politischer bericht aus brüssel - Hanns-Seidel

POLITISCHER BERICHT AUS BRÜSSEL
Christian Forstner
Leiter der Verbindungsstelle Brüssel
Nr. 11 /2016 – 30. Mai 2016
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Hochs und Tiefs als prägendes Merkmal des EU-Russland-Verhältnisses
Zur Einordnung des Ist-Zustandes und zur Vermeidung von Überdramatisierungen
sollte man sich der Auf und Abs, der Hochs und Tiefs in den europäisch-russischen
Beziehungen bewusst sein.
Die 1990-er Jahre waren bis zur Mitte des Jahrzehnts eine enthusiastische Phase
und vom Transformationsschwung nach dem Zerfall der Sowjetunion geprägt. In
diese Zeit fällt die Ausarbeitung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
(englisch: PCA), das den Weg für eine enge sektorale Kooperation und für einen
dichten institutionellen Dialog ebnete. In dieser enthusiastischen Phase schloss
Präsident Boris Jelzin sogar einen Beitritt Russlands zu NATO und EU nicht aus. Mit
der westlichen Intervention in Serbien, einem traditionellen Partner Russlands,
erhielten die Beziehungen einen ersten Dämpfer. Das Eingreifen war notwendig, um
Präsident Milosevic von seiner aggressiven Gewaltpolitik abzubringen und weitere
Gräueltaten im Kosovo zu verhindern.
Mit der NATO-Russland-Grundakte und der Schaffung des NATO-Russland-Rates
wurden die Beziehungen wiederbelebt und auf eine strategische Grundlage gestellt,
die mit der Irak-Intervention erneut einer Prüfung unterzogen wurde. Die Koalition
der Willigen war keine NATO-Aktion und war politisch auch im Westen umstritten.
Für Impulse im Verhältnis zu Russland sorgte danach wieder die Verständigung auf
vier gemeinsame Räume, die man als die Schlüsselfelder der Kooperation definierte: Wirtschaft, innere Sicherheit, äußere Sicherheit sowie Forschung, Kultur und
Bildung.
Doch für einen Durchbruch sorgte selbst EU-Kommissionspräsident Romano Prodi
nicht, als er Russland und Europa als so zusammengehörend bezeichnete wie Kaviar
und Wodka. Gleichwohl entfalteten sich die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen dynamisch und positiv, die Handelszahlen stiegen, und man veranstaltete
wechselseitig beeindruckende Jahre der Kultur, zum Beispiel der deutschen Kultur
in Russland oder der russischen Kultur in Deutschland. Aber es legten sich auch
immer wieder Schatten auf die europäisch-russischen Beziehungen, die Gas-Krise in
der Ukraine im Januar 2008 stellte unabhängig von Auslöser und Schuldfrage die
russische Energiezuverlässigkeit in Frage. Und im Georgien-Krieg im Sommer 2008 auch hier wiederum unabhängig von der Schuldfrage, bei deren Beantwortung jedoch eine provozierte Aktion von Mikhail Saakaschwili zu berücksichtigen ist zeigte Russland seine militärischen Muskeln und machte klar, dass es zu militärischen Eingriffen in seinen Nachbarschaftsräumen willens und fähig war. Dass das
NATO-Beitrittsgesuch Georgiens auf dem Bukarester Gipfel zuvor auf die lange Bank
geschoben wurde, nahmen jetzt viele im Westen erleichtert zur Kenntnis. Wenn die
NATO wegen eines georgischen Heißsporns Artikel 5 hätte aktivieren müssen, hätte
das Bündnis eine Existenzkrise ohnegleichen erlebt, und die NATO hätte erheblichen Schaden als glaubwürdiges Verteidigungsbündnis erlitten.
