-2- Inhalt Kampf um ein wenig Glück Lauf ums Leben …………………... Der Gefreite aus Königstädt ………. Eine strahlende Zukunft ? …………. Die Siedler ……………………….... Der „Kompromiss“ ………………... Das Haus im Grünen …………….... Ein Scharfschütze ………………..... Siedlungskinder ................................ Paradies im Krieg ............................. Postkarten aus Paris .......................... Zirkusartisten und Höhlenbauer ....... Alarm ! ............................................. Feuerzauber ...................................... Marschieren für Hitler ...................... Die Gefangenen ................................ Walter muss gehen ........................... Der Skandal ...................................... Vater steht im Westen ...................... 4 6 13 15 20 24 27 32 35 38 43 47 52 54 57 63 68 67 Trügerischer Friede in Ostpreußen In friedliches Land ........................... Das Große Moosbruch ..................... Die Schleuse ..................................... Aal mit Streuselkuchen .................... Der Großvater ................................... Der Hof ............................................. 72 77 82 85 88 90 -3- Dorfschulkinder ............................... Stinte ................................................ Torf .................................................. Der Elch ........................................... Tante Mieze ..................................... Stricken und Weben ........................ Abschied .......................................... 92 94 96 99 103 105 106 Der Untergang von Berlin Die Russen kommen ! ..................... Leben hinter Betonmauern .............. Eroberer ohne Gnade ....................... Heimkehr mit Grauen ...................... Cowboy bei den Russen .................. Plündern und Überleben .................. Du Dochta ! ..................................... Kampf ums tägliche Brot ................ Die neue Schule ............................... Der Kaninchenmörder ..................... Spiele mit dem Tod ......................... Hamsterfahrten ................................ Vater ist da ! .................................... Wiesenkämpfe ................................. Die gestohlene Bibel ....................... Hinter dem Ladentisch .................... Der Aufstand ................................... Kameradschaft ................................ Ein Ziel ! ......................................... 113 117 119 125 128 133 135 140 142 144 149 154 157 163 167 174 183 185 190 -4- Lauf ums Leben D ie Bomben fallen vom blauen Himmel, abgeworfen von Hunderten von Flugzeugen. Rechts und links von uns versinken sie mit einem klatschenden Laut in der überschwemmten Wiese. Dann erzittert der Boden unter gewaltigen Explosionen. Fontänen nasser Erde erheben sich und die Brocken regnen wieder herab. Zurück bleiben tiefe Krater. Mutter läuft, schwer bepackt mit zwei Einkaufstaschen und einem Rucksack die Bahngleise entlang. Der Schweiß rinnt ihr über das Gesicht. Es ist ein heißer Sommer, der Sommer 1944. Ich haste hinter ihr her. Als Achtjähriger habe ich an einer dicken Tasche eine viel zu schwere Last zu tragen. Aber wir können schon den rettenden grauen Beton sehen, den Hochbunker, der dicht am Schienenstrang liegt. Wieder fällt eine Serie von Bomben. Noch treffen sie nicht ihr eigentliches Ziel, die Kreuzung der Eisenbahnlinien im Norden von Berlin. Wir nutzen eine Pause zwischen den Wellen der angreifenden Flugzeuge, um kurz stehen zu bleiben. Der wilde Lauf hat uns kaum noch Luft gelassen. Da entdecke ich unter uns den Durchlass -5- eines Grabens, der quer zur Bahn den Damm unterläuft. Es ist eine solide Betonröhre, fast zwei Meter im Durchmesser. Ich habe eine Idee. “Komm, wir kriechen in die Röhre, da sind wir wenigstens vor den Splittern sicher“. Mutter schüttelt den Kopf. “Weiter!“ Eben haben wir die Bunkertür erreicht, da fallen die Bomben der nächsten Flugzeugstaffel in die Wiesen. Uns erreichen sie nicht mehr. Wir sind in Sicherheit. Als wir nach dem Angriff den Weg wieder zurückgehen, durchqueren wir ein Feld von Kratern, die sich langsam mit Grundwasser füllen. Die Piloten haben schlecht gezielt. Keine Bombe hat die Gleise getroffen. Doch an der Stelle, wo der Wassergraben in die Betonröhre mündet, ist eine Luftmine niedergegangen. Dort bildet sich ein kleiner See. Hätten wir an dieser Stelle Schutz gesucht - wir wären wie Geschosse aus einem Kanonenrohr in die Wiesen geschleudert worden - zerfetzt. Meine Mutter steht stumm vor dem gewaltigen Loch. Ich fühle mich, als hätte eine harte Hand nach mir gegriffen, aber wieder losgelassen. Als Vater noch nicht Soldat war, hat er manchmal zu mir gesagt: „Du bist der letzte unserer Familie. Sieh zu, dass du einmal viele Kinder -6- hast, damit unser Name nicht ausstirbt.