Fachgespräch zum Aufruf „Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes

Fachgespräch zum Aufruf „Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich
viel wert ist“
Dienstag, 31. Mai 2016, 11:30
Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer Deutsches Kinderhilfswerk e.V.:
„Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Darunter Kinder, deren
Familien im ALG II-Bezug leben oder Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, die ihren Kinderzuschlag aufgrund
komplizierter Antragsverfahren nicht in Anspruch nehmen oder deren Eltern aus
Scham auf die ihnen zustehenden Sozialleistungen verzichten.
Diese Kinder erleben Armut täglich und unmittelbar. Ihre Kindheit wird maßgeblich
davon geprägt. Es fehlt ihnen häufig an Dingen, die für andere Kinder
selbstverständlich sind. Sie spüren die Existenzsorgen und den Druck, der auf ihren
Eltern lastet, sowie das Anderssein in der Schule. Gleichzeitig bleibt ihnen häufig ein
großer Teil an Angeboten und Förderung in ihrer Freizeit verwehrt. Für diese Kinder
werden die von der UN-Kinderrechtskonvention jedem Kind zugesicherten Rechte
auf soziale Sicherheit und angemessene Lebensbedingungen derzeit nicht
eingehalten.
Eine gerechte Förderung von Kindern und ihren Familien bemisst sich aus Sicht des
Deutschen Kinderhilfswerkes an zwei grundlegenden Maximen: Zum einen, gilt es im
Sinne eines solidargemeinschaftlichen Prinzips für die Erziehungsleistung von Eltern
einen finanziellen Ausgleich zu schaffen, der sie insbesondere auch davor bewahrt
mit ihren Kinder in Armut zu leben. Zum anderen, muss es der Anspruch von Staat
und Gesellschaft sein, alle Kinder, ganz unabhängig von ihren familiären
Startbedingungen, gleichberechtige Teilhabe an dieser Gesellschaft zu ermöglichen.
Nach Ansicht des Deutschen Kinderhilfswerkes braucht es zur Bekämpfung von
Kinderarmut in Deutschland eine Gesamtstrategie aus materieller wie
infrastruktureller Förderung. Dazu gehört, in einem ersten Schritt, die vorgelagerten
Sicherungssysteme, wie den Kinderzuschlag oder die Kinderregelsätze, zu
reformieren und zu stärken. Darüber hinausgehend müssen die Bedarfe von Kindern
realistisch ermittelt und über eine Kindergrundsicherung für alle Kinder zuverlässig
abgesichert werden, die ihr Alter wie auch die finanzielle Bedürftigkeit der Eltern
berücksichtigt. Zudem gilt es die Infrastrukturförderung im Lebensumfeld der Kinder
mitzudenken, damit Kindern real gleiche Chancen zur Verfügung stehen.
1
Beispielsweise reicht die Rückerstattung der Mitgliedsgebühr für einen Sportverein
nicht aus, dieser muss auch für Familien ohne eigenes Auto erreichbar sein und über
Möglichkeiten verfügen, Kindern Zugänge zu eröffnen.
Evelyn Sthamer, Goethe-Universität Frankfurt, Mitautorin der AWO-ISSKinderarmuts-Studie
(siehe Beitrag zu Pressegespräch)
Monika Benedix, Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder
e.V.
Die Lebenslagen von Kindern liegen der Bundesvereinigung Evangelischer
Tageseinrichtungen für Kinder – BETA „naturgemäß“ schon immer am Herzen. In der
Arbeitshilfe für die evangelischen Kitas zum Umgang mit Kinderarmut und
Kindervernachlässigung, „Kinderarmut erkennen, wirksam handeln“, sowie in
unserer Fachzeitschrift Theorie und Praxis der Sozialpädagogik - Leben, Lernen und
Arbeiten in der Kita - TPS und in der jährlich erscheinenden Arbeitshilfe zum
Weltkindertag - Kinder haben Rechte!, schrieben wir schon vor Jahren: „Es scheint
gar nicht mehr so aufregend, dass die Schere zwischen Arm und Reich größer wird
und die Folgen für die betroffenen Kinder weit in die Zukunft hineinreichen.“ Heute
müssen wir feststellen, dass sich der bittere Trend fortgesetzt und Armut in der
Kindheit keineswegs abgenommen hat. Besonders und am stärksten betroffen sind
nach wie vor Kinder von Allein Erziehenden, Kinder mit Zuwanderungsgeschichte
und ganz aktuell Kinder mit Fluchterfahrung.
