Monika Jarju Von der Schönheit der Umwege Prosa & Lyrik MONIKA JARJU Von der Schönheit der Umwege Prosa & Lyrik Wo käme ich hin, wenn ich weiterginge – Vom Aufbrechen, Fortgehen, Zurücklassen Bleibenwollen, wo ich nicht bin – Suchen, Begegnen, Weitergehen von Berlin nach BERLIN – über Afrika MONIKA JARJU, geboren 1956 in Berlin, DiplomIngenieurin, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Westafrika wieder in Berlin. Seit 2006 Publikationen von Lyrik und Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften (u.a. in »Macondo«, »Schöngeist«, »Zeichen & Wunder«, »Der Dreischneuß«, »eXperimenta«, »1. TEXTVERSAMMLUNG AUS DEM NEUKÖLLNER LEUCHTTURM«). Nach ihrem Roman »Überall ist das Haus des Windes«(2016) erschien »MandelSplitter«, Prosaminiaturen. MONIKA JARJU Von der Schönheit der Umwege Prosa & Lyrik Impressum ©2016 Jarju, Monika Layout, Umschlaggestaltung: Monika Jarju Umschlagbild: Wiesenstück III, Mischtechnik auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2004, von Sibylle Meister Alle Rechte bei der Künstlerin Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN 978-3-****-***-* Printed in Germany Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Inhalt ..................................................................... Von der Schönheit der Umwege 9 Von der Schönheit der Umwege 10 Eines Tages entdeckte mich Afrika 11 Wiederbegegnung 16 Die Suche 17 Traum-Erbe 19 Wo käme ich hin, wenn ich weiter ginge 20 Labyrinth 24 Nachtlinien 25 mon petit monde 26 Randgebiete 27 Das Lächeln der Silberlocken 28 Den Horizont umrunden 29 Weggefährten 30 Ausgegangen 31 Aussichten 31 Ein blauer Roller 32 Tabletts, Tassen & Leerräume 37 Vexierbild 38 Schaukel 39 Schaubild 40 Spiegel 41 Novemberblau 42 Vögel 43 Bahnhof 44 Warten 45 Schafe 46 Nachtfahrt 47 Begegnung 48 Einklang 49 Fünf Uhr früh 50 Herbstabend 51 Walpurgisnacht 52 Seewinter 53 Randerscheinung 54 Endlosgesellschaft 55 Kinderspiele 56 Kinderspiele II 57 Kinderspiele III 59 Als ich noch Käpt'n war 60 Gellert-Bad 61 Nachtschatten 61 Auf einer Parkbank 61 Zeichen 61 Körnerpark 62 Im Café 63 Granatapfelmann 65 Erinnerung ist ein Haus 67 Es tanzten die Frauen 68 Schmetterlingswolken 69 Ironischer Schnitt 76 Die Sonne brennt schwarz 77 Nachtszene 78 Erinnerung ist ein Haus 79 Wie ein purpurner Moment 80 Essenz 81 Festplatz 82 Mein Taxi ist gelber als deins 87 Koordinaten von Klee 111 Koordinaten von Klee 112 Weißer Doppelpunkt 113 Lissabonner Nachmittag 124 Aufziehmoment 131 Wiesenstücke 135 Mittwoch zum Beispiel 136 Regenpinscher 137 Jahreserster 138 Mandelsplitter 139 Verschrammte Distanz 140 Resonanzen 141 Im Gehen 142 Vom Fliegen 143 Im Gemenge der Einsamkeiten 144 Hermannplatz 145 Das Herz der Bücher 146 Den Winter erzählen 147 Vollmondnacht 147 Nächtliche Begegnung 148 Verstellte Stunde 149 Müggelseeperlen 150 Seezungen 151 Vier Farben Weiß 152 Anderswo lächeln 153 ich schreibe mich 154 Goldstaub 155 Flutlicht 156 Kopfkiosk 157 Was mir bleibt 158 Wohin fliegen die Vögel 159 Maritime Kurzmitteilung 160 Feldbefreiung 161 Im Zentrum der Wüste 162 Danksagung 164 Von der Schönheit der Umwege 9 Von der Schönheit der Umwege Neben der Bushaltestelle stehen Stunden aneinandergereiht ohne abzufahren wenn der Himmel abends aus der Stadt läuft mit einem rosa Glühen an den Füßen und keiner geht durch diese Stunde – kaufe ich ein Ticket, um im Kreis zu fahren 10 EINES TAGES ENTDECKTE MICH AFRIKA Ich hatte zwei Länder, die waren mal eines gewesen. In einem Teil davon wuchs ich auf. Oft dachte ich, ich muss weggehen. Das Land war mit der Zeit eng geworden wie eine alte verfilzte Strickjacke, die überall kratzte, kniff, von Motten zerfressen war und streng roch. Doch in das andere Land konnte ich nicht