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Das Angebot der EU an Russland zur Modernisierungspartnerschaft war verbindlich
und weitreichend, die deutsche Russland-Politik sollte europäisiert werden, aber
der Partnerschaft wurden schnell die Grenzen aufgezeigt. Von den EU-RusslandGipfeln ging kein positives Signal mehr aus. Die russische Seite war darüber enttäuscht, dass es keine Fortschritte bei der Visa-Liberalisierung gab, fühlte sich
durch die transformative Kraft der EU in seiner Stabilität bedroht und warf dem
Westen insgesamt vor, eine anti-russische Expansionspolitik in Osteuropa zu betreiben und russische Interessen im Nahen Osten grundsätzlich zu ignorieren. Die
anti-westliche Politik und Rhetorik Russlands verfestigten sich, die Syrien- und
Libyen-Krisen, der Dissens zur Legitimität von Assad und zum Eingreifen in Libyen
gaben dieser anti-westlichen Ausrichtung neue Nahrung.
Gezeitenwende durch Ukraine-Krise
Mit der russischen Annexion der Krim und der nur oberflächlich kaschierten militärischen Intervention in der Ostukraine stellte Russland die europäische Nachkriegsordnung vollends in Frage. Das Jahr 2014 läutete eine Gezeitenwende in der europäischen Sicherheitspolitik ein.
Russland verstärkte den Gegendruck zur östlichen Partnerschaft der EU und setzte
militärische, wirtschaftliche, finanzielle, handelspolitische und diplomatische Mittel ein, um die politische Spitze souveräner Staaten auf Kreml-Linie zu halten. Das
Schmieden von Gegenallianzen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion, wie der Vertragsorganisation zur kollektiven Sicherheit (englisch: CSTO) oder des Shanghai
Cooperation Council nahm an Fahrt auf.
Heute ist festzustellen, dass die europäisch-russischen Beziehungen auf einem Tiefpunkt angelangt sind. Auf beiden Seiten herrscht ein kolossaler Vertrauensverlust,
Brüssel griff zu Sanktionen und verfolgt eine Politik des no business as usual. Die
Gipfeltreffen sind ausgesetzt, der Visa-Dialog ist suspendiert, und die Gespräche
über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen sind gestoppt. Brüssel
ist desillusioniert über Russland, am „Wording“ der europäisch-russischen Beziehungen wird dies deutlich: Früher sprach man von strategischer Partnerschaft, dann
wurde Russland nicht länger als strategischer Partner, sondern als Land von strategischer Bedeutung eingestuft, heute basieren die Beziehungen, wie es der EUAußenministerrat im März 2016 formulierte, auf fünf Prinzipien:
1. Es wird die volle Umsetzung der Minsk-Abkommen erwartet sowie ein
erkennbarer politischer Wille zum konstruktiven Krisenmanagement.
2. Die EU steht zu ihrem Angebot, die Beziehungen zu den Ländern in Osteuropa zu vertiefen, und hat im Rahmen der östlichen Partnerschaft und der
neuen Zentralasienstrategie länderspezifische Programme aufgelegt, die sich
eng an der Erwartungshaltung der jeweiligen Länder orientieren. [Anmerkung: Das Finanzvolumen mag nicht immer der Erwartungshaltung
entsprechen, und andere Taschen, zum Beispiel chinesische, sind praller
gefüllt. Doch die EU ist ein nachgefragter Modernisierungspartner].
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3. Die EU will ihre Abhängigkeit von außen verringern, eigene Potentiale entwickeln und zu eigener Stärke finden, in der Energiesicherheit genauso wie im
Informations- und Kommunikationstechnologie-Sektor und der strategischen
Kommunikation.
4. Die EU bekräftigt ihre Politik der selektiven Kooperation mit Russland insbesondere zu außenpolitischen Themen wie Syrien und Naher Osten, Migration,
Terrorismusbekämpfung und Klimawandel. Diese Kooperationsbereitschaft
gilt grundsätzlich für alle Politikfelder, in denen die EU ein Eigeninteresse
feststellt.
5. Besondere Zielgruppe der EU-Russland-Beziehungen sind Vertreter der
Zivilgesellschaft, Bürgerkontakte, sogenannte people-to-people-Kontakte,
also Austauschformate für Schüler, Studenten, Journalisten, Kommunalpartnerschaften usw. Im Mittelpunkt dieses Dialogansatzes steht die Jugend. Die
EU will die jüngere Generation ansprechen und mit solchen Programmen
eine Investition in die Zukunft tätigen.
