SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Almanci Ein Einwandererkind wandert aus AutorIn: Nina Bust-Bartels Redaktion: Fabian Elsäßer Regie: Felicitas Ott Sendung: Donnerstag, 02.06.16 um 10.05 Uhr in SWR2 __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de ___________________________________________________________________ Atmo 01 (Markt unten) Regie: Marktschreier kurz frei stehen lassen, dann runter und Erzähler drüber Erzähler Berge praller roter Tomaten, leuchtende Clementinen, duftende Bündel mit frischen Kräutern: Der Wochenmarkt im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ist berühmt für seine große Auswahl. Dileks Blick schweift über die Stände. Mit ihren 28 Jahren ist sie jünger als die meisten hier. Ihre langen braunen Haare fallen über ihren schwarzen Mantel. Zielstrebig geht Dilek auf einen der Händler zu. Sie kennt sich aus, weiß bei wem die Orangen besonders süß sind und wo sie kurz vor Feierabend das beste Schnäppchen machen kann. O-Ton 1 Dilek: Es wird vieles in der Türkei angepflanzt. Die Bananen sind von der Türkei. Da ist, ich glaub, weniger etwas was ich jetzt vom Ausland hier sehe. Erzähler Dilek lebt seit 11 Jahren in Istanbul, aufgewachsen aber ist sie in Betzdorf in RheinlandPfalz. Ihre Großeltern waren unter den ersten der sogenannten Gastarbeiter, die in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen. Dilek ist eine Almanci, so heißen hier in Istanbul die Kinder, deren Eltern einst aus der Türkei nach Deutschland gingen und die nun in die alte Heimat ihrer Eltern zurückkehren. Almanci ist eine Wortschöpfung aus Aleman, dem türkischen Wort für Deutsche, und Yabanci - Ausländer. Almanci wie Dilek sprechen türkisch, haben oft türkische Namen und sind doch irgendwie deutsch, irgendwie Ausländer hier. O-Ton 02 Dilek: Die erste Zeit, die ersten Monate, vielleicht das erste Jahr noch hat man’s auch recht an meinem Türkisch gemerkt, dass ich aus dem Ausland komme und ich musste dann immer schon dem Händler sagen, ich bin Einheimische, ich bin kein Tourist, bitte keine Touristenpreise. Und jetzt die Jahre, kommt mir kaum noch vor, dass mir das angemerkt wird. Erzähler Der Markt wird immer samstags in einem doppelstöckigen Parkhaus aufgestellt. Dilek macht noch einen Abstecher auf das obere Deck. Hier gibt es Kleidung zu kaufen, und die Kunden sind viel jünger als einen Stock tiefer. Dilek bleibt an einem Stand mit TShirts stehen. 2 Atmo 02 (Markt oben) O-Ton 03 Dilek: Also fünf Lira, das sind ungefähr keine zwei Euro, das kriegt man glaube ich nicht mehr auf einem Wochenmarkt in Deutschland. Vor allem für die Qualität, also die haben auch echt recht gute Qualität hier auf den Wochenmärkten, muss man gestehen, weil die Menschen legen da schon Wert drauf. Atmo 03 (Dilek spricht mit Verkäufer am T-Shirtstand) Regie: Atmo 07 kurz frei stehen lassen O-Ton 04 Dilek: Sehr viel Ware, die für Europa produziert wurde, aber dann doch nicht mehr exportiert wurde. Deshalb kriegt man auch hier sehr gute Ware teilweise von bestimmten Marken, die dann als Überproduktion gelten und die dann auf dem Markt landen am Ende, weil sie halt nicht exportiert wurden. Atmo 04 (Tee, Fans) Erzähler Als Dilek den Markt verlässt, schallt schon der Gesang der Fussballfans durch das Viertel. Wie im Rest Istanbuls spielt auch hier in Beşiktaş ein Großteil des Lebens draußen auf den Straßen. Heute spielt der berühmte Fussballclub des Viertels, an den auch der ehemalige VfB-Stürmer Mario Gomez