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MANIMAL.EU
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ZWILLINGSFORSCHUNG
Jens van Nimwegen
Zwillingsforschung
Roman
Nimwegen 2014
© Jens van Nimwegen, Nijmegen 2016
manimal.eu/zwillinge
Dritte Auflagea
Samstag. Ausgerechnet heute hat die Wäscherei falsch geliefert. Ich
brauche ein gestärktes Hemd, keine Damenwäsche. Niemand hier
braucht Damenwäsche. Das kommt davon, wenn man hier in
Brandenburg örtliche Kleinfirmen unterstützen will. Die verwechseln gestärkte Hemden mit Damenwäsche.
Jim hat noch frische Hemden und leiht mir eines. Es ist mir etwas
zu weit, und ich muss mir seinen Spott anhören. Und in Naturalien
bezahlen. Es eilt, denn gleich kommt der Minister. Also Haare und
Bart auf 1 mm trimmen, dunklen Anzug an, unauffällige Krawatte,
Knopf ins Ohr. Dieser Knopf, dessen Leitungs-Spirale im Hemdkragen verschwindet, ist eigentlich fast nie nötig, aber die Leute
müssen ja erkennen, dass wir nur die Bodyguards sind. In diesem
Haushalt droht schon genug Verwechslungsgefahr.
Der Dienstwagen des Ministers kommt total verdreckt hier an; der
Chauffeur ist abgenervt. Zehn Kilometer Waldweg bei diesem Regenwetter hinterlassen ihre Spuren. Der Sekretär des Ministers
nimmt mich beiseite und will, dass ich gleich ein Zeichen gebe,
wer wer ist. Ich muss ihn enttäuschen: auch nach vier Jahren kann
ich meine Chefs nicht unterscheiden. Das macht aber nichts.
Tillmann und Timotheus Thier sind seit dem Tode ihrer Eltern die
einzigen, die sich zuverlässig unterscheiden können, weil eben der
eine er selbst und der andere der andere ist. Sogar Frau Bichler, die
Chefsekretärin, würde sie verwechseln, aber da beide Besitzer und
Direktor sind, alles zusammen machen und beide mit T. Thier unterschreiben, gibt es nichts zu verwechseln. Schon als kleine Kinder
wollten sie immer gleich angezogen werden und haben das bis
heute so gehalten. Auch die Krawatten sind immer gleich.
Jim, der eigentlich heute bis zum Abend frei hat, bittet den Chauffeur in die Küche, ich Minister und Sekretär in den Salon. Ich serviere Kaffee und werde dann entlassen. Schnell ins Dorf, um meine
Hemden aufzutreiben. Heute Abend geht es nach Berlin, in die
Oper. Da müssen wir beide mit. Meine Chefs sind sich einig: Bei
Tosca kommt man erst zum zweiten Akt, weil der erste ja langwei-
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lig ist. Ich rufe zur Sicherheit die Oper noch einmal an, damit die
Loge bis dahin freigehalten wird. Auf meinen Namen, nicht auf
Thier.
Wir betreten die Oper am Ende der Pause, als alle ihre Plätze suchen, und fallen nicht auf. Till und Tim Thier leben zurückgezogen
und wollen nie auffallen. Sie haben erlaubt, dass ich dieses Tagebuch schreibe; aber wenn wir mit Paparazzi plaudern würden, hätten wir unsere Stelle wohl die längste Zeit gehabt.
Jim fragt, ob er vor der Logentür im Gang warten darf. Er hat einen MP3-Spieler an seinen Knopf im Ohr angeschlossen. „Damit
ich meine Negermusik hören kann, wolltest du doch gerade
sagen.” Auf dem Heimweg reden die beiden über die Sänger und
das Bühnenbild und nur wenig übers Geschäft.
Sonntag. Jim und ich haben frei, außer dass ich heute mit Kochen
dran bin. Unsere Chefs arbeiten im Garten. Wir dürfen uns aufhalten, wo wir wollen, sogar zuschauen bei der Gartenarbeit. Der Garten ist riesig, halb frei und halb unter alten Bäumen, und wird jedes Jahr schöner. Überall findet man verwunschene Sitzecken, je
nach Stimmung. Es gibt auch einen Kamin für Abende unterm
Sternhimmel.
Die Brüder gärtnern manchmal acht Stunden am Tag, auch heute
wieder. Kochen tu ich gerne, vor allem weil die beiden und Jim
alles mögen, „wenn es nur lecker ist”. Der Chauffeur von Piëch hat
mir mal erzählt, wie anstrengend es ist, wenn der Chef Vegetarier
ist und was man da alles organisieren muss, damit ihm bei keinem
Besuch etwas Falsches vorgesetzt wird.
Montag. In die Firmenzentrale. Dort herrscht ungewohnte Unruhe.
Es wird viel telefoniert. Leute, die wie Anwälte aussehen, kommen
und gehen. Irgendetwas stimmt nicht. Ich bekomme mit, wie Frau
Bichler immer wieder Journalisten abwimmelt.
Dienstag. NRC Handelsblad ruft mich an, der Chefredakteur selbst
mit seinem belgischen Zungenschlag. „Also, Herr Berkhout, ver6
gessen Sie’s. Sie bekommen natürlich Ihr Honorar für die ganze
Woche; aber das Tagebuch wird nicht erscheinen.” – „Wie bitte?
Haben Sie etwa was Besseres?” – „Nein, wir nehmen die Reserve.
Studentin auf Zimmersuche.” – „Aber warum? Schreibe ich nicht
gut genug? Ich habe doch Ihre Richtlinien im Stijlboek genau
befolgt.” – „Sie schreiben gut. Natürlich kämen mir Ausdrücke wie
in Naturalien bezahlen oder abgenervt nicht in die Zeitung. Und
schon gar nicht in die Zeit. Doch daran liegt es nicht. Nein, mein
Hamburger Kollege ist zu dem Schluss gekommen, dass wir den
Thier-Zwillingen das nicht antun können. „Die Gräfin würde sich
im Grabe umdrehen” waren seine letzten Worte. Nicht in unseren
Blättern. Nicht so. Also hängen Sie sich ihre Schreibübung übers
Bett. Das Geld ist unterwegs. Machen Sie’s gut!”
Was soll das denn? Er sieht ja gut aus mit seinen Bartstoppeln, aber
sowas?! Also, ich schreibe jetzt erst mal weiter, allein schon um
meine Gedanken zu ordnen. Vorige Woche wusste ich gar nicht,
dass Tagebuch Schreiben Spaß machen kann.
Ich lese das NRC Handelsblad hier auf dem iPad. Samstags erscheint
immer ein Hollands Dagboek, ungefähr eine halbe Seite haben die
dafür. Jede Woche schreibt es jemand anders. Das ist immer jemand, der in der Woche irgendetwas besonders erlebt, meist ein
Prominenter. Manchmal weiß der, wenn er anfängt, noch nicht,
was geschehen wird. Die Redaktion ist unglaublich gut im Finden
der richtigen Leute. Für diese Woche wurden meine Chefs gebeten,
aber die würden nie in der Zeitung schreiben oder im Fernsehen
auftreten. Als dann der Herausgeber der Zeit anrief und ihnen vorjammerte, dass diesmal das Holländische Tagebuch auch in der Zeit
selbst erscheinen soll, und überhaupt, dass das doch wirklich etwas Besonderes sei, dass es diesmal in Deutschland geschrieben
würde, haben sie mich auserkoren. Sie vertrauen mir, dass ich
nichts schreibe, was keiner wissen darf. Ich mache das sehr gern.
Erstens, weil ich das Hollands Dagboek immer gern gelesen habe,
zweitens, weil mich interessiert, wie so etwas funktioniert.
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Der Anlass war diesmal von Anfang an klar. Meine Chefs kriegen
ja am Freitag diesen Preis im Beisein von Beatrix und vom Dalai
Lama, den sie so bewundern. Unternehmer, die in der dritten Generation wirklich für ihre Mitarbeiter und für Qualitätsprodukte
leben, nicht einfach wegsterben wie der eine Albrecht und sich
nicht auf Kosten unterdrückter Kassiererinnen selbst bereichern
wie gewisse Drogisten, die dann auch noch an ihrem Untergang
verdienen. Die Thiers haben wie kein anderer zu den blühenden
Landschaften hier im Osten beigetragen, werden von der Belegschaft auf Händen getragen und wissen, dass man sich nicht
Thier’s sondern Thiers Supermarkt auf den Giebel schreibt. „Idiotenapostroph” rufen sie immer, wenn sie wieder eines entdecken.
Als ich gerade Deutsch lernte, musste ich immer lachen, wie sich
A.Schlecker ausspricht. Da ist Thiers doch seriöser.
Auf den Dalai Lama freue ich mich. Und Beatrix soll in Wirklichkeit klitzeklein sein. Der Preis wurde von ihrem verstorbenen
Mann ausgedacht, deshalb kommt sie.
Ich hätte so gern dieses Tagebuch geschrieben.
Ich schreibe einfach weiter, und dann schenke ich es meinen Chefs.
