K arl-Heinz Darw eger: K riegskind

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Inhalt
Kampf um ein wenig Glück
Lauf ums Leben …………………...
Der Gefreite aus Königstädt ……….
Eine strahlende Zukunft ? ………….
Die Siedler ………………………....
Der „Kompromiss“ ………………...
Das Haus im Grünen ……………....
Ein Scharfschütze ……………….....
Siedlungskinder ................................
Paradies im Krieg .............................
Postkarten aus Paris ..........................
Zirkusartisten und Höhlenbauer .......
Alarm ! .............................................
Feuerzauber ......................................
Marschieren für Hitler ......................
Die Gefangenen ................................
Walter muss gehen ...........................
Der Skandal ......................................
Vater steht im Westen ......................
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Trügerischer Friede in Ostpreußen
In friedliches Land ...........................
Das Große Moosbruch .....................
Die Schleuse .....................................
Aal mit Streuselkuchen ....................
Der Großvater ...................................
Der Hof .............................................
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Dorfschulkinder ...............................
Stinte ................................................
Torf ..................................................
Der Elch ...........................................
Tante Mieze .....................................
Stricken und Weben ........................
Abschied ..........................................
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Der Untergang von Berlin
Die Russen kommen ! .....................
Leben hinter Betonmauern ..............
Eroberer ohne Gnade .......................
Heimkehr mit Grauen ......................
Cowboy bei den Russen ..................
Plündern und Überleben ..................
Du Dochta ! .....................................
Kampf ums tägliche Brot ................
Die neue Schule ...............................
Der Kaninchenmörder .....................
Spiele mit dem Tod .........................
Hamsterfahrten ................................
Vater ist da ! ....................................
Wiesenkämpfe .................................
Die gestohlene Bibel .......................
Hinter dem Ladentisch ....................
Der Aufstand ...................................
Kameradschaft ................................
Ein Ziel ! .........................................
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Lauf ums Leben
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ie Bomben fallen vom blauen Himmel,
abgeworfen von Hunderten von Flugzeugen. Rechts und links von uns versinken sie mit
einem klatschenden Laut in der überschwemmten Wiese. Dann erzittert der Boden unter gewaltigen Explosionen. Fontänen nasser Erde erheben sich und die Brocken regnen wieder herab.
Zurück bleiben tiefe Krater.
Mutter läuft, schwer bepackt mit zwei Einkaufstaschen und einem Rucksack die Bahngleise entlang. Der Schweiß rinnt ihr über das Gesicht. Es
ist ein heißer Sommer, der Sommer 1944. Ich
haste hinter ihr her. Als Achtjähriger habe ich an
einer dicken Tasche eine viel zu schwere Last zu
tragen. Aber wir können schon den rettenden
grauen Beton sehen, den Hochbunker, der dicht
am Schienenstrang liegt. Wieder fällt eine Serie
von Bomben. Noch treffen sie nicht ihr eigentliches Ziel, die Kreuzung der Eisenbahnlinien im
Norden von Berlin.
Wir nutzen eine Pause zwischen den Wellen der
angreifenden Flugzeuge, um kurz stehen zu bleiben. Der wilde Lauf hat uns kaum noch Luft gelassen. Da entdecke ich unter uns den Durchlass
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eines Grabens, der quer zur Bahn den Damm unterläuft. Es ist eine solide Betonröhre, fast zwei
Meter im Durchmesser. Ich habe eine Idee.
“Komm, wir kriechen in die Röhre, da sind wir
wenigstens vor den Splittern sicher“. Mutter
schüttelt den Kopf. “Weiter!“ Eben haben wir die
Bunkertür erreicht, da fallen die Bomben der
nächsten Flugzeugstaffel in die Wiesen. Uns erreichen sie nicht mehr. Wir sind in Sicherheit.
Als wir nach dem Angriff den Weg wieder zurückgehen, durchqueren wir ein Feld von Kratern, die sich langsam mit Grundwasser füllen.
Die Piloten haben schlecht gezielt. Keine Bombe
hat die Gleise getroffen. Doch an der Stelle, wo
der Wassergraben in die Betonröhre mündet, ist
eine Luftmine niedergegangen. Dort bildet sich
ein kleiner See.
Hätten wir an dieser Stelle Schutz gesucht - wir
wären wie Geschosse aus einem Kanonenrohr in
die Wiesen geschleudert worden - zerfetzt. Meine Mutter steht stumm vor dem gewaltigen Loch.
Ich fühle mich, als hätte eine harte Hand nach
mir gegriffen, aber wieder losgelassen.
Als Vater noch nicht Soldat war, hat er manchmal zu mir gesagt: „Du bist der letzte unserer
Familie. Sieh zu, dass du einmal viele Kinder
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hast, damit unser Name nicht ausstirbt.“ Nach
dem letzten Bombenangriff ist mir klar: wenn ich
jetzt umgekommen wäre, gäbe es in Berlin keine
Familie Darweger mehr.
Der Gefreite aus Königstädt
Die ältesten Wurzeln der Familie mit dem seltsamen Namen liegen verloren in der Zeit.
Das erste erkennbare Zeichen des Stammes versteckt sich im Namen selbst. Der Urahn muss ein
„Doorwächer“ gewesen sein, ein Torwächter.
Seine Nachkommen tauchen in der Mark Brandenburg auf, wo man dieses eigentümliche Platt
sprach. Im kleinen Dorf Bork in der Nähe von
Kyritz leben heute noch Darweger. In unsicheren
Zeiten, während des dreißigjährigen Krieges, war
es von großem Nutzen, wenn einer der Bauern
am Tor der Ortschaft verhinderte, dass Fremde in
den Ort kamen. So ein Wachtposten war der
erste Darweger.
Er muss auch ein Landmann gewesen sein. Der
früheste Nachweis des Familiennamens liegt aus
dem Jahre 1727 vor – von einem Bauern. Da
wird in Bork ein Kind mit dem Namen Hans
Caspar Darweger geboren. Dieser junge Mann
wird am 8. Juni 1751 mit Ilsabe Toppel getraut.