derzeit ausgeliehen ist. Fussball ist eine leidenschaftliche Angelegenheit in Istanbul. Und so haben alle Cafés und Bars einen Fernseher auf die Straße gestellt und die Fangesänge kommen nicht nur aus den Lautsprechern, sondern auch direkt von den Bürgersteigen und aus den Cafés. Bevor sie nach Hause geht, will Dilek noch einen Çay trinken und einen Blick auf den Spielstand werfen. Auch sie interessiert sich für Fussball. Dilek bewegt sich ganz selbstverständlich, hält hier einen kurzen Plausch mit dem Kellner, scherzt da mit dem Straßenverkäufer. Es scheint, als wäre Istanbul ihre Heimat. O-Ton 05 Dilek: Das ist eines der schwierigsten Fragen für mich in meinem Leben allgemein zu beantworten, weil ich weiß es nicht, was meine wahre Heimat ist. Es ist in drei gespalten durch die Kultur von der türkischen Minderheit, das in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, die deutsche Kultur und dann aus Griechenland allgemein die Kultur. Speziell hier mag ich die Frage überhaupt nicht, wenn die Menschen mich fragen, ah wo kommst du denn her, also aus welchem Teil von der Türkei? Und ich muss dann immer sagen, ich komm nicht aus der Türkei. - Ja wie? Du sprichst aber doch türkisch, aber du hast doch einen türkischen Namen. 3 Atmo 05 (Tee bestellen) Erzähler Deutschland, Türkei und Griechenland. Dilek spricht drei Muttersprachen, hat drei Heimaten. Ihre Großeltern gehören zu der türkischen Minderheit, die sich im 14. Jahrhundert im europäischen Teil des Osmanischen Reichs ansiedelte und bis heute in Griechenland lebt. Während ihrer Kindheit in Betzdorf in Rheinland Pfalz sprachen Dileks Eltern mit ihr türkisch und untereinander griechisch. Mit Freunden, Nachbarn und in der Schule sprach Dilek deutsch. Zwischen Sprachen hin und her zu springen, verschiedene Kulturen zu verbinden, das war für Dilek schon immer Alltag. O-Ton 06 Dilek: Wir sind viel weltoffener in Deutschland immer großgeworden, muss ich so sagen, also dass wir auch unter mehreren Fremden groß geworden sind. Nicht nur türkische oder deutsche oder griechische, sondern von aller Welt, das sich da Leute zusammen gegeben haben und dort leben. Das ist eine große Vielfalt, man ist viel weltoffener und die Einstellung ist recht anders. Erzähler In dieser Vielfalt fühlte Dilek sich wohl. Sie ist gerne in Deutschland aufgewachsen, hatte eine glückliche Kindheit. Und doch war da immer dieses Gefühl, anders zu sein. O-Ton 07 Dilek: Auch wenn ich ab und zu in den Schuljahren ein paar Diskriminierungen erleben musste, aber ansonsten war’s im Allgemeinen immer recht freundlich. Das ist im Unterbewussten auch eher, man gehört halt nicht dazu. Auch wenn ich mich wirklich deutsch fühle, ich bin nicht deutsch. Es fängt schon ganz einfach mit dem Namen an, also da muss man eigentlich gar nicht so weit gehen. (..) Der Name ist nicht deutsch, das ist die erste Identität mit der man erkannt wird und dann geht’s weiter mit der Familie und allem. Also, dass ich nicht wirklich sagen kann, ich gehöre dazu. Erzähler Aber hier in Istanbul kommt es trotzdem immer wieder: Heimweh. Nach Deutschland, das doch eigentlich nie Heimat war. Wie kann das sein? O-Ton 08 Dilek: Da dachte ich eher, dass ich mich wohlfühlen werde. Aber nachdem ich hier hergekommen bin, habe ich doch eher gemerkt, wie fremd ich dem hier bin und was mir eigentlich wirklich zum Leben dazu gehört, ist das das ich dort mein Leben lang gesehen habe und erlebt habe. 4 Erzähler Wenn das Heimweh kommt, geht Dilek am