Die Preisverleihung ist ja auf ihren Wunsch im kleinsten Kreise,
und das Tagebuch war eine Art Kompromiss mit den Medien. Und
eine große Ehre für mich.
Jedenfalls ist eine Sache nun geklärt, die mich schon Jahre beschäftigt. Das Hollands Dagboek ist ja nie ausgefallen. Offenbar werden
da immer Reserveschreiber gefragt. Jetzt darf so ne doofe Studentin ins Rampenlicht, nur weil die ein Zimmer sucht.
Gut, dass ich nun offen schreiben kann. In Naturalien, in Naturalien, in Naturalien. Abgenervt. Abgenervt. Abgenervt. Meine Chefs
lesen klare Sprache bestimmt gern.
Als ich ein Hemd von Jim nötig hatte, hat er unter dem Vorwand,
der Schweiß von Weißen stänke immer so, dass man danach alles
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zweimal waschen muss, verlangt, dass ich ihn, wie schreibt man so
etwas, oral befriedige. Was ich sowieso immer gern mache. So
groß, wie man immer hört, sind Negerp ist der Seinige übrigens
gar nicht. Eher im Gegenteil.
♂
Heute können Jim und ich in der Firma endlich mal anwenden,
was wir gelernt haben. Meist werden wir ja nur als Chauffeur oder
Koch gebraucht, aber jetzt steht ein Traube Reporter vor dem Eingang. Einer hat sogar so ein riesiges puscheliges Mikrophon an
einem Galgen, wie ich es bisher nur aus dem Fernsehen kannte.
„Jim, sollen wir zum Hintereingang fahren?“ – „Da sind doch bestimmt auch welche.“ Till oder Tim sagt: „Augen zu.“ Der andere
vervollständigt: „und durch!“ Ihre Stimmen klingen aber matter
als sonst. Ich fahre mit der Beifahrerseite dicht an den Eingang heran, steige aus und gehe ums Auto herum. Jim steigt aus, und die
beiden Chefs können zwischen uns beiden hindurch ins Gebäude.
Ein Reporter versucht, die hintere Tür an der Fahrerseite zu öffnen,
aber das geht natürlich nicht. Über solche Autos ist gut nachgedacht. Die Reporter reden alle durcheinander. Ich kann nichts
Sinnvolles auffangen. Die meisten sehen so aufgeschwemmt und
unappetitlich aus, wie Reporter im Tatort immer aussehen, aber
einer ist ein geiles Stück mit schwarzem Dreitagebart. Als er mir zu
nahe kommt, packe ich ihn und ramme ganz schnell einen Zungenkuss rein. Den Gegner lieber verwirren als totschießen, hatte
mein alter Deutschlehrer, ein Reserveoffizier, immer gesagt. Auf
der Schule lernt man eben doch fürs Leben. Ein paar Kameras haben geklickt, hoffentlich zu spät. Ich denke, sowieso würde kein
Bildredakteur so ein Photo drucken wollen.
Der Kleine steht ein paar Sekunden entgeistert herum. Zum Sicherheitsmann wäre der mit seiner Reaktionszeit nicht geeignet.
Den ganzen Tag geht es in der Firma drunter und drüber. Jim und
ich haben alle Kraft nötig, Reporter abzuwehren, die durch alle
Ritzen eindringen. Einmal werde ich ins Chefzimmer gerufen.
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„Herr Berkhout, der Herr ist kein Anwalt, sondern er arbeitet an
der Rudi-Dutschke-Straße bei dieser Zeitung, deren Namen wir
immer vergessen. Er hat sich wohl in der Visitenkarte vergriffen.
Begleiten Sie ihn hinaus?“ So etwas mache ich immer gern, aber
die Gelegenheit ergibt sich bei uns leider höchst selten. Man weist
ganz höflich die Richtung, schiebt nur, wenn es nötig ist, sanft den
Oberarm oder die Schulter der Zielperson und steigert die Gewalt
genau im Ebenmaß mit dem Widerstand. Körpersprache, Fluchtabstand und so. Kater buckeln und richten die Haare auf, damit
der Schwanz dicker wirkt. Hätte bei Jim aber wieder andere Nachteile.
Meist geht das Hinausbegleiten nicht weiter als bis zum Unterhaken. Man verlässt den Raum wie ein verliebtes Pärchen. Diesmal
auch. Bisher habe ich nur im Training unerwünschte Besucher mit
einem eleganten Wurf auf den Boden legen dürfen.
Um meine bedrückten Chefs etwas aufzumuntern sage ich der untergehakten Zielperson mit meinem besten Hape-Kerkeling-Akzent, wie schön wir Holländer es finden, dass Axel Springer seine
Straße nach Rudi Dutschke nennen ließ. „Duitsland ist eben doch
aine tollerante Land. Das wisse alle Mense bai ons.“
Ich werde den ganzen Tag nicht schlau aus dem, was ich zwischendurch auffange. Ich will aber auf jeden Fall weiterschreiben.
Am Abend müssen wir uns dann im Garten zusammensetzen.
Auch Herr Mattukat, der Haumeister, sollte aus seinem Häuschen
beim Tor zur Einfahrt kommen und Frau Funke, die hier immer
saubermacht, aus dem Dorf. Till oder Tim Thier schenkt Bordeaux
ein, Tim oder Till packt verschiedene kleine Käse aus, und Jim sagt,
dass sie auch so komisch riechen wie weiße Männer. Frau Funke
schlägt entsetzt die Hand vor den Mund. Herr Mattukat sagt: „In
Kaschuben war dat eenzije wat schwarz war, Vöjel die wer jefangen habm um se zu essen. Kormorane. Einfach Hals umdrehen.”
Er macht die Handbewegung vor. Frau Funke fängt sich wieder:
„Herr Mattukat, det müssen Se von ihren Jroßvater haben, Sie wa-
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ren in Kaschuben noch viel zu kleen.” „Zum Vögeln”, ergänzt Jim,
dessen Deutsch immer idiomatischer wird.
Aber das schreibe ich alles nur auf, um mich abzulenken. So ’nen
Quatsch haben wir auch nur geredet, um uns abzulenken. Denn
Frau Funke hatte von ihrer Tochter schon gehört, was im Fernsehen war.
Dann kommt der Moment der Wahrheit. Mist! Auch diesen kitschigen Satz habe ich nur geschrieben, um mich abzulenken. Ich
könnte heulen. Und Jim ist, als er versteht, was los ist, auch nicht
mehr der Herrenneger, den er so gerne heraushängt. Weil, wenn er
was anderes heraushängt, übersieht man das ja.
Eric!! Zur Sache! Es ist ernst.
Eric Berkhout, das bin ich. Geboren in Rotterdam, aufgewachsen in
Nimwegen, nach Berlin gezogen wegen der Männer. Ausbildung
als Bodyguard wegen der Männer mit kurzen Haaren in geilen
Uniformen, mit denen man auch derben Körperkontakt hat. War
aber nichts Besonderes: die meisten sind dickliche Arbeitslose, die
die Ausbildung schnell abbrechen.
Erste Stelle als Aufpasser in einem Supermarkt in Neukölln, dann
Betriebsschutz in der Firmenzentrale. Und jetzt bin ich Personenschützer, Koch und Chauffeur der reichsten eineiigen Zwillinge
von Europa, der Alleineigentümer und Direktoren von Thiers. Das
war ich. Beziehungsweise, das waren die mal.
Scheiße! So schwer ist mir das Schreiben noch nie gefallen.
Also:
Till und Tim haben irgendetwas falsch gemacht. Ich glaube ja nicht,
dass sie je was Illegales probiert haben. Oder was Unmoralisches.
Kann ich mir bei denen nicht vorstellen. Aber die Firma ist pleite.
Nicht nur die Supermärkte, auch der Großhandel und alles andere.
Ein paar Millionen mehr Schulden, als alles wert ist, dieses Haus
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hier und der Garten inbegriffen. Und die Banken wollen nicht
mehr zahlen.
Millionen?? Nicht Milliarden? Ne Million ist doch heutzutage
nichts. Ja, nur Millionen. Aber die kriegen sie eben nirgendwo geliehen. Alle Immobilien, die verkauft werden konnten, sind schon
verkauft. Das Haus mit Garten hier in der Einöde, erreichbar über
einen Sandweg, ist nichts wert. Selbst das würden sie weggeben,
wenn es helfen würde.
