Was die Brexit-Debatte wirklich antreibt

Kapitalismus gefährdet Marktmechanismus
Was die Brexit-Debatte wirklich antreibt
Großbritannien, als Wiege der Demokratie nach moderner Prägung, weist uns im Zuge der
Brexit-Debatte erneut den Weg zu den gesellschaftlichen Triebfedern der Gegenwart. Die Kontrahenten
in diesem Prozess heißen nicht United Kingdom versus Brüssel, sondern Enttäuschte versus Eliten.
Und selbst diese Zuspitzung ist lediglich das Produkt eines Missverständnisses von Begriffen und den
ihnen zugrundeliegenden Konzepten. Mit den Worten von Tony Benn (ein britischer Labour-Politiker,
verstorben 2014) formuliert:
„This country and the world have been run by rich and powerful men from the beginning of time.”
Das 18., 19. und 20. Jahrhundert leitete mit Innovationen wie der industriellen Massenproduktion und
mit der humanistischen Befreiung des Individuums (Philosophisch: „Freier Wille“, Politisch:
Frauenwahlrecht, Menschen- und Minderheitenrechte) eine historische Ausnahmesituation ein –
mitsamt furchtbarer Überforderung im Umgang mit den gewonnenen Freiheiten, siehe die euphorische
Technikgläubigkeit vor dem 1. Weltkrieg oder die sozialen und nationalen Fragen in der 2. Hälfte des
19. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Monarchien.
Selbstbefähigung des Individuums
Zugleich erzwang die Selbstbefähigung des Individuums gesellschaftlich stabilisierende Phänomene
wie die Gewerkschaften oder die Mittelschicht. Erst durch diese breite politische wie ökonomische
Teilhabe des Individuums konnten unsere Volkswirtschaften ihre Abhängigkeit vom Konsumenten
entwickeln. Erst auf dieser Basis konnten sich Narrative wie der amerikanische Traum etablieren – der
Prototyp sozialer Mobilität mittels Marktmechanismus.
Unseren Gesellschaften diente die soziale Mobilität über den ökonomischen Umweg als Spiegel
anachronistischer Ungerechtigkeiten wie Sklaverei, Ausgrenzung von Frauen oder ungerechten
Verteilungsproportionen. Unseren Volkswirtschaften diente die soziale Mobilität und ihr kräfteraubender
Abbau von Anachronismen, indem sie die Konsumentenbasis ausdehnte, zum Beispiel durch
zunehmende Einbindung der Frauen in das Erwerbsleben im Laufe des 20. Jahrhundert.
Kurz gesagt: Basis sozialer Mobilität war die politische und ökonomische Selbstbefähigung des
Individuums, gepaart mit einem inklusiven Marktmechanismus, der das Ausleben dieser
Selbstbefähigung ermöglichte.
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Daraus ist abzuleiten, dass der inklusive Marktmechanismus und die Chancengleichheit
zeitunabhängige Relevanz besitzen. Erst diese Kombination gibt den Besten eine Chance, durch
soziale Mobilität an die Spitze der Gesellschaft zu gelangen, um durch Wettbewerb an Lösungen für die
Fragen unserer Zeit arbeiten zu können. Hier beginnt die eingangs benannte Fehlstellung von Begriffen
und ihren zugrundeliegenden Konzepten.
Entsolidarisierte Gesellschaften
Als Thatcher und Reagan in den 1980ern begannen, ihre Länder fit für die aufkeimende Globalisierung
zu machen, firmierten ihre Reformen unter Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Sie
sollten, so der liberale Anspruch, das Individuum stärken. Das Jahr 1989 verfestigte diese
Reformagenda durch den „Sieg“ des Kapitalismus über den Kommunismus. Doch deckt sich deren
Interpretation von Kapitalismus nicht mit dem Marktmechanismus. Oder wie es Noam Chomsky in
einem Interview aus dem September 2015 formulierte:
„Progress requires puncturing the bubble of inevitability: austerity, for instance, is a policy decision
undertaken by the designers for their own purposes. US capitalism also benefits from ideological
obfuscation: despite its association with free markets, capitalism is shot through with subsidies for some
of the most powerful private actors.“
Die Globalisierung führte seit den 1980ern weltweit zu einem massiven Rückgang von extremer Armut
vor allem in den Entwicklungsländern. Parallel dazu entsolidarisierten sich die Gesellschaften der
Industrieländer. Grund dafür war die Entkopplung der Erwerbsarbeit von Produktivitätsgewinnen.
Zugleich wurden die Erwerbsarbeiter durch einen höheren Lebensstandard ruhiggestellt, dessen
Verbesserung nicht etwa aus höherem Verdienst (Partizipation an Produktivitätsgewinnen), sondern
zunehmend aus der Aufnahme von Schulden resultierte. Und das bei einem gesellschaftlich
konnotierten Begriff von Schulden, der eine Schuld impliziert. Um Margret Thatcher zu zitieren:
„You may not be able to get a wage increase, but you can borrow.”
Ergebnis ist eine Schwächung des Marktmechanismus durch die Oligopolisierung (viele Nachfrager,
wenige Anbieter) marktwirtschaftlicher Prozesse und die Plutokratisierung (die Herrschaft des Geldes)
von politischen Entscheidungsprozessen.
Zerschlagung der Mittelschicht
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Zudem folgt daraus eine Schwächung der Chancengleichheit durch eine Zerschlagung der Mittelschicht
und ihrer stabilisierenden Faktoren wie direkter demokratischer Partizipation oder solidarisierender
Bewegungen wie den Gewerkschaften.
Unterm Strich ergibt dies eine Schwächung der sozialen Mobilität in unseren Gesellschaften und
dadurch einen zunehmenden Rückfall in die historische Normalität, wie Tony Benn sie formulierte.
Dabei geht es nicht um die ideologisch verblendete Frage nach mehr Staat oder mehr Privat. Mariana
Mazzucato erläuterte in Ihrem Buch „The Entrepreneurial State“ eindrucksvoll, dass es ein „sowohl,
als auch“ bei gleichzeitig strikter Abgrenzung des Rollenverständnisses beider Seiten benötigt, um den
Marktmechanismus zu reaktivieren.
Über den Autor:
Markus Schuller ist Gründer von Panthera Solutions, einer Beratungsfirma für strategische Asset
Allocation im Fürstentum Monaco. Zuvor war er über zehn Jahre lang als Asset Manager und
Produktentwickler bei Banken und Asset Managern tätig. Er kommentiert für diverse Qualitätsmedien
den Markt und referiert regelmäßig auf Konferenzen zum Thema Asset Allocation.
Dieser Artikel erschien am 03.06.2016 unter folgendem Link:
https://www.private-banking-magazin.de/kapitalismus-gefaehrdet-marktmechanismus-was-die-brexit-debatte-wirklich-antreibt-1464937257/
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