“ Nach dem letzten Bombenangriff ist mir klar: wenn ich jetzt umgekommen wäre, gäbe es in Berlin keine Familie Darweger mehr. Der Gefreite aus Königstädt Die ältesten Wurzeln der Familie mit dem seltsamen Namen liegen verloren in der Zeit. Das erste erkennbare Zeichen des Stammes versteckt sich im Namen selbst. Der Urahn muss ein „Doorwächer“ gewesen sein, ein Torwächter. Seine Nachkommen tauchen in der Mark Brandenburg auf, wo man dieses eigentümliche Platt sprach. Im kleinen Dorf Bork in der Nähe von Kyritz leben heute noch Darweger. In unsicheren Zeiten, während des dreißigjährigen Krieges, war es von großem Nutzen, wenn einer der Bauern am Tor der Ortschaft verhinderte, dass Fremde in den Ort kamen. So ein Wachtposten war der erste Darweger. Er muss auch ein Landmann gewesen sein. Der früheste Nachweis des Familiennamens liegt aus dem Jahre 1727 vor – von einem Bauern. Da wird in Bork ein Kind mit dem Namen Hans Caspar Darweger geboren. Dieser junge Mann wird am 8. Juni 1751 mit Ilsabe Toppel getraut. -7- Er stirbt am 7. Januar 1781. Er hat einen Sohn mit Namen Joachim Balthasar. Dieser wird Ahnherr weiterer Darweger. Die Liebe zu einem Unbekannten ist schuld daran, dass am 16. Februar 1847 um 9 Uhr früh in Wutike Johann Friedrich Darweger auf die Welt kommt – unehelich. Die Mutter, Friederike Darweger, heiratet später. Der Ehemann, ein Herr Puls, erkennt das Kind nicht an. Es war nicht sein Fleisch und Blut. Hätte er sein Kind anerkannt, hießen alle Darweger mit Nachnamen Puls – ein merkwürdiger Gedanke. Überspringen wir einige tüchtige Menschen, die diesen Namen trugen. Gehen wir nach Preußen, in die Stadt Neu Ruppin. Da tritt am 13. Oktober 1898 beim Infanterie-Regiment Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin ein Arbeiter als Rekrut an: Karl Friedrich Wilhelm Darweger. Er kommt aus Königstädt. In der 6. Kompanie wird er zwei Jahre lang gedrillt. Er bringt es bis zum Rang eines Gefreiten. Am 23. September 1900 kann er wieder nach Königstädt zurückfahren. Sein Führungszeugnis bescheinigt ihm, dass er sich keinerlei Disziplinarstrafen eingehandelt hat. Als Gesamtnote bekommt er ein „recht gut“. Bis zum Weltkrieg wird man seine Dienste als Krieger nicht mehr brauchen. -8- Doch jetzt zieht es ihn in die Großstadt Berlin. Von seiner Mutter Emilie Auguste nimmt er Abschied und findet in der Metropole tatsächlich einen Arbeitsplatz. Er wird städtischer Angestellter, er arbeitet als Straßenfeger. In den Schriftsätzen der Behörden taucht er erst wieder im Jahre 1902 auf. Da wohnt er in der Arndtstraße 30 und will die Plätterin Anna Auguste Brusch aus der Stralauer Straße 12 heiraten. Am 13. Oktober 1902 schließen die beiden die Ehe, vor dem Standesbeamten bezeugt vom “Büdner“ Ferdinand Schwabe und dem Droschkenkutscher Wilhelm Zahnke. Am 12. August 1903 bekommen die beiden in der Senefelder Straße 4 in Berlin ein Kind: Walter Karl Hermann Darweger. Es ist eine Hausgeburt, wie bei allen armen Leuten. Nachts um 1 Uhr 45 Minuten erblickt der schreiende kleine Walter das Licht einer blakenden Petroleumfunzel. Alte Fotos zeigen, dass die kleine Familie weiter wächst: Auf den ältesten Sohn folgen zwei Schwestern, Gertrud und Charlotte. Später kommt noch ein Sohn Erwin dazu. Man zieht in eine größere Wohnung in der Mietskaserne Oderberger Straße 27. Als Walter knapp 11 Jahre alt ist, am 31. Juli 1914, erklärt Kaiser Wilhelm II. Russland und -9- Frankreich den Krieg. Der Schüler ahnt nicht, dass diese Entscheidung ihm den Vater nehmen wird. Im folgenden Jahr werden in Berlin Brotkarten ausgegeben. Für die Familie beginnen Hungerjahre. Als Karl Friedrich Wilhelm Darweger an die Front muss, schlägt sich seine Frau mühsam mit ihren Kindern durch. Besonders schwer ist es im August 1917. Da gibt es in Berlin Unruhen und sogar Massenstreiks gegen Hunger und Krieg. Im gleichen Jahr wird aus dem 14jährigen Schüler Walter ein Konfirmand, später ein Buchdruckerlehrling. Der Straßenfeger Karl steht als Sanitäter in Frankreich. Mit Gruseln betrachten seine Frau und die Kinder daheim ein Foto, das er aus dem Westen geschickt hat: Gräber gefallener Deutscher und Franzosen in Anizy le Chateau am Aisne-Kanal bei Reims. Dann erwischt es den Sanitäter selbst. Schwer verwundet bringt man ihn in ein Lazarett nach Berlin zurück. Zu seinen Verletzungen kommt eine Grippe, dann eine Lungenentzündung, dann das Ende. Am 2. November 1918 stirbt er für „König, Volk und Vaterland“ im Alter von 41 Jahren. Seiner Witwe schickt die Oberste Heeresleitung ein Eisernes Kreuz zwei- - 10 - - 11 - ter Klasse. Auf dem Friedhof am Columbiadamm, Abtg. K1, Reihe 15, Grab Nr. 39 kann sie jetzt um den Vater ihrer Kinder trauern. Sieben Tage nach Karls Tod dankt der Kaiser ab. Er geht nach Holland in den Ruhestand. Am gleichen Tag wird die Deutsche Republik ausgerufen. Aber wie sieht es in dem neuen Deutschen Staat aus? Die Zeiten sind hart, es fehlt an Nahrung. In der Familie Darweger isst man sogar Runkelrüben aus der früheren Heimat des Vaters, aus Königstädt. Lebte dort nicht die Großmutter der Kinder, könnte man in der tristen Arbeiterwohnung fast verhungern. Die Kriegerwitwe bekommt eine kleine Rente, aber die reicht nur zum Überleben. Auf den Straßen der Stadt gibt es Feuergefechte zwischen politischen Gruppierungen. Jugendliche treiben sich herum. Sie versuchen, ihren Familien mit Diebstählen und Einbrüchen über die schlechte Zeit hinwegzuhelfen. Doch Walter macht seiner Mutter Freude. Er besteht 1921 im Alter von 18 Jahren seine Gesellenprüfung als Buchdrucker. Er tritt dem Berliner Ruderverein „Freiheit“ und dem Wanderverein „Lustige Brüder“ bei, kümmert sich auch darum, dass seine Schwestern und sein kleiner Bruder - 12 - als ordentliche junge Leute aufwachsen. 