts schreibe, was keiner wissen darf. Ich mache das sehr gern. Erstens, weil ich das Hollands Dagboek immer gern gelesen habe, zweitens, weil mich interessiert, wie so etwas funktioniert. 7 Der Anlass war diesmal von Anfang an klar. Meine Chefs kriegen ja am Freitag diesen Preis im Beisein von Beatrix und vom Dalai Lama, den sie so bewundern. Unternehmer, die in der dritten Generation wirklich für ihre Mitarbeiter und für Qualitätsprodukte leben, nicht einfach wegsterben wie der eine Albrecht und sich nicht auf Kosten unterdrückter Kassiererinnen selbst bereichern wie gewisse Drogisten, die dann auch noch an ihrem Untergang verdienen. Die Thiers haben wie kein anderer zu den blühenden Landschaften hier im Osten beigetragen, werden von der Belegschaft auf Händen getragen und wissen, dass man sich nicht Thier’s sondern Thiers Supermarkt auf den Giebel schreibt. „Idiotenapostroph” rufen sie immer, wenn sie wieder eines entdecken. Als ich gerade Deutsch lernte, musste ich immer lachen, wie sich A.Schlecker ausspricht. Da ist Thiers doch seriöser. Auf den Dalai Lama freue ich mich. Und Beatrix soll in Wirklichkeit klitzeklein sein. Der Preis wurde von ihrem verstorbenen Mann ausgedacht, deshalb kommt sie. Ich hätte so gern dieses Tagebuch geschrieben. Ich schreibe einfach weiter, und dann schenke ich es meinen Chefs. Die Preisverleihung ist ja auf ihren Wunsch im kleinsten Kreise, und das Tagebuch war eine Art Kompromiss mit den Medien. Und eine große Ehre für mich. Jedenfalls ist eine Sache nun geklärt, die mich schon Jahre beschäftigt. Das Hollands Dagboek ist ja nie ausgefallen. Offenbar werden da immer Reserveschreiber gefragt. Jetzt darf so ne doofe Studentin ins Rampenlicht, nur weil die ein Zimmer sucht. Gut, dass ich nun offen schreiben kann. In Naturalien, in Naturalien, in Naturalien. Abgenervt. Abgenervt. Abgenervt. Meine Chefs lesen klare Sprache bestimmt gern. Als ich ein Hemd von Jim nötig hatte, hat er unter dem Vorwand, der Schweiß von Weißen stänke immer so, dass man danach alles 8 zweimal waschen muss, verlangt, dass ich ihn, wie schreibt man so etwas, oral befriedige. Was ich sowieso immer gern mache. So groß, wie man immer hört, sind Negerp ist der Seinige übrigens gar nicht. Eher im Gegenteil. ♂ Heute können Jim und ich in der Firma endlich mal anwenden, was wir gelernt haben. Meist werden wir ja nur als Chauffeur oder Koch gebraucht, aber jetzt steht ein Traube Reporter vor dem Eingang. Einer hat sogar so ein riesiges puscheliges Mikrophon an einem Galgen, wie ich es bisher nur aus dem Fernsehen kannte. „Jim, sollen wir zum Hintereingang fahren?“ – „Da sind doch bestimmt auch welche.“ Till oder Tim sagt: „Augen zu.“ Der andere vervollständigt: „und durch!“ Ihre Stimmen klingen aber matter als sonst. Ich fahre mit der Beifahrerseite dicht an den Eingang heran, steige aus und gehe ums Auto herum. Jim steigt aus, und die beiden Chefs können zwischen uns beiden hindurch ins Gebäude. Ein Reporter versucht, die hintere Tür an der Fahrerseite zu öffnen, aber das geht natürlich nicht. Über solche Autos ist gut nachgedacht. Die Reporter reden alle durcheinander. Ich kann nichts Sinnvolles auffangen. Die meisten sehen so aufgeschwemmt und unappetitlich aus, wie Reporter im Tatort immer aussehen, aber einer ist ein geiles Stück mit schwarzem Dreitagebart. Als er mir zu nahe kommt, packe ich ihn und ramme ganz schnell einen Zungenkuss rein. Den Gegner lieber verwirren als totschießen, hatte mein alter Deutschlehrer, ein Reserveoffizier, immer gesagt. Auf der Schule lernt man eben doch fürs Leben. Ein paar Kameras haben geklickt, hoffentlich zu spät. Ich denke, sowieso würde kein Bildredakteur so ein Photo drucken wollen. Der Kleine steht ein paar Sekunden entgeistert herum. Zum Sicherheitsmann wäre der mit seiner Reaktionszeit nicht geeignet. Den ganzen Tag geht es in der Firma drunter und drüber. Jim und ich haben alle Kraft nötig, Reporter abzuwehren, die durch alle Ritzen eindringen. Einmal werde ich ins Chefzimmer gerufen. 9 „Herr Berkhout, der Herr ist kein Anwalt, sondern er arbeitet an der Rudi-Dutschke-Straße bei dieser Zeitung, deren Namen wir immer vergessen. Er hat sich wohl in der Visitenkarte vergriffen. Begleiten Sie ihn hinaus?“ So etwas mache ich immer gern, aber die Gelegenheit ergibt sich bei uns leider höchst selten. Man weist ganz höflich die Richtung, schiebt nur, wenn es nötig ist, sanft den Oberarm oder die Schulter der Zielperson und steigert die Gewalt genau im Ebenmaß mit dem Widerstand. Körpersprache, Fluchtabstand und so. Kater buckeln und richten die Haare auf, damit der Schwanz dicker wirkt. Hätte bei Jim aber wieder andere Nachteile. Meist geht das Hinausbegleiten nicht weiter als bis zum Unterhaken. Man verlässt den Raum wie ein verliebtes Pärchen. Diesmal auch. Bisher habe ich nur im Training unerwünschte Besucher mit einem eleganten Wurf auf den Boden legen dürfen. Um meine bedrückten Chefs etwas aufzumuntern sage ich der untergehakten Zielperson mit meinem besten Hape-Kerkeling-Akzent, wie schön wir Holländer es finden, dass Axel Springer seine Straße nach Rudi Dutschke nennen ließ. „Duitsland ist eben doch aine tollerante Land. Das wisse alle Mense bai ons.“ Ich werde den ganzen Tag nicht schlau aus dem, was ich zwischendurch auffange. Ich will aber auf jeden Fall weiterschreiben. Am Abend müssen wir uns dann im Garten zusammensetzen. Auch Herr Mattukat, der Haumeister, sollte aus seinem Häuschen beim Tor zur Einfahrt kommen und Frau Funke, die hier immer saubermacht, aus dem Dorf. Till oder Tim Thier schenkt Bordeaux ein, Tim oder Till packt verschiedene kleine Käse aus, und Jim sagt, dass sie auch so komisch riechen wie weiße Männer. Frau Funke schlägt entsetzt die Hand vor den Mund. Herr Mattukat sagt: „In Kaschuben war dat eenzije wat schwarz war, Vöjel die wer jefangen habm um se zu essen. Kormorane. Einfach Hals umdrehen.” Er macht die Handbewegung vor. Frau Funke fängt sich wieder: „Herr Mattukat, det müssen Se von ihren Jroßvater haben, Sie wa- 10 ren in Kaschuben noch viel zu kleen.” „Zum Vögeln”, ergänzt Jim, dessen Deutsch immer idiomatischer wird. Aber das schreibe ich alles nur auf, um mich abzulenken. So ’nen Quatsch haben wir auch nur geredet, um uns abzulenken. Denn Frau Funke hatte von ihrer Tochter schon gehört, was im Fernsehen war. Dann kommt der Moment der Wahrheit. Mist! Auch diesen kitschigen Satz habe ich nur geschrieben, um mich abzulenken. Ich könnte heulen. Und Jim ist, als er versteht, was los ist, auch nicht mehr der Herrenneger, den er so gerne heraushängt. Weil, wenn er was anderes heraushängt, übersieht man das