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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Polizist, ledig, zweifacher Vater
Carlos Benede und das Leben mit Adoptivjungen, deren Mütter ermordet wurden
Mit Carlos Benede spricht Ulrike Ostner
Redaktion:
Petra Mallwitz
Sendung:
Freitag, 03.06.16 um 10.05 Uhr in SWR2
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TRANSKRIPT
Ulrike Ostner:
Herr Benede, Ihre Jungendhilfeeinrichtung „Weitblick“ ist nicht ganz wie andere
Einrichtungen der Jugendhilfe, und am besten versteht man das vielleicht, wenn man
sich anschaut, wie so ein ganz durchschnittlicher Tag aussieht. Wie läuft so ein Tag?
Carlos Benede:
Ja, es fängt schon an, wenn du, beim Weckdienst, dass viele sich weigern
aufzustehen, dass du fünf, sechs Mal rein musst, dass du ihnen klarmachen musst,
dass sie in die Schule zu gehen haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass die
aufstehen, es ist nicht selbstverständlich, dass die in die Schule gehen, es ist nicht
selbstverständlich, dass die sich an die Hausordnung halten. Es ist immer, ja, immer
mit Konfrontation verbunden.
Ulrike Ostner:
Und wie oft stellen die auch wirklich was an, sodass meinetwegen die Polizei kommt
oder es ein Remmidemmi gibt?
Carlos Benede:
Ja, man kann sagen täglich. Also wir haben sehr viel Besuch von der Polizei, weil wir
eben ein hohes Grad an Delinquenz im Haus haben, und die Jugendlichen halt
immer wieder was anstellen, es ist so.
Ulrike Ostner:
Das heißt aber nicht, dass die rausfliegen dann.
Carlos Benede:
Nein. Es ist also kein Grund, dass die bei uns rausfliegen, sondern im Gegenteil, wir
nützen diese Gegebenheit, dass wir versuchen an den Jugendlichen ranzukommen.
Also da beginnt dann unsere Auseinandersetzung, unsere Arbeit, ja: warum,
weshalb, wieso hat er das gemacht?
Ja, also es ist ja so, die sind ja das gewohnt, wenn sie was angestellt haben, dass
sie dann bestraft werden, also Sanktionen erwarten, das ist bei uns eben nicht der
Fall, sondern wir, meine Kolleginnen und Kollegen, setzen uns damit auseinander,
indem wir dann einfach einhaken und nachfragen: Warum, weshalb, wieso hast du
das jetzt gemacht? Und nützen da eben die Möglichkeit an den Jugendlichen
ranzukommen.
Ulrike Ostner:
Es gibt bestimmt viele Leute, die sagen: Mensch, die brauchen doch ganz strenge
Regeln, strenges Raster. Was halten Sie davon?
Carlos Benede:
Ja, das mag schon sein, also, aber es ist halt so, dass die eben schon meistens
durch andere Einrichtungen durch sind, also unser Klientel, muss man wissen, die
haben ja schon 5, 6, 7, 8 Einrichtungen schon durch, ja. Und da mag es sein, dass
da Regeln bestanden haben oder dass man das dann auch, wenn man sie nicht
eingehalten hat, konsequent verfolgt hat oder sanktioniert hat. Aber das können sie
eben alle nicht, ja.
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Und bei uns ist es einfach so, dass wir dann sagen: okay, wir erwarten einfach von
unserem Mitarbeiter, dass wir das ein Stückweit aushalten und mittragen, ja.
Wir wissen ja was das für Leute sind und da brauchen wir uns nicht wundern, wenn’s
tatsächlich so eintrifft.
Viele staunen oder sagen: Wie kann das sein, dass du jetzt mit dem noch zum Essen
gehst, ja, oder spazieren gehst, wenn der so was angestellt hat?
Ja, genau das ist das, was wir anders machen, wir sanktionieren nicht, sondern dann
sage ich halt: „Hast du Zeit, hast du Lust, hast du Hunger?“, dann geht man halt
Pizza essen und dann bespricht man das. Das ist wie in der Familie, wenn’s mal eine
Auseinandersetzung gegeben hat, dann ist es doch das Schönste, das
Versöhnungsessen.
Ulrike Ostner:
Dass Sie mit den Jugendlichen so umgehen, wie Sie’s tun, das hat ja auch gute
Gründe, und die fußen in der Praxis. Als Sie noch Polizist waren haben Sie beim
Opferschutz gearbeitet und da Ihren inzwischen großen Sohn kennen gelernt, Ende
20 ist er jetzt. Damals war er 11 und hatte seine Familie verloren, auf welche Weise?
Carlos Benede:
Ja, gut, das war durch ein Tötungsdelikt, da hat der leibliche Erzeuger seine Mutter
in der Wohnung erstochen gehabt, und, ja, und dann war der Kleine eben da.