1923 ist Walter Millionär, sogar Milliardär. Das Geld, das er verdient, ist nichts wert. Während der Inflation erhält er täglich den Gegenwert von ein paar Brötchen. Am 15. November kostet ein Pfund Brot 80 Milliarden Mark. Wenige Tage später bekommt Walter wieder Geld, mit dem man etwas kaufen kann: Rentenmark. Im folgenden Jahr pilgern die Berliner neugierig zur ersten Funkausstellung. Aus dem VOX-Haus in der Potsdamer Straße kann man die laufenden Rundfunksendungen empfangen. Walter wird zum glühenden Anhänger der Funkerei. Er bastelt sich einen Detektorapparat, ein Kästchen, das die Radiosignale aus einer Hochantenne über einen Kristall in hörbare Schallwellen umwandeln kann. Diesen Tönen lauscht man mit einem Kopfhörer, der mehr krächzt als klingt. 1927 heiratet Walter Darweger Hildegard Harrer. Obwohl in Berlin die Zahl der Arbeitslosen steigt, behält er seinen Arbeitsplatz. Mit erspartem Geld kauft er sich ein gebrauchtes Segelboot. 1930 wird er Vater einer kleinen Gisela. Das Glück könnte vollkommen sein, doch die Ehe läuft aus dem Gleis. Der jungen Mutter ist die neue Rolle zu langweilig. Sie geht oft aus – - 13 - allein. Walter sitzt statt zu Hause im neumodischen „Kintopp“ und sieht sich Filme an. Man hat sich nichts mehr zu sagen. Hilde Darweger legt sich einen Liebhaber zu. Walter kommt dahinter. 1932 ist er wieder geschieden. Eine strahlende Zukunft ? Im nächsten Jahr ist in Berlin der Teufel los. Im Januar verhilft Reichspräsident Hindenburg Hitler zur Macht. Im Februar brennt der Reichstag, anschließend beginnt ein beispielloser Terror der Nationalsozialisten gegen politische Gegner und Juden. Walter Darweger begegnet abseits der Hassaktionen in Nowawes, dem späteren Babelsberg, einer netten Verkäuferin vom Buttergeschäft Bruno Freche. Er verliebt sich erneut und stößt auf Gegenliebe. Zwar sind die Zeiten turbulent; man beobachtet, wie die Nazis Juden verfolgen, Bücher verbrennen, missliebige Politiker in das erste KZ in Oranienburg sperren. Dem jungen Glück ist das alles nicht wichtig. 1935 heiraten die beiden. Gemeinsam schmieden sie die kühnsten Pläne. Jetzt kann endlich alles gut werden. Was macht es aus, dass die Nazis inzwischen ihre Macht uneingeschränkt auskosten? Die Wirtschaft blüht, wer Arbeit sucht, bekommt sie. Für das nächste Jahr sind in Berlin die inter- - 14 - nationalen Olympischen Spiele geplant. Die Welt ist eingeladen, in der Reichshauptstadt ein frohes Fest des Sports zu feiern. Hitler wird bejubelt, wenn er seine fanatischen Reden an „Volksgenossen und Volksgenossinnen“ richtet. Sie sind ahnungslos, die Menschen, die sich 1935 eine strahlende Zukunft aufbauen wollen. Sie denken, dass die Erfahrungen des „Weltkrieges“, von dem es bisher nur einen gibt, ausreichen werden. Ausreichen für eine Abneigung gegen Kriege jeder Art. Und Hitler? Ein Fanatiker? Ja, schon. Aber er beteuert immer wieder, dass er „sein Volk“ liebt. Tut man jemandem, den man liebt, etwas Böses an? So denken auch Martha und Walter, die sich anschicken, in einer gerade entstehenden Siedlung im Norden Berlins ein eigenes Häuschen zu bauen. Schließlich ist ein Kind unterwegs. Es soll „im Grünen“ aufwachsen. Die werdende Mutter stammt aus Ostpreußen, dem Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen. Sie ist auf dem „Großen Moosbruch“ aufgewachsen, wo die Menschen dem Moorboden in schwerer Arbeit neues Ackerland abtrotzen müssen. Wo Birken und Erlen ganze Wälder bilden und der seltene Sonnentau wächst. - 15 - Martha hat es sich zum Ziel gesetzt, liebevoll eine Familie zu umsorgen. Sie hat mit neun Jahren ihre Mutter verloren, die an einer Schilddrüsenkrankheit starb. Die kleine Martha wurde von ihrer älteren Schwester Henriette aufgezogen. Als sie mit 26 Jahren ihr Heimatdorf verließ und nach Berlin ging, um Verkäuferin zu werden, war sie wieder allein, ganz auf sich gestellt. Nun soll ihr Leben „normal“ werden. Der werdende Vater liebt, wie alle echten Berliner „det Jrüne“. Als junger Bursche ist er mit Freunden in die Berliner Umgebung hinausgewandert. Zu Pfingsten fuhr er in die aufblühende Natur, aus der Großstadt hinaus. Manchmal sogar auf einem Kremser, dem Pferdefuhrwerk, das bis zu 20 Personen befördert. Man aß und trank nach alter Tradition Eisbein und Weiße mit Schuss, sang gemeinsam laute Lieder. Erst Wanderlieder, manchmal liederliche Lieder. Man war glücklich, „in’t Jrüne“. Die Siedler Also: ein Häuschen im Grünen soll es sein. Pachtland gibt es im näheren Umkreis des alten Dorfes Rosenthal im Norden Berlins. Die Bauern in ihren ziegelroten Häusern, mit allen Zeichen - 16 - - 17 - des bescheidenen Reichtums gebaut, haben nicht viel Lust, alle Äcker in schwerer Arbeit zu bewirtschaften. So gibt man einen Teil des Bodens als Pachtland her, für einen Pfennig den Quadratmeter pro Monat, kassiert ohne eigene Leistung den Zins. Das rentiert sich. So ein Grundstück besorgt sich Walter. 