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Er stirbt am 7. Januar 1781. Er hat einen Sohn
mit Namen Joachim Balthasar. Dieser wird Ahnherr weiterer Darweger. Die Liebe zu einem Unbekannten ist schuld daran, dass am 16. Februar
1847 um 9 Uhr früh in Wutike Johann Friedrich
Darweger auf die Welt kommt – unehelich. Die
Mutter, Friederike Darweger, heiratet später. Der
Ehemann, ein Herr Puls, erkennt das Kind nicht
an. Es war nicht sein Fleisch und Blut. Hätte er
sein Kind anerkannt, hießen alle Darweger mit
Nachnamen Puls – ein merkwürdiger Gedanke.
Überspringen wir einige tüchtige Menschen, die
diesen Namen trugen. Gehen wir nach Preußen,
in die Stadt Neu Ruppin. Da tritt am 13. Oktober
1898 beim Infanterie-Regiment Großherzog
Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin
ein Arbeiter als Rekrut an: Karl Friedrich
Wilhelm Darweger. Er kommt aus Königstädt. In
der 6. Kompanie wird er zwei Jahre lang gedrillt.
Er bringt es bis zum Rang eines Gefreiten. Am
23. September 1900 kann er wieder nach
Königstädt zurückfahren. Sein Führungszeugnis
bescheinigt ihm, dass er sich keinerlei Disziplinarstrafen eingehandelt hat. Als Gesamtnote
bekommt er ein „recht gut“. Bis zum Weltkrieg
wird man seine Dienste als Krieger nicht mehr
brauchen.
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Doch jetzt zieht es ihn in die Großstadt Berlin.
Von seiner Mutter Emilie Auguste nimmt er
Abschied und findet in der Metropole tatsächlich
einen Arbeitsplatz. Er wird städtischer Angestellter, er arbeitet als Straßenfeger. In den Schriftsätzen der Behörden taucht er erst wieder im Jahre 1902 auf. Da wohnt er in der Arndtstraße 30
und will die Plätterin Anna Auguste Brusch aus
der Stralauer Straße 12 heiraten. Am 13. Oktober
1902 schließen die beiden die Ehe, vor dem
Standesbeamten bezeugt vom “Büdner“ Ferdinand Schwabe und dem Droschkenkutscher Wilhelm Zahnke.
Am 12. August 1903 bekommen die beiden in
der Senefelder Straße 4 in Berlin ein Kind: Walter Karl Hermann Darweger. Es ist eine Hausgeburt, wie bei allen armen Leuten. Nachts um
1 Uhr 45 Minuten erblickt der schreiende kleine
Walter das Licht einer blakenden Petroleumfunzel. Alte Fotos zeigen, dass die kleine Familie
weiter wächst: Auf den ältesten Sohn folgen
zwei Schwestern, Gertrud und Charlotte. Später
kommt noch ein Sohn Erwin dazu. Man zieht in
eine größere Wohnung in der Mietskaserne
Oderberger Straße 27.
Als Walter knapp 11 Jahre alt ist, am 31. Juli
1914, erklärt Kaiser Wilhelm II. Russland und
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Frankreich den Krieg. Der Schüler ahnt nicht,
dass diese Entscheidung ihm den Vater nehmen
wird. Im folgenden Jahr werden in Berlin Brotkarten ausgegeben. Für die Familie beginnen
Hungerjahre.
Als Karl Friedrich Wilhelm Darweger an die
Front muss, schlägt sich seine Frau mühsam mit
ihren Kindern durch. Besonders schwer ist es im
August 1917. Da gibt es in Berlin Unruhen und
sogar Massenstreiks gegen Hunger und Krieg.
Im gleichen Jahr wird aus dem 14jährigen Schüler Walter ein Konfirmand, später ein Buchdruckerlehrling. Der Straßenfeger Karl steht als Sanitäter in Frankreich. Mit Gruseln betrachten seine Frau und die Kinder daheim ein Foto, das er
aus dem Westen geschickt hat: Gräber gefallener
Deutscher und Franzosen in Anizy le Chateau
am Aisne-Kanal bei Reims. Dann erwischt es
den Sanitäter selbst.
Schwer verwundet bringt man ihn in ein Lazarett
nach Berlin zurück. Zu seinen Verletzungen
kommt eine Grippe, dann eine Lungenentzündung, dann das Ende. Am 2. November 1918
stirbt er für „König, Volk und Vaterland“ im Alter von 41 Jahren. Seiner Witwe schickt die
Oberste Heeresleitung ein Eisernes Kreuz zwei-
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ter Klasse. Auf dem Friedhof am Columbiadamm, Abtg. K1, Reihe 15, Grab Nr. 39 kann
sie jetzt um den Vater ihrer Kinder trauern.
Sieben Tage nach Karls Tod dankt der Kaiser ab.
Er geht nach Holland in den Ruhestand. Am
gleichen Tag wird die Deutsche Republik ausgerufen. Aber wie sieht es in dem neuen Deutschen
Staat aus? Die Zeiten sind hart, es fehlt an Nahrung. In der Familie Darweger isst man sogar
Runkelrüben aus der früheren Heimat des Vaters,
aus Königstädt. Lebte dort nicht die Großmutter
der Kinder, könnte man in der tristen Arbeiterwohnung fast verhungern.
Die Kriegerwitwe bekommt eine kleine Rente,
aber die reicht nur zum Überleben. Auf den Straßen der Stadt gibt es Feuergefechte zwischen politischen Gruppierungen. Jugendliche treiben
sich herum. Sie versuchen, ihren Familien mit
Diebstählen und Einbrüchen über die schlechte
Zeit hinwegzuhelfen.
Doch Walter macht seiner Mutter Freude. Er besteht 1921 im Alter von 18 Jahren seine Gesellenprüfung als Buchdrucker. Er tritt dem Berliner
Ruderverein „Freiheit“ und dem Wanderverein
„Lustige Brüder“ bei, kümmert sich auch darum,
dass seine Schwestern und sein kleiner Bruder
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als ordentliche junge Leute aufwachsen. 1923 ist
Walter Millionär, sogar Milliardär. Das Geld, das
er verdient, ist nichts wert. Während der Inflation
erhält er täglich den Gegenwert von ein paar
Brötchen. Am 15. November kostet ein Pfund
Brot 80 Milliarden Mark. Wenige Tage später
bekommt Walter wieder Geld, mit dem man etwas kaufen kann: Rentenmark.