NATO-Strategie der Stärke und des Dialogs
Interessant ist auch ein Blick auf die NATO, die eine Doppelstrategie der eigenen
Stärke und der Dialogbereitschaft verfolgt. Der Schwerpunkt liegt vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Sorgen der osteuropäischen NATO-Mitglieder auf
Containment und Deterrence, d.h. angestrebt wird eine verstärkte sicherheitspolitische Präsenz in Mittelosteuropa, ohne aber die Grundsätze der NATO-Russland-Akte
in Frage zu stellen. Es handelt sich um rotierende Verbände, nicht um permanente
Truppen. Zur NATO-Verteidigungsstrategie gehört auch das Festhalten an den Raketenabwehrplänen, wie die Inbetriebnahme der ersten Systeme in Rumänien zeigte.
Die NATO hält an ihrer Politik der offenen Tür fest, sofern Beitrittskandidaten wie
Montenegro die notwendigen Kriterien erfüllen. Es gibt kein Veto-Recht für dritte
Staaten, die Entscheidung souveräner Regierungen zu unterlaufen. Dass bei allem
Dissens zwischen der NATO und Russland der NATO-Russland-Rat wieder zusammenkommt, ist ein gutes Zeichen. Zumindest Dialogkanäle werden wieder genutzt,
auch wenn man bei den Positionen noch weit auseinander ist.
Schwerwiegende Differenzen mit Russland
Russlands politische Ziele sind schwer in Einklang zu bringen mit den Prinzipien
einer globalen Ordnungspolitik, an denen die Soft Power EU, die Hard Power USA
und die westliche Staatengemeinschaft insgesamt ihr internationales Handeln ausrichten.
Russlands Drang nach einer Weltmachtrolle, so nachvollziehbar er ist aus der
Geschichte des Zarenreichs und der Sowjetunion, muss begleitet werden von ökonomischer, militärischer, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Power. Verfügt Russland über ein attraktives Gesellschaftsmodell? Kann sich die Wirtschaft im
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globalen Wettbewerb behaupten? Ist Russland im demographischen Aufschwung
oder mit einer alternden und geringer werdenden Bevölkerung konfrontiert? Ist
Russland insgesamt eine Emerging Power oder eine Declining Power? Wer Weltmacht sein will, muss die inneren Voraussetzungen dafür mitbringen. Nur der Wille
dazu und ein Sitz im UN-Sicherheitsrat sind zu wenig, und es reicht auch nicht, mit
anderen Mächten in der Ablehnung des Handlungsprimats der USA übereinzustimmen.
Russlands Bestreben, sich eine eigene Einfluss- und Interessensphäre in Osteuropa
aufzubauen und zu bewahren, steht im Widerspruch zu den politischen Realitäten
nach dem Ende des Kalten Krieges und nach dem Zerfall der europäischen Nachkriegsordnung mit dem Eisernen Vorhang als Trennlinie in Europa. Europa besteht
heute aus souveränen Staaten, die Breschnew-Doktrin gilt nicht mehr. In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts sind die Kategorien von Vernetzung und Verflechtung entscheidende Faktoren, nicht mehr das Denken in abgetrennten Räumen,
geopolitischem Machtvakuum und Pufferzonen. Dies ist veraltetes Denken aus dem
19. Jahrhundert, die Welt heute sieht anders aus, wenn auch noch nicht für alle im
Kreml.
Das Aufbegehren Russlands gegen ein Interventionsmonopol des Westens blendet
aus, dass das Völkerrecht einem Wandel unterliegt. Responsibility to Protect
ergänzt heute das Prinzip der staatlichen Souveränität, das Verbot der Nichteinmischung in innerstaatliche Ordnungen gilt nicht uneingeschränkt. Wenn ein Regime
elementare Prinzipien guter Regierungsführung verletzt, will und darf die Weltgemeinschaft nicht teilnahmslos wegschauen. Das schuldet man den betroffenen Menschen, und die destabilisierenden Konsequenzen aus solch einer politischen Lage
werden über das Land hinausgreifen. Es ist falsch, wenn Russland aus dieser globalen Verantwortungsethik ein Interventionsmonopol des Westens ableitet.