631 Quadratmeter groß. Für 6 Mark und 31 Pfennige im Monat. Vor allem: unkündbar. Das heißt: man kann ein Häuschen bauen und sicher darin wohnen, samt Nachwuchs. Im April 1935 feiert man, in kleiner Runde, aber glücklich, den „ersten Spatenstich“ zum künftigen eigenen Haus. Auf die Idee hat ihn der Mann seiner Schwester Gertrud gebracht, Erich, der Kranführer. Er ist schon „draußen“ und hat die Grundmauern zu einer „Villa“ gelegt. Leider geht es langsam voran. Ziegel kosten Geld und Erich verdient nicht viel. Walter verkauft sein Segelboot, das bisher im Westen Berlins an der Havel lag. Martha hat von ihrem Lohn ein hübsches Sümmchen gespart. In Ziegel, Mörtel, Balken und Dachpappe umgesetzt kann daraus ein nettes Häuschen werden. Andere Leute haben sich nur eine Laube aus dünnen Balken und Schalbrettern bauen können, aber in der Siedlung „Wiesenrain“, Parzelle Sommerstraße 6 soll etwas „Solides“ entstehen. - 18 - Dumm ist nur, dass das Bauwerk nur am Wochenende wachsen kann, wenn Walter nicht an seiner Druckmaschine stehen muss. Dazu kommt, dass jedes Mal, wenn er mit Martha hinausfährt, eine Menge Ziegel fehlen. Dafür wächst das Häuschen des Kranführers Erich erstaunlich schnell in die Höhe. Obwohl der angeblich kein schnell in die Höhe, obwohl der angeblich kein Geld für Baustoffe hat. So markiert Walter mit kleinen unauffälligen Zeichen eine Reihe der Ziegel. Tatsächlich: alle Steine finden sich beim nächsten Besuch im Mauerwerk von Schwester und Schwager wieder. Eine Auseinandersetzung ist fällig, die fast zu einer Schlägerei ausartet. Erich findet einen – wenn auch zweifelhaften – Weg, die Sache gerade zu biegen. Er versichert hoch und heilig, dass er sich nur ein paar Steine „ausgeliehen“ hat, weil er nicht zum Nachbestellen der nächsten Lieferung gekommen ist. Er hätte die ausgeliehene Menge später wieder zu Walter hinübergebracht. Die Familie Fuß – das sind Gertrud und er – sei schließlich eine ehrliche Familie. Martha und Walter tun so, als glaubten sie ihm. Vergessen können sie die Sache nie. - 19 - Dumm ist allerdings, dass das Bauwerk nur am Wochenende wachsen kann, wenn Walter nicht an seiner Druckmaschine stehen muss. Dazu kommt, dass jedes Mal, wenn er mit Martha hinausfährt, eine Menge Ziegel fehlen. Dafür wächst das Häuschen des Kranführers Erich erstaunlich schnell in die Höhe. Obwohl der angeblich kein Geld für Baustoffe hat. So markiert Walter mit kleinen unauffälligen Zeichen eine Reihe der Ziegel. Tatsächlich: alle Steine finden sich beim nächsten Besuch im Mauerwerk von Schwester und Schwager wieder. Eine Auseinandersetzung ist fällig, die fast zu einer Schlägerei ausartet. Erich findet einen – wenn auch zweifelhaften – Weg, die Sache gerade zu biegen. Er versichert hoch und heilig, dass er sich nur ein paar Steine „ausgeliehen“ hat, weil er nicht zum Nachbestellen der nächsten Lieferung gekommen ist. Er hätte die ausgeliehene Menge später wieder zu Walter hinübergebracht. Die Familie Fuß – das sind Gertrud und er – sei schließlich eine ehrliche Familie. Martha und Walter tun so, als glaubten sie ihm. Vergessen können sie die Sache nie. - 20 - Der „Kompromiss“ Im Laufe mehrerer Wochen wächst der Bau der Darwegers langsam in die Höhe. Eines Tages, es ist ein Sonnabend, kann man das Richtfest feiern. Walter spielt auf der Gitarre, singt dazu Wanderlieder. Auf dem Tisch stehen hochprozentige Flaschen, vor allem reichlich Weiße mit „Schuss“ in rot und grün. Rot ist Weißbier mit Himbeersirup, grün mit Waldmeister. Das führt dazu, dass einige der eingeladenen Nachbarn am Sonntag einen Brummschädel haben. Den wildesten hat Walter. Das gehört sich so. Er ist schließlich der Bauherr. Dann ist es Juni 1935. Die Wände des Häuschens stehen. Martha liegt in der Frauenklinik. Sie hat eine neue Aufgabe: der Nachwuchs kommt an: ein Junge. Zum Glück der Eltern kerngesund. Er soll Michael heißen nach seinem Großvater aus Ostpreußen. Daraus wird nichts. Die Großmutter aus Berlin, die sich lange nicht um die kleine Familie gekümmert hat, erscheint am Kinderbettchen. Sie besteht resolut auf Karl. So hieß ihr Mann, der im Weltkrieg gefallen ist. Sie will ihrem Mann in seinem Enkelkind ein Denkmal setzen. Das sollen alle respektieren. Karl passt weder der Mutter noch dem Vater des Kindes. Es - 21 - gibt lange Debatten. Man einigt sich auf einen Kompromiss: die Großmutter wird ihrem Wunsch gemäß Patentante. Das Kind soll schließlich Karl-Heinz heißen. Da gibt die Oma nach. Jetzt ist es Zeit für den Umzug aus der Stadt in das neue Heim. Rings um das Haus der Familie sind inzwischen Siedlungen mit unterschiedlich „komfortablen“ Lauben entstanden. An zwei Seiten der eigenen Kolonie grenzen Wiesen. Etwas weiter weg laufen