liebsten in eine Kirche. Sie ist Muslima, aber Kirchen erinnern Dilek an Deutschland, an ihre Kindheit, wo sie mit ihrer Grundschule manchmal in den Gottesdienst ging. O-Ton 09 Dilek: Für mich Gotteshaus ist Gotteshaus, ob es die Kirche ist, ob es die Moschee ist, es ist einfach Gottes Haus, da macht es für mich gar keinen Unterschied. Es tut mir gut, auch ab und zu in die Kirche zu gehen. Wenn ich manchmal schlecht gelaunt bin und hab ne Kirche auf dem Weg, dann sag ich, ok geh rein, mach ne Kerze an und fühl mich danach auch viel besser wieder. Atmo 06 (Raumpause Dilek) Erzähler Dilek wohnt in einer der ruhigen Seitenstraßen von Beşiktaş. Ihr Wohnzimmer hat sie mit einer Freundin blau gestrichen, auf den Fotos an den Wänden strahlt Dilek mit ihren Freundinnen aus der Kindheit in Deutschland in die Kamera. Männer sind nicht zu sehen. Am Ende ihres Studiums war Dilek für ein paar Jahre verheiratet, inzwischen ist sie geschieden und eigentlich auch noch viel zu jung, um sich schon festzulegen, findet sie. Ihre Eltern unterstützen Dilek, in all ihren Entscheidungen. Das gibt ihr Kraft. Dilek sitzt auf dem grauen Ecksofa, neben ihr Fatma, ihre Mutter: braune Haare, ein rundes warmes Gesicht. Musik (Sevemedim Kara Gözlüm) O-Ton 10 Dilek: Es ist eines unserer meist geliebten Lieder zwischen uns beiden. Es heißt sevemedim kara gözlüm und bedeutet: konnte dich nicht lieb haben, mein Dunkeläugiger. O-Ton 11 Mama ist für mich das einzige Wahre im Leben. (Fatma lacht) Auch wenn ich sie ganz oft traurig mache, wenn ich mich nicht melde bei ihr und weiß, dass sie dann immer sauer ist auf mich. Aber Mama ist das Unverzichtbare im Leben, also ich könnte auf jeden anderen Menschen verzichten, aber nicht auf meine Mama. Erzähler Fatma schaut ihre Tochter mit liebevollem Blick an. Auch sie kann sich ein Leben ohne ihre Tochter nicht vorstellen. Als Dilek vor zehn Jahren - damals fast noch ein Kind - beschloss nach Istanbul zu gehen, konnte Fatma es nicht ertragen, ihre Tochter so weit weg zu wissen. 5 O-Ton 12 Fatma: Dilek, wenn du Mama wirst, dann kannst du mich verstehen, wie Mama ist. Das Mamaherz ist ganz anders. Erzähler Der Grund, wieso Dilek ging, ist kompliziert. Es hat viel mit dem unterbewussten Wissen zu tun, nicht dazuzugehören, mit Gefühlen, die sich nicht auf konkrete Ereignisse zurückführen lassen. Aber den Auslöser, den kennt Dilek ganz genau. Es begann mit ihrer Leidenschaft für Medizin. O-Ton 13 ’ Dilek: Als Kind habe ich nicht Kinderbücher gelesen, sondern immer die Bücher von Papas Studium die ganzen Bücher durchgekramt mit den ganzen Bildern und immer gefragt, was ist das und was ist dies. Das war immer schon interessant für mich. Erzähler Und jetzt leuchten die Augen, auch heute noch. Dilek wollte immer schon Krankenschwester werden. Nach ihrem Realschulabschluss bot ihr das Krankenhaus in Siegen ein Langzeitpraktikum an - sechs Monate, Schichtdienst. So richtig früh aufstehen. Aber Dilek wusste: das ist das, sie ich machen will. Nach sechs Monaten unbezahlter Arbeit bewirbt sie sich für einen Ausbildungsplatz in diesem Krankenhaus. Sie wird abgelehnt. Das Krankenhaus ist ein christliches. Dilek als Muslima darf hier nicht arbeiten zumindest nicht für Geld. O-Ton 14 Dilek: Ich kann mich noch.. Die Absage kam als Brief nach Hause und ich… oh. Ich habe Tage lang, das Wochenende war nur am Weinen, weil das hat mir so weh getan, nach der ganzen Arbeit, die ich da geleistet habe. Es war wirklich nicht einfach, speziell der Punkt, dass ich weiß, es kommt nicht von meiner Leistung her, weil ich gute Leistungen gebracht habe, weil ich einen guten Schulabschuss hatte. Es war einfach meine Identität, die das nicht erlaubt hat. Fatma: Das war sehr schwer dann. Wie ich auch gesehen habe, dass meine Tochter sich so gequält hat und geweint, da habe ich gesagt, ›ist ok, ich lasse es, jetzt kannst du nach Türkei.