ja. Eric!! Zur Sache! Es ist ernst. Eric Berkhout, das bin ich. Geboren in Rotterdam, aufgewachsen in Nimwegen, nach Berlin gezogen wegen der Männer. Ausbildung als Bodyguard wegen der Männer mit kurzen Haaren in geilen Uniformen, mit denen man auch derben Körperkontakt hat. War aber nichts Besonderes: die meisten sind dickliche Arbeitslose, die die Ausbildung schnell abbrechen. Erste Stelle als Aufpasser in einem Supermarkt in Neukölln, dann Betriebsschutz in der Firmenzentrale. Und jetzt bin ich Personenschützer, Koch und Chauffeur der reichsten eineiigen Zwillinge von Europa, der Alleineigentümer und Direktoren von Thiers. Das war ich. Beziehungsweise, das waren die mal. Scheiße! So schwer ist mir das Schreiben noch nie gefallen. Also: Till und Tim haben irgendetwas falsch gemacht. Ich glaube ja nicht, dass sie je was Illegales probiert haben. Oder was Unmoralisches. Kann ich mir bei denen nicht vorstellen. Aber die Firma ist pleite. Nicht nur die Supermärkte, auch der Großhandel und alles andere. Ein paar Millionen mehr Schulden, als alles wert ist, dieses Haus 11 hier und der Garten inbegriffen. Und die Banken wollen nicht mehr zahlen. Millionen?? Nicht Milliarden? Ne Million ist doch heutzutage nichts. Ja, nur Millionen. Aber die kriegen sie eben nirgendwo geliehen. Alle Immobilien, die verkauft werden konnten, sind schon verkauft. Das Haus mit Garten hier in der Einöde, erreichbar über einen Sandweg, ist nichts wert. Selbst das würden sie weggeben, wenn es helfen würde. Am Ende dieses Abends bei Rotwein, Käse, Sternhimmel und Geißblattduft war eines ganz deutlich: Die Firma verkaufen an einen Hedgefonds, der sie nur aussaugen will und dazu alle Leute entlässt, ist ganz genau, was die Banken und Gläubiger wollen; aber das nie und nimmer! Ihre Eltern und der Großvater haben sich schon verantwortlich für alle Mitarbeiter gefühlt, und so etwas können sie ihnen nicht antun. Weder den Angestellten noch dem Andenken ihrer Vorfahren. Sie wollen alles, wirklich alles tun, dass die Leute nicht ihre Existenz verlieren. Es muss weitergehen, und es muss mit allen so weitergehen wie seit Generationen. Herr Mattukat, Frau Funke, Jim und ich sollen auch nichts zu befürchten haben; aber wir werden auch nicht irgendeiner Kassiererin in Hoyerswerda vorgezogen. Einfach pleite machen, alles verlieren und von Sozialhilfe leben, kommt auch nicht in Frage. Das hieße ja auch, die Leute im Stich lassen. Dann könnte man ja gleich Selbstmord begehen. Ich sage, dass man in anderen Ländern seine Organe zu Höchstpreisen verkaufen kann, und handle mir damit einen richtig fiesen Schlag von Jims Handrücken in meine Fresse ein. Er hat ja Recht, auch wenn jetzt meine Lippe blutet. Frau Funke heult und erklärt, dass sie ja sowieso schon Rente kriegt und hier weiter saubermachen will, auch ohne Gehalt, weil ihr ihre Tochter sonst den ganzen Tag auf die Nerven geht. „Uff mir könnse sich immer verlassen. Un nu jehnse mal ins Bett un nehmen ihre Boddijahrts eenfach mit! Det hat Ihnen schon immer jut getan. Det habe ick doch jemerkt.” 12 Till und Tim Thier schlafen seit ihrer Kindheit in einem Bett. Das soll die Klatschpresse natürlich nicht wissen; aber die beiden leben so abgeschirmt und verursachen so wenig Aufhebens, dass sie sowieso nicht von der Presse entdeckt sind. Jedenfalls bis jetzt. Nun wird ja wohl die Hölle losbrechen. Dass sie niemals ne Frau heiraten würden, war immer schon klar. Aber sie haben sich auch nie in Kneipen und Parks herumgetrieben, um mit Männern rumzumachen. Vielleicht machen sie es manchmal miteinander. Selbst Jim und ich wissen das nicht. Aber Frau Funke hat das richtig gesehen: manchmal nehmen sie ihre Personenschützer mit ins Bett. Dann wird geschmust, wir saugen sie ab, wobei ich sie auch am Geschmack nicht unterscheiden kann, und dann kuscheln wir uns alle aneinander und schlafen ein. Beide haben es gern, wenn man ihre Teile dabei in der Hand hält. Bodyguards müssen eben aufpassen auf alles Wertvolle. Diese Nacht müssen Jim und ich zweimal ran, und man schläft nicht besonders fest. ♂ Beim Frühstück besprechen sie die Lage. Wir sollen dabei bleiben; denn sie haben vor uns keine Geheimnisse und wissen, wie verschwiegen wir sind. Dann fahren sie mit Jim ins Geschäft, und ich habe Zeit zum Schreiben. Sie haben wohl investiert in etwas, woran sie glaubten, und haben viel verloren. Und weil immer alles sauber war, gibt es kein Schwarzgeld, auch keine Altersversorgung auf einem Nummernkonto und keinen Privatbesitz, der nicht in die Pleite mitgerissen würde. Verwandte, die aushelfen könnten, haben sie auch nicht, und alle Banken und Spekulanten kreisen über ihnen wie Aasgeier und Heuschreckenschwärme. Die Preisverleihung wurde im gegenseitigen Einvernehmen diskret abgesagt. Den Dalai Lama werde ich wohl nie treffen. 13 Jetzt muss ein Kredit her, damit es mit den Angestellten weitergeht, und zwar nicht einer, der die Abhängigkeit von den Finanzhaien nur noch größer macht. Ich ertappe mich dabei, zu hoffen, dass ein amerikanischer Anwalt mich per Telefon über eine Milliardenerbschaft informiert. Warum soll ich nicht irgendwo in Connecticut eine mir völlig unbekannte, unehelich geborene, kinderlose Tante haben, die mir alles nachließ. Es wimmelt doch da von stinkreichen Leuten mit holländischen Namen. Roosevelt, van der Bilt. Nur sterben die nie kinderlos, wenn man sie braucht. Jim und ich könnten als Edelstricher arbeiten. In höchsten Kreisen kennen wir uns ja aus. Aber damit kann man wohl nur ein paarhunderttausend verdienen, keine Millionen. Und es dauert zu lange. Erst mal aufräumen, Wäsche sortieren, Kleidung für die nächsten Tage kontrollieren und bereitlegen. Sie tragen immer genau das Gleiche, also gibt es alles doppelt. Alles, das sind ein paar Maßanzüge für verschiedene Gelegenheiten, weiße Hemden, handgearbeitete Schuhe. Sie tragen fast nur Anzüge, auch zu Hause, abgesehen von den Overalls und Gummistiefeln für die Gartenarbeit. Sie verabscheuen Leute, die zu Hause in Jogginganzügen herumlungern. Man muss jederzeit Besucher jedes Standes empfangen können und lässt sich zu Hause nicht gehen. Außerdem tragen sie ihre Anzüge ja offenbar gern und sehen auch sehr gut darin aus. Auch Jim und ich tragen bei jeder Gelegenheit unsere dunklen Anzüge, außer beim Training. Ich lenke mich mit dem Gedanken ab, dass Jim und ich zur Unterscheidung von unseren Chefs gar keine Knöpfe im Ohr bräuchten. Jim ist ja schwarz, und ich bin der Weiße, der nicht doppelt ist. Aber manche Leute, mit denen man zu tun hat, sind zu doof, um sowas zu verstehen. Die wollen Ärzte von Krankenpflegern am Stethoskop unterscheiden und Bodyguards von gutaussehenden Chefs am Knopf im Ohr. So ist das nun mal. Obwohl ich noch nie gesehen habe, dass so ein Stethoskop wirklich gebraucht wird. Oder sollten die damit auch Negermusik hören können? 