die Schienenstränge der Niederbarnimer Eisenbahn und der Industriebahn, die sich wie ein Ring um Groß-Berlin herumzieht. Die Kreuzung beider Linien ist durch einen weiten Bogen verbunden, so dass man mit Lok und Wagen von einer auf die andere Strecke hinüber fahren kann. Dieses Eisenbahndreieck hat für die Siedler einen unschätzbaren Vorteil. Für die nötigen Bahndämme sind Berge von märkischem Sand herangefahren worden. Die liegen so einladend da, dass sich die Siedler kräftig daran bedienen. Für „Buddelkästen“, in denen die Kinder spielen, für Hausfundamente und schließlich auch für Wege im Garten, aus Beton gegossen. - 22 - Das klingt leichter, als es ist. Zunächst muss das Baumaterial herangeschafft werden. Walter baut zu diesem Zweck eine Karre. Zwei alte Wagenräder bekommt er geschenkt, samt der dazugehörigen Achse aus Stahl. Darauf wird ein Kasten aus Brettern gesetzt. Vorn zwei Stangen zum Ziehen. Mit dieser Karre fährt er an den Bahndamm, wo es kostenlos den weißen Sand gibt. Der Zement ist teuer, jedenfalls für die beiden Neusiedler. Der Weg mit der Karre zum nächsten Baustoffhändler ist weit. Auch das ist kein Problem. Nun wird mit einer Schaufel auf einem ebenen Platz das Verhältnis von Sand und Zement genau gemischt, zuerst trocken, dann mit Wasser, bis ein Brei entstanden ist. Das heißt Schaufeln, immer wieder Schaufeln. Die Seiten des künftigen Weges werden mit alten Brettern abgesteckt, dann die graue Masse hineingekippt. Zum Schluss muss mit einer Maurerkelle die Oberfläche geglättet werden. Mancher Siedler kann es sich nicht verkneifen, Namen und Jahreszahl in den frischen Beton zu schreiben – zum Andenken an seine Arbeit. Walter belässt es bei der glatten Fläche. Dann läuft eine Katze durch den Garten. Ihre Pfotenabdrücke sind für immer verewigt. - 23 - Das Haus in der Sommerstraße (die aber nur ein besserer Feldweg bleibt) hat einen neuen Zugangsweg bekommen. Dann einen Buddelkasten, säuberlich mit vier Brettern eingesäumt. Bald hockt darin der „Kompromiss“, der sichtlich gedeiht. Man vergleicht ihn mit Churchill, dem englischen Politiker. Der ist ebenfalls ein dicker runder Zeitgenosse. Eben dieser Herr wird sich noch sehr intensiv der Familie annehmen, wenn auch auf Umwegen - über einen gewissen Herrn Adolf Hitler. Der lässt zunächst in Berlin ein Spektakel steigen, das ihm als Verschleierung seiner größenwahnsinnigen Pläne willkommen ist: die Olympischen Spiele 1936. Am 1. August beginnen sie im Berliner Olympiastadion. Die ganze Stadt ist mit Wäldern von Fahnen geschmückt. Zum ersten Mal gibt es öffentliche Fernsehübertragungen, die man in „Fernsehstuben“ bewundern kann. Walter Darweger hört nur hin und wieder im Rundfunk, was sich da in den Wettkämpfen tut. Als ehemaliger Ruderer interessiert er sich nur für das Rudern. Im Übrigen ist er mit seiner Familie und seinem Häuschen beschäftigt. - 24 - Das Haus im Grünen Zunächst wird in Rosenthal ein Kirschbaum links vor das Haus gepflanzt. Rechts ein Pflaumenbaum – der Symmetrie wegen. Auf der Rückseite des Grundstücks gedeihen Sauerkirschen, Mirabellen und an etlichen Sträuchern Johannisbeeren und Himbeeren. Hinter dem Haus steht schon ein Schuppen mit integriertem Hühnerstall und Plumpsklo. Die Hühner sind angenehm, schon wegen der Eier. Das Klo weniger. Im Sommer ist der „Duft“ hinter dem Haus kaum auszuhalten. Im Winter muss man trotz Schnee und Kälte über den kleinen Hof laufen, um dann frierend über dem Abgrund zu hocken. So beeilt sich jeder, dass er schnell wieder ins Warme kommt. Das kleine Haus ist nicht gerade komfortabel. Es gibt darin eine enge Küche, dahinter ein winziges Wohnzimmer und ein noch kleineres Schlafzimmer. Davor der Luxus: eine Veranda, um deren Fenster Rosen ranken. Dass es in diesem Raum im Winter genau so kalt ist, wie draußen wen stört das im Sommer? - 25 - An die Wand des Wohnzimmers hängt Martha ein großes Bild von Hindenburg. Sie verehrt den alten Haudegen. Er ist für sie der „Retter Ostpreußens“, ihrer Heimat. Walter hat nichts gegen das Bild. Er lässt ein Foto seines Vaters anfertigen, in der Uniform des Weltkrieges. Darunter praktiziert er das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, das Karl Darweger postum erhalten hatte. So ist ein Ausgleich hergestellt. Die größte Wand ziert in goldenem Rahmen ein riesiger Druck. Natürlich aus Walters Maschine. Darauf eine nackte, an einen Baum gebundene schöne Frau. Hinter ihr steht ein Ritter in schimmernder Rüstung, der die Fesseln der Frau löst. Im Hintergrund laufen einige zerlumpte Männer davon. Das schönste ist die erklärende Unterschrift. In Französisch sogar: „La Belle Dame sans merci“ – Die Schöne ohne Dank. Die Möbel sind einfach, aber bequem. Walters Lieblingsplatz: das Sofa unter dem Fenster. Von dort aus kann er seine Fische im Aquarium beobachten. Alle Zimmer haben einen kleinen Patentofen, die Ofenrohre laufen offen zum Schornstein, die Fußböden bestehen aus mit Ölfarbe gestrichenen Dielen. Das ist der Besitz der kleinen Familie. Im Garten gibt es Salat, Kohl, Mohrrüben, Radieschen