so einfach gehen, es war abgesperrt. Viele waren schon vor mir weggegangen, einige hatten sich von mir verabschiedet. Das gab mir zu denken. Ich schloss meine Werkstatt ab, zog die Jalousien herunter, und fuhr an die See. Dort lief ich am Strand herum. Wie breit war die See? Und wo endete sie? War der Horizont eine Grenze? Führte ein Weg darüber hinweg? Fing dort das richtige Leben an? So stand ich am Ufer und starrte über das Wasser auf den unverrückbaren Horizont. Ich muss auch weggehen, dachte ich. Doch kein Weg führte mich aus dem Osten hinaus. Bis eines Tages meine Chance kam, ich war sofort bereit und überquerte die Grenze. Als ich das erste Mal über die Grenze ging, hatte ich große Angst. Ich stand im Tränenpalast, der aussah wie ein grünes Kachelbad, mit meinem blauen Koffer, der kaum größer als eine Zahnbürste war, innen lag mein gezinktes Märchenbuch. Unterm Futter klebte ein Hundertblauschein, der färbte lila meine fette Angst ein. Im Kabinenkäfig trällerte der Obervogel mit Spiegelmütze durch meine dünnen Dokumente, fragte: Wohin so jung? Ein misstrauischer Blick, ein Stempel, der in meinen Ausweis knallte, da hatte ich meinen Freischein. 11 Auf dem Bahnsteig hinter der weißen Demarkationslinie, wartete ich, den Blick gesenkt, auf den Zug. Breitbeinig lauerten auf der Galerie Soldaten mit Gewehren. Mein Fluchtinstinkt verstummte in der entzogenen Bahnhofsluft. An einem Samstagmorgen verschwand ich einfach aus dem gespaltenen Gedächtnis der Stadt wie Tausende vor mir. Der Zug kam, ich stieg ein und fuhr los, über mir die andere Hälfte des Himmels. Hinter mir blieben die Soldaten, Gewehre, gefährliche Hunde, die Stacheldrahtzäune, das ganze umzäunte Land. Ich entkam, doch die Grenze blieb an mir haften bis in meine Träume hinein. Auf einmal war ich fort, aber noch lange nicht da. Im anderen Land war alles bunt, es sah recht ähnlich aus, und irgendwie auch ganz anders. Morgens stieg ich in den Tunnel, nahm die Bahn, die meine Wohnung mit dem Geschäft scheinbar unausweichlich miteinander verband. Abends kam ich spät und müde heim, wärmte das Essen auf, heizte den Ofen nach und legte akkurat die Kleidung für den nächsten Tag zurecht, ehe ich mich zum Schlafen fertig machte. Wohnung und Arbeit, das war mein Bezugssystem, der ganze Inhalt meines Lebens, gepresst zwischen Wecker klingeln und Ladenschluss. Jahrelang bediente und verkaufte ich, bügelte Wäsche, hielt Regale im Verkaufsraum sauber, dekorierte Auslagen, schrieb Aufträge auf der Schreibmaschine. Es kam mir vor, als würde ich das Geschäft nie verlassen, als hielte ich mich unentwegt darin auf, selbst wenn ich die Straße vor dem Schaufenster fegte. Das 12 Geschäft beinhaltete mein ganzes Sein, es besaß mich, besetzte mein Denken und Fühlen. Ich sah aus dem Fenster auf die Allee, Demonstrationen zogen vorüber, Jahreszeiten, Moden, ich stand in der Tür und wartete auf einen Wechsel. Und auf den versprochenen Aufstieg in der Firma. Ich faltete, fegte, folgte, mein Leben war restlos ausgefüllt, ich bediente und war bedient. Meine Träume dunkelten im U-Bahnschacht. Mein Spiegelbild verblasste allmählich in den staubigen Scheiben der Bahn, die unaufhaltsam zum Geschäft rollte. Stets war ich auf dem Weg zur Arbeit in dieser Stadt, auf einer engen Spur, der permanenten Suche nach einer Abzweigung. Ich fand sie nicht. Das Land war inzwischen vereint, es war groß und nach allen Seiten hin offen, und doch blieb es irgendwie geteilt. Die Erinnerungen holten mich überall ein, hingen wie blasse Schuppen unterm Augenlid. Ich verhedderte mich in alte Visionen, Phantastereien und blaue Kofferträume. An einem verregneten Abend, stand ich da und fühlte, wie mein Körper schrumpfte hinter scheinbar graugrün gekachelten