‹ Erzähler Bis heute kann Dilek nicht verstehen, warum ihre Religion ein Hindernis gewesen sein soll. Im Gegenteil: 6 O-Ton 15 Dilek: Das war halt auch etwas, was sie eigentlich sehr gebraucht haben, weil ich hab Tage gehabt, wo die mich von anderen Stationen die ganze Zeit hin und her gerufen haben, weil die hatten Patienten, die kein Deutsch sprechen konnten. Ich hab eine Patientin gehabt, die lebte seit 40 Jahren in Deutschland und konnte einer einfachen Frage nicht antworten. O-Ton 16 Fatma: Yavrum heißt mein Kind. Das ist mein Kind, mein Yavrum. Erzähler Fatma legt den Arm um ihre Tochter und zieht sie auf der Couch zu sich heran. Ihre Hand streicht durch Dileks Haare. h e , b ’12’’ Di l ) Erzähler Zwischen Dileks langen schwarzen Haaren versteckt sich eine blond gefärbte Strähne. Regie: Atmo bei 0’12’’ kurz frei stehen lassen: Fatma: Was hast du denn wieder gemacht, Dilekchen? Dilek: Hab ich doch schon lange. Fatma: Na dat war ja blau. Dilek: Ja die Farbe ist halt nur weg, jetzt ists blond. Fatma: Ach du liebes bisschen. Erzähler Wie alle Mütter, kennt auch Fatma diesen Punkt, an dem die Kinder eigene Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die man selbst nicht unbedingt gut findet. O.Ton 17 Fatma: Wie Dilek sich vom Krankenhaus-Bewerbung hat die Absage gekriegt und dann habe ich gesagt, ist gut mein Mädel. Ich drück meinem Herz einen Stein, schick ich dich, aber war für mich schwer, war sehr schwer. O-Ton 18 Dilek: Es war dann auch .. Die Mama hat das dann irgendwann auch wirklich gesehen, mir geht’s dann nicht mehr gut, weil ich das nicht so einfach verarbeiten konnte und das erste was wir abgemacht hatten, war ja nur für ein Jahr hierher zu kommen. So hatte ich die dazu überredet. Fatma: Ja so hat sie es gemacht. 7 Erzähler Dilek fängt an zu studieren, sie fühlt sich wohl in Istanbul, wird selbständig – und erwachsen. Fatma fährt in den folgenden Jahren immer wieder zu Dilek nach Istanbul – sooft sie Urlaub bekommt, besucht sie ihre Tochter. Aber die Sehnsucht bleibt. Wenn Fatma zurück nach Deutschland fährt, plant sie in Gedanken schon den nächsten Besuch. – Und mit der Zeit werden ihre Besuche länger, die Abstände kürzer. O-Ton 19 Fatma: Damals hat mir auch mein Mann gesagt, wenn du einen Monat Türkei Istanbul verbringst, dann kommst du nicht nochmal zurück. Dann war’s auch so. Erzähler Fatma kündigt ihre Arbeit und beschließt zu Dilek nach Istanbul zu ziehen. Nach fast 40 Jahren in Deutschland will sie zurück in die Türkei. Und Dilek? Wie findet sie es, dass ihre Mutter plötzlich vor der Tür steht und sagt »ich bleibe«? O-Ton 20 Fatma: Nicht gut. Dilek: (lacht) Also ich hatte eine verdammt schöne Zeit an der Uni, halt wie das so ist als Student, Familie finanziert, wohne alleine, muss nicht in einer WG oder muss nicht irgendwie in einem Studentenwohnheim.. ja und hatte meine Freiheit, konnte Party machen, was ich wollte, konnte mich einfach in Istanbul ausleben. Ja und dann auf einmal sagte die Mama: ›jetzt komme ich und jetzt bleibe ich aber hier. Fatma: Dann war aber schwer für die Dilek. Dilek: Das