und allerlei Kräuter – - 26 - alles, was man in der Küche braucht. Wasser gibt es so viel man will, kostenlos, aus der Handpumpe im Garten. Die steht zwar ziemlich nahe der Sickergrube, in der die Küchenabwässer versinken, aber das stört niemanden. Der Gipfel des Komforts ist eine zweite Pumpe in der Küche mit Verbindung zum Wasserrohr im Erdreich. Wenn es im Winter sehr kalt wird, muss das Wasser der Gartenpumpe abgelassen werden, damit es nicht einfriert. Die Pumpe in der Küche ist regelmäßig kaputt. Dann kommt “Onkel Bruno“, ein Nachbar. Der repariert sie. Dafür gibt ihm Martha ein paar Flaschen Bier. Ob er in die Pumpe kleine Fehler eingebaut hat, damit sie in schöner Regelmäßigkeit den Geist aufgibt, weiß nur er selbst. "Onkel Bruno" fragt auffallend oft nach, ob er mal wieder kommen soll. Martha und Walter haben sogar Strom. Er kommt durch Luftleitungen, die über viele Holzmaste gelegt wurden. In dieser Gegend ist das etwas Neues. Viele der Bretterbuden nehmen an der Wohltat nicht teil, weil ihre Besitzer es nur zu Stearinkerzen bringen. Im Häuschen an der Sommerstraße aber brennen abends Glühbirnen. - 27 - Ein Scharfschütze Der „Kronprinz“, wie ihn sein Vater tituliert, wächst heran. Er verschafft seinen Eltern viel Spaß. Als er noch keine zwei Jahre alt ist, findet sich die Familie bei der Verlobung einer Verwandten in einer noblen Wohnung in "Berlin W" ein. Da trinkt man natürlich Sekt. Das Kind schläft nebenan auf einem Sofa. Doch der Lärm wird so stark, dass der Kleine erwacht. Also holt man ihn herein. Der Vater stellt ihn stolz auf den Tisch, nachdem die Mutter die Windel entfernt hat. Absolut sicher und zielgenau trifft ein Strahl von kleinstem Kaliber das nächste Sektglas auf dem Tisch. Tosender Beifall von allen Gästen! Besonders der Vater der Braut, ein Krieger von 1870-71 kann sich vor Freude nicht fassen: „das wird einmal ein Scharfschütze!“ – „Oder ein Feuerwehrmann“ meint der stolze Vater. Das Gelächter will kein Ende nehmen. In der Wohnung seiner „Zielübung“ findet KarlHeinz bald bei der Familie Pröhl ein zweites zu Hause. Die Hausherrin, Amalie Pröhl, genannt „Tante Male“, ist Marthas Schwester. Georg Pröhl, ein Bankangestellter, mag den „Steppke“ - 28 - - 29 - sehr gern. Die beiden Töchter Käthe und Grete, zwei hübsche Mädchen, vergöttern das Kind. Als der Bursche zwei Jahre alt ist, will seine Mutter wieder mithelfen, den Familienetat zu verstärken. Im Oktober 1937 nimmt sie eine Stellung als Verkäuferin im Kaufhaus UNION an. Sie bittet „Male“, vorläufig wochentags ihre Mutterpflichten zu übernehmen. Es werden zwei Jahre daraus. Bis auf die Wochenenden ist KarlHeinz nun Familienmitglied in der RichardWagner-Straße. Er entschädigt seine Pflegefamilie durch Aufregungen und Zwischenfälle. Zunächst schmeckt ihm das Essen nicht so recht. Onkel Georg lässt sich etwas einfallen. Bei Tisch werden die leckeren Wurstbrote zunächst in kleine Häppchen geschnitten. Dann stellt man das Holzbrettchen mit dem Brot für den Kleinen vor den Onkel hin und dessen Schnitte vor das Kind. Nun beginnt ein Spiel, das alle „Mopsen“, also stehlen, nennen. Jeder darf dem anderen ein Häppchen „mopsen“. Man muss es gleich aufessen. Hin und her gehen die Diebeszüge, bis – beide ihre Brote verzehrt haben. Natürlich unter dem Gelächter der übrigen Familienmitglieder. Onkel Georg geht gern in eine Eckkneipe, um ein gepflegtes Bier zu trinken. Als das „Bengel- - 30 - chen“ größer wird, darf es an der Hand des Onkels mit in die heiligen Hallen. Natürlich bekommt es eine Limonade und sitzt stolz unter würdigen Herren, die sich Neuigkeiten erzählen. Wenn wieder einmal so ein Ausflug fällig ist und der Onkel seinen kleinen Begleiter dazu eingeladen hat, verkündet Karl-Heinz den drei Damen des Hauses mit wichtiger Miene „Wir Männer gehen mal runter in die Kneipe!“ Doch nicht immer ist der Lausebengel artig. Wie alle Kleinen hat er auch seine Mucken, will nicht immer gehorchen. Da gibt es nur eines: die beiden großen Mädchen machen ihm klar, dass sie jetzt mit ihm „böse“ sind. Das ist schlimm. Das kleine Teufelchen leidet sehr darunter, dass es nun in Ungnade gefallen ist. Verlegen schleicht das Kind lange um die Mädels herum, studiert ihre Gesichter, ob da vielleicht ein Anzeichen von Vergebung zu entdecken ist. Als die beiden sich kaum noch das Lachen verkneifen können, kommt auch richtig die bange Frage: „Seid ihr wieder gut mit mir?“ Tante Male nimmt ihren Neffen gern mit zum Einkaufen in die Stadt. Er findet das wunderbar, denn überall wird ihm etwas Leckeres zugesteckt. Beim Metzger ein Rädchen Wurst, am Marktstand ein paar Kirschen und manchmal - 31 - spendiert die Tante auch eine Eiswaffel. Eines Tages bereut sie es, den Kleinen mitgenommen zu haben. Plötzlich ist er spurlos verschwunden. Sie sucht in mehreren Geschäften und auf der Straße nach ihm – vergeblich. Völlig aufgelöst kommt sie zu Hause an: „Karl-Heinz ist verschwunden! Bei diesem Autoverkehr in der Stadt!