Meine Aufgabe bestand darin, also vonseiten des Opferschutz-Kommissariats, dass
man sich um die Hinterbliebenen kümmert, um die Opfer. Und so war das unser
Beginn einer großen Freundschaft.
Ulrike Ostner:
Nun ist es ja nicht einfach in Deutschland ein Kind zu adoptieren. Wie kam’s denn,
dass ein alleinstehender Polizist erst die Pflegschaft für ein traumatisiertes Kind und
dann auch noch die Adoption kriegt? Das klingt erst mal unwahrscheinlich.
Carlos Benede:
Genau. Und wenn man sich das Adoptionsrecht anschaut, dann ist das tatsächlich
möglich, dass du auch als alleinstehende Person jemanden adoptieren kannst.
Ulrike Ostner:
Aber wie kam das, dass überhaupt dieser Frage aufkam: Möchten Sie …?
Carlos Benede:
Der Wunsch kam damals vom Jungen selber. Ich weiß es noch, das war Ostern rum,
weil es war ja auffallend, dass er nach einer Zeitlang, sich immer wenn’s Telefon
geklingelt hat, mit dem Nachname Benede gemeldet hat.
Ulrike Ostner:
Da hatten Sie ihn schon in Pflegschaft.
Carlos Benede:
Genau. Und da haben ich ihn dann einmal angesprochen und dann habe ich gesagt:
„Du heißt doch gar nicht Benede. Warum meldest du dich immer bei Benede?“ Und
dann hat er ganz flapsig gesagt: „Wir sind doch hier bei Benede, oder?“
Ja, und das ist mir halt aufgefallen, dass er da relativ häufig den Namen erwähnt,
und beim Osterfrühstück haben wir dann mal drüber gesprochen und dann hat er
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mich mal gefragt: „Du, wie wäre das eigentlich, wenn ich Benede heißen würde?“
Und dann war mir das klar, dass das ja nur mit der, also in dem Fall mit der Adoption
zusammenhängen kann. Und dann haben wir drüber gesprochen und dann haben
wir’s einfach versucht und das hat geklappt.
Ulrike Ostner:
Aber ich vermute, das war dann noch mal ein formaler Schritt, schwieriger war
wahrscheinliches dieses erste Reinwachsen, in so eine Vaterrolle, selbst wenn man
nur, in Anführungszeichen, der Pflegevater ist, von jetzt auf gleich.
Carlos Benede:
Ja, ist ja klar. Er war ja damals schon versorgt, und meine Aufgabe war ja eigentlich
erledigt, ja. Und das wurde ja dann ungefähr nach einem Jahr, kam das ja wieder auf
den Tisch, wo ich dann eingeladen worden bin, beim Jugendamt, mit der Frage, ob
ich mir das eben vorstellen kann, ein Pflegekind zu nehmen.
Und da war es tatsächlich so, dass ich, ja, gar nicht mehr gewusst habe, was ich
sagen soll, und wie er da draufkommt, und dann, in dem Gespräch …
Ulrike Ostner:
Also es war seine Idee, es war Alex‘ Idee?
Carlos Benede:
Ja, genau.
In dem Gespräch war’s dann so, dass tatsächlich der Jungendamtsmitarbeiter eben
gesagt hat: „Ja, hier geht’s um den Alex.“ Und dann, auf Nachfrage was denn los sei,
dass da wieder ein Schicksal dahinterstand, dass er eben aus der Familie raus
musste, und der Alex damals zu dem Jugendamtsmitarbeiter gesagt hat, auf die
Frage hin, wie denn seine Zukunft jetzt ausschauen soll oder wie er sich das
vorstellt, dann eben geäußert hat, dass er gesagt hat: „Ja, ich möchte so einen
Pflegevater haben wie der Polizist, der mich betreut hat.“
Und das war eigentlich, ja, dann der …
Ulrike Ostner:
Für den Jugendamtsmitarbeiter Grund genug Sie anzurufen.
Carlos Benede:
Genau. Genau.
Ulrike Ostner:
Gut.
Carlos Benede:
Und der Beginn unserer, unserer Freundschaft, unserer familiären
Zusammengehörigkeit.
Ulrike Ostner:
Des Zusammenwachsens, der Beginn der Vaterschaft.
Carlos Benede:
Genau.
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Ulrike Ostner:
So, jetzt ist man von heute auf morgen Vater, das stelle ich mir ziemlich schwierig
vor. Normale Eltern haben neun Monate Zeit sich drauf einzustellen, und die Kinder
sind auch nicht gleich 11 und 12 oder so, ja.
Carlos Benede:
Ja, genau.
