Süddeutsche Zeitung (28.05.2016)

A M WO C H E N E N D E
FOTO: MUSEU NACIONAL DE ARTE ANTIGUA, STOCKFOOD, AFP PHOTO, PR
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HF1
MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 28./29. MAI 2016
72. JAHRGANG / 21. WOCHE / NR. 121 / 3,20 EURO
Schöner
Horror
Hieronymus Bosch schuf eine Welt
des ästhetischen Wahnsinns.
Wieso verstört und fasziniert
seine Kunst auch nach
500 Jahren noch das Publikum?
BITTE MIT OHNE
GESCHICHTE WIRD GEMACHT
Wenn es heiß wird,
hat alkoholfreies Weißbier
wieder Saison. Ein Test
Obamas Besuch in
Hiroshima ist ein bewegendes
Zeichen gegen Atomwaffen
Stil, Seite 58
Politik, Seite 9
AUF LEISEN SOHLEN
Gesellschaft,
Seite 53
Wie der Turnschuh vom Sportplatz in die Chefetage kam
Stil, Seite 55
(SZ) Schöne Nachricht für Freunde halbrunder Jubiläen: Der ICE feiert in diesem
Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Für den
Hinterkopf: Vor dem Jahr 1991 gab es in
der alten Bundesrepublik nur dampfbetriebene Züge und sogenannte Draisinen,
mit denen Menschen, die einen Zug verpasst haben, einen pumpschwengelartigen Hebel kräftig auf- und niederdrücken mussten, um den davoneilenden
Dampfzug noch einzuholen. Der ICE dagegen schlug ein neues Kapitel der Eisenbahnkultur auf – sofern Schnellzüge
überhaupt in der Lage sind, Kapitel aufzuschlagen. Aber eines stimmt ja wohl: Seit
der Intercity-Express auf der Schiene
läuft, ist die Welt enger zusammengerückt, insbesondere jener Teil der Welt,
der zwischen Hannover und Kassel liegt.
Wegen der anstehenden Sanierung des
Schotteroberbaus waren sowohl Hannover als auch Kassel bis Mitte Mai nur
noch telefonisch erreichbar gewesen.
Was hat der ICE nicht alles bewirkt,
vor allem sprachlich: Außerplanmäßiger
Halt, folgende Anschlusszüge konnten leider nicht warten, wir bitten um Verständnis, wie wäre es mit einem frisch gebrühten Kaffee im Bordbistro, die Weiterfahrt
verzögert sich auf unbestimmte Zeit. Die
Landschaften flattern am Fenster vorbei,
als würde man Urlaubsfotos auf dem
iphone wegwischen. Der ICE ist so unfassbar schnell, dass man eine ganze Weile
braucht, um wieder zu sich zu finden,
wenn der Zug in der Lüneburger Heide
für zwei Stunden zum Erliegen kommt.
Seit der ICE durch unsere Köpfe und Herzen rollt, ist unser ganzes Leben zu einem
Verschiebebahnhof geworden. Der Balkan ist ein Verschiebebahnhof für Flüchtlinge, die Rente ist der Verschiebebahnhof schlechthin, und im Radio war zu hören, dass sogar der Berliner Flughafen
ein Verschiebebahnhof sei, bei dem, und
das ist natürlich sehr hübsch gesagt, „luftige Termine“ verschoben werden. Als unluftigster Termin galt ja lange der Herbst
2017, aber jetzt hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller sinngemäß erklärt, dass auch hier, Achtung, jetzt
kommt es knüppeldicke: Luft nach oben
sei. Oben ist in diesem Fall das Jahr 2018.
Trotzdem sagt Müller: „Ich will Ende
2017 fliegen.“ Wäre man ein politischer
Kabarettist, der Pointen höher bewertet
als Wahrheiten, würde man sagen: Das
kann schneller gehen als du denkst.
Verschiebebahnhöfe sind die Verkehrsknotenpunkte unserer spätmodernen Gedankenwelt. Wir fühlen, dass die
großen Probleme nicht mehr gelöst, sondern nur verschoben werden, damit man
den Stillstand nicht so spürt. Erinnert
sich noch einer an Peter Falk, der in dem
Film „Himmel über Berlin“ über den Anhalter Bahnhof sagte, dieser sei kein
Bahnhof, wo die Züge hielten, sondern
ein Bahnhof, wo der Bahnhof hält? Zauberhaft, wie sprachliche Missverständnisse einen fabelhaften gedanklichen Verschiebebahnhof in Gang setzen.