Im folgenden Jahr pilgern die Berliner neugierig
zur ersten Funkausstellung. Aus dem VOX-Haus
in der Potsdamer Straße kann man die laufenden
Rundfunksendungen empfangen. Walter wird
zum glühenden Anhänger der Funkerei. Er bastelt sich einen Detektorapparat, ein Kästchen, das
die Radiosignale aus einer Hochantenne über
einen Kristall in hörbare Schallwellen umwandeln kann. Diesen Tönen lauscht man mit einem
Kopfhörer, der mehr krächzt als klingt.
1927 heiratet Walter Darweger Hildegard Harrer.
Obwohl in Berlin die Zahl der Arbeitslosen
steigt, behält er seinen Arbeitsplatz. Mit erspartem Geld kauft er sich ein gebrauchtes Segelboot. 1930 wird er Vater einer kleinen Gisela.
Das Glück könnte vollkommen sein, doch die
Ehe läuft aus dem Gleis. Der jungen Mutter ist
die neue Rolle zu langweilig. Sie geht oft aus –
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allein. Walter sitzt statt zu Hause im neumodischen „Kintopp“ und sieht sich Filme an. Man
hat sich nichts mehr zu sagen. Hilde Darweger
legt sich einen Liebhaber zu. Walter kommt dahinter. 1932 ist er wieder geschieden.
Eine strahlende Zukunft ?
Im nächsten Jahr ist in Berlin der Teufel los. Im
Januar verhilft Reichspräsident Hindenburg Hitler zur Macht. Im Februar brennt der Reichstag,
anschließend beginnt ein beispielloser Terror der
Nationalsozialisten gegen politische Gegner und
Juden. Walter Darweger begegnet abseits der
Hassaktionen in Nowawes, dem späteren Babelsberg, einer netten Verkäuferin vom Buttergeschäft Bruno Freche. Er verliebt sich erneut und
stößt auf Gegenliebe. Zwar sind die Zeiten turbulent; man beobachtet, wie die Nazis Juden verfolgen, Bücher verbrennen, missliebige Politiker
in das erste KZ in Oranienburg sperren. Dem
jungen Glück ist das alles nicht wichtig. 1935
heiraten die beiden. Gemeinsam schmieden sie
die kühnsten Pläne. Jetzt kann endlich alles gut
werden. Was macht es aus, dass die Nazis inzwischen ihre Macht uneingeschränkt auskosten?
Die Wirtschaft blüht, wer Arbeit sucht, bekommt
sie. Für das nächste Jahr sind in Berlin die inter-
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nationalen Olympischen Spiele geplant. Die Welt
ist eingeladen, in der Reichshauptstadt ein frohes
Fest des Sports zu feiern. Hitler wird bejubelt,
wenn er seine fanatischen Reden an „Volksgenossen und Volksgenossinnen“ richtet.
Sie sind ahnungslos, die Menschen, die sich
1935 eine strahlende Zukunft aufbauen wollen.
Sie denken, dass die Erfahrungen des „Weltkrieges“, von dem es bisher nur einen gibt, ausreichen werden. Ausreichen für eine Abneigung
gegen Kriege jeder Art. Und Hitler? Ein Fanatiker? Ja, schon. Aber er beteuert immer wieder,
dass er „sein Volk“ liebt. Tut man jemandem,
den man liebt, etwas Böses an?
So denken auch Martha und Walter, die sich anschicken, in einer gerade entstehenden Siedlung
im Norden Berlins ein eigenes Häuschen zu bauen. Schließlich ist ein Kind unterwegs. Es soll
„im Grünen“ aufwachsen. Die werdende Mutter
stammt aus Ostpreußen, dem Land der dunklen
Wälder und kristallnen Seen. Sie ist auf dem
„Großen Moosbruch“ aufgewachsen, wo die
Menschen dem Moorboden in schwerer Arbeit
neues Ackerland abtrotzen müssen. Wo Birken
und Erlen ganze Wälder bilden und der seltene
Sonnentau wächst.
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Martha hat es sich zum Ziel gesetzt, liebevoll
eine Familie zu umsorgen. Sie hat mit neun Jahren ihre Mutter verloren, die an einer Schilddrüsenkrankheit starb. Die kleine Martha wurde von
ihrer älteren Schwester Henriette aufgezogen.
Als sie mit 26 Jahren ihr Heimatdorf verließ und
nach Berlin ging, um Verkäuferin zu werden,
war sie wieder allein, ganz auf sich gestellt. Nun
soll ihr Leben „normal“ werden.
Der werdende Vater liebt, wie alle echten Berliner „det Jrüne“. Als junger Bursche ist er mit
Freunden in die Berliner Umgebung hinausgewandert. Zu Pfingsten fuhr er in die aufblühende
Natur, aus der Großstadt hinaus. Manchmal sogar auf einem Kremser, dem Pferdefuhrwerk, das
bis zu 20 Personen befördert. Man aß und trank
nach alter Tradition Eisbein und Weiße mit
Schuss, sang gemeinsam laute Lieder. Erst Wanderlieder, manchmal liederliche Lieder. Man war
glücklich, „in’t Jrüne“.
Die Siedler
Also: ein Häuschen im Grünen soll es sein.
Pachtland gibt es im näheren Umkreis des alten
Dorfes Rosenthal im Norden Berlins. Die Bauern
in ihren ziegelroten Häusern, mit allen Zeichen
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des bescheidenen Reichtums gebaut, haben nicht
viel Lust, alle Äcker in schwerer Arbeit zu
bewirtschaften. So gibt man einen Teil des Bodens als Pachtland her, für einen Pfennig den
Quadratmeter pro Monat, kassiert ohne eigene
Leistung den Zins. Das rentiert sich. So ein
Grundstück besorgt sich Walter. 631 Quadratmeter groß. Für 6 Mark und 31 Pfennige im Monat.
Vor allem: unkündbar. Das heißt: man kann ein
Häuschen bauen und sicher darin wohnen, samt
Nachwuchs. Im April 1935 feiert man, in kleiner
Runde, aber glücklich, den „ersten Spatenstich“
zum künftigen eigenen Haus.
