Ich sterbe Meine Galerie zu Angst, Leid und Tod

Ich sterbe
Wir sind Heimkehrer
Christoph Weisser
Ich sterbe
Meine Galerie zu Angst, Leid und Tod
Mit Kunstfotografien von Sabine Zgraggen
epubli GmbH, Berlin
Impressum
Copyright: © 2015 Text: Christoph Weisser; Foto zu Kapitel “Leiden”:
Harald Mühlhoff; alle anderen Fotos, inkl. Cover: Sabine Zgraggen,
www.gedankenfotografie.ch
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-7188-3
5
Einleitung
Nachdem ich schon einiges über das Leben und sogar den Himmel
ausgesprochen habe, will ich nun eher auf den Kern der Sache
eingehen. Und zwar nicht mehr in der dritten Person (als „Egon“ oder
„Nik Morgen“), sondern privat. Ein einziges Thema blende ich
weitgehend aus, nämlich Zuneigung und Beziehung. Die sind ja immer –
ja, immer – für unser Leben und Sterben verantwortlich. Für das
Folgende gelten sie drum quasi als Voraussetzung.
Ich schildere zuerst die Befindlichkeiten und Hintergründe für mein
Leiden; dann dieses selber; die Sehnsucht auf den Tod; die Geburt
einer Religiosität, die schwierig bleibt, weil ziemlich viele Dämonen
zugegen sind; schliesslich die effektive Verabschiedung mit ein paar
möglichen Konsequenzen. Der Aufbau des Berichts ist daher einfach,
und mit meinen Kommentaren will ich zurückhaltend sein.
Montréal, im Herbst 2015
Der Verfasser
6
ANFANG
Mein Leben, ich hätte mich gerne davor bewahrt.1
Aber es war just der Umstand, dass ich das nicht zu tun vermochte,
welcher mir sozusagen einen Strick drehte.2
GRÜNDE
Es war schwierig, im Detail die Ursachen zu belichten, weshalb ich
schon in meiner Kindheit sterben wollte. Dazu vermochte ich erst viel
später und lediglich generelle und abschweifende Gedanken zu
äussern.3
VERHÜTUNG
Ich streife meinem Vater vor meiner Zeugung ein dauerhaftes Kondom
über.
2
DEN KNOTEN LÖSEN
Wenn ich mich aufhängen würde, dann an meiner Nabelschnur. Wo nur
hatte man sie hingelegt?
3
JENE BESTIMMTE DIMENSION DES UNFASSBAREN
Welcher „Organismus“ war stärker:
Eine Dampflokomotive bei der Einfahrt in den Berg?
Ein Jet bei der Durchbrechung der Schallmauer?
Eine Taube, die vom Spitzenkoch an sein Herz gedrückt wird?
Nur ein einziges Mal hatte ich den Mut, das Definitive zu erleben. Aber die
Angst, die Aufregung davor hatte ich ein Leben lang. Erst mit den Jahren
wurde ich ruhiger.
Inzwischen waren meine Kräfte derart ruiniert, dass nur noch „palliativ“
in Frag kam. Was war geschehen? Wie nur konnte ich mein Leben
zusammenfassen? Zusammenraffen? Es ging einfach nicht, bei allen
erdenklichen Methoden!
Aber ich würde der Wahrheit schon früh genug gegenüber stehen; endlich
einwilligen und zu guter Letzt: begreifen.
1
7
Vielleicht suchte ich nur eine Vaterfigur?4
Oder ich hatte sonst Liebeskummer?5
Jedenfalls übte ich schon früh den definitiven Abschied; abends
nämlich, wenn ich mich zur Ruhe legte. Später würde ich die Methode
noch viel konsequenter und disziplinierter anwenden.6
FREMD
Ich hatte ein Verständigungsproblem. Es war, wie wenn ich nicht zu
sagen vermochte, was innerlich in mir vorging. Oder war das bereits
eine Folgeerscheinung?7
4
DER GEWINN UND DAS OPFER
Meine Haut marmorierte und die Marmorierung zeigte die Ader eines
kostbaren Gesteins. Der Arzt nahm mich zu sich und schloss mich in eine
Kammer, wo ich sterben sollte. Er beobachtete aber, dass je schlechter es
mir ging, umso blasser wurde die Ader. Nur wenn er mir seine liebende
Zuwendung schenkte, wurde der Stein kostbar. Der Arzt, der in seinem
Herzen ein Wissenschaftler war, entschied sich für die Ader und schenkte
mir seine ganze Aufmerksamkeit. Die Ader griff auf ihn über, aber ich
starb nicht. Die Ader bahnte sich den Weg über den Arm des Arztes in sein
Herz und sprengte es. Nun war er kein Wissenschaftler mehr.