war super anstrengend die erste Zeit vor allem, weil ich war einfach die letzten drei Jahre frei, musste niemandem melden, wann ich nach hause komme, musste nicht Bescheid sagen, wo ich hingehe, was ich mache, war einfach alleine. Und auf einmal kam die Mama und die fragt dann jeden Tag ›wo gehst du hin? Wann kommst du morgen von der Uni? Wer ist das, wer ist dies? Welche Freundinnen sind das? Erzähler In der ersten Zeit wohnte Fatma bei Dilek, da blieben die Reibereien nicht aus. Dilek war erwachsen geworden, hatte mehrere Jahre selbstständig in Istanbul gelebt und jetzt sollte sie wieder in die Rolle eines Kindes schlüpfen? Mutter und Tochter mussten ihre Beziehung neu verhandeln. Mittlerweile hat Fatma aber eigene Wohnung und ihr eigenes Leben in Istanbul. Dilek hat mit ihrer Entscheidung, nach Istanbul auszuwandern auch Fatma ermöglicht, ihr Verhältnis zu ihren Heimatländern neu zu ordnen. 8 O-Ton 21 Fatma: Aber jetzt sage ich, gut dass Dilek nach Istanbul gekommen ist. Damals wollte ich nicht, aber danach habe ich gesagt, Gottseidank gut dass du nach Istanbul gekommen bist. Hier habe ich einen Chor und mir geht es sehr sehr gut. Wenn ich nach Deutschland, da bin ich wieder wie eine schwarze Loch drin. Regie: Gesang von 42 Atmo kurz stehen lassen O-Ton 22 Fatma: Ich habe sehr viele Freunde hier gefunden. Ich kann mich mit allen auch sehr gut verstehen und so erwarte ich, dass der Dienstag und Donnerstag schnell kommt, damit ich auch hier hinkomme, das macht mich auch dann glücklich so. Atmo 09 (Chor-Raum mit Gesprächen und Kanun) O-Ton 23 Fatma: Also hier wenn du Sorgen, Probleme hast und bist unter den Leuten zusammen, dann ist das alles weg. Erzähler Der Chor, in dem Fatma singt, probt im Vereinsheim eines lokalen Sportvereins. Der Raum ist groß und kalt, in der Ecke liegen die Trikots der Fußballmannschaft und grelles Neonlicht spiegelt sich in den Pokalen an der Wand. Für die Proben haben sie die Tische an die Wände geschoben, die Stühle im Halbkreis aufgestellt. Fatma und die anderen haben ihre Jacken angelassen. Während der Kanunspieler sein Instrument stimmt, begrüßen sich die Frauen aus dem Chor. Ein Kanun ist ein harfenähnliches Zupfnstrument, ein Vorläufer der europäischen Zither. O-Ton 24 Fatma: Musik ist für mich auch ein Heimat, also in vielen Lieder, wenn ich singe das ist für mich gedacht, wie mein Leben. O-Ton 25 Fatma: Ich habe gerne noch mehr solches Lieder gesungen, wenn ich traurig bin und wenn ich auch glücklich war, habe ich auch solche Lieder gesungen. Jetzt kommt die Chor. O-Ton 26 Fatma: Dieses Lied gefällt mir und ich singe auch sehr gerne. Und als Kind habe ich auch gerne mit mein Bruder in Griechenland haben wir gerne gesungen. Und dann haben wir mit meinem Bruder solches trauriges Lieder immer gesungen. 9 Erzähler Für Dilek und Fatma ist es wichtig, dass jede ihr eigenes Leben und ihre eigenen Hobbys hat. In den Jahren nachdem Fatma zu Dilek nach Istanbul zog, ist aus der Mutter-Tochter Beziehung immer mehr eine Freundschaft auf Augenhöhe geworden. Atmo 10 (Park) ’ O-Ton 27 Dilek: Das Mama-und-Kind-sein ist natürlich da, Mama möchte mich immer noch heutzutage jeden Moment in Schutz nehmen und regieren teilweise, aber jetzt ist es mehr, dass sie auch sieht, ich bin älter geworden, ich bin erwachsen geworden, treffe meine eigenen Entscheidungen und sie vertraut mir auch mehr. Erzähler Dilek sitzt in dem Park in ihrem Viertel. Eigentlich würde sie gerne viel öfter hier sitzen, aber Dilek