Der Dauerskandal der armen Kindheit in einer reichen Gesellschaft setzt sich fort.
Zwar ist das Thema in den letzten Jahren etwas aus der Tabu-Ecke herausgerückt,
es wird öffentlich stärker wahrgenommen, und das quantitative und qualitative
Wissen über die Lebenslagen, Formen und Folgen von Armut in der Kindheit hat
zugenommen. Wer es wissen will, kann es also wissen.
Was in die Zukunft hineinreicht, ist dabei keineswegs materielle Armut allein. Der
Familienalltag für diese Kinder ist geprägt vom „Nein-Sagen“ und Verzicht. Ein
fatales Wirkungsgeflecht von Unterversorgung in allen Lebensbereichen, bei der
Ernährung, Wohnung, Gesundheit und Bildung, führt zu sozialer Ausgrenzung und
Begrenzung von Verwirklichungs- und Teilhabechancen in vielfältigem Sinne – eine
nachhaltige Wirkung, die sich keiner wünschen kann.
2
Es ist auch nicht die Kindertageseinrichtung, die an den Ursachen für Armut viel
ändern kann. Die Weichen für strukturelle Verbesserungen wurden und werden in
Politik und Wirtschaft gestellt. Gleichwohl können wir in unseren Kitas als Lobby für
Kinder unsere Stimme erheben, um armen Kindern die Teilhabe zu ermöglichen, die
ihnen zusteht. Es gibt viele engagierte Träger mit ihren Erzieherinnen und Erziehern,
und viele kreative Lösungen, wenn es darum geht, alle am Ausflug oder ins Theater
mitzunehmen, gesundes Essen für alle zuzubereiten, Bewegungsangebote zu
machen, frische Kleidung bereitzuhalten. Und das alles, ohne jemand zu
beschämen. Teilhabe an allem, was die Kita bieten kann, fördert Bildung,
Selbstwirksamkeit und Selbstachtung bei Kindern und ihren Eltern. Für Konzepte der
teilhabegewährleistenden evangelischen Kindertageseinrichtung setzten wir uns als
BETA immer wieder unermüdlich ein.
Solveig Schuster, Bundesvorsitzende Verband Alleinerziehender Mütter und Väter:
Grundsätzlich gilt: Kinderarmut ist Elternarmut. Viele Kinder von Alleinerziehenden
sind arm, weil ihre Mütter (und Väter) es nicht schaffen, mit ihrem Einkommen alle
Familienmitglieder ausreichend zu versorgen. Rund 40 Prozent der 1,6 Millionen
Alleinerziehenden leben von Hartz IV. Für die Kinder bedeutet dies nicht nur
emotionaler Stress durch die Trennung der Eltern, sondern auch materieller Verzicht.
Kino, Zoo, Urlaub sind Luxusgüter, die sich Alleinerziehende mit geringem
Einkommen oder bei Bezug von Transferleistungen kaum leisten können, obwohl
gerade sie die Auszeit mit den Kindern dringend benötigen. Im Alltag sind
Alleinerziehende (zu 90 Prozent Mütter) einer Dreifachbelastung ausgesetzt, müssen
Job, Haushalt und Versorgung des Kindes unter einen Hut bringen, die so genannte
"quality time", also die Zeit, die die Eltern unbelastet und mit voller Aufmerksamkeit
ihrem Kind widmen können, ist sehr begrenzt. Aber auch kulturelle Teilhabe wie etwa
ein Besuch im Museum oder Theater, der Zugang zu Bildungs-, Sport- und
Freizeitangeboten wird durch einen monetären Mangel erschwert.