Ufergrenzen, als soeben ein himmelblauer Trabant vorbeifuhr. Den erkannte ich. Von da an, sah ich ihn immerzu wie in einer Endlosschleife an mir vorbeiknattern. Es war der Trabant von gestern, das himmelblaue Vehikel aus meinem vorigen Leben. Aber nein, er war es nicht. Und auch ich war nicht mehr die von damals. Der Ort erschien mir unwirklich, verfallende Überreste in Blickrichtung Ufer, Bauten wie braune Runen, windige Zeit13 zeichen. Meine Gedanken griffen ins Trugbild. Die Landschaft war Echo von Grenzen, war Grenze von Zeiten. Der Ort war viele Orte, trieb mich in denkbare Distanzen, verdichtete alles flussabwärts. Ich drehte mich um, der Ort war meine Einbildung nur. Ein nasser Windstoß zerstäubte die geronnene Landschaft zwischen verrottendem Glaswerk und Plattenbau. Wie lange noch konnte ich die andere Uferseite schauen, bis der himmelblaue Trabant, den es nicht mehr gab, aus meinem Kopf fuhr? Der Zug fuhr wieder ein, wie Buchstabensuppe in den Tellerrand, wenn ich die bunten Erinnerungen in alle Richtungen dehnte. Ich wünschte mich sogleich wieder fort und fing an zu träumen. Ich muss weiter fortgehen, um anzukommen, wusste ich genau. Ich wollte das ganze Land hinter mir lassen. Eines Tages entdeckte mich Afrika. Afrika war ein Mann. Ich sah nur noch ihn. So bin ich, sagte er glatt in einem Hauptsatz und breitete die Arme aus. Warum zögerst du? War Afrika die Liebe? War es die große allumfassende Liebe, von der ich träumte? Doch dieses Afrika gab es bloß für mich. Es hatte mir diesen Mann geschickt und seine große Familie dazu. Kurzerhand heiratete ich ihn und flog hin. Von da an wollte ich alles über Afrika erfahren. Afrika empfing mich überall. Es war strahlend hell, so warm und es duftete herrlich. Es war das pralle Leben und kein Ort. In Afrika fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben ganz. Afrika wurde meine Leidenschaft, eine heftige Sehnsucht, ein Versprechen so groß wie ein ganzes Leben. Auch ich war 14 plötzlich Afrika und dachte, hier will ich bleiben. Inzwischen war Afrika überall, wo ich war, und rief mich mit den Stimmen der Kinder im Traum. Komm, sangen sie fröhlich, komm ganz her! – Kauf ein Taxi, rieten meine afrikanischen Freunde, damit kannst du viel Geld verdienen. Komm her und lebe bei uns. Worauf wartest du noch? Dein Leben ist jetzt! Schon begann ich mich zwischen den Kontinenten aufzulösen. Wenn ich jetzt nicht gehe, dachte ich, muss ich vielleicht für immer bleiben, obwohl es mich außerhalb von Afrika schon gar nicht mehr richtig gab und auch nichts wirklich hielt. Ich ging noch immer zur Arbeit und nach Hause, viel zu lange schon, wie mir schien. Ich überlegte nicht lange. Ich muss es versuchen, sonst werde ich es später bereuen. Denn ich war schon einmal fort gegangen, hatte jeden und alles hinter mir zurückgelassen. Das war der Preis! Noch Jahre später griff ich in verschwundene Schränke, nahm Sachen heraus, die es nicht mehr gab. Lange Zeit gehörte ich nirgendwo hin, zu keinem Menschen, keinem Ort und kein Mensch, noch ein Ort gehörten zu mir, bis Afrika mir begegnete. Dieser Mann hatte mich sehr bezaubert, mit ihm fühlte ich mich endlich zuhause, und dazu gab es dieses verführerische Fernsein. Ich gehe fort, sagte ich diesmal laut, packte ein und machte mich auf. In Afrika wollte ich bleiben und nicht mehr umkehren, lieber würde ich zaubern lernen, schrieb ich auf ein Blatt Papier und hängte es an die Wand. 15 WIEDERBEGEGNUNG Ein Parkbaum zieht meinen Blick an. Er ist kahlästig, wortkarg, statt Blätter trägt er die Nummer 123. Von welcher Art er ist, erkenne ich nicht. Amtlich erfasst ist er wie ich, sein Bestand ist als Vorgang in einer Akte abgelegt wie meiner. Sollten wir unsere Nummern