Am Ende dieses Abends bei Rotwein, Käse, Sternhimmel und
Geißblattduft war eines ganz deutlich: Die Firma verkaufen an einen Hedgefonds, der sie nur aussaugen will und dazu alle Leute
entlässt, ist ganz genau, was die Banken und Gläubiger wollen;
aber das nie und nimmer! Ihre Eltern und der Großvater haben
sich schon verantwortlich für alle Mitarbeiter gefühlt, und so etwas
können sie ihnen nicht antun. Weder den Angestellten noch dem
Andenken ihrer Vorfahren. Sie wollen alles, wirklich alles tun, dass
die Leute nicht ihre Existenz verlieren. Es muss weitergehen, und
es muss mit allen so weitergehen wie seit Generationen. Herr
Mattukat, Frau Funke, Jim und ich sollen auch nichts zu befürchten haben; aber wir werden auch nicht irgendeiner Kassiererin in
Hoyerswerda vorgezogen. Einfach pleite machen, alles verlieren
und von Sozialhilfe leben, kommt auch nicht in Frage. Das hieße ja
auch, die Leute im Stich lassen. Dann könnte man ja gleich Selbstmord begehen. Ich sage, dass man in anderen Ländern seine Organe zu Höchstpreisen verkaufen kann, und handle mir damit einen
richtig fiesen Schlag von Jims Handrücken in meine Fresse ein. Er
hat ja Recht, auch wenn jetzt meine Lippe blutet.
Frau Funke heult und erklärt, dass sie ja sowieso schon Rente
kriegt und hier weiter saubermachen will, auch ohne Gehalt, weil
ihr ihre Tochter sonst den ganzen Tag auf die Nerven geht. „Uff
mir könnse sich immer verlassen. Un nu jehnse mal ins Bett un
nehmen ihre Boddijahrts eenfach mit! Det hat Ihnen schon immer
jut getan. Det habe ick doch jemerkt.”
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Till und Tim Thier schlafen seit ihrer Kindheit in einem Bett. Das
soll die Klatschpresse natürlich nicht wissen; aber die beiden leben
so abgeschirmt und verursachen so wenig Aufhebens, dass sie sowieso nicht von der Presse entdeckt sind. Jedenfalls bis jetzt. Nun
wird ja wohl die Hölle losbrechen.
Dass sie niemals ne Frau heiraten würden, war immer schon klar.
Aber sie haben sich auch nie in Kneipen und Parks herumgetrieben, um mit Männern rumzumachen. Vielleicht machen sie es
manchmal miteinander. Selbst Jim und ich wissen das nicht. Aber
Frau Funke hat das richtig gesehen: manchmal nehmen sie ihre
Personenschützer mit ins Bett. Dann wird geschmust, wir saugen
sie ab, wobei ich sie auch am Geschmack nicht unterscheiden
kann, und dann kuscheln wir uns alle aneinander und schlafen ein.
Beide haben es gern, wenn man ihre Teile dabei in der Hand hält.
Bodyguards müssen eben aufpassen auf alles Wertvolle.
Diese Nacht müssen Jim und ich zweimal ran, und man schläft
nicht besonders fest.
♂
Beim Frühstück besprechen sie die Lage. Wir sollen dabei bleiben;
denn sie haben vor uns keine Geheimnisse und wissen, wie verschwiegen wir sind. Dann fahren sie mit Jim ins Geschäft, und ich
habe Zeit zum Schreiben.
Sie haben wohl investiert in etwas, woran sie glaubten, und haben
viel verloren. Und weil immer alles sauber war, gibt es kein
Schwarzgeld, auch keine Altersversorgung auf einem Nummernkonto und keinen Privatbesitz, der nicht in die Pleite mitgerissen
würde. Verwandte, die aushelfen könnten, haben sie auch nicht,
und alle Banken und Spekulanten kreisen über ihnen wie Aasgeier
und Heuschreckenschwärme. Die Preisverleihung wurde im gegenseitigen Einvernehmen diskret abgesagt. Den Dalai Lama werde ich wohl nie treffen.
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Jetzt muss ein Kredit her, damit es mit den Angestellten weitergeht, und zwar nicht einer, der die Abhängigkeit von den Finanzhaien nur noch größer macht. Ich ertappe mich dabei, zu hoffen,
dass ein amerikanischer Anwalt mich per Telefon über eine Milliardenerbschaft informiert. Warum soll ich nicht irgendwo in Connecticut eine mir völlig unbekannte, unehelich geborene, kinderlose Tante haben, die mir alles nachließ. Es wimmelt doch da von
stinkreichen Leuten mit holländischen Namen. Roosevelt, van der
Bilt. Nur sterben die nie kinderlos, wenn man sie braucht.
Jim und ich könnten als Edelstricher arbeiten. In höchsten Kreisen
kennen wir uns ja aus. Aber damit kann man wohl nur ein paarhunderttausend verdienen, keine Millionen. Und es dauert zu lange.
Erst mal aufräumen, Wäsche sortieren, Kleidung für die nächsten
Tage kontrollieren und bereitlegen. Sie tragen immer genau das
Gleiche, also gibt es alles doppelt. Alles, das sind ein paar Maßanzüge für verschiedene Gelegenheiten, weiße Hemden, handgearbeitete Schuhe. Sie tragen fast nur Anzüge, auch zu Hause, abgesehen von den Overalls und Gummistiefeln für die Gartenarbeit.
Sie verabscheuen Leute, die zu Hause in Jogginganzügen herumlungern. Man muss jederzeit Besucher jedes Standes empfangen
können und lässt sich zu Hause nicht gehen. Außerdem tragen sie
ihre Anzüge ja offenbar gern und sehen auch sehr gut darin aus.
Auch Jim und ich tragen bei jeder Gelegenheit unsere dunklen Anzüge, außer beim Training.
Ich lenke mich mit dem Gedanken ab, dass Jim und ich zur Unterscheidung von unseren Chefs gar keine Knöpfe im Ohr bräuchten.
Jim ist ja schwarz, und ich bin der Weiße, der nicht doppelt ist.
Aber manche Leute, mit denen man zu tun hat, sind zu doof, um
sowas zu verstehen. Die wollen Ärzte von Krankenpflegern am
Stethoskop unterscheiden und Bodyguards von gutaussehenden
Chefs am Knopf im Ohr. So ist das nun mal. Obwohl ich noch nie
gesehen habe, dass so ein Stethoskop wirklich gebraucht wird.
Oder sollten die damit auch Negermusik hören können?
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♂
Am Abend ist die Stimmung nicht besser als gestern. Die beiden
liegen im Garten auf Bänken und reden darüber, was man noch zu
Geld machen kann. Ich setze mich dazu, lege den Kopf des Einen
in meinen Schoß und knete seine Weichteile mit einer Hand. Ich
werfe Jim einen Blick zu, und er macht beim Anderen das Gleiche.
Sie lassen es geschehen. Die Reflexe beim Schwellkörper funktionieren noch. Wir haben noch nie so die Initiative genommen; aber
die beiden müssen sich endlich mal entspannen. Meiner lässt
dankbar seinen Hinterkopf in meinem Schoß kreisen.
Die Georg Richters verkaufen, die sie mal für einen Appel und ein
Ei gekauft haben, und die jetzt hundert Millionen wert sind? Nein,
geht nicht, die haben sie ja dem Museum in ihrem Heimatort geschenkt, nicht geliehen.
„Haben wir denn gar nichts, was wir zu Geld machen können?” –
„Nein, wir haben nichts, sind ja alles schon durchgegangen, und
wir können auch nichts Besonderes, außer die Firma führen. Und
selbst das nicht.” – „Stinklangweilig sind wir.” – „Ich wäre zu Allem bereit.” – „Ich doch auch.”
Ich mache meinem die Hose auf und bereite ihm mit der Hand ein
paar schöne Viertelstunden. Jim macht es mir nach. Flecken landen
auf den Anzügen; aber das macht nichts. Im Schrank hängen genug saubere. Danach wollen sie ins Bett, ohne uns.
Mir gehen diese Sätze die ganze Nacht im Kopf herum. „Haben
wir denn gar nichts, was wir zu Geld machen können?” – „Nein,
und wir können auch nichts Besonderes.” – „Stinklangweilig sind
wir.”
Und meine eigene Zukunft? Ist das ein Zeichen, dass ich hier weg
muss? Was ist das eigentlich für ein Leben? Ich war doch nach Berlin gekommen wegen der Männer. Und jetzt bin ich eigentlich Tag
und Nacht im Dienst, trage nur Anzüge, mal mit, meist ohne kugelsichere Weste, bin tagsüber meist in der Firmenzentrale und
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sonst hier in dieser Einöde. Ich war schon ewig nicht mehr in unanständigen Kneipen und dunklen Parks, und einen Mann habe
ich auch nicht.
Zugegeben, die Chefs sind in Ordnung. Man lebt hier gut. Ich koche gern, sie essen es gern, der Garten ist wunderschön und macht
mir keine Arbeit, auch Jim ist in Ordnung, und mit ihm kann ich
Holländisch reden. Dank Internet habe ich hier sogar mein NRC
Handelsblad noch am selben Tage. Und beinahe wäre ich ganz nahe
bei Beatrix gewesen und hätte mich vielleicht sogar getraut, den
Dalai Lama anzusprechen.
Perverse Romane lese ich auch noch, und die brauche ich hier im
Hause nicht einmal zu verstecken. Und wir alle schauen gerne Tatort. Ist ja doch eines der besseren deutschen Kulturprodukte. Aber
das ist dann auch schon alles. Eigentlich habe ich es genau so
langweilig wie ein spießiger, verheirateter Buchhalter im Reihenhaus.