Auf die Idee hat ihn der Mann seiner Schwester
Gertrud gebracht, Erich, der Kranführer. Er ist
schon „draußen“ und hat die Grundmauern zu
einer „Villa“ gelegt. Leider geht es langsam voran. Ziegel kosten Geld und Erich verdient nicht
viel. Walter verkauft sein Segelboot, das bisher
im Westen Berlins an der Havel lag. Martha hat
von ihrem Lohn ein hübsches Sümmchen
gespart. In Ziegel, Mörtel, Balken und Dachpappe umgesetzt kann daraus ein nettes Häuschen
werden. Andere Leute haben sich nur eine Laube
aus dünnen Balken und Schalbrettern bauen können, aber in der Siedlung „Wiesenrain“, Parzelle
Sommerstraße 6 soll etwas „Solides“ entstehen.
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Dumm ist nur, dass das Bauwerk nur am Wochenende wachsen kann, wenn Walter nicht an
seiner Druckmaschine stehen muss. Dazu
kommt, dass jedes Mal, wenn er mit Martha hinausfährt, eine Menge Ziegel fehlen. Dafür wächst
das Häuschen des Kranführers Erich erstaunlich
schnell in die Höhe. Obwohl der angeblich kein
schnell in die Höhe, obwohl der angeblich kein
Geld für Baustoffe hat. So markiert Walter mit
kleinen unauffälligen Zeichen eine Reihe der
Ziegel. Tatsächlich: alle Steine finden sich beim
nächsten Besuch im Mauerwerk von Schwester
und Schwager wieder. Eine Auseinandersetzung
ist fällig, die fast zu einer Schlägerei ausartet.
Erich findet einen – wenn auch zweifelhaften –
Weg, die Sache gerade zu biegen. Er versichert
hoch und heilig, dass er sich nur ein paar Steine
„ausgeliehen“ hat, weil er nicht zum Nachbestellen der nächsten Lieferung gekommen ist. Er hätte die ausgeliehene Menge später wieder zu Walter hinübergebracht. Die Familie Fuß – das sind
Gertrud und er – sei schließlich eine ehrliche
Familie. Martha und Walter tun so, als glaubten
sie ihm. Vergessen können sie die Sache nie.
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Dumm ist allerdings, dass das Bauwerk nur am
Wochenende wachsen kann, wenn Walter nicht
an seiner Druckmaschine stehen muss. Dazu
kommt, dass jedes Mal, wenn er mit Martha hinausfährt, eine Menge Ziegel fehlen. Dafür wächst
das Häuschen des Kranführers Erich erstaunlich
schnell in die Höhe. Obwohl der angeblich kein
Geld für Baustoffe hat. So markiert Walter mit
kleinen unauffälligen Zeichen eine Reihe der
Ziegel. Tatsächlich: alle Steine finden sich beim
nächsten Besuch im Mauerwerk von Schwester
und Schwager wieder.
Eine Auseinandersetzung ist fällig, die fast zu
einer Schlägerei ausartet. Erich findet einen –
wenn auch zweifelhaften – Weg, die Sache gerade zu biegen. Er versichert hoch und heilig, dass
er sich nur ein paar Steine „ausgeliehen“ hat,
weil er nicht zum Nachbestellen der nächsten
Lieferung gekommen ist. Er hätte die ausgeliehene Menge später wieder zu Walter hinübergebracht. Die Familie Fuß – das sind Gertrud und
er – sei schließlich eine ehrliche Familie. Martha
und Walter tun so, als glaubten sie ihm. Vergessen können sie die Sache nie.
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Der „Kompromiss“
Im Laufe mehrerer Wochen wächst der Bau der
Darwegers langsam in die Höhe. Eines Tages, es
ist ein Sonnabend, kann man das Richtfest feiern.
Walter spielt auf der Gitarre, singt dazu Wanderlieder. Auf dem Tisch stehen hochprozentige
Flaschen, vor allem reichlich Weiße mit
„Schuss“ in rot und grün. Rot ist Weißbier mit
Himbeersirup, grün mit Waldmeister. Das führt
dazu, dass einige der eingeladenen Nachbarn am
Sonntag einen Brummschädel haben. Den wildesten hat Walter. Das gehört sich so. Er ist
schließlich der Bauherr.
Dann ist es Juni 1935. Die Wände des Häuschens
stehen. Martha liegt in der Frauenklinik. Sie hat
eine neue Aufgabe: der Nachwuchs kommt an:
ein Junge. Zum Glück der Eltern kerngesund. Er
soll Michael heißen nach seinem Großvater aus
Ostpreußen. Daraus wird nichts. Die Großmutter
aus Berlin, die sich lange nicht um die kleine
Familie gekümmert hat, erscheint am Kinderbettchen. Sie besteht resolut auf Karl. So hieß ihr
Mann, der im Weltkrieg gefallen ist. Sie will ihrem Mann in seinem Enkelkind ein Denkmal setzen. Das sollen alle respektieren. Karl passt weder der Mutter noch dem Vater des Kindes. Es
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gibt lange Debatten. Man einigt sich auf einen
Kompromiss: die Großmutter wird ihrem
Wunsch gemäß Patentante. Das Kind soll
schließlich Karl-Heinz heißen. Da gibt die Oma
nach.
Jetzt ist es Zeit für den Umzug aus der Stadt in
das neue Heim. Rings um das Haus der Familie
sind inzwischen Siedlungen mit unterschiedlich
„komfortablen“ Lauben entstanden. An zwei Seiten der eigenen Kolonie grenzen Wiesen. Etwas
weiter weg laufen die Schienenstränge der Niederbarnimer Eisenbahn und der Industriebahn,
die sich wie ein Ring um Groß-Berlin herumzieht.
Die Kreuzung beider Linien ist durch einen weiten Bogen verbunden, so dass man mit Lok und
Wagen von einer auf die andere Strecke hinüber
fahren kann. Dieses Eisenbahndreieck hat für die
Siedler einen unschätzbaren Vorteil. Für die nötigen Bahndämme sind Berge von märkischem
Sand herangefahren worden. Die liegen so einladend da, dass sich die Siedler kräftig daran bedienen. Für „Buddelkästen“, in denen die Kinder
spielen, für Hausfundamente und schließlich
auch für Wege im Garten, aus Beton gegossen.