vergleichen, uns über ihre Bedeutung austauschen? Steht EINSZWEIDREI etwa für Einbaum, Astgabelung, Anzahl der zu erwartenden durchschnittlichen Jahresblattmenge? Vor über drei Jahrzehnten bin ich ihm begegnet, undeutlich erkenne ich ihn wieder. Am Ufer des Schlossparks wurzelt er, dem Fluss zugewandt. Damals schon war mir die See stets weiter als die Stadt, ohne Mauern und Ufergrenzen. Entstand mein Wunsch weit zu gehen hier? Aufbrechen, rasch fortgehen, zurücklassen, kaum Abschied nehmen, verlassen, anderen eine Erinnerung hinterlassen, lernte ich beim Schauen auf den Fluss. Ich wollte da sein, bleiben, wo ich mich nicht aufhielt. Zurück, kann ich überall sein, an den Küstenrändern meiner Phantasie. Vertrauten Ortsgeruch verströmt er und trägt Jahresringe wie mein Reisepass Stempel von Meeresländern. Während ich weitergehe, wächst er mir nach. 16 DIE SUCHE An allen Orten, die meine Mutter mit mir als Kind aufsuchte, suchte sie nach den Menschen aus früheren Zeiten ihres Lebens. Wenn ihre Unruhe überhandnahm, gingen wir los. Wir gingen einfach hin. Ich lief an ihrer Hand nebenher. Am frühen Morgen, wenn es noch dunkel war, die Stadt kalt und leer, fragte sie sich durch, bis wir vor dem gesuchten Haus standen. Da schauten wir eine Weile zu den Fenstern hoch. Mit unsicheren Schritten ging sie auf die Haustür zu, las die Namensschilder, dann zog sie mich weiter. Nie trafen wir jemand an. Wir traten in muffige Hausflure, standen stumm in Höfen. Ihr Atem ging verhalten, alles in ihr hielt an, wartete auf einen lautlosen Widerhall von etwas. Wir fuhren im Morgengrauen an weit entfernte Orte, gingen in düstere Gebäude. Mir war beklommen zumute. Wir traten in dunkle Amtsstuben. Meine Mutter bat um Dokumente, Bestätigungen ihrer Arbeit und Haftzeit während des Krieges. Während sie sprach, wurde sie leiser und kleiner. Die Papiere gab man ihr nicht. Vernichtet, unauffindbar, sagten die unfreundlichen Stimmen, in denen Groll mitschwang. Mit der Demütigung fuhren wir schweigend zurück. Immer langsamer lief ich an ihrer Hand. Sie hielt mich wie einen Beutel. Noch Jahrzehnte später umkreisten wir unruhig Plätze und Erinnerungen. Ganze Viertel waren abgerissen worden, neue Häuser standen in den Straßen und auf 17 den Schildern fremde Namen. Verwundert standen wir davor und suchten die Luft ab nach unserer Geschichte. An den Orten, die wir gemeinsam aufsuchten, hatten ihre Angehörigen gewohnt, nach denen sie ein Leben lang suchte. Verschwundene Teile ihrer Familie, die es gegeben haben musste. Ich könnte ein ganzes Dorf füllen mit meiner Familie, sagte sie immer. Die Familie gab es nicht, vielleicht hatte es sie nie gegeben, und es war ihr nicht aufgefallen oder sie hatte sich vollständig aufgelöst. Wir waren Entwurzelte, suchten nach einem Teil von uns in uns selbst. Zuletzt blieben die Orte, um die unsere Gedanken kreisten, nach denen wir uns sehnten, unerreichbar. Wir irrten auf Umwegen umher, ohne je anzukommen. In mir blieben Erinnerungen an diese Orte zurück. Die Orte waren mit der Zeit für mich zu Personen geworden, bedeuteten meine Familie, die ich in späteren Jahren immer wieder aufsuchte. Wenn ich durch die Stadt laufe, tauchen Erinnerungen an unsere gemeinsamen Wege auf. In der Luft dort, sehe ich sie vor mir: Orte, Personen, alle, nach denen wir gesucht hatten. Es gibt sie doch. 18 Traum-Erbe Ein Traum schickt mir ein Paket, geschnürt mit einer Blechmarke, verplombte Fotos packe ich aus. Meine Mutter war sieben – kreideweiß ihr Kleid, als ihre Mutter starb, mit Schleifen in blonden Zöpfen – und war schon ein aussortierter Engel. Auf anderen Fotos trug sie Uniform. Einen Grundriss falte ich auf, das Großelterngut in Moryn, im Innenhof eine Palme. Mit einem Mal weiß