muss wie in der Türkei üblich sechs Tage die Woche arbeiten. Sie arbeitet für eine Firma, die online-Buchungssysteme für Fluggesellschaften programmiert. Aber heute ist Samstag und einer der letzten schönen Tage im Jahr, obwohl schon Dezember, die Istanbuler Sonne ist noch stark. Die Bank steht in der Sonne und Dilek hat ihren Mantel geöffnet. Hinter ihr spielen Kinder Fußball. Dilek kommt gerne hier her. Dileks Vater lebt noch in Betzdorf, dem Ort in Rheinland-Pfalz, in dem Dilek aufgewachsen ist. Erst vor ein paar Tagen war er noch zu Besuch in Istanbul. Seit Fatma in die Türkei gezogen ist, kommt er häufig. Oder sie treffen sich in Griechenland oder in ihrem Haus in Betzdorf. Dilek hat auch zu ihrem Vater eine ganz besondere Beziehung. O-Ton 28 Dilek: Mein Papa ist etwas ganz spezielles für mich, weil er immer auch als er uns großgezogen hat wie ein Freund zu uns gewesen ist und egal was gefragt wurde. Er hat uns immer Erklärungen gegeben, es gab nie die Antwort ›Nein, du kannst nicht.‹ Es wurde gesagt, wieso man nicht kann und das war immer so das Tolle mit Papa, dass man so schön kommunizieren konnte. Und wir haben es mit Papa geliebt, abends zu Hause zu sitzen und über die ganze Welt und über Politik und alles mögliche zu diskutieren, uns auszutauschen. Er hat immer viel Wert drauf gelegt, auf meine Meinung, auch wenn ich das Kind von ihm bin, war es immer sehr wichtig für ihn, dass ich überhaupt meine Meinung äußern kann, was leider ich sagen muss in der türkischen Gesellschaft überhaupt nicht der Fall ist. Dort haben die Eltern immer recht und die Kinder dürfen gar nicht ihre eigene Meinung bilden. Das was die Mama oder der Papa, vor allem der Papa dann sagt, gilt als Gesetz quasi 10 sozusagen und bei uns war das ein ganz großer Unterschied mit Papa, wir durften uns über alles frei äußern, Papa war der der mich damals in der Grundschule aufgeklärt hat, mit Papa konnte ich über alles reden und kann es immer noch. Erzähler Dilek ist ein politischer Mensch, in Deutschland war sie bei den Grünen aktiv. Das hat sie von ihrem Vater. O-Ton 29 Dilek: Und da hatten wir immer viel auch worüber wir mit Papa dann diskutieren konnten, wo wir beide verschiedene Meinungen hatten und am Ende hab ich dann eigentlich gewonnen, nachdem ich hierher gezogen bin, ist der Papa zu den Grünen, hatte er rüber gewechselt und war auch wieder aktiv dort in der Stadtverwaltung als Mitglied. Es war sehr schöne Zeiten und es ist auch etwas, was mit fehlt, politisch aktiv zu sein, was nicht mehr so einfach möglich ist in der Türkei. Erzähler In den letzten zehn Jahren hat sich viel verändert in der Türkei, sagt Dilek. Das Land ist viel polarisierter geworden. Das merkt Dilek auch im Alltag. O-Ton 30 Dilek: In den ersten Jahre in denen ich hier hergekommen bin, konnte ich mich viel freier kleiden und agieren, wie ich wollte, aber jetzt geht es immer weiter zurück und der Druck, der politischen Situation heute ist viel stärker geworden, dass man.. entweder hält man zu der Regierung oder der Partei oder man ist komplett dagegen und wird wie ein Feind behandelt. Also es gibt hier kein grau, entweder ist es weiß oder schwarz. Erzähler Dilek zieht den Mantel wieder über ihre Schultern und steht auf. Die Sonne geht langsam unter und dann wird es sehr schnell kalt. Außerdem will Dilek heute noch zu ihrer Mutter fahren. Auf dem Weg zur Bushaltestelle liegt eine deutsche Bäckerei. Die Inhaberin hat ihren Meister in Mannheim gemacht und verkauft nun