Die Unterbindung externer Einflüsse auf die russische Politik läuft Gefahr, obsessiv
zu werden und die über die russischen Medien transportierte West-Phobie als
Repressionsinstrument nach innen zu missbrauchen. Wer international vernetzte
NGOs als ausländische Agenten und unerwünschte Organisationen brandmarkt,
verlässt den demokratischen Boden des staatlichen Kontroll- und Aufsichtsrechts.
Mit solch drastischen Eingriffsmaßnahmen hindert man eine Gesellschaft an der
Entfaltung ihrer Kreativpotentiale, woran niemand ein Interesse haben sollte, schon
gar nicht, wenn man diese Kreativkräfte auch für die wirtschaftliche Entwicklung
nutzen will, um die lähmende Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu überwinden.
Das politische Oberziel des Kreml, Stabilität in Russland und in den autokratisch
regierten Staaten der Nachbarregionen zu gewährleisten, darf nicht zum Selbstzweck werden. Die Balance zwischen Stabilität, Modernisierung und Entwicklung,
demokratischer Reifung und einer politischen Kultur, die sich an den Rechten des
Einzelnen orientiert und nicht an einem mythisch überhöhten kollektivem Staatsinteresse ist in der Praxis und mit Blick auf das komplexe Transformationserbe schwer
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zu finden. Man muss Entwicklung ermöglichen, ohne Stabilität aufzugeben, Freiheit
zugestehen, ohne dass das Gemeinwesen zerfällt – daran wird sich gutes Regierungshandeln in Osteuropa und Zentralasien messen lassen müssen. In einer von
Vereinzelung geprägten Gesellschaft wie der russischen, in der staatlich oktroyierter Kollektivismus umschlug in individuelle Überlebenskämpfe oder in einen Kampf
eines jeden gegen einen jeden, wie Thomas Hobbes es früher formulierte, ist zwischen Stabilitätsinteresse und autoritärem Herrschaftsmodell ein schmaler Grat.
Thomas Hobbes sprach von einem Leviathan, der den Kampf aller gegen alle befrieden müsse. In diesem Kontext mag man sich an den kürzlich produzierten russischen Film Leviathan erinnern, der in bestürzender Weise vor Augen führte, wozu
Macht und Machtlosigkeit in Russland führen können. Macht braucht Kontrolle, das
ist die große Lehre aus der westlichen Staatstradition.
Der nationalkonservative Konsens in Russland ist ein Grundmuster der politischen
Entwicklung Russlands in den letzten Jahren. Er umfasst alle Gesellschaftskreise
und kann grundsätzlich die Idee der russischen Staatlichkeit neu begründen. Die
Elemente dieses patriotischen Konsenses sollten jedoch nicht als Antagonismus zum
Westen vermittelt werden. Europa durchläuft einen Wertewandel, zum Wesen einer
liberalen Demokratie gehören nicht nur verfassungstheoretische Sicherungen im
Sinne von Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle, sondern auch immer wieder neu
zu definierende gesellschaftspolitische Grundrechte insbesondere für Minderheiten.
Die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche
Paare mögen nicht den Wertvorstellungen vieler Politiker entsprechen, und sie werden sicherlich auch keinen Beitrag zur Lösung der demographischen Krise leisten.
Aber in einer sich wandelnden Gesellschaft werden diese Rechte eingefordert, ohne
dass damit der Untergang des Abendlandes verbunden ist, und ohne dass man diese
gesellschaftliche Diversifizierung als westliche Dekadenz verunglimpfen muss. Die
liberale Demokratie ist eine wehrhafte und tolerante Demokratie. Einer der größten
europäischen Werte lautet Rechtsstaatlichkeit, die Europäische Union ist eine
Gemeinschaft der Freiheit und des Rechts. Das Rechtsstaatprinzip in Europa ist ein
globaler Leuchtturm. Russlands Patriotismus sollte nicht auf anti-westlicher Propaganda beruhen. Die Popularitätsrate von Präsident Putin ist hoch, und viele im
Westen beneiden den russischen Präsidenten darum. Der darin zum Ausdruck kommende Wille der Bürger Russland ist zu respektieren, aber Russland darf sich in diesem „Präsidenten-Hype“ nicht auf einen anti-westlichen Kurs der Selbstisolation
begeben. Russland ist Europa. Auf der Grundlage gemeinsamer politischer Werte ist
Russland auch Mitglied im Europa-Rat. Man sollte also nicht Wertedifferenzen konstruieren, wo normativ verbindliche Dokumente zusammenführen können.