14 ♂ Am Abend ist die Stimmung nicht besser als gestern. Die beiden liegen im Garten auf Bänken und reden darüber, was man noch zu Geld machen kann. Ich setze mich dazu, lege den Kopf des Einen in meinen Schoß und knete seine Weichteile mit einer Hand. Ich werfe Jim einen Blick zu, und er macht beim Anderen das Gleiche. Sie lassen es geschehen. Die Reflexe beim Schwellkörper funktionieren noch. Wir haben noch nie so die Initiative genommen; aber die beiden müssen sich endlich mal entspannen. Meiner lässt dankbar seinen Hinterkopf in meinem Schoß kreisen. Die Georg Richters verkaufen, die sie mal für einen Appel und ein Ei gekauft haben, und die jetzt hundert Millionen wert sind? Nein, geht nicht, die haben sie ja dem Museum in ihrem Heimatort geschenkt, nicht geliehen. „Haben wir denn gar nichts, was wir zu Geld machen können?” – „Nein, wir haben nichts, sind ja alles schon durchgegangen, und wir können auch nichts Besonderes, außer die Firma führen. Und selbst das nicht.” – „Stinklangweilig sind wir.” – „Ich wäre zu Allem bereit.” – „Ich doch auch.” Ich mache meinem die Hose auf und bereite ihm mit der Hand ein paar schöne Viertelstunden. Jim macht es mir nach. Flecken landen auf den Anzügen; aber das macht nichts. Im Schrank hängen genug saubere. Danach wollen sie ins Bett, ohne uns. Mir gehen diese Sätze die ganze Nacht im Kopf herum. „Haben wir denn gar nichts, was wir zu Geld machen können?” – „Nein, und wir können auch nichts Besonderes.” – „Stinklangweilig sind wir.” Und meine eigene Zukunft? Ist das ein Zeichen, dass ich hier weg muss? Was ist das eigentlich für ein Leben? Ich war doch nach Berlin gekommen wegen der Männer. Und jetzt bin ich eigentlich Tag und Nacht im Dienst, trage nur Anzüge, mal mit, meist ohne kugelsichere Weste, bin tagsüber meist in der Firmenzentrale und 15 sonst hier in dieser Einöde. Ich war schon ewig nicht mehr in unanständigen Kneipen und dunklen Parks, und einen Mann habe ich auch nicht. Zugegeben, die Chefs sind in Ordnung. Man lebt hier gut. Ich koche gern, sie essen es gern, der Garten ist wunderschön und macht mir keine Arbeit, auch Jim ist in Ordnung, und mit ihm kann ich Holländisch reden. Dank Internet habe ich hier sogar mein NRC Handelsblad noch am selben Tage. Und beinahe wäre ich ganz nahe bei Beatrix gewesen und hätte mich vielleicht sogar getraut, den Dalai Lama anzusprechen. Perverse Romane lese ich auch noch, und die brauche ich hier im Hause nicht einmal zu verstecken. Und wir alle schauen gerne Tatort. Ist ja doch eines der besseren deutschen Kulturprodukte. Aber das ist dann auch schon alles. Eigentlich habe ich es genau so langweilig wie ein spießiger, verheirateter Buchhalter im Reihenhaus. Und doch will ich nicht, dass das hier alles aufhört. Und jetzt die Gelegenheit ergreifen und ne neue Stelle suchen wäre ja wohl das billigste, schäbigste. Personenschützer haben ihre Berufsehre. Am Morgen werde ich in einem nassen, zerwühlten Bett wach und weiß: Ich hab’s! Jedenfalls muss ich das sofort versuchen. Ich lasse mir frei geben und fahre nach Adlershof, zu den Filmstudios von Dr. Brauksiepe. Wenn wahr ist, was ich über ihn gelesen habe, habe ich eine Chance, ihn persönlich zu sprechen, und er kann vielleicht helfen. Er ist ein Querdenker mit einem Netzwerk ungewöhnlicher Menschen. Wenn ich mich täusche, werde ich mich gleich fürchterlich blamieren. In der Rezeption steht wie zu erwarten keine Dame, sondern ein junger Mann im Anzug mit Dreitagebart. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?” – „Ich möchte zu Dr. Brauksiepe.” Er schaut auf seinen Bildschirm und trommelt mit den Fingern. „Soweit ich sehe, haben Sie keinen Termin. Worum geht es?” – „Ich werde ihn zunächst 16 oral befriedigen und ihm dann einen Vorschlag für ein Projekt machen.” – „Oral bitte was??” – „Oral befriedigen. Zicken Sie hier nicht rum! Es ist allgemein bekannt, dass jeder Angestellte und Vertreter das hier machen muss.” – „Sicher nicht jeder, Herr, eh…” Er schaut auf meine Visitenkarte. „Berkhout. Man muss schon gut aussehen und verstehen, was man macht.” – „Na, dann werden Sie ja wohl so an Ihren Job hier gekommen sein.” Das Bürschchen hat sich wieder gefangen, grinst mich gehässig an und sagt: „So, jetzt kommen Sie bitte mal hier herum und zeigen mir unter der Theke, was Sie können. Inzwischen bemühe ich mich um einen Termin. Jedenfalls, wenn Sie etwas können.” Das ist doch mal was Anders als die Firmengebäude, wo ich bisher mit meinen Chefs hin musste. Während ich ihm zeige, was ich kann, kommen drei oder vier Leute, denen er den Weg weist, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn er sich zwischen Computer und Telefon hin- und herbewegt, muss ich mit. Jedenfalls will ich mich nicht blamieren. Dann stoßen seine Lenden ein paarmal heftig, und er stöhnt ganz kurz auf. Danach sehe ich, dass hier unten griffbereit Papiertücher hängen. An alles ist gedacht. Und ich sehe eine Kamera mit einem roten Lämpchen. Na ja, es ist und bleibt ein Filmstudio. Ich reinige und verpacke mein Spielzeug wieder und werde tatsächlich nach oben geschickt. Der hiesige Empfang ist auf jeden Fall besser organisiert als der in dieser Chemikalienfirma mit dem Weib mit zentimeterlangen Fingernägeln und Spachtelmasse im Gesicht. Der nähere ich mich nie mehr als auf ein paar Meter, damit ihr Parfüm nicht in meinen Anzug zieht. Dr. Brauksiepe, der Produzent, ist dick, aber nicht unsympathisch. Er schaut auf von seinem Monitor und begrüßt mich mit den Worten: „Ich sehe, junger Mann, dass Sie sich trotz meines vollen Terminkalenders Zugang verschaffen konnten. Nicht schlecht, nicht schlecht! Nun zeigen Sie hier mal, was Sie können.” Er schwitzt, 17 schmeckt aber weder ranzig noch nach Deo. Gar nicht mal unangenehm. Dann erkläre ich, dass ich durch Romane, die er bestimmt kennt, weil er ja in einem sogar vorkommt, auf die Idee gekommen bin, ihn um Hilfe zu bitten. Letzte Rettung. Die beiden Stellen über Zwillinge in den Büchern haben mich beeindruckt. Weil meine Chefs ja auch eineiige Zwillinge sind. Da ist einmal dieser Zukunftsroman, wo Homosexuelle gesetzlich zu Tieren erklärt wurden. Da hält sich eine Frau der Münchner Schickeria gutaussehende eineiige Zwillingsbrüder wie Rassehunde. Der eine darf seinen schwarzen Pelz, also Kopfhaar, Bart, viel Brusthaar, Schamhaar behalten und muss immer in die Sonne oder auf die Sonnenbank, damit er braun wird. Der