“ Seltsamerweise sind die übrigen drei Pröhls nicht entsetzt, sie sehen sich grinsend an. Als die Tante in die Küche kommt, sitzt der Knirps unter dem Tisch – in Erwartung einer Strafpredigt. „Ja, wie bist du denn nach Hause gekommen?“ „Ich hab’ aufgepasst, wann die Großen über die Straße gehen und dann bin ich mitgelaufen.“ Natürlich sind alle froh, dass der kleine Ausreißer wieder da ist. Ihm hängt eine lange Rotznase im Gesicht. Sofort sucht die Tante nach einem Taschentuch und will das Übel beseitigen. Aber Karl-Heinz ist schneller. „Schon appeleckt!“ Für den kleinen Jungen gibt es in der damals noch hell erleuchteten Stadt eine ganz besondere Sensation: den rauchenden Juno-Bären. Jedes Mal, wenn er mit Mutter oder Vater mit der Straßenbahn Linie 23 in die Stadt fährt, rollt der Wagen an einer Häuserwand vorbei, an der ein riesiger Berliner Bär zu sehen ist. Am Tage keine - 32 - Besonderheit. Aber abends leuchtet Meister Petz von hundert Glühbirnen dargestellt von der Höhe zu den Passanten herunter und – pafft leuchtende kreisrunde Wölkchen aus einer rot glimmenden Zigarette in die Nachtluft. Dazu liest man die Leuchtschrift: „Berlin raucht Juno!“. Wenn die Bahn an dieser Stelle hält, strahlt Karl-Heinz vor Freude, „seinen“ Bären begrüßen zu können. Wenn die Fahrt weitergeht, ist er ganz still vor Trauer. Siedlungskinder Die Siedlung, in der die kleine Familie lebt, ist ein Schmelztiegel aller sozialen Schichten, vom Beamten bis zum Schrottsammler, meist allerdings einfache Arbeiter und ihre Kinder, richtige „Lausejungen“ und kesse Gören. Umso schlimmer, dass Martha ihrem Karl-Heinz besonders hübsche Kleidung näht, leider auch anzieht. Erst läuft er als Miniatur eines Matrosen herum, mit allen gestickten Einzelheiten eines richtigen Seemannes. Dann steckt sie ihn eines Tages in einen weißen (!) Tiroler Anzug mit gestickten Verzierungen. Sozusagen die „richtigen“ Sachen für das Spiel auf den sumpfigen Wiesen. - 33 - Die Folgen sind natürlich katastrophal. Mutters Schelte für unzählige Dreckflecken lassen sich noch ertragen. Schlimmer sind Hohn und Spott der Spielkameraden, eine gewisse Ausgrenzung bei Spielen, die nicht ohne Schmutz abgehen. Karl-Heinz ist froh, wenn er an warmen Tagen nur eine Badehose tragen muss. Dann gehört auch er ganz zur kleinen „Wiesenrain-Bande“, die in der Umgebung berüchtigt ist. Die älteren Jungen bringen ihm an einem alten Schuppen sehr bald bei, wie man mit einem Dietrich die einfachen Schlösser öffnet. Sein Talent zum künftigen Einbrecher ist sehr gering. Andere allerdings lernen schnell. Sie machen oft schon als Kinder Bekanntschaft mit der Polizei. Spielzeug müssen sich die Kinder vom Wiesenrain selbst basteln. Viele Eltern haben dafür kein Geld. Anders bei Karl-Heinz. Er hat ein Dreirad, das ihm bald von kleinen Spielkameraden kaputtgefahren wird. Auch ein kleines Motorboot aus Blech kann er auf dem Wasser der Zinkbadewanne fahren lassen. An einem Weihnachtstag bekommt er tatsächlich eine elektrische Spielzeugeisenbahn. - 34 - - 35 - Seine Freude ist grenzenlos. Das Geschenk führt schnell zu einer Invasion zahlreicher kleiner Nachbarn, leider auch zu Neid. Die Freunde lassen die Lokomotive absichtlich immer wieder mit Wagen zusammenstoßen, bis die Glühbirnchen der Lok, dann die Wagen beschädigt sind. Walter muss eingreifen. Karl-Heinz darf nur noch allein mit seiner Wunderbahn spielen. Auf der Strasse gilt er plötzlich als „Angeber“ und „eingebildeter Pinsel“. Das ist hart! Er hatte seine Einladung zum Spielen doch ganz freundschaftlich gemeint. Neid findet immer einen Anlass zu falschen Beschuldigungen – das erkennt er schnell. Paradies im Krieg Jahre vergehen. Der schon erwähnte Herr Hitler hat Deutschland nach seinen Vorstellungen verändert. Es gibt keine freie Presse, keine freien Parteien, keinen politischen Widerstand. Die Industrie folgt seinen Plänen, das Volk muss gehorchen. Menschen jüdischen Glaubens bringt er um Arbeit und Brot. In der "Reichskristallnacht", wie man sie später nennt, vom 9. zum 10. November 1938, werden die Geschäfte der Juden geplündert, ihre Syna- - 36 - gogen niedergebrannt. Hinter vorgehaltener Hand sprechen Walter und Martha von Kriegsgefahr. Zunächst lebt man in der Siedlung Wiesenrain glücklich und friedlich wie bisher. Walter ist in der „Reichsdruckerei“ angestellt und stolz darauf, dass er Schecks, ja sogar Banknoten drucken darf. Martha arbeitet als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft der Meierei C. Bolle im nahen Wilhelmsruh. Für den Weg zur Arbeit wird ein Fahrrad angeschafft. Walter kann nicht Rad fahren. Er pilgert jeden Morgen zur Endhaltestelle der Straßenbahn 23, fährt „mit Chauffeur“ – wie er sagt – in die Stadt. Als Walters Detektorapparat nicht mehr zeitgemäß ist, wird ein Volksempfänger angeschafft. Mehr für KarlHeinz. Der „Lorbass“, wie seine Mutter ihn nach Ostpreußischer Mundart nennt, ist auf “Die Kunterbunt“ scharf, eine Kindersendung im Radio. Was am 1. September 1939 aus dem Lautsprecher kommt, sind keine freundlichen Worte. Morgens in den Nachrichten gibt der Sprecher bekannt, dass die Deutsche