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Das klingt leichter, als es ist. Zunächst muss das
Baumaterial herangeschafft werden. Walter baut
zu diesem Zweck eine Karre. Zwei alte Wagenräder bekommt er geschenkt, samt der dazugehörigen Achse aus Stahl. Darauf wird ein Kasten
aus Brettern gesetzt. Vorn zwei Stangen zum
Ziehen. Mit dieser Karre fährt er an den Bahndamm, wo es kostenlos den weißen Sand gibt.
Der Zement ist teuer, jedenfalls für die beiden
Neusiedler. Der Weg mit der Karre zum
nächsten Baustoffhändler ist weit. Auch das ist
kein Problem.
Nun wird mit einer Schaufel auf einem ebenen
Platz das Verhältnis von Sand und Zement genau
gemischt, zuerst trocken, dann mit Wasser, bis
ein Brei entstanden ist. Das heißt Schaufeln, immer wieder Schaufeln. Die Seiten des künftigen
Weges werden mit alten Brettern abgesteckt,
dann die graue Masse hineingekippt. Zum
Schluss muss mit einer Maurerkelle die Oberfläche geglättet werden. Mancher Siedler kann es
sich nicht verkneifen, Namen und Jahreszahl in
den frischen Beton zu schreiben – zum Andenken an seine Arbeit. Walter belässt es bei der
glatten Fläche. Dann läuft eine Katze durch den
Garten. Ihre Pfotenabdrücke sind für immer verewigt.
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Das Haus in der Sommerstraße (die aber nur ein
besserer Feldweg bleibt) hat einen neuen Zugangsweg bekommen. Dann einen Buddelkasten,
säuberlich mit vier Brettern eingesäumt. Bald
hockt darin der „Kompromiss“, der sichtlich gedeiht. Man vergleicht ihn mit Churchill, dem
englischen Politiker. Der ist ebenfalls ein dicker
runder Zeitgenosse. Eben dieser Herr wird sich
noch sehr intensiv der Familie annehmen, wenn
auch auf Umwegen - über einen gewissen Herrn
Adolf Hitler.
Der lässt zunächst in Berlin ein Spektakel steigen, das ihm als Verschleierung seiner größenwahnsinnigen Pläne willkommen ist: die Olympischen Spiele 1936. Am 1. August beginnen sie
im Berliner Olympiastadion. Die ganze Stadt ist
mit Wäldern von Fahnen geschmückt.
Zum ersten Mal gibt es öffentliche Fernsehübertragungen, die man in „Fernsehstuben“ bewundern kann. Walter Darweger hört nur hin und
wieder im Rundfunk, was sich da in den Wettkämpfen tut. Als ehemaliger Ruderer interessiert
er sich nur für das Rudern. Im Übrigen ist er mit
seiner Familie und seinem Häuschen beschäftigt.
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Das Haus im Grünen
Zunächst wird in Rosenthal ein Kirschbaum links
vor das Haus gepflanzt. Rechts ein Pflaumenbaum – der Symmetrie wegen. Auf der Rückseite
des Grundstücks gedeihen Sauerkirschen, Mirabellen und an etlichen Sträuchern Johannisbeeren
und Himbeeren. Hinter dem Haus steht schon ein
Schuppen mit integriertem Hühnerstall und
Plumpsklo.
Die Hühner sind angenehm, schon wegen der
Eier. Das Klo weniger. Im Sommer ist der
„Duft“ hinter dem Haus kaum auszuhalten. Im
Winter muss man trotz Schnee und Kälte über
den kleinen Hof laufen, um dann frierend über
dem Abgrund zu hocken. So beeilt sich jeder,
dass er schnell wieder ins Warme kommt.
Das kleine Haus ist nicht gerade komfortabel. Es
gibt darin eine enge Küche, dahinter ein winziges
Wohnzimmer und ein noch kleineres Schlafzimmer. Davor der Luxus: eine Veranda, um deren Fenster Rosen ranken. Dass es in diesem
Raum im Winter genau so kalt ist, wie draußen wen stört das im Sommer?
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An die Wand des Wohnzimmers hängt Martha
ein großes Bild von Hindenburg. Sie verehrt den
alten Haudegen. Er ist für sie der „Retter Ostpreußens“, ihrer Heimat. Walter hat nichts gegen
das Bild. Er lässt ein Foto seines Vaters anfertigen, in der Uniform des Weltkrieges. Darunter
praktiziert er das Eiserne Kreuz zweiter Klasse,
das Karl Darweger postum erhalten hatte. So ist
ein Ausgleich hergestellt.
Die größte Wand ziert in goldenem Rahmen ein
riesiger Druck. Natürlich aus Walters Maschine.
Darauf eine nackte, an einen Baum gebundene
schöne Frau. Hinter ihr steht ein Ritter in
schimmernder Rüstung, der die Fesseln der Frau
löst. Im Hintergrund laufen einige zerlumpte
Männer davon. Das schönste ist die erklärende
Unterschrift. In Französisch sogar: „La Belle
Dame sans merci“ – Die Schöne ohne Dank.
Die Möbel sind einfach, aber bequem. Walters
Lieblingsplatz: das Sofa unter dem Fenster.
Von dort aus kann er seine Fische im Aquarium
beobachten. Alle Zimmer haben einen kleinen
Patentofen, die Ofenrohre laufen offen zum
Schornstein, die Fußböden bestehen aus mit Ölfarbe gestrichenen Dielen. Das ist der Besitz der
kleinen Familie. Im Garten gibt es Salat, Kohl,
Mohrrüben, Radieschen und allerlei Kräuter –
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alles, was man in der Küche braucht. Wasser gibt
es so viel man will, kostenlos, aus der Handpumpe im Garten. Die steht zwar ziemlich nahe der
Sickergrube, in der die Küchenabwässer versinken, aber das stört niemanden. Der Gipfel des
Komforts ist eine zweite Pumpe in der Küche mit
Verbindung zum Wasserrohr im Erdreich. Wenn
es im Winter sehr kalt wird, muss das Wasser der
Gartenpumpe abgelassen werden, damit es nicht
einfriert. Die Pumpe in der Küche ist regelmäßig
kaputt. Dann kommt “Onkel Bruno“, ein Nachbar. Der repariert sie. Dafür gibt ihm Martha ein
paar Flaschen Bier.