andere wurde vollkommen haarlos gemacht und muss die Sonne meiden, damit seine Haut weiß bleibt. Ansonsten sind sie so dressiert, dass sie immer beide genau das Gleiche machen. Sie werden sofort bestraft, wenn sie mal nicht genau das Gleiche machen. Am meisten hat mich im Buch der Satz fasziniert: So gut unterscheiden kann man sie also nur, damit man sie unterscheiden kann. Ein vollkommen sinnund nutzloser Unterschied, der nur dazu da ist, zu unterscheiden, was bis auf den Unterschied gleich ist. Ich verhaspele mich; aber Dr. Brauksiepe versteht, was ich meine. Meine Chefs kann man ja gar nicht unterscheiden, weil sie genau gleich aussehen, gleich gekleidet sind und alles zusammen machen. Das ist mir in der Nacht eingefallen. Sie sind gar nicht so langweilig und gewöhnlich, wie sie gestern gesagt haben. Sie sind doppelt! „Herr Doktor Brauksiepe, ich kann mir nicht vorstellen, was sie machen würden, wenn man ihnen diese Gleichheit auf einmal wegnähme.” Dr. Brauksiepe hört immer aufmerksamer zu. Ja, sagt er, ihn faszinieren Zwillinge genauso wie Jens, den Autor, und er würde da gern mal eine Serie oder so drüber machen. 18 Ja, sage ich, und dann gehen mir die Zwillinge aus dem anderen Roman durch den Kopf. Die sind auch genau gleich. Die wollen beide versklavt werden, zusammen. Das geschieht auch; aber ihre Sklavenverträge unterscheiden sich teuflisch. Einer kann nämlich weg, wenn er will, und wird dabei seinen Herrn existentiell ruinieren. Der andere kann das nicht. Wenn der eine wegläuft, verliert er seinen Bruder. Sie werden immer mit diesem Unterschied leben müssen. Solange sie nicht weg wollen, merkt man von dem Unterschied nichts. Aber jedesmal, wenn ihr Leben schwer ist, muss es sie doch furchtbar belasten, dass sie ungleich sind. Weil eine Münze geworfen wurde. Wie gesagt, das geht mir den ganzen Morgen im Kopf herum. Und einer wie dieser Autor, der wird doch vielleicht eine Idee haben, wie man die Gleichheit meiner Chefs zu Geld machen kann. Und ihm, Dr. Brauksiepe traue ich zu, dass das im Sinne der Firmenethik der Familie Thier geschieht. „Sie trauen mir ja viel zu, junger Mann. Wie kann ich Sie erreichen?” ♂ Am nächsten Abend schon meldet sich Dr. Brauksiepe an. Ob er mit ein paar Leuten vorbeikommen und einen Vorschlag unterbreiten dürfe. Meinen Chefs ist alles recht. Sie wollen nicht einmal wissen, was ich da eingefädelt habe, weil sie sowieso immer nur direkt verhandeln und sich nicht hintenrum erkundigen. Der Doktor erscheint zusammen mit einem Notar und einem Psychologen, die beide auch so aussehen, und einer Art Rockertyp mit Koffer, der erst einmal zusammen mit Jim in den Garten geschickt wird. Der von mir bewunderte Autor ist nicht dabei, aber der hat inzwischen einen Plan ausgedacht. Ich mache es kurz. Dr. Brauksiepe kann zusammen mit einem milliardenschweren Hintermann aus Benelux, der anonym bleiben will, die Firma retten, und will das auch tun, aber nur unter zwei Bedingungen. 19 Erstens, dass er, Brauksiepe, mit unserer Mitwirkung einige Filme und Bücher produziert und sein Hintermann unsere Erlebnisse in einer Fernsehserie verarbeitet, wobei wir auf alle Urheberrechte verzichten. Keine Angst, diese Projekte werden der Firma nicht schaden. Niemand wird sie mit dem Namen Thier in Verbindung bringen können. Es wird um Zwillinge gehen, aber nicht um große Konzerne. Ganz andere Zwillinge werden mitwirken. Der Notar kann, wenn gewünscht, erklären, dass der Persönlichkeitsschutz wasserdicht ist. Und zweitens, dass einer der beiden Thier-Brüder Sklave des Personenschützers Eric Berkhout wird. „Was?” rufen wir alle drei zugleich? Aber meine Chefs sind zu klug um gleich loszuquatschen. Sie wollen erst einmal alles genau verstehen. Der Notar erklärt, welche Verträge er vorbereitet hat. Es ist ein ganzer Stapel. Alles greift ineinander, wie bei den Sklavenverträgen im Roman. Ich schreibe hier nur den Kern der Idee auf, ohne juristische Formulierungen: Einer der beiden Brüder macht genauso weiter wie bisher, bleibt Eigentümer und Direktor der Firma, behält auch dieses Haus und bekommt sofort den dringend nötigen Kredit. Heute Abend noch. Der andere verzichtet, soweit es in Deutschland überhaupt geht, auf alle Rechte und alles Eigentum und erklärt sich bereit, dem niederländischen Staatsangehörigen Eric Berkhout absolut und bedingungslos in Allem zu gehorchen. Er erklärt sich auch bereit, körperliche Erziehungsmaßregeln zu akzeptieren. Sein neuer Herr verpflichtet sich im Gegenzug, ihn zu schützen und vor bleibenden körperlichen und geistigen Schäden zu bewahren. Der Sklave, also, so wird er jetzt mal informell genannt, denn es gibt selbstverständlich in Deutschland keine Sklaverei, aber wir wissen ja, was gemeint ist, wird übrigens krankenversichert. Und Eric Berkhout erhält eine Generalvollmacht, obwohl die nicht viel wert ist, weil der sogenannte Sklave ja kein Eigentum mehr hat und über nichts verfügen kann. Jeder andere hätte ja wohl den Besuch schon bei den ersten Sätzen rausgeworfen. Beziehungsweise von seinen Sicherheitsleuten pro20 fessionell nach draußen begleiten lassen. Till und Tim Thier dagegen ziehen sich zurück. Sie wollen jetzt allein sein. Im Moment haben sie keine Fragen, weil der Notar seine Arbeit gut gemacht hat. Sie haben von ihrem Vater gelernt, dass man jeden Vorschlag gut anhören und in Ruhe besprechen muss. Ich dagegen bin völlig überrumpelt. Klar, ich habe massenhaft Romane über SM und Sklaven gelesen; das hat Dr. Brauksiepe richtig angefühlt. Er glaube, erklärt er inzwischen, dass ich das Zeug zu einem strengen, aber gerechten Herren habe. Außerdem würde ich ja auch ein Bestandteil des Vertragswerkes und des Films. Ich könnte die ganze Sache platzen lassen, wenn ich nicht bereit wäre. Oder einfach total scheitern, auch das gäbe Stoff her. „Was muss ich denn unterschreiben?“ – „Nichts. Sie, Herr Berkhout, sind nur ein Mittel zum Zweck. Sie können machen, was Sie wollen. Aber wenn Sie ihren Sklaven, wie wir ihn nennen wollen, verstoßen oder sich nicht gut um ihn kümmern, ist es vorbei mit dem Kredit und der Bürgschaft, und die Firma steht genau da, wo sie heute steht. Vor dem Abgrund.