Wehrmacht in Polen einmarschiert. Am Nachmittag um 16 Uhr verkündet Hitler „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurück geschossen. Und von nun an wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Der Krieg ist da! Zwei Tage - 37 - später erklären auch England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. In der Siedlung Wiesenrain stecken alle den Kopf in den Sand, besonders, als die Wehrmacht das schwache Polen schnell niederkämpft. Als das Nachbarland nach einem Monat am Boden liegt, kommt Stolz auf, Stolz auf „unsere Jungs“. An die Folgen denkt niemand. Der „Sohnemann“ erhält sogar einen Satz Soldaten aus Elastolin. Vater erklärt ihm, dass eine Figur in brauner Uniform mit erhobenem Arm „Der Führer“ sei. Ein dicker Mann in weißer Uniform sei der Reichsmarschall Hermann Göring und ein kleiner brauner Mann Joseph Goebbels. Von nun an weiß Karl-Heinz, wie die Leute aussehen, die er manchmal im Rundfunk schreien hört. Seine Eltern hören regelmäßig die Übertragungen der Reden, um zu erfahren, was in den Berliner Regierungspalästen geplant wird. Sie ärgern sich darüber, dass es ab sofort verboten ist, ausländische Rundfunksender zu hören. Einige, die sich nicht an das Verbot halten, büßen ihr „Verbrechen“ im Gefängnis. Walter und Martha versuchen es dennoch – heimlich. Mit klopfenden Herzen lauschen sie ab und zu der englischen Senderkennung, dem mehrfachen dumpfen Paukenschlag und amüsieren sich zunächst über - 38 - die finsteren Drohungen der englischen Nachrichtensprecher. Zum Glück werden die beiden nie beim Abhören des „Feindsenders“ überrascht. Postkarten aus Paris Sie sind nicht beunruhigt, als Hitler am 10. Mai 1940 seinen Feldzug gegen Frankreich beginnt. Doch die rücksichtslose Unterwerfung von Holland, Belgien und Luxemburg gegen jedes Völkerrecht sieht Walter als gefährliche Aktion, die einmal bittere Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Sein Bruder schickt als Soldat aus dem besetzten Paris fröhliche Postkarten. Walter ist nun erst recht besorgt. Der Waffenstillstand mit Frankreich ist kein Friedenszeichen. Trotz der Waffenruhe bleibt Deutschland weiter im Unrecht. Doch ungeachtet aller Turbulenzen in der Welt der Erwachsenen gedeiht Karl-Heinz weiterhin prächtig. Am liebsten ist der Fünfjährige „draußen“. Das heißt „im Garten“ oder „auf der Wiese“, oder auch an den Bahndämmen aus Kies. Dort ist ein Paradies für Wühlmäuse entstanden. Wenn ihn seine Mutter sucht, ist er meist „anne - 39 - - 40 - - 41 - Bahne“, natürlich mit Spielkameraden. Sein bester Freund heißt Kurt. Mit ihm zusammen versucht er die flinken Zauneidechsen zu fangen, die es im lockeren Kies zu Hunderten gibt. Wenn er einmal eine erwischt, verliert sie den Schwanz und läuft davon. Nur das zappelnde Ende der Echse bleibt zurück, zur Verwunderung der Lausbuben. Der kleine Kurt gefällt auch Martha. Wenn seine Eltern nicht daheim sind, bekommt er gemeinsam mit Karl-Heinz sein Mittagessen. Eines Tages kommt Kurtchen heulend den Weg entlang. Er läuft so sonderbar, mit breitbeinigen Schritten. Martha sieht ihn und fragt, was passiert ist. Sie denkt an eine Keilerei, an der ihr Sprössling beteiligt sein könnte. Die Antwort beruhigt sie: „Ick hab mir bloß inne Hose geschissen!“. Kurt wird nicht alt. Als er sechs Jahre alt ist, bleibt er eines Tages allein im Häuschen seiner Eltern. Der Vater arbeitet in der Stadt, die Mutter fährt mit dem Rad zur Apotheke, weil ihr Junge Fieber hat. Als sie mit einem Medikament zurückkommt, liegt Kurt nicht mehr in seinem Bett. Sie findet ihr Kind mit dem Kopf nach unten in der Kohlenkiste neben dem Küchenherd. Kurt ist tot. Er ist in die Kiste gefallen und erstickt. - 42 - Auch Karl-Heinz muss ab und zu allein bleiben. Zum Beispiel, wenn die Eltern ausnahmsweise einmal ins Kino gehen wollen, ein großes Unternehmen. Sie können nur mit der Straßenbahn in die Stadt fahren. Der ganze Ausflug dauert drei Stunden. Einmal sind sie bei ihrer Rückkehr entsetzt. Das Haus ist leer, ihr Kind verschwunden – mitten im Winter. Als sie verzweifelt zu Schwager und Schwägerin in die Nachbarsiedlung laufen, finden sie Karl-Heinz friedlich schlafend im Bett der Tante. Er ist im Nachthemd barfuss durch den Schnee hinüber gelaufen. Nicht einmal einen Schnupfen hat er sich dabei geholt. Karl-Heinz kommt in die Schule. Das ist ein großer grauer Steinbau in der Kastanienallee. Das Gebäude sieht aus wie eine Raubritterburg – wenig Vertrauen erweckend. Der neue Schüler wird an seinem ersten Schultag von einer Cousine seinem Lehrer übergeben. Martha steht ja hinter der Ladentheke. Doch der Lehrer ist ein freundlicher Herr mit dem Namen Weißfuß. Er hat sofort die Sympathie der Kinder und der Eltern. Er fängt noch mit der alten SütterlinSchrift an: „Rauf, runter, rauf – Pünktchen drauf. Das ist das „i“. Doch schon nach wenigen Schul- Ende der Leseprobe von: Kriegskind - Eine Jugend in Berlin Karl-Heinz Darweger Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1Y2pH1s
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