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PRELLUNGEN FORTTRAGEN
Wenn er mit mir als seinem Ball gross wurde, wenn ich bis dahin seiner
geblieben bin: zurückgesprungen vom Basketballbrett in seine Hand, auf
dass er mich aufs Neue warf, ich immer besser wurde und seine Freude
wuchs. Aber natürlich hantierten immer ganze Mannschaften an mir rum.
Und ich fühlte mich verloren genug, im Drehen nach ihm auszuschauen;
zu versuchen, für ihn zu punkten; wieder mit ihm nach Hause zu gehen.
Bis ich auf die Strasse lief.
6
INTUITION
Wenn ich nicht schlafen konnte, machte ich auf Vogel und spreizte die
Flügel, als flöge ich in ein richtiges „Federbett“. Und überraschend schlief
ich noch vor der Landung ein.
7
OK ?
Es war angenehm zu sagen, was ich sah, wenn ich die Augen schloss.
8
Ich stand nicht wirklich in Beziehung. Jedenfalls nicht so, wie ich es
mir vorstellte. Aber wie wollte ich das denn als klein schon wissen?8
Es lag eine dramatische und gewisserweise drastische Gespaltenheit in
mir vor.9
Unbeabsichtigt, sicher auch unbewusst kreierte ich mein eigenes
Ambiente, welches nicht unbedingt daseinsförderlich war. Jedenfalls
nicht im landläufigen oder gemeinschaftlichen Sinn. Dabei spielte sich
eigentlich immer alles im Bezug - nicht in direkter Beziehung – zu
meinen Mitmenschen ab.10
Um eine tierische Alternative zu finden (wie gesagt ging alles
unbewusst; ich war ja noch ein halbes Kind), versuchte ich mich im
Reiten. Zumindest versuchen sollte man ja, was einem möglich ist.11
Aber es war unangenehm zu sagen, wenn ich sie - manchmal gewaltsam
und genötigt – öffnete.
Diese starken Interferenzen waren schwerlich übereinzubringen. Zwar
konnte ich „erkennen“, aber meine „Einsichten“ prallten in andern Augen
ab wie eine Fehlzündung.
8 ICH OHNE DU
Ich bin nicht. Aber Ich werde gehalten von einem Du. Und darin lebe Ich.
Aber Ich allein schreie vor Schmerz über den eigenen Schrecken.
9
SEELENBILD
Im hellen Sand der riesigen Arena lag am Rand der Torero in seinen
glitzernden Kleidern und weit von ihm versetzt der schwarze, mächtige
Stier. Der Ort war menschenleer. Ich fokussierte einzeln die getrennten
Grössen und blendete mich ganz aus.
10
NEUE WELT
An jedem Ort, an jeder Station meines Lebensweges, zeigten sich sogleich
Personen, welche diesen Ort für mich einseitig polarisierten. Alles stürzte
wie in sie hinab. Aber es war in Nizza, wo ich zum ersten Mal begann, diese
Personen aktiv auszublenden wie mit einem Kerzenschnäuzer. Und es
blieb ein wunderschönes Panorama, als wäre die Stadt verstrahlt.
11
DIE BOX ZUHINTERST
Stets wechseln die Pferde, aber jedes scheint jedes Mal (und zwar auf
immer), mein eigentliches Pferd zu sein. Ich bleibe Anfänger. Nie komm
ich von der Loge los. Bis sie das letzte Pferd aufbieten. Und wieder bin ich
der Esel.