Für die Wahrnehmung auf russischer Seite, aus Europa zurückgedrängt und weltpolitisch ignoriert zu werden, lassen sich einige bedenkenswerte Argumente ins Feld
führen. Unter umgekehrten Vorzeichen läuft die Diskussion im Westen unter der
Überschrift Verpasste Chancen und inwieweit die anti-westliche russische Politik
heute die erwartbare Reaktion auf bestimmte Entscheidungen in Washington und
Brüssel war und ist: An der NATO-Erweiterung wurde festgehalten, obwohl die rus5
sische Seite sich im Glauben wiegte, anderslautende westliche Versprechen gehört
zu haben. Das russische Misstrauen gegen die US-Politik erhielt durch die Kündigung des ABM-Vertrages 2002 neuen Auftrieb, nachdem man zuvor noch die USgeführte internationale Koalition im Kampf gegen den Terrorismus begrüßte und
Präsident Wladimir Putin unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 eine bemerkenswerte Rede im Deutschen Bundestag hielt. Die Nichtratifizierung des KSE-Vertrages verstärkte die Zweifel an der westlichen Kooperationsbereitschaft. Die fehlenden Ergebnisse im Visa-Dialog mit der EU wurden in Moskau
ebenso bitterlich beklagt wie die ausbleibende Verständigung auf einen Krisenreaktionsmechanismus mit der NATO.
Diese Enttäuschungen, Desillusionierungen und nicht erzielten Durchbrüche in den
westlich-russischen Beziehungen mögen die aktuelle Eiszeit erklären, sie sind
jedoch keineswegs eine Entschuldigung für die Anwendung von Gewalt durch Russland zur Veränderung territorialer Grenzen in Europa.
Schlechte Perspektiven und Grenzen des Dialogs
Die Perspektiven der europäisch-russischen Beziehungen sind eher düster. Im
besten Fall ist die Talsohle durchschritten, im schlechtesten Fall stehen weitere
Erschütterungen, diplomatische Eiszeiten, politische Spannungsmomente und militärische Konfliktfälle ins Haus. Die nächsten Jahre werden davon geprägt sein, eine
Stabilisierung auf niedrigem Niveau zu erreichen. Der kürzliche G-7-Gipfel in Japan
spiegelte den internationalen Konsens in der Russland-Frage wieder. Russland hat
sich als globale Ordnungsmacht aus dem Kreis der führenden Industrienationen
verabschiedet. Die Sanktionen bleiben in Kraft und werden im Lichte des Krisenmanagements im Donbass beurteilt.
Der Westen insgesamt und die EU im Besonderen sind trotz aller Differenzen und
düsterer Perspektiven an einer Fortsetzung des Dialogs interessiert. Die jetzt anstehende Petersburg-Reise des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zum
Wirtschaftsforum unterstreicht dies. Es ist ein vorsichtiges Signal, das man nicht
propagandistisch ausschlachten sollte. Noch bestens im Gedächtnis sind die Bilder
des Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser mit Präsident Putin aus dem März
2014. Mit solchen Instrumentalisierungen tut sich die russische Seite keinen Gefallen, die öffentliche Meinung in Europa mahnt eine gewisse Distanz zur politischen Führung im Kreml an, und dies sollte man in der gesteuerten medialen Darstellung auch berücksichtigen.
Kooperationsmöglichkeiten in den Beziehungen zu Russland ergeben sich bei der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus und bei der Zusammenarbeit im internationalen Krisenmanagement wie der Syrien-Konferenz und beim Iran-Abkommen.
Gerade das Iran-Abkommen zeigte, dass Russland auch über den Schatten eng definierter eigener Interessen springen und eine sehr konstruktive Rolle bei der Lösung
internationaler Konflikte übernehmen kann.