Und doch will ich nicht, dass das hier alles aufhört. Und jetzt die
Gelegenheit ergreifen und ne neue Stelle suchen wäre ja wohl das
billigste, schäbigste. Personenschützer haben ihre Berufsehre.
Am Morgen werde ich in einem nassen, zerwühlten Bett wach und
weiß: Ich hab’s! Jedenfalls muss ich das sofort versuchen. Ich lasse
mir frei geben und fahre nach Adlershof, zu den Filmstudios von
Dr. Brauksiepe. Wenn wahr ist, was ich über ihn gelesen habe, habe
ich eine Chance, ihn persönlich zu sprechen, und er kann vielleicht helfen. Er ist ein Querdenker mit einem Netzwerk ungewöhnlicher Menschen. Wenn ich mich täusche, werde ich mich
gleich fürchterlich blamieren.
In der Rezeption steht wie zu erwarten keine Dame, sondern ein
junger Mann im Anzug mit Dreitagebart. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?” – „Ich möchte zu Dr. Brauksiepe.” Er schaut auf seinen
Bildschirm und trommelt mit den Fingern. „Soweit ich sehe, haben
Sie keinen Termin. Worum geht es?” – „Ich werde ihn zunächst
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oral befriedigen und ihm dann einen Vorschlag für ein Projekt
machen.” – „Oral bitte was??” – „Oral befriedigen. Zicken Sie hier
nicht rum! Es ist allgemein bekannt, dass jeder Angestellte und
Vertreter das hier machen muss.” – „Sicher nicht jeder, Herr, eh…”
Er schaut auf meine Visitenkarte. „Berkhout. Man muss schon gut
aussehen und verstehen, was man macht.” – „Na, dann werden Sie
ja wohl so an Ihren Job hier gekommen sein.”
Das Bürschchen hat sich wieder gefangen, grinst mich gehässig an
und sagt: „So, jetzt kommen Sie bitte mal hier herum und zeigen
mir unter der Theke, was Sie können. Inzwischen bemühe ich mich
um einen Termin. Jedenfalls, wenn Sie etwas können.”
Das ist doch mal was Anders als die Firmengebäude, wo ich bisher
mit meinen Chefs hin musste.
Während ich ihm zeige, was ich kann, kommen drei oder vier Leute, denen er den Weg weist, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn er sich zwischen Computer und Telefon hin- und herbewegt, muss ich mit. Jedenfalls will ich mich nicht blamieren.
Dann stoßen seine Lenden ein paarmal heftig, und er stöhnt ganz
kurz auf. Danach sehe ich, dass hier unten griffbereit Papiertücher
hängen. An alles ist gedacht. Und ich sehe eine Kamera mit einem
roten Lämpchen. Na ja, es ist und bleibt ein Filmstudio.
Ich reinige und verpacke mein Spielzeug wieder und werde tatsächlich nach oben geschickt. Der hiesige Empfang ist auf jeden
Fall besser organisiert als der in dieser Chemikalienfirma mit dem
Weib mit zentimeterlangen Fingernägeln und Spachtelmasse im
Gesicht. Der nähere ich mich nie mehr als auf ein paar Meter, damit ihr Parfüm nicht in meinen Anzug zieht.
Dr. Brauksiepe, der Produzent, ist dick, aber nicht unsympathisch.
Er schaut auf von seinem Monitor und begrüßt mich mit den Worten: „Ich sehe, junger Mann, dass Sie sich trotz meines vollen Terminkalenders Zugang verschaffen konnten. Nicht schlecht, nicht
schlecht! Nun zeigen Sie hier mal, was Sie können.” Er schwitzt,
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schmeckt aber weder ranzig noch nach Deo. Gar nicht mal unangenehm.
Dann erkläre ich, dass ich durch Romane, die er bestimmt kennt,
weil er ja in einem sogar vorkommt, auf die Idee gekommen bin,
ihn um Hilfe zu bitten. Letzte Rettung. Die beiden Stellen über
Zwillinge in den Büchern haben mich beeindruckt. Weil meine
Chefs ja auch eineiige Zwillinge sind.
Da ist einmal dieser Zukunftsroman, wo Homosexuelle gesetzlich
zu Tieren erklärt wurden. Da hält sich eine Frau der Münchner
Schickeria gutaussehende eineiige Zwillingsbrüder wie Rassehunde. Der eine darf seinen schwarzen Pelz, also Kopfhaar, Bart, viel
Brusthaar, Schamhaar behalten und muss immer in die Sonne oder
auf die Sonnenbank, damit er braun wird. Der andere wurde vollkommen haarlos gemacht und muss die Sonne meiden, damit seine Haut weiß bleibt. Ansonsten sind sie so dressiert, dass sie immer beide genau das Gleiche machen. Sie werden sofort bestraft,
wenn sie mal nicht genau das Gleiche machen. Am meisten hat
mich im Buch der Satz fasziniert: So gut unterscheiden kann man sie
also nur, damit man sie unterscheiden kann. Ein vollkommen sinnund nutzloser Unterschied, der nur dazu da ist, zu unterscheiden,
was bis auf den Unterschied gleich ist. Ich verhaspele mich; aber
Dr. Brauksiepe versteht, was ich meine.
Meine Chefs kann man ja gar nicht unterscheiden, weil sie genau
gleich aussehen, gleich gekleidet sind und alles zusammen machen. Das ist mir in der Nacht eingefallen. Sie sind gar nicht so
langweilig und gewöhnlich, wie sie gestern gesagt haben. Sie sind
doppelt! „Herr Doktor Brauksiepe, ich kann mir nicht vorstellen,
was sie machen würden, wenn man ihnen diese Gleichheit auf
einmal wegnähme.”
Dr. Brauksiepe hört immer aufmerksamer zu. Ja, sagt er, ihn faszinieren Zwillinge genauso wie Jens, den Autor, und er würde da
gern mal eine Serie oder so drüber machen.
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Ja, sage ich, und dann gehen mir die Zwillinge aus dem anderen
Roman durch den Kopf. Die sind auch genau gleich. Die wollen
beide versklavt werden, zusammen. Das geschieht auch; aber ihre
Sklavenverträge unterscheiden sich teuflisch. Einer kann nämlich
weg, wenn er will, und wird dabei seinen Herrn existentiell ruinieren. Der andere kann das nicht. Wenn der eine wegläuft, verliert er
seinen Bruder. Sie werden immer mit diesem Unterschied leben
müssen. Solange sie nicht weg wollen, merkt man von dem Unterschied nichts. Aber jedesmal, wenn ihr Leben schwer ist, muss es
sie doch furchtbar belasten, dass sie ungleich sind. Weil eine Münze geworfen wurde.
Wie gesagt, das geht mir den ganzen Morgen im Kopf herum. Und
einer wie dieser Autor, der wird doch vielleicht eine Idee haben,
wie man die Gleichheit meiner Chefs zu Geld machen kann. Und
ihm, Dr. Brauksiepe traue ich zu, dass das im Sinne der Firmenethik der Familie Thier geschieht. „Sie trauen mir ja viel zu, junger Mann. Wie kann ich Sie erreichen?”
♂
Am nächsten Abend schon meldet sich Dr. Brauksiepe an. Ob er
mit ein paar Leuten vorbeikommen und einen Vorschlag unterbreiten dürfe. Meinen Chefs ist alles recht. Sie wollen nicht einmal wissen, was ich da eingefädelt habe, weil sie sowieso immer nur direkt
verhandeln und sich nicht hintenrum erkundigen.
Der Doktor erscheint zusammen mit einem Notar und einem Psychologen, die beide auch so aussehen, und einer Art Rockertyp mit
Koffer, der erst einmal zusammen mit Jim in den Garten geschickt
wird. Der von mir bewunderte Autor ist nicht dabei, aber der hat
inzwischen einen Plan ausgedacht.
Ich mache es kurz. Dr. Brauksiepe kann zusammen mit einem milliardenschweren Hintermann aus Benelux, der anonym bleiben
will, die Firma retten, und will das auch tun, aber nur unter zwei
Bedingungen.
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Erstens, dass er, Brauksiepe, mit unserer Mitwirkung einige Filme
und Bücher produziert und sein Hintermann unsere Erlebnisse in
einer Fernsehserie verarbeitet, wobei wir auf alle Urheberrechte
verzichten. Keine Angst, diese Projekte werden der Firma nicht
schaden. Niemand wird sie mit dem Namen Thier in Verbindung
bringen können. Es wird um Zwillinge gehen, aber nicht um große
Konzerne. Ganz andere Zwillinge werden mitwirken. Der Notar
kann, wenn gewünscht, erklären, dass der Persönlichkeitsschutz
wasserdicht ist.
Und zweitens, dass einer der beiden Thier-Brüder Sklave des Personenschützers Eric Berkhout wird.