“ Im Übrigen, fährt er fort, hätte ich ja keine bestimmten Pflichten, außer, auf mein Eigentum gut aufzupassen und die Entwicklung zu dokumentieren, wozu später mehr. Ich könnte, eh, könne ja einfach weitermachen wie bisher und den Sklaven, um ihn so zu nennen, in der Direktion der Firma arbeiten lassen. Dann würde – hier grinst der Doktor ziemlich fies – der Unterschied ja gar keinen Unterschied machen. Alles ginge einfach weiter wie gehabt. Ich kann hier gar nicht aufschreiben, was mir alles rasendschnell durch den Kopf ging. Durch die Adern kreiste vor allem Adrenalin. Und auch Testosteron, zugegeben! Die könnten mein Vater sein! Wie schreibt man so eine Feststellung im Falle von eineiigen Zwillingen grammatisch und biologisch richtig? Jedenfalls ist jeder für sich fast zwanzig Jahre älter als ich. Und beide zusammen auch. 21 Da kommt einer zurück, lässt sich vom Notar die Papiere geben und verschwindet wieder. Ich serviere inzwischen Tee und Gebäck, um mich abzulenken. Ich muss mich die letzten Tage ziemlich viel ablenken, fällt mir auf. Mit dem Dokumentieren ist es so gemeint: Ich soll auf jeden Fall eine Art Tagebuch führen, seinetwegen mündlich, einfach ins iPhone diktieren, im Studio wird es dann getippt und verarbeitet. Und ich soll bei allen interessanten Gelegenheiten Fotos machen. Ich hätte doch wohl das neueste iPhone mit der hohen Auflösung. Auch mein Sklave müsse jede Woche einen Bericht schreiben oder diktieren. Aber ich solle darauf achten, dass die Fotografiererei nicht die Hauptsache wird und den Prozess stört. Es müsse bald ganz automatisch und selbstverständlich geschehen. Mit meiner Ausbildung hätte ich doch wohl mehr Verhalten reflexartig drauf, nicht wahr? Das stimmt. Ich achte immer auf die Umgebung und darauf, wie wir stehen, damit sich keiner anschleichen kann. Und das ist noch nie jemandem aufgefallen, und es verhindert nicht, dass mir all diese Besuche und Empfänge sogar Spaß machen. Nach einer Stunde kommen die Zwillinge zurück und sagen gleichzeitig: „Wir wollen losen.” Jetzt ist der Notar in seinem Element. Er lässt sich die beiden Personalausweise geben und untersucht sie. „Tatsächlich, verschiedene Vornamen und Nummern. Es wird wirklich Zeit, dass da Fingerabdrücke hinzukommen. Nun sind wir auf Ehrlichkeit angewiesen. Aus Kindesverwechslungen können die interessantesten Rechtsfälle entstehen. Wer ist bitte Dr. Timotheus Thier?” – „Ich.” – „Na, dann glauben wir es mal. Bitte stellen Sie sich dort links auf. Und Sie sind Dr. Tillmann Thier?” – „Ja.” – „Bitte dort nach Rechts.” Da unterbricht Tim: „Wir hätten noch einen Wunsch.” – „Wollte ich auch gerade sagen”, sagt Till, „Eric, würden Sie uns beide…” – Tim 22 vervollständigt: „noch eimal entspannen, wie Sie das so schön können?” – „Danach wird ja wohl alles anders.” Der Notar schreibt beiden ihren Vornamen auf den Handrücken, unterschreibt, und schickt uns dann ins Schlafzimmer. Die beiden reden nicht. Sie atmen schwer. Wir klammern uns alle drei immer wieder aneinander. Am Geschmack kann ich sie immer noch nicht unterscheiden. Und nachdenken kann ich ganz und gar nicht mehr. Danach geht alles ganz schnell. Beide müssen sich wieder aufstellen, der Notar kontrolliert die Handrücken und erklärt: „Kopf für Entrechtung von Timotheus und Zahl für Entrechtung von Tillmann Thier, wenn Sie verstehen, was ich meine. Meneer Berkhout, Sie haben doch sicher eine Münze zur Hand.” Jetzt bin ich es auch noch Schuld! „Ach, interessant, tragen Sie nur holländische Münzen mit sich? Na, wird wohl Zufall sein. Was steht denn da auf dem Rand?” Ich lese vor: „GOD ZIJ MET ONS. Gott sei mit uns.” Der Notar wirft die Münze und alle sehen das Porträt von Königin Beatrix. Der eine Zwilling ruft: „Tim.” Der andere: „Ich.” Dr. Brauksiepe sagt: „Eric, darf ich vorschlagen, dass wir Tim unverzüglich unveränderlich kennzeichnen? Ab sofort ist das ja existentiell. Draußen wartet unser Tätowierer und Piercer. Ich dachte an einen kleinen Ohrring zur schnellen Erkennung und den Namen Tim hinter dem Ohr, unauffällig. Die Ohrtätowierung wird dann unter „Unveränderliche Kennzeichen” in den Ausweis eingetragen. Es darf auch mehr sein, wenn Sie wünschen. Jedenfalls sollten Sie jetzt schon mal versuchen zu fotografieren. Ich mache es heute auch.” Er zieht sein iPhone aus der Tasche. Obwohl ich immer noch nicht klar denken kann, bekomme ich heraus: „Einen Eichelring. Über Tätowierungen muss man in Ruhe nachdenken.” – „Na, dann rufe ich mal unseren Fachmann.” Jim ist mit hereingekommen und versteht nicht, was los ist. Keiner erklärt es ihm. Der Rocker verschwindet mit Tim und seinem Kof- 23 fer im Badezimmer. Tillmann Thier sagt mit leicht bebender Stimme: „Darf mein Mitarbeiter Ihnen ein Glas Champagner anbieten?” Ich bekomme nur noch heraus: „Jim, mach du das. Mir zittern die Hände.” Er zischt mir zu: „Immer wir, wenn Massa einen Wunsch hat. Na, wenn einer schon aus einem Sklavenhändlerland kommt.” Wenn der wüsste! Der Notar zieht sich mit Tillmann Thier und seinem Sektglas zurück, um die Geldangelegenheit zu regeln. Anscheinend kann man das auch mitten in der Nacht, per Fax oder e-Mail. Nein, nicht ganz. Jim wird gerufen und muss jetzt sofort irgendwelche Dokumente nach Frankfurt/Entweder bringen, wie wir hier immer sagen. Den sind wir erst mal los. Der Doktor erklärt mir noch einmal meine Rechte und Pflichten. Als er das Tagebuch erwähnt, kann ich es nicht lassen: „Ach, dann wird wieder jedes Wort auf der Goldwaage gewogen, wie beim NRC Handelsblad, wo der Chefredakteur sogar das Wort abgenervt nicht ertragen kann.” „Ach, ist das nicht ein Belgier? Die sind ja alle so altmodisch. Also, bei mir dürfen Sie schreiben und reden, wie Ihnen der Schwanz gewachsen ist. Und erwähnen Sie nicht dauernd, wie sie fotografiert haben; das interessiert den Leser nicht. Ich brauche Fotos, nicht Beschreibungen, wann Sie fotografiert haben.” „Verstanden. Muss ich anfangen mit einer Szene im locker room, mit Längen und Gewichtsangaben aller Beteiligten? Wir haben hier gar keinen locker room.” –„Eric, Sie haben zu viel amerikanischen Schund gelesen. Hängen Sie auf Nifty.org rum? Das ist Zeitverschwendung. Für den amerikanischen Markt machen wir diese Einleitung mit Längenangaben in Zoll sowieso automatisch rein. Mit einem Computerscript.” Dann erscheint Tim – ich muss mich jetzt daran gewöhnen: mein Tim – mit einem geilen Ohrring. Der Kontrast mit dem Maßanzug ist aufregend, selbst wenn man noch eine Blutkruste sieht. Ich fin- 24 de einen Anzugmann mit Ohrring so erregend, dass ich den Rocker frage, ob er mir auch einen setzen will, natürlich links, an der anderen Seite. Ob mein hinterbliebener Chef dem zustimmt, ist mir nach all der Aufregung und drei Gläsern Champagner egal. Soll er mich doch feuern! Tims Tätowierung sieht man nicht. Die ist ja auch nur für den Ausweis. Ich flüstere ihm ins Ohr: „Ab heute schlafen wir zusammen.” – „Klar, kommen Sie einfach zu uns.” ♂ Die Nacht war ungewohnt. Ich will immer wieder Tims Ohrring – oder ist das auch meiner? – fühlen, aber der muss ja erst einmal einheilen. Und sein Schwanz ist in