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Härtere Strafen für Einbrecher
Bauern fordern
Milchpakt
Immer öfter dringen in Deutschland Diebe in Wohnungen ein. Unions-Fraktionschef Kauder will
nun höhere Haftstrafen durchsetzen. Die CDU möchte das Thema Kriminalität nicht der AfD überlassen
Gipfeltreffen am Montag soll
Ausweg aus der Krise weisen
von robert roßmann
Es gibt kaum eine Emotion, mit der man
so erfolgreich Wahlkämpfe bestreiten
kann, wie mit der Angst. Das gilt erst
recht, wenn man keine Skrupel hat. Das
zeigt sich auch in diesen Tagen. Der Bundesinnenminister hat die neue Kriminalitätsstatistik vorgelegt – und die AfD
schlachtet die Ergebnisse nach allen Regeln der Kunst aus. Glaubt man den
Rechtspopulisten, leben die Deutschen in
einem Staat der Rechtlosigkeit. Dabei
geht es in kaum einem Land so sicher zu
wie in der Bundesrepublik. In einzelnen
Punkten liefert die Statistik aber dennoch
Anlass zur Besorgnis, dazu gehört die
wachsende Anzahl an Wohnungseinbrüchen. Die Union startet deshalb jetzt eine
Offensive gegen die Einbrecher – auch um
der Konkurrenz von der AfD die Argumente zu nehmen.
Die Anzahl der Wohnungseinbrüche ist
allein im vergangenen Jahr um zehn Prozent gewachsen – inzwischen steigt alle
drei Minuten irgendwo ein Dieb ein. Die
CDU will deshalb das Strafrecht verschärfen. Unionsfraktionschef Volker Kauder
sagte der Süddeutschen Zeitung, seine
Fraktion wolle den „minder schweren Fall
des Wohnungseinbruchs“, also Paragraf
244(3), aus dem Strafgesetzbuch streichen. Dadurch würde sich die Mindeststrafe für einen Wohnungseinbruch auf
sechs Monate verdoppeln. Die Höchststrafe läge dann generell bei zehn Jahren.
„Das wäre auch ein deutliches Signal des
Gesetzgebers an die Strafjustiz, Wohnungseinbruch generell härter zu ahnden“, sagte Kauder. Die Union wolle außerdem „den Wohnungseinbruch in den Katalog der Straftaten aufnehmen, bei denen
grundsätzlich Telekommunikationsüberwachung möglich ist, um die Verdächti-
Dass Männer mit starken Frauen ein Problem haben, ist nichts Neues. Chinesen
sind da keine Ausnahme. Chinas Geschichte kennt durchaus mächtige Regentinnen, etwa die Kaiserinmutter Cixi.
Doch wurden solche Frauen von der
männlich beherrschten Geschichtsschreibung gerne als kranke, korrupte Nymphomaninnen gezeichnet. Seit dieser Woche
hat Taiwan eine Präsidentin, Tsai Ingwen, die nun die mächtigste Frau der chinesischsprachigen Welt ist. In Taiwans
Wahlkampf war Tsais Geschlecht kaum
ein Thema. Es brauchte schon einen Kommentar der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua in Peking, um die Welt daran
zu erinnern, dass Frauen gefährliche Wesen sind. Und alleinstehende erst!
Tsai Ing-wen ist nun die Präsidentin
der Republik China, welche seit dem Ende des Bürgerkrieges 1949 auf der Insel
Taiwan ihren eigenen Staat bildet. Die
Kommunistische Partei in der Volksrepublik China dringt auf Wiedervereinigung
und verlangt von Tsai die Anerkennung
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Schließlich müsse man „immer wissen:
Das sind vielfach straff organisierte Banden, die da unterwegs sind – der Staat
muss ihnen mit Härte begegnen“.
Der Unionsfraktionschef forderte außerdem mehr Personal für die Polizei.