„Was?” rufen wir alle drei zugleich? Aber meine Chefs sind zu
klug um gleich loszuquatschen. Sie wollen erst einmal alles genau
verstehen. Der Notar erklärt, welche Verträge er vorbereitet hat. Es
ist ein ganzer Stapel. Alles greift ineinander, wie bei den Sklavenverträgen im Roman. Ich schreibe hier nur den Kern der Idee auf,
ohne juristische Formulierungen: Einer der beiden Brüder macht
genauso weiter wie bisher, bleibt Eigentümer und Direktor der
Firma, behält auch dieses Haus und bekommt sofort den dringend
nötigen Kredit. Heute Abend noch. Der andere verzichtet, soweit
es in Deutschland überhaupt geht, auf alle Rechte und alles Eigentum und erklärt sich bereit, dem niederländischen Staatsangehörigen Eric Berkhout absolut und bedingungslos in Allem zu gehorchen. Er erklärt sich auch bereit, körperliche Erziehungsmaßregeln
zu akzeptieren. Sein neuer Herr verpflichtet sich im Gegenzug, ihn
zu schützen und vor bleibenden körperlichen und geistigen Schäden zu bewahren. Der Sklave, also, so wird er jetzt mal informell
genannt, denn es gibt selbstverständlich in Deutschland keine
Sklaverei, aber wir wissen ja, was gemeint ist, wird übrigens krankenversichert. Und Eric Berkhout erhält eine Generalvollmacht,
obwohl die nicht viel wert ist, weil der sogenannte Sklave ja kein
Eigentum mehr hat und über nichts verfügen kann.
Jeder andere hätte ja wohl den Besuch schon bei den ersten Sätzen
rausgeworfen. Beziehungsweise von seinen Sicherheitsleuten pro20
fessionell nach draußen begleiten lassen. Till und Tim Thier dagegen ziehen sich zurück. Sie wollen jetzt allein sein. Im Moment
haben sie keine Fragen, weil der Notar seine Arbeit gut gemacht
hat. Sie haben von ihrem Vater gelernt, dass man jeden Vorschlag
gut anhören und in Ruhe besprechen muss.
Ich dagegen bin völlig überrumpelt. Klar, ich habe massenhaft
Romane über SM und Sklaven gelesen; das hat Dr. Brauksiepe richtig angefühlt. Er glaube, erklärt er inzwischen, dass ich das Zeug
zu einem strengen, aber gerechten Herren habe. Außerdem würde
ich ja auch ein Bestandteil des Vertragswerkes und des Films. Ich
könnte die ganze Sache platzen lassen, wenn ich nicht bereit wäre.
Oder einfach total scheitern, auch das gäbe Stoff her.
„Was muss ich denn unterschreiben?“ – „Nichts. Sie, Herr Berkhout, sind nur ein Mittel zum Zweck. Sie können machen, was Sie
wollen. Aber wenn Sie ihren Sklaven, wie wir ihn nennen wollen,
verstoßen oder sich nicht gut um ihn kümmern, ist es vorbei mit
dem Kredit und der Bürgschaft, und die Firma steht genau da, wo
sie heute steht. Vor dem Abgrund.“
Im Übrigen, fährt er fort, hätte ich ja keine bestimmten Pflichten,
außer, auf mein Eigentum gut aufzupassen und die Entwicklung
zu dokumentieren, wozu später mehr. Ich könnte, eh, könne ja einfach weitermachen wie bisher und den Sklaven, um ihn so zu nennen, in der Direktion der Firma arbeiten lassen. Dann würde – hier
grinst der Doktor ziemlich fies – der Unterschied ja gar keinen Unterschied machen. Alles ginge einfach weiter wie gehabt.
Ich kann hier gar nicht aufschreiben, was mir alles rasendschnell
durch den Kopf ging. Durch die Adern kreiste vor allem Adrenalin. Und auch Testosteron, zugegeben!
Die könnten mein Vater sein! Wie schreibt man so eine Feststellung
im Falle von eineiigen Zwillingen grammatisch und biologisch
richtig? Jedenfalls ist jeder für sich fast zwanzig Jahre älter als ich.
Und beide zusammen auch.
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Da kommt einer zurück, lässt sich vom Notar die Papiere geben
und verschwindet wieder. Ich serviere inzwischen Tee und Gebäck,
um mich abzulenken. Ich muss mich die letzten Tage ziemlich viel
ablenken, fällt mir auf.
Mit dem Dokumentieren ist es so gemeint: Ich soll auf jeden Fall
eine Art Tagebuch führen, seinetwegen mündlich, einfach ins
iPhone diktieren, im Studio wird es dann getippt und verarbeitet.
Und ich soll bei allen interessanten Gelegenheiten Fotos machen.
Ich hätte doch wohl das neueste iPhone mit der hohen Auflösung.
Auch mein Sklave müsse jede Woche einen Bericht schreiben oder
diktieren. Aber ich solle darauf achten, dass die Fotografiererei
nicht die Hauptsache wird und den Prozess stört. Es müsse bald
ganz automatisch und selbstverständlich geschehen. Mit meiner
Ausbildung hätte ich doch wohl mehr Verhalten reflexartig drauf,
nicht wahr?
Das stimmt. Ich achte immer auf die Umgebung und darauf, wie
wir stehen, damit sich keiner anschleichen kann. Und das ist noch
nie jemandem aufgefallen, und es verhindert nicht, dass mir all
diese Besuche und Empfänge sogar Spaß machen.
Nach einer Stunde kommen die Zwillinge zurück und sagen
gleichzeitig: „Wir wollen losen.”
Jetzt ist der Notar in seinem Element. Er lässt sich die beiden Personalausweise geben und untersucht sie. „Tatsächlich, verschiedene Vornamen und Nummern. Es wird wirklich Zeit, dass da Fingerabdrücke hinzukommen. Nun sind wir auf Ehrlichkeit angewiesen. Aus Kindesverwechslungen können die interessantesten
Rechtsfälle entstehen. Wer ist bitte Dr. Timotheus Thier?” – „Ich.” –
„Na, dann glauben wir es mal. Bitte stellen Sie sich dort links auf.
Und Sie sind Dr. Tillmann Thier?” – „Ja.” – „Bitte dort nach
Rechts.”
Da unterbricht Tim: „Wir hätten noch einen Wunsch.” – „Wollte ich
auch gerade sagen”, sagt Till, „Eric, würden Sie uns beide…” – Tim
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vervollständigt: „noch eimal entspannen, wie Sie das so schön
können?” – „Danach wird ja wohl alles anders.”
Der Notar schreibt beiden ihren Vornamen auf den Handrücken,
unterschreibt, und schickt uns dann ins Schlafzimmer. Die beiden
reden nicht. Sie atmen schwer. Wir klammern uns alle drei immer
wieder aneinander. Am Geschmack kann ich sie immer noch nicht
unterscheiden. Und nachdenken kann ich ganz und gar nicht
mehr.
Danach geht alles ganz schnell. Beide müssen sich wieder aufstellen, der Notar kontrolliert die Handrücken und erklärt: „Kopf für
Entrechtung von Timotheus und Zahl für Entrechtung von Tillmann Thier, wenn Sie verstehen, was ich meine. Meneer Berkhout,
Sie haben doch sicher eine Münze zur Hand.” Jetzt bin ich es auch
noch Schuld! „Ach, interessant, tragen Sie nur holländische Münzen mit sich? Na, wird wohl Zufall sein. Was steht denn da auf
dem Rand?” Ich lese vor: „GOD ZIJ MET ONS. Gott sei mit uns.”
Der Notar wirft die Münze und alle sehen das Porträt von Königin
Beatrix. Der eine Zwilling ruft: „Tim.” Der andere: „Ich.” Dr. Brauksiepe sagt: „Eric, darf ich vorschlagen, dass wir Tim unverzüglich
unveränderlich kennzeichnen? Ab sofort ist das ja existentiell.
Draußen wartet unser Tätowierer und Piercer. Ich dachte an einen
kleinen Ohrring zur schnellen Erkennung und den Namen Tim
hinter dem Ohr, unauffällig. Die Ohrtätowierung wird dann unter
„Unveränderliche Kennzeichen” in den Ausweis eingetragen. Es
darf auch mehr sein, wenn Sie wünschen. Jedenfalls sollten Sie
jetzt schon mal versuchen zu fotografieren. Ich mache es heute
auch.” Er zieht sein iPhone aus der Tasche.
Obwohl ich immer noch nicht klar denken kann, bekomme ich
heraus: „Einen Eichelring. Über Tätowierungen muss man in Ruhe
nachdenken.” – „Na, dann rufe ich mal unseren Fachmann.”
Jim ist mit hereingekommen und versteht nicht, was los ist. Keiner
erklärt es ihm. Der Rocker verschwindet mit Tim und seinem Kof-
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fer im Badezimmer. Tillmann Thier sagt mit leicht bebender Stimme: „Darf mein Mitarbeiter Ihnen ein Glas Champagner anbieten?”
Ich bekomme nur noch heraus: „Jim, mach du das. Mir zittern die
Hände.” Er zischt mir zu: „Immer wir, wenn Massa einen Wunsch
hat. Na, wenn einer schon aus einem Sklavenhändlerland kommt.”
Wenn der wüsste!