nach deutscher Backtradition Brote und Kuchen in Istanbul. Dilek vermisst das deutsche Vollkornbrot, Brezeln und Käsekuchen und kauft deswegen gerne hier ein. Atmo 11 (Bäckerei) O-Ton 31 Dilek: Direkt an der Scheibe außen alles auf deutsch: helles Mischbrot, Bauernbrot. Das riecht schon nach Deutschland, ja. Wunderschön. Haben sie auch wirklich Käsekuchen, ja sieht schon recht nach Käsekuchen aus. Also ich könnte jetzt vor Freude in die Luft 11 springen, also ich kann mich jetzt gar nicht entscheiden, ich sehe den Käsekuchen, ich sehe den Bienenstich, ich sehe hier so vieles, Streuselkuchen, das ist der Wahnsinn gerade für mich. Jetzt schauen wir erstmal nach Brot. Ne ekmek nede var? Atmo 12 (Bäckerei) O-Ton 32 Dilek: Bienenstich ist die Lieblingstorte von der Mama. In der Schwangerschaft für mich hat sie übertrieben viel Bienenstich gegessen. Bin jetzt gespannt, was ihre Reaktion sein wird, wenn sie an ihre Schwangerschaft vor fast 28 Jahren erinnert wird. Atmo 14 (Ankommen bei Fatma) Erzähler Fatmas Wohnung liegt in Çapa, dem Altstadt-Viertel von Istanbul. Dilek klingelt und läuft die Treppen hoch - den Bienenstich in der Hand. Fatma umarmt ihre Tochter. Die beiden sehen sich jede Woche. Und doch begrüßen sie sich so herzlich, als hätten sie sich Monate nicht gesehen. O-Ton 33 Dilek: Ich liebe das. Ich liebe zu Mama zu kommen und dann einfach hier nichts zu machen, einfach auf der Couch rumzuliegen und Mamaessen zu haben. Weil es schmeckt eben immer anders, also nichts ersetzt Mama seine Küche. Atmo 15 (Raumpause mit Geschirrgeklapper) Erzähler Dilek hat sich auf eines der beiden Sofas im Wohnzimmer fallen lassen. Die Wohnung ist hell und auf eine gemütliche Art und Weise vollgestopft, an den Wänden hängen Familienfotos. Wie immer wenn Dilek kommt, hat Fatma gekocht. Es gibt Eintopf mit Würstchen. Der Eintopf ist türkisch und die Würstchen deutsch. Immer wenn Fatma in Deutschland ist, bringt sie ihrer Tochter Würstchen mit. Auch für Fatma sind die Würstchen eine Kindheitserinnerung, denn sie ist mit 12 Jahren nach Deutschland gekommen. O-Ton 34 Fatma: Meine Eltern damals sind in Deutschland, weil brauchten Arbeit, brauchten Geld. Deutschland brauchten Arbeiter und wir brauchten den Geld. Das war ja arme Land damals - wie jetzt auch, jetzt Griechenland auch wieder. 12 O-Ton 35 Fatma: Ich hatte keine Unterstützung, weil meine Eltern konnten auch nicht richtig deutsch. War für mich wie eine Hölle, war nicht gut, war nicht schön für mich. Erzähler Deswegen konnte Fatma auch verstehen, dass ihre Tochter mit 17 in die Türkei ziehen wollte. Sie verstand, dass Dilek nicht mehr anders sein wollte. O-Ton 36 Fatma: Wie ich damals in Deutschland Schule gegangen, meine Schulkameraden haben Geschenke gekriegt, Ostern oder Weihnachten und wir Türken, also muslimische Kinder, die kriegen ja so etwas nicht. Dann hat mich so innerlich getroffen, habe ich dann gesagt, wenn ich später heirate und ich hab Kinder, ich werd mein Kinder egal in welchem Land ich bin, ich werd mein Kinder an diesem Land passend großziehen. Ich hab alles gemacht, an Nikolaus, die haben mir dann schöne Briefe geschrieben, unter die Fußmatte hin draußen, und wie die morgens Tür aufgemacht haben, haben sie sich dann so gefreut und haben auch in der Schule mit zusammen mit den anderen Kindern erzählt. Und das war auch schön so. Aber wie ich damals das war net schön, ich habe immer gesagt, mein Gott, warum ich, warum wir nicht so? Erzähler Die Erfahrung des