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Auch die sektorale Kooperation vor dem Hintergrund innerrussischer Entwicklungsdefizite in Bereichen wie Energieeffizienz und im Gesundheitsmanagement sollte
man nicht aus den Augen verlieren. Kommunalpartnerschaften, Verbandstreffen und
Unternehmensmessen sind wichtige Instrumente dieser Zusammenarbeit.
Gemeinsame Herausforderungen wie demographischer Wandel, internationale Klimaschutz-Abkommen, Migration, Integration und home grown Terrorismus zwingen
Europa und Russland zur gemeinsamen strategischen Analyse. Es gibt bei diesen
Fragen keine nationalen Lösungswege, daher sollten gemeinsame Gesprächskreise
angesetzt werden, in denen auch die Offenheit herrscht, von den Erfahrungen der
anderen Seite zu lernen.
Bei aller einzufordernden Dialogbereitschaft und trotz offensichtlicher Kooperationspotentiale darf nicht ausgeblendet werden: Die Verhängung der Sanktionen war
notwendig und richtig. Sanktionen sind eine politische Antwort, wenn man militärisch nicht reagieren kann und will. Die Sanktionen verhinderten ein Ausgreifen der
Ukraine-Krise über den Donbass hinaus, sie wirkten also in gewisser Weise abschreckend und deeskalierend. Und die Sanktionen brachten die Geschlossenheit
des Westens zum Ausdruck, die USA und die EU rückten zusammen, die NATO ist
wiederbelebt, und viele Beobachter nehmen dies zum Anlass, von einer Renaissance
des Westens zu sprechen. In den Sanktionen spricht Europa mit einer Stimme, und
das gibt der europäischen Russland-Politik und damit der europäischen Außenpolitik insgesamt erhebliches Gewicht. Die Sanktionen unterliegen einem regelmäßigen
Evaluierungsprozess, ihr Ziel ist es nicht, ein Land oder ein Regime in die Knie zu
zwingen und vor allem: Sanktionen bedeuten nicht, dass Handel mit Russland verboten ist. Oftmals hat man im Westen den Eindruck, dass Russland unter Quarantäne steht und dass der Westen ein Wirtschaftsembargo verhängt hat. Dies ist aber
nicht der Fall.
EU-Agenda ohne Russland
Zu den Differenzen in der internationalen Ordnungspolitik kommt erschwerend
hinzu, dass die EU-Russland-Beziehungen beidseitig keine Priorität aufweisen. Auf
der europäischen Agenda stehen die Stabilisierung der Eurozone mit der Durchsetzung der Stabilitätskriterien und der Schaffung einer Banken-Union weit oben. Die
Griechenland-Krise beherrscht zwar nicht mehr täglich die Schlagzeilen, aber gelöst
ist sie keineswegs. Die Reformergebnisse unter Alexis Tsipras sind unbefriedigend.
In der Flüchtlingskrise hat die EU kurzfristig einen Rückgang der Flüchtlingszahlen
zu verzeichnen, dies ist auf die Schließung der Westbalkan-Route und das TürkeiAbkommen zurückzuführen. Die kurzfristige Entspannung kann schnell vorbei sein,
teilweise ist sie es auch schon, die Flüchtlingszahlen über die Mittelmeerroute steigen wieder. In Libyen, so die Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik
Federica Mogherini jüngst in einem Schreiben an die EU-Mitgliedsstaaten, suchen
gut eine halbe Million Menschen Fluchtmöglichkeiten nach Europa. Die Instabilitäten in der europäischen Nachbarschaft, die Bevölkerungsentwicklung in Afrika und
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die nicht zuletzt mit Klimawandel, Wirtschaftsschwäche und bad governance verbundenen strukturellen Fluchtursachen werden jedenfalls für anhaltenden Migrationsdruck sorgen und Europa intensiv beschäftigen.
Dringender europäischer Handlungsbedarf besteht in der Terrorbekämpfung. Die
erschütternden Terroranschläge in Paris vom November 2015 und in Brüssel vom
März 2016 offenbarten die Defizite bei der Zusammenarbeit nationaler Geheimdienste. Daraus muss Brüssel die richtigen Schlüsse ziehen, indem die Kooperation
zwischen nationalen Sicherheitsinstitutionen im Rahmen von Europol intensiviert
wird.