Der Notar zieht sich mit Tillmann Thier und seinem Sektglas zurück, um die Geldangelegenheit zu regeln. Anscheinend kann man
das auch mitten in der Nacht, per Fax oder e-Mail. Nein, nicht
ganz. Jim wird gerufen und muss jetzt sofort irgendwelche Dokumente nach Frankfurt/Entweder bringen, wie wir hier immer sagen. Den sind wir erst mal los.
Der Doktor erklärt mir noch einmal meine Rechte und Pflichten.
Als er das Tagebuch erwähnt, kann ich es nicht lassen: „Ach, dann
wird wieder jedes Wort auf der Goldwaage gewogen, wie beim
NRC Handelsblad, wo der Chefredakteur sogar das Wort abgenervt
nicht ertragen kann.”
„Ach, ist das nicht ein Belgier? Die sind ja alle so altmodisch. Also,
bei mir dürfen Sie schreiben und reden, wie Ihnen der Schwanz
gewachsen ist. Und erwähnen Sie nicht dauernd, wie sie fotografiert haben; das interessiert den Leser nicht. Ich brauche Fotos,
nicht Beschreibungen, wann Sie fotografiert haben.”
„Verstanden. Muss ich anfangen mit einer Szene im locker room, mit
Längen und Gewichtsangaben aller Beteiligten? Wir haben hier gar
keinen locker room.” –„Eric, Sie haben zu viel amerikanischen
Schund gelesen. Hängen Sie auf Nifty.org rum? Das ist Zeitverschwendung. Für den amerikanischen Markt machen wir diese
Einleitung mit Längenangaben in Zoll sowieso automatisch rein.
Mit einem Computerscript.”
Dann erscheint Tim – ich muss mich jetzt daran gewöhnen: mein
Tim – mit einem geilen Ohrring. Der Kontrast mit dem Maßanzug
ist aufregend, selbst wenn man noch eine Blutkruste sieht. Ich fin-
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de einen Anzugmann mit Ohrring so erregend, dass ich den
Rocker frage, ob er mir auch einen setzen will, natürlich links, an
der anderen Seite. Ob mein hinterbliebener Chef dem zustimmt, ist
mir nach all der Aufregung und drei Gläsern Champagner egal.
Soll er mich doch feuern!
Tims Tätowierung sieht man nicht. Die ist ja auch nur für den
Ausweis.
Ich flüstere ihm ins Ohr: „Ab heute schlafen wir zusammen.” –
„Klar, kommen Sie einfach zu uns.”
♂
Die Nacht war ungewohnt. Ich will immer wieder Tims Ohrring –
oder ist das auch meiner? – fühlen, aber der muss ja erst einmal
einheilen. Und sein Schwanz ist in einen dicken Verband eingepackt. Ich denke an die Bücher über Herren und Sklaven, die ich
gelesen habe. Dieser letzte Dialog – „Heute schlafen wir
zusammen.” – „Klar, kommen Sie einfach zu uns.” – ist der
eigentlich zulässig?
♂
Tim hat Angst vor dem Pissen; aber es ist gar nicht schlimm. Danach muss der Verband wieder drum, noch drei oder vier Tage.
Frühstück wie immer, nur sind wir alle irgendwie aufgeregt. Fahrt
ins Geschäft. Im Aufzug schaut dieser Praktikant mit der Punkfrisur meinem Tim ins Gesicht und sagt: „Jeil!” Direktionssekretärin
Bichler dagegen lässt sich nichts anmerken. Vielleicht haben Frauen ja keinen Blick für Männerohrringe. Und diese ist total vertrocknet. Obwohl – im Tatort sind ja gerade diese vertrockneten
immer unglücklich in den Chef verliebt. Ob diese dann wohl doppelt unglücklich ist? Oder jedenfalls doppelt verliebt? Wohl nur
doppelt vertrocknet.
Es wird wieder viel telefoniert, und dann geht eine Mail an die
Belegschaft raus: die Krise, über die man vielleicht in den Medien
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Gerüchte aufgefangen habe, ist abgewendet; alles geht weiter wie
immer. Heulende Betriebsräte. Jim und ich wimmeln Reporter ab.
Alles wie immer? Nein. Ich habe einen Sklaven. Ich muss es mir
immer wieder sagen: Ich habe einen Sklaven, ich habe einen Sklaven. Wie in billigen Romanen, die ich gelesen habe.
Es macht mir Angst. Es liest sich so leicht; es sagt sich so leicht; es
gibt Fernsehsendungen über mächtige Männer, die sich von einer
Domina als „Sklaven” behandeln lassen, gut bezahlen und danach
wieder weiter ihre Mitarbeiter entlassen.
Ich mag meine Chefs. Sie sind unnahbar, wenn sie einen nicht ausnahmsweise mal ins Bett holen, was alle soundsoviel Monate geschieht, aber vollkommen ehrlich und redlich. Sie verlangen absolute Loyalität. Sie haben noch nie jemanden im Stich gelassen.
Und sie gleichen sich wie zwei Tropfen Wasser, wie wir Niederländer sagen.
Und auf einmal soll mir einer von denen gehören? Gehören, hörig,
gehorchen, Höriger? Dieses Kitschwort Sklave aus den SM-Pornos
hat man eigentlich gar nicht nötig. Wer absolut gehorchen muss, ist
hörig. HÖRIG. Das wäre vielleicht das erste Tattoo! Klein, geschmackvoll am Hals, nicht ganz vom Hemdkragen zu verbergen,
aber fast. Wer genau hinschaut, sieht ein paar Punkte vom Umlaut
über dem Kragen.
Als ich so nachdenke, zischt mich die doppeltvertrocknete Chefsekretärin von der Seite an: „Wer ist denn jetzt wer? Endlich könnte man sie unterscheiden. Aber es wird ja wohl nicht lange dauern,
bis der Andere auch so einen Ohrring hat.” – „Haben Sie meine
Unkostenabrechnung schon fertig?” zischt es aus mir zurück.
Doppeltrockene Frühstücksflocken, geht es mir durch den Kopf,
wäre das nicht eine gute Reklame für Getreideabfälle?
Dann auf dringende Einladung ins Bundeskanzleramt. Der Regierende Bürgermeister wird auch erwartet. Im Auto, ich sitze am
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Steuer, reitet mich der Teufel, und ich erkläre wie ein Oberlehrer,
wie gut es ist, dass ich nicht das Bett mit einem besoffenen Raucher
teilen muss, der das Haus und uns alle in Brand steckt. Mein Chef,
also Tillmann, ohne Ohrring, der hinter mir sitzt, sagt, dass dieser
unselige Bürgermeister es mit seinem Flughafen schon schwer genug hat und dass – und jetzt wird seine Stimme hart – uns dessen
Bettgeschichten wirklich nicht interessieren sollten.
Das Kanzleramt ist einer der Orte in Berlin, zu dem sich meine
Chefs gerne mit dem Auto fahren lassen, weil man da nie Parkplatzprobleme hat oder auf Chauffeure warten muss. Ich bin da
auch gerne, weil es besonders gutaussehende Kollegen in Anzügen
mit Knopf im Ohr gibt. Heute muss sich einer von denen mal wieder in den Vordergrund spielen. Wie froh wir sein könnten, dass
unsere Chefs nicht mit der Zunge anstoßen. Man müsse sich ja
schämen. Ich sage: „Ist das so? Ich werde heute Nacht mal drauf
achten.” Da bereue ich es schon wieder und rede krampfhaft über
Sigmatismus, um ihn nicht auf schmutzige Gedanken zu bringen.
Ich muss besser auf mich aufpassen.
Auf der Heimfahrt erfahren wir, dass es um die abgesagte Preisverleihung ging. Auch „dieser ostasiatische Minister mit dem Rattengesicht” war da, und allen war es peinlich, dass der Preis wegen
allerlei Missverständnissen nicht verliehen wurde. Und ob man
nicht und wie man denn. Im Staatsinteresse, wollte die Kanzlerin
anfangen; ja genau, im Interesse der Wirtschaft, rief das Rattengesicht. Meine beiden Chefs, die sonst nie so viel reden, albern herum. Ihnen ist das ganze Theater scheiß-egal. Ich wusste bisher gar
nicht, was die für einen dreckigen Wortschatz haben. Überhaupt,
wie eine der reichsten Familien über echte Minister redet. Gut,
dass Jim und ich absolut verschwiegen sind! Berufsehre und Liebe
zu den Chefs. Habe ich gerade Liebe geschrieben? Ja, irgendwie
schon, obwohl harte Kerle wie Personenschützer so nicht reden
sollten. Jedenfalls nicht zu Kollegen.
Und dann sagt Tillmann Thier, den ich ja jetzt von meinem Besitz
unterscheiden kann, dass ihm nur eines leid tut: dass ich den Dalai
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Lama nicht treffen konnte, den ich doch so verehre. Ich bin ganz
gerührt. Vor Jahren hatte ich das einmal erwähnt, und er hat es die
ganze Zeit behalten.