einen dicken Verband eingepackt. Ich denke an die Bücher über Herren und Sklaven, die ich gelesen habe. Dieser letzte Dialog – „Heute schlafen wir zusammen.” – „Klar, kommen Sie einfach zu uns.” – ist der eigentlich zulässig? ♂ Tim hat Angst vor dem Pissen; aber es ist gar nicht schlimm. Danach muss der Verband wieder drum, noch drei oder vier Tage. Frühstück wie immer, nur sind wir alle irgendwie aufgeregt. Fahrt ins Geschäft. Im Aufzug schaut dieser Praktikant mit der Punkfrisur meinem Tim ins Gesicht und sagt: „Jeil!” Direktionssekretärin Bichler dagegen lässt sich nichts anmerken. Vielleicht haben Frauen ja keinen Blick für Männerohrringe. Und diese ist total vertrocknet. Obwohl – im Tatort sind ja gerade diese vertrockneten immer unglücklich in den Chef verliebt. Ob diese dann wohl doppelt unglücklich ist? Oder jedenfalls doppelt verliebt? Wohl nur doppelt vertrocknet. Es wird wieder viel telefoniert, und dann geht eine Mail an die Belegschaft raus: die Krise, über die man vielleicht in den Medien 25 Gerüchte aufgefangen habe, ist abgewendet; alles geht weiter wie immer. Heulende Betriebsräte. Jim und ich wimmeln Reporter ab. Alles wie immer? Nein. Ich habe einen Sklaven. Ich muss es mir immer wieder sagen: Ich habe einen Sklaven, ich habe einen Sklaven. Wie in billigen Romanen, die ich gelesen habe. Es macht mir Angst. Es liest sich so leicht; es sagt sich so leicht; es gibt Fernsehsendungen über mächtige Männer, die sich von einer Domina als „Sklaven” behandeln lassen, gut bezahlen und danach wieder weiter ihre Mitarbeiter entlassen. Ich mag meine Chefs. Sie sind unnahbar, wenn sie einen nicht ausnahmsweise mal ins Bett holen, was alle soundsoviel Monate geschieht, aber vollkommen ehrlich und redlich. Sie verlangen absolute Loyalität. Sie haben noch nie jemanden im Stich gelassen. Und sie gleichen sich wie zwei Tropfen Wasser, wie wir Niederländer sagen. Und auf einmal soll mir einer von denen gehören? Gehören, hörig, gehorchen, Höriger? Dieses Kitschwort Sklave aus den SM-Pornos hat man eigentlich gar nicht nötig. Wer absolut gehorchen muss, ist hörig. HÖRIG. Das wäre vielleicht das erste Tattoo! Klein, geschmackvoll am Hals, nicht ganz vom Hemdkragen zu verbergen, aber fast. Wer genau hinschaut, sieht ein paar Punkte vom Umlaut über dem Kragen. Als ich so nachdenke, zischt mich die doppeltvertrocknete Chefsekretärin von der Seite an: „Wer ist denn jetzt wer? Endlich könnte man sie unterscheiden. Aber es wird ja wohl nicht lange dauern, bis der Andere auch so einen Ohrring hat.” – „Haben Sie meine Unkostenabrechnung schon fertig?” zischt es aus mir zurück. Doppeltrockene Frühstücksflocken, geht es mir durch den Kopf, wäre das nicht eine gute Reklame für Getreideabfälle? Dann auf dringende Einladung ins Bundeskanzleramt. Der Regierende Bürgermeister wird auch erwartet. Im Auto, ich sitze am 26 Steuer, reitet mich der Teufel, und ich erkläre wie ein Oberlehrer, wie gut es ist, dass ich nicht das Bett mit einem besoffenen Raucher teilen muss, der das Haus und uns alle in Brand steckt. Mein Chef, also Tillmann, ohne Ohrring, der hinter mir sitzt, sagt, dass dieser unselige Bürgermeister es mit seinem Flughafen schon schwer genug hat und dass – und jetzt wird seine Stimme hart – uns dessen Bettgeschichten wirklich nicht interessieren sollten. Das Kanzleramt ist einer der Orte in Berlin, zu dem sich meine Chefs gerne mit dem Auto fahren lassen, weil man da nie Parkplatzprobleme hat oder auf Chauffeure warten muss. Ich bin da auch gerne, weil es besonders gutaussehende Kollegen in Anzügen mit Knopf im Ohr gibt. Heute muss sich einer von denen mal wieder in den Vordergrund spielen. Wie froh wir sein könnten, dass unsere Chefs nicht mit der Zunge anstoßen. Man müsse sich ja schämen. Ich sage: „Ist das so? Ich werde heute Nacht mal drauf achten.” Da bereue ich es schon wieder und rede krampfhaft über Sigmatismus, um ihn nicht auf schmutzige Gedanken zu bringen. Ich muss besser auf mich aufpassen. Auf der Heimfahrt erfahren wir, dass es um die abgesagte Preisverleihung ging. Auch „dieser ostasiatische Minister mit dem Rattengesicht” war da, und allen war es peinlich, dass der Preis wegen allerlei Missverständnissen nicht verliehen wurde. Und ob man nicht und wie man denn. Im Staatsinteresse, wollte die Kanzlerin anfangen; ja genau, im Interesse der Wirtschaft, rief das Rattengesicht. Meine beiden Chefs, die sonst nie so viel reden, albern herum. Ihnen ist das ganze Theater scheiß-egal. Ich wusste bisher gar nicht, was die für einen dreckigen Wortschatz haben. Überhaupt, wie eine der reichsten Familien über echte Minister redet. Gut, dass Jim und ich absolut verschwiegen sind! Berufsehre und Liebe zu den Chefs. Habe ich gerade Liebe geschrieben? Ja, irgendwie schon, obwohl harte Kerle wie Personenschützer so nicht reden sollten. Jedenfalls nicht zu Kollegen. Und dann sagt Tillmann Thier, den ich ja jetzt von meinem Besitz unterscheiden kann, dass ihm nur eines leid tut: dass ich den Dalai 27 Lama nicht treffen konnte, den ich doch so verehre. Ich bin ganz gerührt. Vor Jahren hatte ich das einmal erwähnt, und er hat es die ganze Zeit behalten. Abends dann noch ein Glas Wein mit Frau Funke und Herrn Mattukat, zur Entschuldigung für die Aufregung. Alles bleibt beim alten. „Nur dat ick Ihnen jetzt unterscheiden kann”, ruft Frau Funke. „Aba wer is wer? Na macht ja eh nüscht! Ach Eric, ooch nen Ohrring? Sieht ooch jut aus. Aber passense uff dat det sich nich verheddert.” Frauen und Technik! Wie können sich Ringe denn verheddern? Als alle weg sind, auch Jim, bittet mein beringter Tim mich auf ein Wort. „Eric, lassen Sie uns nicht drumherumreden und vor allem nichts undeutlich lassen. Haben Sie eigentlich schon begriffen, dass Sie jetzt derjenige sind, der jederzeit den Stecker aus der Firma ziehen kann?” Sein Bruder unterbricht: „Jetzt hast du schon diese komische niederländische Redensart von deinem, eh, Dingens, übernommen. Wie man das, hahaha, mit Höherstehenden so macht. Der Stecker steckt ja wohl in der Steckdose, nicht in der Firma. Herr Mattukat war doch früher Elektriker. Soll der mal ein Diagramm zeichnen? Eric, Sie müssen nicht alles wörtlich übernehmen, was Ihr Käseblatt schreibt.” Beim Wort Käseblatt prustet er vor Lachen. Aber eigentlich sind wir alle drei unsicher. Jeder überspielt das auf seine Weise. „Nun lass mich ausreden, Brüderchen!” Jetzt unterbreche ich: „Brüderchen?” – „Ja”, sagt Till, wegen sieben Minuten stellt er sich an. Und was ist dabei herausgekommen? Ein Leibeigener.” Mir reicht es jetzt: „Albern wie kleine Kinder, die dringend ins Bett müssen. Tim, sag endlich, was