Zu allem Überfluss droht neben dieser Fülle an parallelen Krisen auch noch der
Brexit. Das Referendum am 23.6. wird knapp ausgehen und bei einer Leave-Mehrheit unübersichtliche Konsequenzen für die Zukunft der europäischen Integration
mit sich bringen. Die EU wird ohne das Vereinigte Königreich nach innen und außen
geschwächt dastehen, die ohnehin schon starken anti-europäischen Fliehkräfte
werden europaweit zunehmen und gemeinsames europäisches Handeln noch weiter
erschweren.
Das sind die großen Themen europäischer Politik. Daneben geht es um viele andere
Politikfelder der Binnenmarktpolitik, auf denen die politische und gesellschaftliche
Erwartung an eine Überwindung bestehender Fragmentierungen sehr hoch ist. Kapitalmarktunion, Energieunion, Bankenunion, digitale Union lauten die Stichwörter
hierfür. Es ist keineswegs eine reine innenpolitische Agenda, Inward Looking prägte
die Jahre der institutionellen Krise nach den gescheiterten EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden und während des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages. Heute verfolgt die EU eine ambitionierte innen- und außenpolitische
Agenda, aber Russland findet sich darin kaum, und wenn, dann bei der Debatte über
Sanktionen und Konflikte im Donbass. Das grundsätzliche Infragestellen der europäischen Nachkriegsordnung durch Russland begrenzt die Dialogperspektiven.
Russland hat den normativen Grundkonsens der Nichtgewaltanwendung in Europa
gebrochen und Kerndokumente der europäischen Sicherheitsarchitektur verletzt wie
die KSZE-Akte von 1975, den 2+4 Vertrag von 1990, die Charta von Paris von 1990,
diverse Abrüstungsverträge, den Vertrag von Budapest 1994 sowie die NATO-Russland-Grundakte von 1997. Gradmesser der künftigen Beziehungen wird das Konfliktmanagement im Donbass sein. Sanktionspolitisch getrennt, aber atmosphärisch
ineinandergreifend ist die Krim-Frage. Die EU wird in ihrer Haltung zur russischen
Annexion der Krim strategische Geduld zeigen und keine Kompromisse eingehen,
die nicht mit Kiew abgestimmt sind. Solange die Krim-Frage zu den Essentials der
Beziehungen gehört, wird es keinen Neu-Start geben. Wie verhärtet die Fronten
sind, zeigt sich schon darin, dass selbst im Westen sehr geschätzte Persönlichkeiten
wie Mikhail Gorbatschow und Mikhail Chodorkowskij die Einverleibung der Krim
rechtfertigen und sich damit eindeutig gegen die internationale Meinung
positionieren.
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Russland ist ein strategisch wichtiger, doch schwieriger Partner, der keinen besonderen Hang zu Selbstkritik und Selbstreflexion erkennen lässt. Man muss nicht den
militärstrategischen Falken im Westen auf den Leim gehen, um Russland heute wieder als sicherheitspolitische Bedrohung in Osteuropa einzustufen. Der historische
Diskurs, ob die Rote Armee eine Armee der Befreiung oder der Unterdrückung war,
feiert heute fröhliche Urstände. Dieser Befreiungs- oder Unterdrückungsnarrativ
wird von Russland und den Ländern in Mittelosteuropa kontrovers beantwortet. In
diesem psychologischen Kontext muss man die sicherheitspolitischen Sorgen der
östlichen NATO-Partner ernst nehmen, unabhängig von realen Bedrohungen und
russischen Beteuerungen, dass der territoriale Appetit mit der Krim gestillt sei.
Zugleich muss man sich aber davor hüten, Russland zu dämonisieren und alte
Feindbilder wiederzubeleben. Dazu verbindet Russland und Europa viel zu viel,
historisch, politisch, kulturell, wirtschaftlich. Diese Brücken auch in schwierigen
Zeiten nicht abzureißen, sondern sie für politische Entscheidungsträger begehbar zu
halten, ist eine Aufgabe nicht zuletzt der politischen Stiftungen.
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