ich, ihr Herzstück: Polen. In Händen halte ich ein Relikt, ihr erster Strampelanzug zartrosahellblauweiß gestrickt, und atme alten fremden Waschpulverduft ein. Ein Traum – mein ganzes Erbe. 19 WO KÄME ICH HIN, WENN ICH WEITER GINGE Fast fünfzig Jahre nach dem Verschwinden meines Onkels Rudi beginnt meine Suche nach ihm. Wir sind uns nie begegnet. Drei alte Fotos besitze ich. Auf einem Foto ist Rudi ein Kind, zart und schmal, gelehnt an die schwangere Mutter, dünnhäutig sieht er aus. Der Krieg ist im Zimmer, im verdunkelten Fenster, im kummervollen Gesicht der Mutter. Vor dem Weihnachtsbaum sein älterer Bruder, mein Vater, abseits und aufrecht mit klarem Blick. Auf dem anderen Foto lachen die Brüder und sehen wie Zwillinge aus. Wo ist mein Onkel Rudi, frage ich als Kind. In Westberlin, sagt mein Vater und schaut weg. Wo ist Rudi, frage ich in den 70ern. Stumm starrt mein Vater vor sich hin. Wer war er, wie hat er gelebt? – Ich kenne ihn nicht, sagt mein Vater. Was weißt du von Rudi, will ich Jahrzehnte später wissen. Der taugte nichts, sagt mein Vater. Seinen Bruder hat er aus allen Erinnerungen verbannt. Wo kämen wir hin, wenn jeder sich melden würde? , sagt meine Tante empört und legt auf. Erst die Einsicht einer Akte bringt mich auf die Spur meines Onkels. Rudi ist auf dem Friedhof, erfahre ich aus dem amtlichen Schreiben. 20 Wo käme ich hin, wenn ich weiter ginge als das Schweigen reicht, wenn ich über den Friedhof ginge, um einmal zu schauen, wohin ich käme, wenn ich ginge? Der Lärm der Stadt fällt von mir ab, ich trete in die Stille. Leichter Regen fällt, besänftigt mich, verlangsamt meine Bewegung. Den grünen Hof durchquerend bis an sein südliches Ende nahe der Friedhofsmauer bleibe ich stehen. Wo ist Rudis Grab? Ich finde es nicht. Die Frau im Friedhofsbüro will Geld, endlich schlägt sie das Totenbuch auf, nennt mir die Daten. Ein Gärtner führt mich hin. Im eingeebneten Rasen zähle ich die Grasnarben ab, starre auf das nasse Grasstück wie auf den Umriss seines Lebens. Rudis Vater war Kutscher. Er räumte die Wohnung leer, als Rudi geboren wurde, kaufte einen Dreiradlieferwagen und verschwand. Er ist wie sein Vater, sagte von da an die Mutter und reichte die Scheidung ein. Seinen Stiefvater holten die Nazis, der schrieb aus dem Konzentrationslager Briefe an seinen ungeborenen Sohn, Rudis Halbbruder. Mit Sechzehn warf ihn die Mutter raus. Er ging nach Trebbin, die Landarbeit gab er bald auf. Komm auf die Baustelle, sagte der Bruder, mein Vater. 21 Weder Arbeit noch Grenzen hielten ihn auf. Angeschossen in der britischen Zone saß Rudi im sowjetischen Sektor im Knast, bevor er entlassen wurde in den Jugendwerkhof, dann aus Berlin verbannt nach Wismut Aue. Als Zwangsarbeiter im Uranabbau traf er Kumpel Alkohol. Auf dem Hochzeitsfoto ist Rudi ein junger Mann im wehenden Mantel und Hut mit einer hübschen Braut, der Krieg ist sechs Jahre aus. Wieder übertritt er die Grenze, besucht den Vater in Bayern, den Stiefvater in Hessen. Im Jahr, als Rudis Sohn zur Welt kommt, wird sein Stiefvater brutal erschlagen. Seine Mutter dreht durch, der Krieg bleibt ihr Gefängnis. Jeder Arzt ein Polizist, ein Wiedergänger, so redet sie, trennt eine Schürze auf und näht Puppenkleider daraus. Rudi steckt sie in die Irrenanstalt, die Halbbrüder kommen ins Heim. Sein zweites Kind war gleich tot, sein Erstgeborener für immer krank. Ich lasse mich scheiden, sagte seine erste Frau. Er räumte die Wohnung leer, kaufte ein Motorrad und fuhr nach Westberlin, schwarz verkaufte er Spülsteine in Kinos als Desinfektor. Seine zweite Frau, die Freundin der ersten, floh ins Lager Marienfelde. Rudi reichte die Scheidung ein und – fuhr hinterher. 