9
Meine Problematik, ohne dass ich sie selbstverständlich in geringster
Weise in ihrer Tiefe erkannte hätte (dass aber eine da war, war
mindestens so klar), wiederspiegelte sich also auch hier, im Freizeit-,
Steckenpferd-Bereich. Pferde faszinierten mich aus einem bestimmten
Grund wie Wahnsinn. Und ich war kein Mädchen!12
LEIDEN
Ich wurde älter - war zwar, relativ gesehen, immer noch relativ sehr
jung - und mein Dasein ging schleppend, sehr schleppend sogar.13
Insgeheim litt ich an seelischen Fehlleistungen. Aber was wollte ich?
Ich kannte die klinischen Begriffe ja gar nicht. Ich fühlte sie nur
intuitiv. Und es trübte meine hoffnungsvollsten Perspektiven.14
Mir war, als wäre ich innerlich belegt mit Lasten, von denen ich nicht
wusste, aus welchen Leben oder Leibern sie möglicherweise
herrührten.15
ZAUNKÖNIG
In mir war „Satan“, das Hengstfüllen, das an die Boxen schlug und raus
wollte. Aber wohin hinaus? Um auf dem Geleise ins Tunnel zu rennen?
Und da drin von einem entgegenkommenden Licht überrannt zu werden?!
13 STEINBLÖCKE
Ich gehe über den Boden und spüre keine Existenzgrundlage. Jedes
Auffussen bricht in den Beton ein.
14 GEBRANNTES KARAMELL
Ich sah meine depressive Wahrnehmung wie einen heissen Krater
einfallen: Eine Bergkette verbrannte wie faule Zähne am Horizont.
15 DER MÜDE TIERHALTER
Ich gehe zum Tierarzt und bitte ihn alle meine kranken Tiere
einzuschläfern.
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Das Essentielle ging vermutlich über meine visuelle Wahrnehmung. Das
Licht, das ich empfing (und aussandte?!) war seltsam. Hätte man mich
gefragt, ich wäre der Ansicht gewesen, dass sich die richtige
Frühdiagnose hätte treffen lassen, hätte man ein bisschen genauer bei
mir reingeschaut.16
Ich war übertrieben empfindlich. Nicht nur emotional, auch
vegetativ.17
Shopping – für andere ein Existenzgrund – war ein Graus. Dabei meinte
ich wie nirgendwo sonst zu erfahren, wie wertlos und vergänglich alles
war; respektive, ich war. Aber ist man denn nicht alles, was man hat
oder worauf man setzen könnte?18
Würde ich am Ende, fragte ich mich, bei allem verzielten Ehrgeiz doch
noch jemandem dienlich sein können, dem vielleicht auch nicht mehr
sehr lang zu dienen übrig blieb?19
OFFENE ROLLLÄDEN
Meine Augen sprechen eine jahrelange Schlaf-/Wachstörung.
17 HYPOCHONDER
Mir ist, als stecke mir Stacheldraht im Darm. Er müsste herausoperiert
werden, damit der Schmerz nachlässt. Ich hab aber weder Medikamente,
noch kann ich um Hilfe rufen. Durch Autosuggestion verwandle ich das
vermeintliche Metall mental in Nahrungsfasern. So komm ich mit einer
leichten Darmentzündung davon.
18 NACHFRAGE?
Ich befinde mich in einem Kaufhaus, als sich plötzlich all meine
Blutgefässe zu veräussern begingen. Gleichzeitig dringt die
Fremdsubstanz der Umgebung in mich ein und ich werde mit einem Preis
versehen: Sonderrabatt!
19 CO-DEPENDENT
Ich lag wie ein verlorener Ast am Boden. Aber weil ich so um das Erbarmen
Gottes schrie, hob mich einer auf, und ich wurde ein Gehstock eines
dankbaren Herrn, der zufrieden war und glücklich mit mir begraben
wurde.
16
Ende der Leseprobe von:
Ich sterbe Meine Galerie zu Angst, Leid und Tod
Weisser Christoph
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