Ob er in die Pumpe kleine Fehler eingebaut hat,
damit sie in schöner Regelmäßigkeit den Geist
aufgibt, weiß nur er selbst. "Onkel Bruno" fragt
auffallend oft nach, ob er mal wieder kommen
soll. Martha und Walter haben sogar Strom. Er
kommt durch Luftleitungen, die über viele
Holzmaste gelegt wurden. In dieser Gegend ist
das etwas Neues. Viele der Bretterbuden nehmen
an der Wohltat nicht teil, weil ihre Besitzer es
nur zu Stearinkerzen bringen. Im Häuschen an
der Sommerstraße aber brennen abends Glühbirnen.
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Ein Scharfschütze
Der „Kronprinz“, wie ihn sein Vater tituliert,
wächst heran. Er verschafft seinen Eltern viel
Spaß. Als er noch keine zwei Jahre alt ist, findet
sich die Familie bei der Verlobung einer Verwandten in einer noblen Wohnung in "Berlin W"
ein. Da trinkt man natürlich Sekt. Das Kind
schläft nebenan auf einem Sofa. Doch der Lärm
wird so stark, dass der Kleine erwacht. Also holt
man ihn herein.
Der Vater stellt ihn stolz auf den Tisch, nachdem
die Mutter die Windel entfernt hat. Absolut sicher und zielgenau trifft ein Strahl von kleinstem
Kaliber das nächste Sektglas auf dem Tisch. Tosender Beifall von allen Gästen! Besonders der
Vater der Braut, ein Krieger von 1870-71 kann
sich vor Freude nicht fassen: „das wird einmal
ein Scharfschütze!“ – „Oder ein Feuerwehrmann“ meint der stolze Vater. Das Gelächter will
kein Ende nehmen.
In der Wohnung seiner „Zielübung“ findet KarlHeinz bald bei der Familie Pröhl ein zweites zu
Hause. Die Hausherrin, Amalie Pröhl, genannt
„Tante Male“, ist Marthas Schwester. Georg
Pröhl, ein Bankangestellter, mag den „Steppke“
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sehr gern. Die beiden Töchter Käthe und Grete,
zwei hübsche Mädchen, vergöttern das Kind.
Als der Bursche zwei Jahre alt ist, will seine
Mutter wieder mithelfen, den Familienetat zu
verstärken. Im Oktober 1937 nimmt sie eine Stellung als Verkäuferin im Kaufhaus UNION an.
Sie bittet „Male“, vorläufig wochentags ihre
Mutterpflichten zu übernehmen. Es werden zwei
Jahre daraus. Bis auf die Wochenenden ist KarlHeinz nun Familienmitglied in der RichardWagner-Straße. Er entschädigt seine Pflegefamilie durch Aufregungen und Zwischenfälle.
Zunächst schmeckt ihm das Essen nicht so recht.
Onkel Georg lässt sich etwas einfallen. Bei Tisch
werden die leckeren Wurstbrote zunächst in kleine Häppchen geschnitten. Dann stellt man das
Holzbrettchen mit dem Brot für den Kleinen vor
den Onkel hin und dessen Schnitte vor das Kind.
Nun beginnt ein Spiel, das alle „Mopsen“, also
stehlen, nennen. Jeder darf dem anderen ein
Häppchen „mopsen“. Man muss es gleich aufessen. Hin und her gehen die Diebeszüge, bis –
beide ihre Brote verzehrt haben. Natürlich unter
dem Gelächter der übrigen Familienmitglieder.
Onkel Georg geht gern in eine Eckkneipe, um
ein gepflegtes Bier zu trinken. Als das „Bengel-
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chen“ größer wird, darf es an der Hand des
Onkels mit in die heiligen Hallen. Natürlich bekommt es eine Limonade und sitzt stolz unter
würdigen Herren, die sich Neuigkeiten erzählen.
Wenn wieder einmal so ein Ausflug fällig ist und
der Onkel seinen kleinen Begleiter dazu eingeladen hat, verkündet Karl-Heinz den drei Damen
des Hauses mit wichtiger Miene „Wir Männer
gehen mal runter in die Kneipe!“
Doch nicht immer ist der Lausebengel artig. Wie
alle Kleinen hat er auch seine Mucken, will nicht
immer gehorchen. Da gibt es nur eines: die beiden großen Mädchen machen ihm klar, dass sie
jetzt mit ihm „böse“ sind. Das ist schlimm. Das
kleine Teufelchen leidet sehr darunter, dass es
nun in Ungnade gefallen ist. Verlegen schleicht
das Kind lange um die Mädels herum, studiert
ihre Gesichter, ob da vielleicht ein Anzeichen
von Vergebung zu entdecken ist. Als die beiden
sich kaum noch das Lachen verkneifen können,
kommt auch richtig die bange Frage: „Seid ihr
wieder gut mit mir?“
Tante Male nimmt ihren Neffen gern mit zum
Einkaufen in die Stadt. Er findet das wunderbar,
denn überall wird ihm etwas Leckeres zugesteckt. Beim Metzger ein Rädchen Wurst, am
Marktstand ein paar Kirschen und manchmal
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spendiert die Tante auch eine Eiswaffel. Eines
Tages bereut sie es, den Kleinen mitgenommen
zu haben. Plötzlich ist er spurlos verschwunden.
Sie sucht in mehreren Geschäften und auf der
Straße nach ihm – vergeblich. Völlig aufgelöst
kommt sie zu Hause an: „Karl-Heinz ist verschwunden! Bei diesem Autoverkehr in der
Stadt!“
Seltsamerweise sind die übrigen drei Pröhls nicht
entsetzt, sie sehen sich grinsend an. Als die Tante
in die Küche kommt, sitzt der Knirps unter dem
Tisch – in Erwartung einer Strafpredigt. „Ja, wie
bist du denn nach Hause gekommen?“ „Ich hab’
aufgepasst, wann die Großen über die Straße gehen und dann bin ich mitgelaufen.“ Natürlich
sind alle froh, dass der kleine Ausreißer wieder
da ist. Ihm hängt eine lange Rotznase im Gesicht.