22 Unehrenhaft wurde sein Halbbruder sogleich entlassen aus der NVA. Die Mauer stand, nun war Rudi der Feind, nicht nur in der Familie. Nach seiner dritten Heirat geschah es: In Charlottenburg, am ersten Septembermorgen kam Rudi unter den Kran, bevor er fünfunddreißig wurde. Wäre er doch bei mir geblieben, sagt heute seine erste Frau, er wäre noch am Leben. Sie liebt ihn noch immer. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, sagt mein Vater. Lange stehe ich an seinem Grab. Rudi muss hier noch sein. Ihm werde ich nicht mehr begegnen, zu spät stehe ich an der Narbe der Erinnerung. Was trieb ihn an, was hielt ihn auf? War er den Weg seines Vaters gegangen – zu allen hin, von allen fort, von keinem gekannt? Und was ist mit den Verwandten, (die ich nicht kenne) – zwischen ihnen war eine Mauer aus Beton und gefährlicher Sprachlosigkeit. Nichts gibt es mehr von ihm, nicht seine Stimme, nicht seinen Gang, nur die Vergangenheit einer Erinnerung, nein, nicht einer Erinnerung. Rudi, ich kenne ihn nicht; er war, wer er war. Er überschritt Grenzen. Der Onkel lebt nicht mehr. Nein, dies ist die Erinnerung und hier war sein Grab. 23 Labyrinth Allein und dunkelnd fahren wir auf schwindligen Nebenstraßen fahren wir beengt und fremd scheinbar endlos pulst die rote Ader wo sind wir bloß? Kreuzen Kanten Körperreihen erfinden uns halbblind in das hinein was uns umfasst verschleppt auf halbem Weg ahnen die flüchtige Schattenroute menschenleer zuletzt bis sie uns entlässt. 24 Nachtlinien Mir fährt die Bahn durch den Kopf, gesiebte Erinnerungen steigen aus, bleiben zurück am Nachtrand. Ich komme an, wo ich nicht bin, da lutschen sie Sterne, spucken die Kerne übers Gegengleis. Wo ich einst wegfuhr, fahre ich nicht hin. In dieser Gleisgesellschaft rasseln die Treppen bunt & windig auf und ab. 25 mon petit monde Die Straße rauf & runter grauer Stadtwind Häuserkantenscharf & kalt auf AnkarasIstanbulerBerliner Nebenstraßen und manchmal auch nur dunkel verstand kein Wort war hier nicht zuhause hinter Scheiben Männer, schwarz schritten Hosen Haare Jacken Augen Schuhe Bart Libanon & der Prophet luden ein Wedding war ganz offen Geschichte aus einer Nacht über die Geographie der Straßen oder das Alphabet der Geschichte Träume zogen über die Schienen die Zeit vereiste die Gleise 26 Randgebiete Der Ort, unwirklich verfallende Überreste Blickrichtung Ufer Bauten wie braune Runen & windige Zeitzeichen Meine Gedanken greifen ins Trugbild die Landschaft ist Echo von Grenzen ist Grenze von Zeiten Der Ort ist viele Orte treibt mich in denkbare Distanzen verdichtet alles flussabwärts Ich drehe mich um der Ort ist meine Einbildung nur 27 Das Lächeln der Silberlocken Das Lächeln der Silberlocken fragt mich aber ich lese mein Buch hinter mir türkische Sätze Nas toschje, uns auch, sagt ein Russe La, la, antworten die arabischen Silberlocken Schwarze eingepackt in Mützen & Jacken nur der Mann hinter dem Schalter spricht deutsch und ich lese mein Buch Brav reihen sich drei Schlangen in die verbrauchte Luft aller Nationen auch die Frau mit gebleichter Frisur & die mit Haaren wie ein bunter Vogel Ich mitten in Babylon auf dem Postamt warte und lese mein Buch 28 Den Horizont umrunden Ich suchte einen verlorenen Traum an einem See voller Schwäne Novembernebel glänzte der Himmel blähte sich über Baumkronen Ist es hier? – dachte ich die Antwort fiel zwischen die Zweige sie zeigten nach Süden Ich lief einen Umweg über täuschend grünes Gras bedeckt mit heiterem Laub blaufleckig schimmerte Platanenhaut Wind rannte über den See zerrte an meinen Haaren Modergeruch stieg auf von nassen Wegen Ein Angler zog einen zappelnden Fisch aus dem gerahmten See still sah jemand zu aber ich lief herum gefangen im Umriss des Sees gelangte nicht ins Weite – da fiel es