Anders-seins teilen Fatma und Dilek. In den Jahren in Deutschland haben sie die Erfahrungen gemacht, dass es durchaus einen Unterschied macht, ob sie für Griechinnen gehalten wurden oder für Türkinnen. O-Ton 37 Dilek: Der erste Augenblick war der Name, aber sobald das deutsche Umfeld das gehört hat, dass wir griechisch sind, war es total anders, also wie die mit uns umgegangen sind. Viel freundlicher, viel toleranter. Definitiv, muss ich sagen. Also wir hatten auch als Familie den Vorteil, dass wir dann als griechisch gesehen wurden und behandelt wurden. Fatma: Ja, so war das. Erzähler Auf der Straße oder beim Einkaufen auf dem Markt werden Dilek und Fatma ganz selbstverständlich für Türkinnen gehalten. Aber bei Freunden und Bekannten, sobald man sich etwas besser kennt, sind sie die Deutschen. Dann werden ihnen ihre Eigenschaften als deutsch ausgelegt. O-Ton 38 Dilek: Da war ja immer schon, wir wurden immer schon da in Deutschland als Griechen abgestempelt, jetzt werden wir hier als Deutsche abgestempelt quasi. Die deutsche 13 Dilek oder die deutsche Fatma. Fatma: Ja ich komme von da, aber ich bin ja jetzt hier. Ich hab meine Name, die brauchen nur Fatma sagen, nicht aber von Deutschland oder von Griechenland. Fatma. Dilek: Es ist immer so ein Etikett welches an uns drangehangen wird, man wird’s nicht los und deshalb kann man einfach sich auch nicht wirklich hier einheimisch fühlen, man ist immer noch teilweise fremd, weil man immer damit auch abgestempelt und etikettiert wird, dass man.. Also hier sind wir die deutschen und in Deutschland waren wir die Griechen. Erzähler Dilek und ihre Mutter sind selbstbewusste und eigenständige Frauen. Sie wissen, was sie wollen. Und machen es dann auch. Diese Eigenschaft wird ihnen häufig als sehr deutsch ausgelegt. Dabei war auch schon Dileks Großmutter eine starke Frau - auch wenn sie nicht in Deutschland aufgewachsen ist. O-Ton 39 Fatma: Meine Mutter hat immer eins gesagt, ich hab das von meine Mama: Wenn ich mein Kind unter zwanzig Männern rein lasse, ich weiß, wie mein Kind raus kommt. Wie soll ich denn jetzt sagen, kannst du mir dann unterstützen, Dilek?Dilek: Die Mama will einfach nur damit zum Ausdruck bringen, die Frau kann sich auch selber schützen, also die braucht keinen Mann, der sie in Schutz nimmt, die Frau ist die Frau in sich selbst. O-Ton 40 Dilek: Die Mama, die hat auch jahrelang, in denen sie gearbeitet hat sich auch immer ganz gut durchgesetzt und das habe ich von der Mama gut gelernt, also ich habe damit überhaupt gar keine Schwierigkeiten, mich auch gegenüber Männern durchzusetzen. Das ist halt auch ein Punkt, hier wird auch oft gesagt für die Mama, das ist die, entweder die deutsche Fatma oder die griechische Fatma oder die männliche Fatma - erkekFatma sagt man sehr oft. Und das kriege ich auch sehr oft zu hören, dass ich manchmal zu männlich handeln würde, weil man einfach frei die eigene Meinung vertretet und einfach selber frei entscheiden kann oder nicht permanent auf irgendeinen Mann angewiesen ist. Atmo 16 (Straßenlärm mit Moschee-Gesang) Erzähler Diese Selbstsicherheit hat Fatma ihrer Tochter mit auf den Weg gegeben. Als Dilek an diesem Abend nach Hause geht, ist es schon dunkel. Sie läuft ganz entspannt durch das Istanbuler Verkehrschaos, von den Dächern der Moscheen ruft der Muezzin zum Abendgebet. Für Außenstehende wirkt sie aus wie eine Einheimische auf dem Heimweg. Aber eine Almanci wird sie trotzdem immer bleiben. 14
© Copyright 2024 ExpyDoc