Abends dann noch ein Glas Wein mit Frau Funke und Herrn Mattukat, zur Entschuldigung für die Aufregung. Alles bleibt beim alten. „Nur dat ick Ihnen jetzt unterscheiden kann”, ruft Frau Funke.
„Aba wer is wer? Na macht ja eh nüscht! Ach Eric, ooch nen Ohrring? Sieht ooch jut aus. Aber passense uff dat det sich nich
verheddert.” Frauen und Technik! Wie können sich Ringe denn
verheddern?
Als alle weg sind, auch Jim, bittet mein beringter Tim mich auf ein
Wort. „Eric, lassen Sie uns nicht drumherumreden und vor allem
nichts undeutlich lassen. Haben Sie eigentlich schon begriffen, dass
Sie jetzt derjenige sind, der jederzeit den Stecker aus der Firma
ziehen kann?” Sein Bruder unterbricht: „Jetzt hast du schon diese
komische niederländische Redensart von deinem, eh, Dingens,
übernommen. Wie man das, hahaha, mit Höherstehenden so
macht. Der Stecker steckt ja wohl in der Steckdose, nicht in der
Firma. Herr Mattukat war doch früher Elektriker. Soll der mal ein
Diagramm zeichnen? Eric, Sie müssen nicht alles wörtlich übernehmen, was Ihr Käseblatt schreibt.” Beim Wort Käseblatt prustet
er vor Lachen. Aber eigentlich sind wir alle drei unsicher. Jeder
überspielt das auf seine Weise. „Nun lass mich ausreden, Brüderchen!” Jetzt unterbreche ich: „Brüderchen?” – „Ja”, sagt Till, wegen
sieben Minuten stellt er sich an. Und was ist dabei herausgekommen? Ein Leibeigener.”
Mir reicht es jetzt: „Albern wie kleine Kinder, die dringend ins Bett
müssen. Tim, sag endlich, was du zu sagen hast!” Bei dem Du zucken beide zusammen wie bei einem Peitschenschlag. Der mit dem
Ohrring wird rot. Dann fasst er sich: „Das Schicksal der Firma und
meines Bruders liegt jetzt in, eh, Ihren Händen, Eric. Sie werden es
wohl nach und nach begreifen. Ich vertraue Ihnen. Bitte lassen Sie
meinem Bruder die Firma. Ich bin bedingungslos bereit, alles dafür
zu tun. Ich habe Ihnen zu gehorchen, das ist mir wirklich klar.
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Und, zugegeben, der Gedanke erregt mich. Und er macht mir
Angst. Zum Beispiel Angst, dass Sie uns vor dem Personal
bloßstellen. Aber das liegt bei Ihnen. Ich habe nur eine Bitte. Und
es ist nicht mehr als eine letzte Bitte. Ich weiß, dass Sie mich jetzt
nachts immer in Ihrer Nähe haben wollen. Mein Bruder will das
aber auch. Bitte erwägen Sie, das Bett mit uns beiden zu teilen!”
Ich schaue Till an: „Herr Doktor Thier, ist Ihnen das recht?” Das
„Ja” kommt ohne Zögern.
♂
Diesmal haben wir fest geschlafen. Morgen kann hoffentlich der
Verband ab, dann kann ich nachts immer den Ring fühlen.
Jim fährt mit zur Firma, und ich kann wieder in Ruhe nachdenken
und schreiben. Mir ist ein Höriger sozusagen in den Schoß gefallen. Damit hätte ich nie gerechnet. Klar, beim Rummachen mit
Männern habe ich gemerkt, dass ich dominant bin und manche
darauf abfahren. Es gibt Männer, die kriegen schon ’nen Steifen,
wenn man sie erniedrigt. – Hat Tim nicht gestern gesagt, dass der
Gedanke ihn erregt? Beim nächsten Mal muss ich nachfühlen.
Noch besser: ich will immer sehen können, ob er erregt ist. Ich
weiß schon, wie.
Ansonsten habe ich viel gelesen, aber wenig Erfahrung. Das
Schlimmste sind ja wohl sogenannte pushy bottoms, die ihrem Top
ganz genau vorschreiben, wie er sie zu unterhalten und zu verwöhnen hat. Und die rumzicken, wenn der Top auch mal an sich
selbst denkt. Aber hier ist es anders. Ich habe wirklich Macht. Der
Notar hat es ja deutlich erklärt. Dabei habe ich immer nur als Bodyguard gearbeitet, im Dienste meiner Herren, und das war gut so.
Bleibt nicht besser alles so, wie es war? Wir können doch einfach
weitermachen, als ob es diese Verträge nicht gäbe.
Aber ich habe Macht. Ich habe Macht. Macht. Macht. Macht. Und
ich besitze einen Menschen. Einen Leibeigenen. Oder Hörigen. So
gut das in diesem Land mit diesem BGB eben geht. Er kann nicht
weglaufen, ohne seinen Bruder zu ruinieren, und mir kann gar
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nichts passieren, jedenfalls solange ich nichts Strafbares mit ihm
mache. Ich darf ihn auspeitschen. Das hat er unterschrieben. Und
dieser Psychologe hat attestiert, dass er zurechnungsfähig ist. Ich
darf ihn auch tätowieren lassen. Nur nicht krank machen oder
umbringen. Aber das wäre ja bescheuert; dann nutzt er ja nichts
mehr.
Ich habe nicht nur einen Hörigen – ja, das ist das beste Wort in dieser Konstruktion –, sondern einen Hörigen, der wirklich gehorchen
will und nicht gezwungen werden muss.
Obwohl – dressieren wird man ihn schon müssen, bis gewisse Reflexe drin sind. War in meiner Ausbildung ja auch so, wenn auch
mit anderen nützlichen Reflexen.
Ich lass mir noch mal diese Romane durch den Kopf gehen. Da
steht der Herr nie unter Erfolgszwang. Alles geschieht wie von
selbst. Im wirklichen Leben geht es bestimmt nicht so reibungslos
zu. Ich muss Brauksiepe mal fragen, ob ich mit dem Autor in Kontakt kommen kann. Wahrscheinlich ist das auch ein dicker alter
Mann. Vielleicht hat er ja gar keine Erfahrung, hat sich alles nur
ausgedacht.
Egal! Ich habe meinen Hörigen, und das wird so bleiben, solange
die Firma nicht noch einmal pleite geht, was ich nicht erwarte. Also liegen lange Jahre vor uns. Es gibt keinen Grund, dass ich Erfolgszwang fühlen muss. Und Rücksicht brauche ich auch nicht zu
nehmen. Daran werde ich mich gewöhnen müssen.
Also machen wir einfach weiter wie bisher. Ich halte meine Stelle
und bleibe hier wohnen, jedenfalls solange Tillmann Thier mich
lässt. Dass ich jetzt immer bei denen im Bett sein darf, ist ja schon
eine Verbesserung. Schwer sein wird es, einerseits meinen guten
Job weiter machen, andererseits keine falsche Rücksicht nehmen.
Unterschiede müssen sein! Hoffentlich wird Jim nicht eifersüchtig.
Darauf muss ich achten, dass der nicht zu kurz kommt. Wo er doch
schon so kurz ist, grins.
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So, jetzt entsorge ich erst einmal alle Unterhosen meines Hörigen.
Muss er eben aufpassen, dass keine Pissflecken in die guten Anzughosen kommen. Muss er bei jedem Pissen an mich denken.
Quatsch! Funktioniert ja nicht. Er wird nicht einmal merken, dass
ich seine Unterhosen entfernt habe. Er wird sich gedankenlos die
nächste vom Stapel packen.
Als ich vor dem Kleiderschrank stehe, erinnere ich mich wieder,
warum es doch geht. Es gibt ja verschiedenfarbige Seidenunterhosen, und von jeder Farbe genau zwei. Die beiden gehen ja so weit,
dass sie sogar ihre Unterhosen abstimmen. Wenn man sich schon
vom Kindesalter an genau gleich anzieht, dann bitte auch richtig!
Ich werfe von jeder Farbe eine Unterhose in den Müll und schneide aus jeder zweiten Anzughose die Innentaschen heraus, damit er
noch etwas nackter und zugänglicher wird. Ich merke, dass mich
diese kleine Manipulation schon geil macht. Macht kann man auch
im Kleinen auskosten. Das ist neu und aufregend.
Aber beim Lesen der Seiten, die ich gerade geschrieben habe, werde ich wieder unsicher. Welch ein Durcheinander von Einbildungen! Wenn ich nun versage? Von wegen meinen Hörigen dressieren, aber ohne Erfolgszwang! Sicherheitsmänner müssen auf die
gefährlichsten Szenarien vorbereitet sein. Auch als Herr muss ich
reflexartig das Richtige tun, bevor es zu spät ist. Um vorbereitet
sein, muss man regelmäßig üben. Ich kann mich doch nicht jedesmal, wenn ich meine Macht zeigen müsste, vor mir selbst damit
herausreden, dass ich jetzt gerade nicht unter Erfolgszwang stehe.