Kauder sagte, die innenpolitischen Sprecher der Union würden „zu Recht“ von
Bund und Ländern 15 000 zusätzliche Polizeibeamte verlangen. Der Bund sei „dabei
schon in Vorleistung getreten“, er habe bei
der Bundespolizei gerade 4000 neue Stellen geschaffen. „Vielleicht werden wir diese Zahl noch aufstocken müssen“, sagte
Kauder. Der Fraktionschef beklagte außerdem den Personalmangel bei der Justiz, der „zeitnahe Verfahren und Urteile“
nicht nur bei Einbrüchen erschwere. Er
verwies auf eine Erhebung des Richterbundes, wonach bundesweit 2000 Staatsanwälte und Richter fehlten. „Das muss
geändert werden“, sagte Kauder. Deutschland sei ein Rechtsstaat. Dazu gehöre
„auch, dass der Staat die Einhaltung des
Rechts gewährleistet und durchsetzt“. Die
Aufklärungsquote bei Wohnungseinbrüchen liegt derzeit nur bei 15 Prozent.
Kauders Vorstoß ist Teil einer neuen Fokussierung der CDU. Seit den Wahlerfolgen der AfD versucht sie sich wieder stärker als „Partei der Sicherheit“ darzustellen. Zuletzt hatten der Bundesfachausschuss Innenpolitik der CDU sowie die innenpolitischen Sprecher der Union Beschlüsse zur inneren und äußeren Sicher-
Anzahl der Wohnungseinbrüche
Bundesweit von 2005 bis 2015
Aufklärungsquote in Prozent
167 136
175 000
40
150 000
125 000
30
109 736
100 000
Summe
71 300
75 000
50 000
20
19,6
40 200
15,2
davon Versuche
25 000
10
SZ-Grafik; Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik
0
2005
2007
2009
2011
2013
2015
2005
2007
2009
2011
2013
2015
Rote Machos
Chinas Führungselite hat ein Sexismusproblem. Das wird
wieder deutlich, seitdem eine Frau Präsidentin in Taiwan ist
des „Konsensus von 1992“. Dieser Abmachung zufolge gibt es nur ein China, es
darf sich aber weiter jede Seite selbst ausmalen, was sie unter diesem einen China
versteht. Tsai ist eine vorsichtige Politikerin, in ihrer Antrittsrede allerdings erwähnte sie den „Konsensus von 1992“
nicht. In der zunehmend selbstbewussten Demokratie Taiwan hat man immer
weniger Lust, sich vom autoritär regierten China in die Zange nehmen zu lassen.
Wang Weixiang, der Pekinger Kommentator von Xinhua diese Woche, zog es
allerdings vor, sich einem ganz anderen
Problem zu widmen, nämlich der Tatsa-
che, dass Tsai als alleinstehende Frau
„nicht den emotionalen Ballast von Liebe,
Familie und Kindern“ kenne, so dass „ihr
politischer Stil und ihre Regierungsstrategie zum Emotionalen, Persönlichen und
Extremen“ neige. Der Kommentator ist
dabei nicht bloß Offizier der Volksbefreiungsarmee, sondern auch ein hochrangiger Berater für Pekings Taiwan-Politik.
Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich
warten. Auch in Chinas Netz stürzten sich
viele auf Wangs Sexismus, und es entspann sich erneut eine Debatte über das,
was fortgeschrittenere Zirkel in Chinas
Gesellschaft vor etwa zwei Jahren den
heit Deutschlands vorgelegt. Der Bundesfachausschuss verlangte etwa, dass „Deutschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten, die im Ausland für eine terroristische
Vereinigung kämpfen“, die deutsche
Staatsangehörigkeit entzogen wird. Die innenpolitischen Sprecher verlangten in ihrer „Schweriner Erklärung“ auch mehr
Personal für den Verfassungsschutz und
das „vorbehaltslose“ Nennen ausländischer Täterstrukturen. Bei den Wohnungseinbrüchen liegt der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen bei 40,2 Prozent.
Auch CDU-Generalsekretär Peter Tauber findet, dass die CDU das Thema Sicherheit betonen muss – und zwar sowohl die
innere, als auch die äußere und die soziale. Fraktionschef Kauder sagte, die Welt
wandele sich rapide – „die Menschen sehnen sich daher zunächst einmal nach Sicherheit – Sicherheit im Alter, ein verlässliches Gesundheitssystem, keine Arbeitsplatzsorgen, aber auch Sicherheit vor Terrorismus und vor Kriminalität“. Dies will
die CDU-Spitze jetzt bieten, um die stärker werdende AfD auf Distanz zu halten.
Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen glaubt jedoch, dass die Bedeutung der inneren Sicherheit für die Wähler
überschätzt wird. Aktuell sei das Thema
Kriminalität nicht auf der von seinem Institut ermittelten „Agenda der Bevölkerung präsent“, sagte er der SZ. Falsch findet Jung die Strategie der CDU trotzdem
nicht. Denn für die Union sei das Thema innere Sicherheit „ein Winner-Thema, zumal es hier keinen Dissens zwischen CDU
und CSU gibt – und man da Zustimmung
bei AfD-Anhängern bekommen kann, ohne dass die CDU moderne Positionen aufgeben muss oder ein Kurswechsel notwendig ist“. Auch deshalb betont die CDU gerade mit so viel Verve ihre Rolle als „Partei
der Sicherheit“.
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„Krebs der heterosexuellen Männer“ tauften, also das Geschwür des Machismo,
das auch im China von heute weiter fröhlich Metastasen streut. Wang ist nur der
Letzte in einer ganzen Reihe von Prominenten, denen der Macho-Krebs attestiert wurde. Jugendidol und Bloggerstar
Han Han erwischte es, als er zu Protokoll
gab, er würde seine Ehefrau „niemals“ arbeiten gehen lassen. Der Übersetzer Lin
Shaohua trat ins Fettnäpfchen, als er ausführte, wie Hausarbeit Männer verweichliche. Das kommunistische China tat
einst einiges für die Befreiung der Frau,
blieb aber im Ringen um die Emanzipation irgendwann stecken. Im GeschlechterUngleichheits-Index der UN von 2013 landete China auf Platz 91 von 187 – hinter
Ländern wie Iran und Ukraine.
Präsidentin Tsai zeigt sich indes unbeeindruckt. Die Tierliebhaberin gab am
Donnerstag auf Facebook bekannt, sie
werde zu ihren zwei Katzen nun auch drei
Hunde adoptieren. Von Männern war keine Rede.
kai strittmatter
Berlin – Kurz vor dem Milchgipfel haben
die Landwirte den Handel scharf angegriffen. „Man kann nicht über Nachhaltigkeit und Regionalität reden und dann die
Milch für 46 Cent ins Regal stellen“, sagte
Bernhard Krüsken, Generalsekretär des
Bauernverbands. Seit Wochen verkaufen
Discounter den Liter Milch für 46 Cent.
Für Rohmilch erhalten Landwirte von
Molkereien teils unter 20 Cent. Nötig sei
eine Art Milchpakt aller Beteiligten. „Der
einzige Weg ist der über die Marktpartner“, sagte Krüsken. Ziel müsse es sein,
„die Produktionsmenge marktgerecht
auszusteuern“. Bei einem Treffen am
Montag in Berlin will die Branche Auswege aus der Misere suchen. Agrarminister
Christian Schmidt (CSU) kündigte Soforthilfen an. sz
Wirtschaft
Superkeime
in den USA
Berlin – Erstmals ist auch in den Vereinigten Staaten ein Bakterium gefunden worden, das eine neue Resistenz gegen das
Reserveantibiotikum Colistin trägt. Forscher hatten das bakterielle Gen mit der
Bezeichnung mcr-1 bei einer 49-jährigen
Patientin in Pennsylvania entdeckt.
Mcr-1 ist erst seit wenigen Monaten bekannt und unter Infektionsmedizinern
schon jetzt gefürchtet. Es verbreitet sich
leicht und kann zur Bildung neuer, multiresistenter Erreger führen. Solche Keime
verursachen Infektionen, die sich kaum
noch behandeln lassen und oft tödlich enden. Auch in Deutschland wurde das Gen
bereits entdeckt. sz
Panorama
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Im Laufe des Tages nimmt die Zahl und
Intensität der Regengüsse und Gewitter
überall zu. Im Nordosten besteht die geringste Schauer- und Gewitterwahrscheinlichkeit. Die Temperaturen erreichen 17 bis 26 Grad.
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