Eine wirksame Bekämpfung von Kinderarmut in Einelternfamilien setzt bei der
Erhöhung des Familieneinkommens an. Alleinerziehende müssen in der Lage sein,
ausreichend Einkommen für sich und ihre Kinder zu erzielen. Dazu benötigen sie
entsprechende Kinderbetreuungsangebote, die passgenau auf ihre Bedürfnisse
zugeschnitten sind, genauso wie individuelle und flexible Arbeitszeitmodelle, um
überhaupt arbeiten und ihren Lebensunterhalt allein bestreiten zu können. Viele
3
Kinder sind aber auch arm, weil der barunterhaltspflichtige Elternteil den
Kindesunterhalt nicht zahlt oder nicht zahlen kann. Mehr als die Hälfte der Kinder
getrenntlebender Eltern bekommt keinen oder nicht ausreichenden Unterhalt. Der
von staatlicher Seite gezahlte Unterhaltsvorschuss, der das Manko ausgleichen soll,
fällt in der Höhe hinter den Mindestunterhaltsbeträgen zurück und ist nicht
existenzsichernd ausgestaltet, zudem mit einer Bezugsdauer von maximal 72
Monaten und bis zum 12. Lebensjahr des Kindes zu stark reglementiert. Andere
Leistungen wie der Kinderzuschlag kommen bei Alleinerziehenden gar nicht erst an.
Statt einem Nebeneinander vieler kindbezogener Leistungen setzt der VAMV daher
auf eine Kindergrundsicherung, die alle Transfers zusammenfasst und die Existenz
des Kindes sowie seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unabhängig von der
Lebensform und dem Einkommen der Eltern sichert.
Jochen Brühl, Bundesvorsitzender Bundesverband Deutsche Tafel e.V.:
Es ist erschreckend, wie viele Familien mit vielen Kindern und Alleinerziehende in
Deutschland von Armut betroffen sind. Bei den Tafeln ist die Kinderarmut seit ca. 10
Jahren konstant auf sehr hohem Niveau. 24 % unserer Tafel-Gäste sind Kinder und
Jugendliche unter 18 Jahren. Das sind aktuell mehr als 350.000 junge Menschen.
Seit Jahren fordern wir die Politik zum Handeln auf, denn die Kinderarmut muss
schnellstmöglich abgeschafft werden. Die Lösungsversuche der Politik greifen nach
wie vor zu kurz.
Der Bundesverband fordert, dass sich die Hartz-IV-Leistungen für Kinder endlich an
den realen Bedürfnissen Heranwachsender und ihrer Familien orientieren. Eine
Bildungspolitik vom Kindergartenalter an und kostenlose Mittagsmahlzeiten für alle
Kinder in Kitas und Schulen sind das Mindeste. Wir müssen es schaffen, allen
Kindern gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen – egal, wie einkommensstark oder
-schwach ihre Eltern sind. Nur wer sich als Teil einer solidarischen Gesellschaft fühlt,
wird sie später aktiv mitgestalten.
Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Armut von einer Generation auf die nächste
vererbt wir.
Rund drei Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut. Für diese Kinder bedeutet
das: ohne Frühstück in Kindergarten oder Schule, kein Geld für eine warme Mahlzeit
zu Mittag, Mangel- und Fehlernährung. Kinobesuche oder ein Nachmittag im Freibad
4
können sie sich nicht leisten und werden so leicht zu Außenseitern. Viele Tafeln bzw.
deren Träger bieten weiter gehende Hilfen speziell für Kinder an.
Sie organisieren Freizeitaktivitäten oder Nachhilfeunterricht, ermöglichen Musikkurse
oder richten pädagogisch betreute Treffpunkte ein. Dadurch fördern Tafeln gezielt die
soziale Teilhabe, das Wohlergehen und die Bildungschancen von Kindern und
Jugendlichen. Die Nachfrage nach diesen Angeboten wächst stetig.
Uns sind Kinder sehr viel wert - und das sollten sie auch der Politik sein. Deshalb
appellieren wir mit Nachdruck an die politischen Entscheidungsträger in unserem
Land: investieren Sie in die Zukunft all unserer Kinder!
5