mir wieder ein 29 Weggefährten Ich träumte das Kind das ich war kam zu mir wir gingen nebeneinander schauten uns an und schwiegen Was sollten wir sagen? Wir träumten beide noch immer 30 Ausgegangen Ich gehe ohne Abdruck neben fremden Schritten ganz bei mir bin ich selten Aussichten Ich verlasse komme zurück lebe da werde verlassen gehe fort lebe überall außer ich sterbe hier oder anderswo verlassen oder in Erinnerung 31 EIN BLAUER ROLLER 1 Die leere Terrasse vor der weißen Orangerie, grüne Kugelrobinien unter einem Klang weißer Musik, der Park ist menschenleer. Es ist angenehm warm, die Sonne scheint, ein blauer Roller lehnt an der Jalousie. Ich suche mir eine Bank, lehne mich zurück und lausche dem Rauschen der Kaskaden. Das Plätschern der Wasserspiele erzählt mir von einer Zeit, als die Stadt noch geteilt und der Park wie ein Grenzland war. Ich schließe die Augen, der Park wird mir nun sichtbar in meiner Erinnerung. Geschirr klappert, Zeitungen rascheln, Kinder lachen, ich höre eine vergessene Melodie. Es müssen Stimmen, Geräusche, Schatten aus meinem früheren Leben sein. Oft habe ich hier gesessen, in Anzeigen nach einem vollkommenen Leben gesucht und Leute beobachtet, die mir wie Inseln erschienen. Da ist dieser junge Mann, der immer mit einer Ratte auf seiner Schulter spazieren geht. Eine freundliche Ratte, die nicht nach ihm schnappt, wenn er ihr Fell krault. Er redet unentwegt auf sie ein, während ein Flugzeug dröhnend den Park überfliegt und jemand über einen Abfalleimer gebeugt im Unrat der Zeit wühlt. Und jener Mann mir gegenüber auf einer Bank, dünn und fahl. Er kostet seinen Hunger aus einer schäbigen Plastiktüte, die prall mit speckigen Prospekten gefüllt ist. Fiebrig zieht er sie raus, faltet die Programme gierig auf, probiert ihren Hochglanzge32 schmack. Dome, Kirchen, Konzerte verleibt er sich ein, Blatt für Blatt. Er steckt sie zurück in die Völlerei der Tüte, gänzlich ausgehungert. Auf der Terrasse sitzt ein Mann aus Fleisch, aus Blut, wie ein Lachen. Ich wünsche mir, die Ratte würde in die Tüte springen und die Ränder des Mangels annagen, während er einen leichten Ton dirigiert, ich Milchkaffee serviere und die Sprachlosigkeit des Mannes sich in die Musik hinein bewegt. Eines Tages verließ ich den Park, ein Stück nahm ich mit, steckte es in die falsche Tasche. Ich öffne die Augen, während ein blauer Roller in den Seitengang einbiegt, hinter den Büschen verschwindet, kurz darauf wieder erscheint und um eine Platane kurvt. Der Junge auf dem Roller wirft mir ein Lächeln zu. Ich stehe auf und gehe weiter in Richtung der Wassertreppen. Krokodile sitzen auf Sockeln, es sind zwei, und steinerne Knaben sitzen auf den Krokodilen. Ein Schmunzeln durchzieht ihre harten Mäuler. Wie gerne würde ich ein Krokodil vom Stein befreien, doch es lässt sich nicht an seiner grauen Farbe packen. 2 Viele Jahre später durchquere ich wieder den Park. Die Sonne scheint, das Wasser plätschert, ich schaue dem Treiben auf der Terrasse und am Springbrunnen zu. Junge Männer sitzen auf Bänken, lesen Kurznachrichten, während Mädchen mit bunten Kopftüchern kichernd an ihnen vorbei schlendern und Frauen Kinderwagen über Wege schieben. Ein blauer Roller 33 saust um die Fontäne, während jemand an mir vorbei geht, den ich nie sah, nie sehen werde. Ich verlasse den Park. Ruhelos durchlaufe ich die Nebenstraßen. Auf Schritt und Tritt lebe ich in allen Erinnerungen gleichzeitig. Die Straße, auf der ich stehe, kennt mich nicht. Wonach sollte ich suchen? Etwas längst Vergessenes, Verlorenes ruft mich. „Es war einmal…, ein Haus…“, lese ich an einer Galerie und steige auf den Dachboden. Ich schaue mich um. Sonderbare Dinge schweben in der Luft wie alte Träume: Ein Kinderstuhl, ein zartes