Sofort sucht die Tante nach einem Taschentuch
und will das Übel beseitigen. Aber Karl-Heinz ist
schneller. „Schon appeleckt!“
Für den kleinen Jungen gibt es in der damals
noch hell erleuchteten Stadt eine ganz besondere
Sensation: den rauchenden Juno-Bären. Jedes
Mal, wenn er mit Mutter oder Vater mit der Straßenbahn Linie 23 in die Stadt fährt, rollt der Wagen an einer Häuserwand vorbei, an der ein riesiger Berliner Bär zu sehen ist. Am Tage keine
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Besonderheit. Aber abends leuchtet Meister Petz
von hundert Glühbirnen dargestellt von der Höhe
zu den Passanten herunter und – pafft leuchtende
kreisrunde Wölkchen aus einer rot glimmenden
Zigarette in die Nachtluft. Dazu liest man die
Leuchtschrift: „Berlin raucht Juno!“. Wenn die
Bahn an dieser Stelle hält, strahlt Karl-Heinz vor
Freude, „seinen“ Bären begrüßen zu können.
Wenn die Fahrt weitergeht, ist er ganz still vor
Trauer.
Siedlungskinder
Die Siedlung, in der die kleine Familie lebt, ist
ein Schmelztiegel aller sozialen Schichten, vom
Beamten bis zum Schrottsammler, meist allerdings einfache Arbeiter und ihre Kinder, richtige
„Lausejungen“ und kesse Gören. Umso schlimmer, dass Martha ihrem Karl-Heinz besonders
hübsche Kleidung näht, leider auch anzieht. Erst
läuft er als Miniatur eines Matrosen herum, mit
allen gestickten Einzelheiten eines richtigen
Seemannes. Dann steckt sie ihn eines Tages in
einen weißen (!) Tiroler Anzug mit gestickten
Verzierungen. Sozusagen die „richtigen“ Sachen
für das Spiel auf den sumpfigen Wiesen.
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Die Folgen sind natürlich katastrophal. Mutters
Schelte für unzählige Dreckflecken lassen sich
noch ertragen. Schlimmer sind Hohn und Spott
der Spielkameraden, eine gewisse Ausgrenzung
bei Spielen, die nicht ohne Schmutz abgehen.
Karl-Heinz ist froh, wenn er an warmen Tagen
nur eine Badehose tragen muss. Dann gehört
auch er ganz zur kleinen „Wiesenrain-Bande“,
die in der Umgebung berüchtigt ist.
Die älteren Jungen bringen ihm an einem alten
Schuppen sehr bald bei, wie man mit einem Dietrich die einfachen Schlösser öffnet. Sein Talent
zum künftigen Einbrecher ist sehr gering. Andere
allerdings lernen schnell. Sie machen oft schon
als Kinder Bekanntschaft mit der Polizei.
Spielzeug müssen sich die Kinder vom Wiesenrain selbst basteln. Viele Eltern haben dafür kein
Geld. Anders bei Karl-Heinz. Er hat ein Dreirad,
das ihm bald von kleinen Spielkameraden kaputtgefahren wird. Auch ein kleines Motorboot
aus Blech kann er auf dem Wasser der Zinkbadewanne fahren lassen. An einem Weihnachtstag
bekommt er tatsächlich eine elektrische Spielzeugeisenbahn.
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Seine Freude ist grenzenlos. Das Geschenk führt
schnell zu einer Invasion zahlreicher kleiner
Nachbarn, leider auch zu Neid. Die Freunde lassen die Lokomotive absichtlich immer wieder
mit Wagen zusammenstoßen, bis die Glühbirnchen der Lok, dann die Wagen beschädigt sind.
Walter muss eingreifen. Karl-Heinz darf nur
noch allein mit seiner Wunderbahn spielen. Auf
der Strasse gilt er plötzlich als „Angeber“ und
„eingebildeter Pinsel“. Das ist hart! Er hatte seine Einladung zum Spielen doch ganz freundschaftlich gemeint. Neid findet immer einen Anlass zu falschen Beschuldigungen – das erkennt
er schnell.
Paradies im Krieg
Jahre vergehen. Der schon erwähnte Herr Hitler
hat Deutschland nach seinen Vorstellungen verändert. Es gibt keine freie Presse, keine freien
Parteien, keinen politischen Widerstand. Die Industrie folgt seinen Plänen, das Volk muss gehorchen. Menschen jüdischen Glaubens bringt er
um Arbeit und Brot.
In der "Reichskristallnacht", wie man sie später
nennt, vom 9. zum 10. November 1938, werden
die Geschäfte der Juden geplündert, ihre Syna-
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gogen niedergebrannt. Hinter vorgehaltener
Hand sprechen Walter und Martha von Kriegsgefahr. Zunächst lebt man in der Siedlung Wiesenrain glücklich und friedlich wie bisher. Walter ist
in der „Reichsdruckerei“ angestellt und stolz darauf, dass er Schecks, ja sogar Banknoten drucken darf.
Martha arbeitet als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft der Meierei C. Bolle im nahen Wilhelmsruh. Für den Weg zur Arbeit wird
ein Fahrrad angeschafft. Walter kann nicht Rad
fahren. Er pilgert jeden Morgen zur Endhaltestelle der Straßenbahn 23, fährt „mit Chauffeur“ –
wie er sagt – in die Stadt. Als Walters Detektorapparat nicht mehr zeitgemäß ist, wird ein
Volksempfänger angeschafft. Mehr für KarlHeinz. Der „Lorbass“, wie seine Mutter ihn nach
Ostpreußischer Mundart nennt, ist auf “Die Kunterbunt“ scharf, eine Kindersendung im Radio.
Was am 1. September 1939 aus dem Lautsprecher kommt, sind keine freundlichen Worte.