du zu sagen hast!” Bei dem Du zucken beide zusammen wie bei einem Peitschenschlag. Der mit dem Ohrring wird rot. Dann fasst er sich: „Das Schicksal der Firma und meines Bruders liegt jetzt in, eh, Ihren Händen, Eric. Sie werden es wohl nach und nach begreifen. Ich vertraue Ihnen. Bitte lassen Sie meinem Bruder die Firma. Ich bin bedingungslos bereit, alles dafür zu tun. Ich habe Ihnen zu gehorchen, das ist mir wirklich klar. 28 Und, zugegeben, der Gedanke erregt mich. Und er macht mir Angst. Zum Beispiel Angst, dass Sie uns vor dem Personal bloßstellen. Aber das liegt bei Ihnen. Ich habe nur eine Bitte. Und es ist nicht mehr als eine letzte Bitte. Ich weiß, dass Sie mich jetzt nachts immer in Ihrer Nähe haben wollen. Mein Bruder will das aber auch. Bitte erwägen Sie, das Bett mit uns beiden zu teilen!” Ich schaue Till an: „Herr Doktor Thier, ist Ihnen das recht?” Das „Ja” kommt ohne Zögern. ♂ Diesmal haben wir fest geschlafen. Morgen kann hoffentlich der Verband ab, dann kann ich nachts immer den Ring fühlen. Jim fährt mit zur Firma, und ich kann wieder in Ruhe nachdenken und schreiben. Mir ist ein Höriger sozusagen in den Schoß gefallen. Damit hätte ich nie gerechnet. Klar, beim Rummachen mit Männern habe ich gemerkt, dass ich dominant bin und manche darauf abfahren. Es gibt Männer, die kriegen schon ’nen Steifen, wenn man sie erniedrigt. – Hat Tim nicht gestern gesagt, dass der Gedanke ihn erregt? Beim nächsten Mal muss ich nachfühlen. Noch besser: ich will immer sehen können, ob er erregt ist. Ich weiß schon, wie. Ansonsten habe ich viel gelesen, aber wenig Erfahrung. Das Schlimmste sind ja wohl sogenannte pushy bottoms, die ihrem Top ganz genau vorschreiben, wie er sie zu unterhalten und zu verwöhnen hat. Und die rumzicken, wenn der Top auch mal an sich selbst denkt. Aber hier ist es anders. Ich habe wirklich Macht. Der Notar hat es ja deutlich erklärt. Dabei habe ich immer nur als Bodyguard gearbeitet, im Dienste meiner Herren, und das war gut so. Bleibt nicht besser alles so, wie es war? Wir können doch einfach weitermachen, als ob es diese Verträge nicht gäbe. Aber ich habe Macht. Ich habe Macht. Macht. Macht. Macht. Und ich besitze einen Menschen. Einen Leibeigenen. Oder Hörigen. So gut das in diesem Land mit diesem BGB eben geht. Er kann nicht weglaufen, ohne seinen Bruder zu ruinieren, und mir kann gar 29 nichts passieren, jedenfalls solange ich nichts Strafbares mit ihm mache. Ich darf ihn auspeitschen. Das hat er unterschrieben. Und dieser Psychologe hat attestiert, dass er zurechnungsfähig ist. Ich darf ihn auch tätowieren lassen. Nur nicht krank machen oder umbringen. Aber das wäre ja bescheuert; dann nutzt er ja nichts mehr. Ich habe nicht nur einen Hörigen – ja, das ist das beste Wort in dieser Konstruktion –, sondern einen Hörigen, der wirklich gehorchen will und nicht gezwungen werden muss. Obwohl – dressieren wird man ihn schon müssen, bis gewisse Reflexe drin sind. War in meiner Ausbildung ja auch so, wenn auch mit anderen nützlichen Reflexen. Ich lass mir noch mal diese Romane durch den Kopf gehen. Da steht der Herr nie unter Erfolgszwang. Alles geschieht wie von selbst. Im wirklichen Leben geht es bestimmt nicht so reibungslos zu. Ich muss Brauksiepe mal fragen, ob ich mit dem Autor in Kontakt kommen kann. Wahrscheinlich ist das auch ein dicker alter Mann. Vielleicht hat er ja gar keine Erfahrung, hat sich alles nur ausgedacht. Egal! Ich habe meinen Hörigen, und das wird so bleiben, solange die Firma nicht noch einmal pleite geht, was ich nicht erwarte. Also liegen lange Jahre vor uns. Es gibt keinen Grund, dass ich Erfolgszwang fühlen muss. Und Rücksicht brauche ich auch nicht zu nehmen. Daran werde ich mich gewöhnen müssen. Also machen wir einfach weiter wie bisher. Ich halte meine Stelle und bleibe hier wohnen, jedenfalls solange Tillmann Thier mich lässt. Dass ich jetzt immer bei denen im Bett sein darf, ist ja schon eine Verbesserung. Schwer sein wird es, einerseits meinen guten Job weiter machen, andererseits keine falsche Rücksicht nehmen. Unterschiede müssen sein! Hoffentlich wird Jim nicht eifersüchtig. Darauf muss ich achten, dass der nicht zu kurz kommt. Wo er doch schon so kurz ist, grins. 30 So, jetzt entsorge ich erst einmal alle Unterhosen meines Hörigen. Muss er eben aufpassen, dass keine Pissflecken in die guten Anzughosen kommen. Muss er bei jedem Pissen an mich denken. Quatsch! Funktioniert ja nicht. Er wird nicht einmal merken, dass ich seine Unterhosen entfernt habe. Er wird sich gedankenlos die nächste vom Stapel packen. Als ich vor dem Kleiderschrank stehe, erinnere ich mich wieder, warum es doch geht. Es gibt ja verschiedenfarbige Seidenunterhosen, und von jeder Farbe genau zwei. Die beiden gehen ja so weit, dass sie sogar ihre Unterhosen abstimmen. Wenn man sich schon vom Kindesalter an genau gleich anzieht, dann bitte auch richtig! Ich werfe von jeder Farbe eine Unterhose in den Müll und schneide aus jeder zweiten Anzughose die Innentaschen heraus, damit er noch etwas nackter und zugänglicher wird. Ich merke, dass mich diese kleine Manipulation schon geil macht. Macht kann man auch im Kleinen auskosten. Das ist neu und aufregend. Aber beim Lesen der Seiten, die ich gerade geschrieben habe, werde ich wieder unsicher. Welch ein Durcheinander von Einbildungen! Wenn ich nun versage? Von wegen meinen Hörigen dressieren, aber ohne Erfolgszwang! Sicherheitsmänner müssen auf die gefährlichsten Szenarien vorbereitet sein. Auch als Herr muss ich reflexartig das Richtige tun, bevor es zu spät ist. Um vorbereitet sein, muss man regelmäßig üben. Ich kann mich doch nicht jedesmal, wenn ich meine Macht zeigen müsste, vor mir selbst damit herausreden, dass ich jetzt gerade nicht unter Erfolgszwang stehe. Autoritätsverlust hatten wir das im Lehrgang genannt. Darum können wir ja so gut mit aufdringlichen Reportern umgehen. Aber was hier nötig ist, habe ich noch nicht geübt. In einschlägigen Romanen bekommt der Sklave sofort eins in die Fresse, wenn er nicht gehorcht oder widerspricht. Aber ich bin hier in der Wirklichkeit! Ich werde abwechselnd geil und ungeil bei dem Gedanken, Tim eins in die Fresse zu geben. Den Rest der Zeit stelle ich mir vor, wie 31 er bockig ist, und übe Ohrfeigen mit dem Handrücken am Lehnstuhl des Firmengründers und in der Luft. Hoffentlich gehorcht Tim immer! Ich habe Angst vor dem ersten Schlag. Und dann muss ich auch noch reflexartig kontrollieren, dass die Zielperson einen Ohrring hat. ♂ Als sie von der Arbeit zurückkommen, erkläre ich Tim, dass er ab sofort nie mehr Unterhosen tragen darf, weil ich immer sehen können will, ob