Autoritätsverlust hatten wir das im Lehrgang genannt. Darum
können wir ja so gut mit aufdringlichen Reportern umgehen. Aber
was hier nötig ist, habe ich noch nicht geübt. In einschlägigen Romanen bekommt der Sklave sofort eins in die Fresse, wenn er nicht
gehorcht oder widerspricht. Aber ich bin hier in der Wirklichkeit!
Ich werde abwechselnd geil und ungeil bei dem Gedanken, Tim
eins in die Fresse zu geben. Den Rest der Zeit stelle ich mir vor, wie
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er bockig ist, und übe Ohrfeigen mit dem Handrücken am Lehnstuhl des Firmengründers und in der Luft.
Hoffentlich gehorcht Tim immer! Ich habe Angst vor dem ersten
Schlag. Und dann muss ich auch noch reflexartig kontrollieren,
dass die Zielperson einen Ohrring hat.
♂
Als sie von der Arbeit zurückkommen, erkläre ich Tim, dass er ab
sofort nie mehr Unterhosen tragen darf, weil ich immer sehen
können will, ob er erregt ist. Wenn das nicht gut funktioniert, muss
der Schneider vielleicht die Hosen enger machen. Ich werde es beobachten. Und jetzt die letzte Unterhose weg, und die Taschen abgeschnitten!
Als er das mit den Taschen versteht, wird er rot und beginnt zu
zittern. Mein rechter Arm zittert auch. Aber Tim sagt nichts. Und
er ist sichtbar erregt. Es funktioniert.
Es ist warm. Die beiden wollen noch bis zur Dunkelheit im Garten
arbeiten. Till fragt, ob ich das erlauben würde. Ich erkläre, dass sie
einfach, ohne immer zu fragen, weitermachen sollen wie gewohnt,
außer wenn ich selbst etwas anderes anordne. Ich will mich nicht
damit belasten, dass ich dauernd gefragt werde und etwas entscheiden muss. Auch das hatte ich mir im Laufe des Tages überlegt. Erfolgszwangreduktion ohne Autoritätsverlust.
Als sie dann in Ihren Overalls aus dem Schlafzimmer kommen,
kommt mir ein Einfall. Jetzt oder nie! Ich muss mir einen Ruck geben.
„Tim, du brauchst keinen Overall. Ich will deinen Körper sehen.
Der braucht Luft und Sonne. Also nur die Gummistiefel!“
Eine Sekunde bleibt es still. Ich fühle mich unsicher, aber es kribbelt auch. Dann reden beide gleichzeitig:
„Herr, mein Bruder fin...“ / „Eric, bei allem Verst...“
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Klatsch! Handrücken. Nicht zu hart, nicht aufs Ohr. Es hat funktioniert!
Dann beide gleichzeitig: „Sie haben Recht. Wir müssen uns daran
gewöhnen.“
Sie sind knallrot. Till wechselt schnell das Thema: „Sie haben ja
jetzt frei. Jim ist mit dem Kochen dran, nicht?“
„Genau! Danke für Ihr Verständnis, Herr Doktor. Tim, stell mir
eine Liege hin und ein Tischchen mit einer Kanne Tee. Und nach
einer Stunde ein Glas Sekt.“
Das ist wohl noch mal gut gegangen.
Und dann erscheinen beide nackt bis auf Gummistiefel. Mein Chef
hat sich an meinen Hörigen angepasst. So tief sitzt die Gewohnheit. Keiner verliert ein Wort darüber. Jedenfalls kann ich mich jetzt
wohl auch nackt in den Garten legen, mit dem Unterschied, dass
ich nicht mehr zu arbeiten brauche. Das war gar nicht geplant.
Meine Tätowierung haben die Beiden noch nie bei Tageslicht gesehen. Wir sind ein paarmal zusammen ins Bett gegangen. Aber die
würden nie sagen: „Boh, so eine große Tätowierung! Hat das nicht
wehgetan? Dürfen wir mal sehen?“ Aber jetzt schauen sie immer
wieder her. Ist ja auch wirklich gut gemacht, diese Schlange, die
sich fast um den ganzen Körper windet.
Sie arbeiten fleißig. Tim bringt mir tatsächlich von selbst zum richtigen Zeitpunkt meinen Sekt und achtet dann darauf, dass mein
Glas nachgefüllt wird. Ich habe Muße, mir eine Aufgabe für Tim
auszudenken. Er soll mal aufschreiben, wie das mit Zwillingen
eigentlich ist. Morgen werde ich das verlangen.
Jim kommt mit Einkäufen, glotzt nur kurz, versucht, sich nichts
anmerken zu lassen, und verschwindet in die Küche. Till ruft ihm
nach, dass er hier draußen decken soll.
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Die beiden haben für ihr Alter ganz ordentliche Körper, drahtig.
Schwimmen ja auch regelmäßig. Doch werde ich meinen ab jetzt
zum Training mitnehmen. Ein paar Muskeln täten ihm gut. Sein
Bruder kann ja mitkommen, wenn er gleich bleiben will. Er ist ein
freier Mann in einem freien Land.
Wir bleiben beim Abendessen nackt, anscheinend gefällt es ihnen.
Jim dagegen trägt geradezu demonstrativ seinen Anzug. Till will
es ihm leicht machen und sagt, er solle es sich auch bequem machen. Der Wind, die Haut, und man sei doch hier alleine in der Natur. Jim schnaubt und murmelt etwas, das wie „nackte Neger gucken“ klingt. Als ich beiläufig sage: „Tim, schenk unserem Koch
doch Wein nach!” blitzen Jims Augen.
Nachher nimmt er mich beiseite und zischt: „Was ist hier eigentlich
los?” Auch die Antwort auf diese unvermeidliche Frage hatte ich
mir schon überlegt. Ich erkläre ihm, dass es nur ein paar kleine,
private Änderungen gibt, die ihn nicht betreffen. Dass ihn alle genauso schätzen wie immer und dass das Leben wie gewohnt weitergeht. Und die Arbeit auch. „Und wieso duzt ihr euch alle auf
einmal?” – „Jim, du täuschst dich. Ich duze Tim, er mich nicht.
Und zwischen Till und mir bleibt es sowieso beim Sie. Mach dir
keine Gedanken. Für dich ändert sich nur eines: wenn du von Tim
oral verwöhnt werden willst, kann und werde ich das jederzeit für
dich regeln. Auch in der Firma. Aber dort diskret, bitte!” – Jim
grinst. „Echt?” – „Ja, mein Wort!” – „Vielleicht werde ich mich an
den Gedanken gewöhnen. Dann wird sich ja zeigen, ob es stimmt,
oder ob dir nur diese Bücher zu Kopf gestiegen sind, die hier immer rumliegen.”
Die Nacht ist ereignislos. Der Verband ist zwar ab, aber man muss
noch ein paar Tage vorsichtig sein. Mein Eigentum soll gut verheilen.
♂
Als ich wach werde, bin ich allein. Warum ist mein Knecht nicht
bei mir? Sind die beiden etwa mit Jim in die Firma gefahren, als ob
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nichts wäre? Ich finde einen Zettel: „Herr, wir wollen noch im Garten arbeiten. Gestern war das so schön, an der frischen Luft. Rufen
Sie bitte, wenn Sie mich brauchen. Das Fester ist offen.” Na bitte,
alles gut organisiert, hier wie in der Firma.
Ich bleibe in der warmen Morgenluft ohne Decke liegen, errege
mich mit der linken Hand und lasse meinen Gedanken freien Lauf.
Ich könnte Tim jetzt rufen und sein Saugmaul nutzen, aber das
kann ich ja immer noch. Stattdessen will ich probieren, ob ich mich
eine volle Stunde steif halten kann.
Ich kann. Dann brauche ich mich demnächst nicht vor Tim zu
schämen, wenn er diese Aufgabe bekommt.
Was soll das denn, dass ich mir Gedanken mache, vor meinem
Leibeigenen keinen Dauerständer halten zu können? Ich muss
noch viel lernen und habe keine Ahnung, wie ich das anfangen
soll. Aber ich darf nicht unsicher wirken.
Als es dann soweit ist und alles auf meiner Brust landet, rufe ich
ihn, nehme ihn mit unter die Dusche. Er kommt erst nicht drauf,
dass er mich einseifen, waschen und abtrocknen soll. Ich muss tatsächlich erklären, dass ein Leibknecht nun einmal diese Aufgabe
hat. Dann gibt er sich Mühe, aber es fühlt sich unbeholfen an, und
er kümmert sich nicht um die Körperstellen, wo es sich am meisten
lohnt.
„Habt ihr euch denn nie gegenseitig gewaschen und abgetrocknet?“
„Nein, Herr. Wir duschen zusammen, aber seinen Dreck macht
jeder selbst weg.“
Da muss der Herr dem Knecht vormachen, wie und wo man einseift und wäscht und abtrocknet, und dass der Dreck dabei gar
nicht so wichtig ist.
„Danke, Herr. Ich will das besser lernen. Darf ich mit meinem Bruder und Jim üben?“ – „Wenn die wollen, sicher. Aber Jim kriegst
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Ende der Leseprobe von:
Zwillingsforschung
Jens van Nimwegen
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