Morgens in den Nachrichten gibt der Sprecher
bekannt, dass die Deutsche Wehrmacht in Polen
einmarschiert. Am Nachmittag um 16 Uhr verkündet Hitler „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurück
geschossen. Und von nun an wird Bombe mit
Bombe vergolten!“ Der Krieg ist da! Zwei Tage
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später erklären auch England und Frankreich
dem Deutschen Reich den Krieg. In der Siedlung
Wiesenrain stecken alle den Kopf in den Sand,
besonders, als die Wehrmacht das schwache
Polen schnell niederkämpft.
Als das Nachbarland nach einem Monat am Boden liegt, kommt Stolz auf, Stolz auf „unsere
Jungs“. An die Folgen denkt niemand. Der
„Sohnemann“ erhält sogar einen Satz Soldaten
aus Elastolin. Vater erklärt ihm, dass eine Figur
in brauner Uniform mit erhobenem Arm „Der
Führer“ sei. Ein dicker Mann in weißer Uniform
sei der Reichsmarschall Hermann Göring und ein
kleiner brauner Mann Joseph Goebbels. Von nun
an weiß Karl-Heinz, wie die Leute aussehen, die
er manchmal im Rundfunk schreien hört.
Seine Eltern hören regelmäßig die Übertragungen der Reden, um zu erfahren, was in den Berliner Regierungspalästen geplant wird. Sie ärgern sich darüber, dass es ab sofort verboten ist,
ausländische Rundfunksender zu hören. Einige,
die sich nicht an das Verbot halten, büßen ihr
„Verbrechen“ im Gefängnis. Walter und Martha
versuchen es dennoch – heimlich. Mit klopfenden Herzen lauschen sie ab und zu der englischen Senderkennung, dem mehrfachen dumpfen
Paukenschlag und amüsieren sich zunächst über
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die finsteren Drohungen der englischen Nachrichtensprecher. Zum Glück werden die beiden
nie beim Abhören des „Feindsenders“ überrascht.
Postkarten aus Paris
Sie sind nicht beunruhigt, als Hitler am 10. Mai
1940 seinen Feldzug gegen Frankreich beginnt.
Doch die rücksichtslose Unterwerfung von Holland, Belgien und Luxemburg gegen jedes Völkerrecht sieht Walter als gefährliche Aktion, die
einmal bittere Konsequenzen nach sich ziehen
könnte. Sein Bruder schickt als Soldat aus dem
besetzten Paris fröhliche Postkarten. Walter ist
nun erst recht besorgt. Der Waffenstillstand mit
Frankreich ist kein Friedenszeichen. Trotz der
Waffenruhe bleibt Deutschland weiter im Unrecht.
Doch ungeachtet aller Turbulenzen in der Welt
der Erwachsenen gedeiht Karl-Heinz weiterhin
prächtig. Am liebsten ist der Fünfjährige „draußen“. Das heißt „im Garten“ oder „auf der Wiese“, oder auch an den Bahndämmen aus Kies.
Dort ist ein Paradies für Wühlmäuse entstanden.
Wenn ihn seine Mutter sucht, ist er meist „anne
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Bahne“, natürlich mit Spielkameraden. Sein bester Freund heißt Kurt. Mit ihm zusammen versucht er die flinken Zauneidechsen zu fangen, die
es im lockeren Kies zu Hunderten gibt. Wenn er
einmal eine erwischt, verliert sie den Schwanz
und läuft davon. Nur das zappelnde Ende der
Echse bleibt zurück, zur Verwunderung der
Lausbuben.
Der kleine Kurt gefällt auch Martha. Wenn seine
Eltern nicht daheim sind, bekommt er gemeinsam mit Karl-Heinz sein Mittagessen. Eines Tages kommt Kurtchen heulend den Weg entlang.
Er läuft so sonderbar, mit breitbeinigen Schritten.
Martha sieht ihn und fragt, was passiert ist. Sie
denkt an eine Keilerei, an der ihr Sprössling beteiligt sein könnte. Die Antwort beruhigt sie:
„Ick hab mir bloß inne Hose geschissen!“.
Kurt wird nicht alt. Als er sechs Jahre alt ist,
bleibt er eines Tages allein im Häuschen seiner
Eltern. Der Vater arbeitet in der Stadt, die Mutter
fährt mit dem Rad zur Apotheke, weil ihr Junge
Fieber hat. Als sie mit einem Medikament zurückkommt, liegt Kurt nicht mehr in seinem Bett.
Sie findet ihr Kind mit dem Kopf nach unten in
der Kohlenkiste neben dem Küchenherd. Kurt ist
tot. Er ist in die Kiste gefallen und erstickt.
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Auch Karl-Heinz muss ab und zu allein bleiben.
Zum Beispiel, wenn die Eltern ausnahmsweise
einmal ins Kino gehen wollen, ein großes Unternehmen. Sie können nur mit der Straßenbahn in
die Stadt fahren. Der ganze Ausflug dauert drei
Stunden.
Einmal sind sie bei ihrer Rückkehr entsetzt. Das
Haus ist leer, ihr Kind verschwunden – mitten im
Winter. Als sie verzweifelt zu Schwager und
Schwägerin in die Nachbarsiedlung laufen, finden sie Karl-Heinz friedlich schlafend im Bett
der Tante. Er ist im Nachthemd barfuss durch
den Schnee hinüber gelaufen. Nicht einmal einen
Schnupfen hat er sich dabei geholt.
Karl-Heinz kommt in die Schule. Das ist ein
großer grauer Steinbau in der Kastanienallee.
Das Gebäude sieht aus wie eine Raubritterburg –
wenig Vertrauen erweckend. Der neue Schüler
wird an seinem ersten Schultag von einer Cousine seinem Lehrer übergeben. Martha steht ja hinter der Ladentheke. Doch der Lehrer ist ein
freundlicher Herr mit dem Namen Weißfuß.
Er hat sofort die Sympathie der Kinder und der
Eltern. Er fängt noch mit der alten SütterlinSchrift an: „Rauf, runter, rauf – Pünktchen drauf.
Das ist das „i“. Doch schon nach wenigen Schul-
Ende der Leseprobe von:
Kriegskind - Eine Jugend in Berlin
Karl-Heinz Darweger
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