er erregt ist. Wenn das nicht gut funktioniert, muss der Schneider vielleicht die Hosen enger machen. Ich werde es beobachten. Und jetzt die letzte Unterhose weg, und die Taschen abgeschnitten! Als er das mit den Taschen versteht, wird er rot und beginnt zu zittern. Mein rechter Arm zittert auch. Aber Tim sagt nichts. Und er ist sichtbar erregt. Es funktioniert. Es ist warm. Die beiden wollen noch bis zur Dunkelheit im Garten arbeiten. Till fragt, ob ich das erlauben würde. Ich erkläre, dass sie einfach, ohne immer zu fragen, weitermachen sollen wie gewohnt, außer wenn ich selbst etwas anderes anordne. Ich will mich nicht damit belasten, dass ich dauernd gefragt werde und etwas entscheiden muss. Auch das hatte ich mir im Laufe des Tages überlegt. Erfolgszwangreduktion ohne Autoritätsverlust. Als sie dann in Ihren Overalls aus dem Schlafzimmer kommen, kommt mir ein Einfall. Jetzt oder nie! Ich muss mir einen Ruck geben. „Tim, du brauchst keinen Overall. Ich will deinen Körper sehen. Der braucht Luft und Sonne. Also nur die Gummistiefel!“ Eine Sekunde bleibt es still. Ich fühle mich unsicher, aber es kribbelt auch. Dann reden beide gleichzeitig: „Herr, mein Bruder fin...“ / „Eric, bei allem Verst...“ 32 Klatsch! Handrücken. Nicht zu hart, nicht aufs Ohr. Es hat funktioniert! Dann beide gleichzeitig: „Sie haben Recht. Wir müssen uns daran gewöhnen.“ Sie sind knallrot. Till wechselt schnell das Thema: „Sie haben ja jetzt frei. Jim ist mit dem Kochen dran, nicht?“ „Genau! Danke für Ihr Verständnis, Herr Doktor. Tim, stell mir eine Liege hin und ein Tischchen mit einer Kanne Tee. Und nach einer Stunde ein Glas Sekt.“ Das ist wohl noch mal gut gegangen. Und dann erscheinen beide nackt bis auf Gummistiefel. Mein Chef hat sich an meinen Hörigen angepasst. So tief sitzt die Gewohnheit. Keiner verliert ein Wort darüber. Jedenfalls kann ich mich jetzt wohl auch nackt in den Garten legen, mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr zu arbeiten brauche. Das war gar nicht geplant. Meine Tätowierung haben die Beiden noch nie bei Tageslicht gesehen. Wir sind ein paarmal zusammen ins Bett gegangen. Aber die würden nie sagen: „Boh, so eine große Tätowierung! Hat das nicht wehgetan? Dürfen wir mal sehen?“ Aber jetzt schauen sie immer wieder her. Ist ja auch wirklich gut gemacht, diese Schlange, die sich fast um den ganzen Körper windet. Sie arbeiten fleißig. Tim bringt mir tatsächlich von selbst zum richtigen Zeitpunkt meinen Sekt und achtet dann darauf, dass mein Glas nachgefüllt wird. Ich habe Muße, mir eine Aufgabe für Tim auszudenken. Er soll mal aufschreiben, wie das mit Zwillingen eigentlich ist. Morgen werde ich das verlangen. Jim kommt mit Einkäufen, glotzt nur kurz, versucht, sich nichts anmerken zu lassen, und verschwindet in die Küche. Till ruft ihm nach, dass er hier draußen decken soll. 33 Die beiden haben für ihr Alter ganz ordentliche Körper, drahtig. Schwimmen ja auch regelmäßig. Doch werde ich meinen ab jetzt zum Training mitnehmen. Ein paar Muskeln täten ihm gut. Sein Bruder kann ja mitkommen, wenn er gleich bleiben will. Er ist ein freier Mann in einem freien Land. Wir bleiben beim Abendessen nackt, anscheinend gefällt es ihnen. Jim dagegen trägt geradezu demonstrativ seinen Anzug. Till will es ihm leicht machen und sagt, er solle es sich auch bequem machen. Der Wind, die Haut, und man sei doch hier alleine in der Natur. Jim schnaubt und murmelt etwas, das wie „nackte Neger gucken“ klingt. Als ich beiläufig sage: „Tim, schenk unserem Koch doch Wein nach!” blitzen Jims Augen. Nachher nimmt er mich beiseite und zischt: „Was ist hier eigentlich los?” Auch die Antwort auf diese unvermeidliche Frage hatte ich mir schon überlegt. Ich erkläre ihm, dass es nur ein paar kleine, private Änderungen gibt, die ihn nicht betreffen. Dass ihn alle genauso schätzen wie immer und dass das Leben wie gewohnt weitergeht. Und die Arbeit auch. „Und wieso duzt ihr euch alle auf einmal?” – „Jim, du täuschst dich. Ich duze Tim, er mich nicht. Und zwischen Till und mir bleibt es sowieso beim Sie. Mach dir keine Gedanken. Für dich ändert sich nur eines: wenn du von Tim oral verwöhnt werden willst, kann und werde ich das jederzeit für dich regeln. Auch in der Firma. Aber dort diskret, bitte!” – Jim grinst. „Echt?” – „Ja, mein Wort!” – „Vielleicht werde ich mich an den Gedanken gewöhnen. Dann wird sich ja zeigen, ob es stimmt, oder ob dir nur diese Bücher zu Kopf gestiegen sind, die hier immer rumliegen.” Die Nacht ist ereignislos. Der Verband ist zwar ab, aber man muss noch ein paar Tage vorsichtig sein. Mein Eigentum soll gut verheilen. ♂ Als ich wach werde, bin ich allein. Warum ist mein Knecht nicht bei mir? Sind die beiden etwa mit Jim in die Firma gefahren, als ob 34 nichts wäre? Ich finde einen Zettel: „Herr, wir wollen noch im Garten arbeiten. Gestern war das so schön, an der frischen Luft. Rufen Sie bitte, wenn Sie mich brauchen. Das Fester ist offen.” Na bitte, alles gut organisiert, hier wie in der Firma. Ich bleibe in der warmen Morgenluft ohne Decke liegen, errege mich mit der linken Hand und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich könnte Tim jetzt rufen und sein Saugmaul nutzen, aber das kann ich ja immer noch. Stattdessen will ich probieren, ob ich mich eine volle Stunde steif halten kann. Ich kann. Dann brauche ich mich demnächst nicht vor Tim zu schämen, wenn er diese Aufgabe bekommt. Was soll das denn, dass ich mir Gedanken mache, vor meinem Leibeigenen keinen Dauerständer halten zu können? Ich muss noch viel lernen und habe keine Ahnung, wie ich das anfangen soll. Aber ich darf nicht unsicher wirken. Als es dann soweit ist und alles auf meiner Brust landet, rufe ich ihn, nehme ihn mit unter die Dusche. Er kommt erst nicht drauf, dass er mich einseifen, waschen und abtrocknen soll. Ich muss tatsächlich erklären, dass ein Leibknecht nun einmal diese Aufgabe hat. Dann gibt er sich Mühe, aber es fühlt sich unbeholfen an, und er kümmert sich nicht um die Körperstellen, wo es sich am meisten lohnt. „Habt ihr euch denn nie gegenseitig gewaschen und abgetrocknet?“ „Nein, Herr. Wir duschen zusammen, aber seinen Dreck macht jeder selbst weg.“ Da muss der Herr dem Knecht vormachen, wie und wo man einseift und wäscht und abtrocknet, und dass der Dreck dabei gar nicht so wichtig ist. „Danke, Herr. Ich will das besser lernen. Darf ich mit meinem Bruder und Jim üben?“ – „Wenn die wollen, sicher. Aber Jim kriegst 35 Ende der Leseprobe von: Zwillingsforschung Jens van Nimwegen Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1Wy8r4Q
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