rosa Kleid, ein Nachthemd und ein Schlafanzug. Weingläser funkeln in einem Streifen Sonnenlicht. Vor einer Dachluke schaukelt ein Spinnennetz, hauchfein wie eisiger Atem. In der Ecke liegt ein blauer Roller, der Lenker ist verbogen. Die Dinge erzählen mir ihre Geschichte, von einer Zeit, die früher war. Ich bin wieder Kind, renne über den staubigen Trockenboden, während meine Mutter Wäsche auf die Leine hängt und mit Holzklammern feststeckt. Ich schlucke, trockener Staub kratzt in meiner Kehle. Es riecht nach Kochwäsche und Seifenlauge in meiner Phantasie. Tauben flattern gegen Dachluken mit dem Geräusch sich öffnender Schirme. Wie verwunschen stehe ich wieder auf der Straße, während ein blauer Roller rasch an mir vorüber fährt und um die Ecke biegt. Ich folge ihm. Auf einmal verfliegt die Melancholie, als ich ein Atelier betrete. Ich entdecke Gabeln in Rahmen, Schaukästen und Schubläden, überall glänzen Gabeln und Nadeln, 34 gesteckt in weißes Vlies. Staunend betrachte ich die Sticheleien, Anspielungen, nadelkurz wie ein Bindestrich. Ich war lange fort gewesen. Erhebliche Veränderungen sind während meiner Abwesenheit eingetreten. Künstler kamen, schufen Inseln voller Illusionen und Erfüllung in den abgeschiedenen Straßen. Heiter spaziere ich weiter, steige die Freitreppe zum Park hinab, und während ich neben den hohen Arkaden hergehe und über die vielen verbundenen Träume und Vergeblichkeiten im grünenden Garten nachsinne, kreuzt ein blauer Roller meinen Weg. Der Junge auf dem Roller zwinkert mir zu, ich zwinkere zurück. Die Sonne scheint, das Wasser plätschert, auf den Sockeln sitzen die Krokodile aus Stein. Da bist du ja, höre ich plötzlich eine Stimme, vor mir steht Mehmet. Er spricht schnell, er redet von seiner Heimat. Ich verstehe nur, das Essen schmeckt ihm hier nicht. Warum nicht, frage ich. Alleine essen, sagt er verzagt. Ich senke den Blick. Bin ich denn im Garten Eden? Wörter kreisen in seinem Mund herum wie das schnelle Wasser der Fontäne. Ruf mich an, sagt er, oder ich ruf dich an. Rufst du an? Ruf an, ja? Ruft er mir nach mit hängenden Armen. Ich nähere mich dem Ausgang und schaue zurück. Er steht noch immer am Brunnen in der verhaltenen Sehnsucht seiner Arme. Die Sonne geht langsam unter, schimmert schwach. Neben mir geht seine Einsamkeit, begleitet mich wie ein flüchtiger Ton. 35 3 Wieder einmal stehe in der Nähe des Parks und warte darauf, dass jemand aus einer Seitenstraße kommt, den ich kenne. Oder darauf, dass irgendein blauer Roller aus einer Querstraße oder aus einer anderen Straße zum Park fährt, während ich inzwischen am Eingang angelangt bin. Da liegt der Park vor mir. Ich beuge mich über die Balustrade. Nazaa, Miina, Diina, Ebuu, Shisha – lese ich und sehe im Gras die Kontur eines Herzens. Der Park ist das Herz im Kiez, begreife ich und entschlüssle die Zeichen der abwesenden Parkbesucher. Sie stammen aus vielen Nationen, ihre Sprachen berühren einander wie das Wort Shisha, die Wasserpfeife. Ein ursprünglich persisches Wort, das ins Türkische und Arabische wanderte bis in den Park hinein. Ein blauer Schriftzug auf der Balustrade führt wie ein Geländer um den Park und darüber hinaus ins Wohnviertel. Jemand kommt auf mich zu, es ist Mehmet. Er lacht und dreht mich im Kreis. Gras, Begonien, Buchsbäume fliegen um uns herum, bis ein blauer Roller mehrmals um den Springbrunnen jagt und die Krokodile ins Wasser springen und nach dem Roller schnappen und Platanen, Jahreszeiten, die grünen Kugelrobinien, Palmen und laute Wasserbänder um uns kreisen. 36 Ende der Leseprobe von: Von der Schönheit der Umwege - Prosa Monika Jarju Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1sOHayq
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