Gut, ich glaube, da kam mir mein Beruf sehr zugute, und eben auch früher als
Erzieher, wie ich da gearbeitet habe. Du musst dich ja immer wieder auf neue Leute
einstellen, ja, also sei es jetzt im Erzieherberuf, in der Heimarbeit, du hast
verschiedene Individuen, und jeder, ja, jeder Einzelne für sich gehört anders
behandelt, ja.
Ulrike Ostner:
Aber da kann man Heim gehen, dann nach der Arbeit. Hatten Sie keinen Moment
Angst, dass Sie das nicht schaffen könnten?
Carlos Benede:
Also ich muss ehrlich sagen, in meinem Leben, ich bin ein Bauchentscheider, ja, und
ich bin auch einer, vielleicht ist das auch so mein verborgenes südländisches
Temperament, wo man einfach sagt: da gilt das Wort noch, ja.
Und bei mir ist es so, dass ich wenn ich zu etwas „ja“ sage, dann ziehe ich das mit
allen Konsequenzen auch durch und nicht, wenn’s schwierig wird, dass man dann
wieder sagt: „Nee, das geht gar nicht. Bitte, tut’s mir den weg, oder tut’s ihn
woanders hin. Ich habe mich da überschätzt, beziehungsweise fühle mich
überfordert.“
Nein, und das ist auch in jeder, in Anführungsstrichen sage ich das jetzt, in jeder
normalen Familie auch so, dass es mal Auseinandersetzungen gibt, mit den Kindern,
wenn nicht auch mit dem Ehepartner oder mit der Ehepartnerin, und irgendwann sagt
man ja auch nicht, man schmeißt sein 10-jähriges Kind gleich raus oder wie auch
immer.
Ulrike Ostner:
Jaja, aber normalerweise, in normalen Familien, in Anführungsstrichen normale
Familien, da sind die Kinder nicht traumatisiert, die sind von klein auf schon da.
Carlos Benede:
Nein, das weiß man ja nicht.
Ulrike Ostner:
Und viele Eltern sagen, wir haben schon mit der normalen Pubertät Probleme und
kommen da schon nicht klar.
Wie hat der Mann das gemacht, dass er ein Kind, was so stark traumatisiert war, so
schön groß gebracht hat? Ich meine, er hat jetzt sein Studium abgeschlossen
gerade.
Carlos Benede:
Genau.
Diesbezüglich muss ich ja sagen, ich habe ja eigentlich schon eine Vorlaufzeit
gehabt, als Beamter, wie ich eben zuständig war für den Alex im Rahmen der
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polizeilichen Arbeit, das ging ja etwa ein Jahr. Und man darf ja nicht vergessen, wir
haben uns ja fast täglich am Anfang getroffen, und dann so sporadisch zweimal in
der Woche. Und da wächst ja auch was, ja.
Also es ist ja nicht nur so, dass ich dann hingefahren bin, und dann nachgefragt
habe: „Du, erzähl mal, was da an dem Abend los war?“, nee, sondern das nennt man
bei uns so vertrauensbildende Maßnahmen durchzuführen, und Vertrauen muss ja
wachsen, das kann nicht von heute auf morgen gehen. Und das haben ja auch
unsere Vorgesetzten, beziehungsweise auch ganz toll die Staatsanwaltschaft, haben
das ja gesehen gehabt, und dass der Junge eben noch Zeit braucht, um da
ergänzende Angaben zu machen, und die habe ich auch gehabt. Und da entsteht
Beziehung.
Da war eigentlich so ein Grundvertrauen da. Aus meiner Erfahrung ist es einfach so,
dass ich glaube, was mir dabei geholfen hat, dass ich einfach Mensch geblieben bin,
ohne dass ich jetzt groß experimentiere, Therapien anbiete und, ach weiß Gott was
und, oder …
Ulrike Ostner:
Sie haben sich keine psychologische Hilfe geholt?
Carlos Benede:
Beim Alex, nein.
Oder zu stigmatisieren, also das heißt, gewisse Verhaltensweisen einfach tolerieren,
weil ihm so was Schlimmes widerfahren ist oder so.
Nee, das war nicht, ich habe einfach vom Menschlichen her reagiert, ja. Natürlich
war’s eine schwierige Zeit. Und ich denke, so ein traumatisiertes Kind braucht halt
sehr viel Zeit, sehr viel Zuneigung und du musst auch, ja, wie soll ich sagen, zuhören
können, unheimlich viel zuhören können und nicht nach Stundenplan, sondern wann
er meint jetzt muss er was sagen. Also es war teilweise so, dass er mitten in der
Nacht kam, weil er schlecht geträumt hat oder wie auch immer. Und dann musst du
bereit sein einfach zuzuhören und nicht sagen: „Du, das können wir morgen machen,
jetzt schlaf noch mal“ und Hauptsache du hast deine Ruhe. Nein, das war, ja, es war
schwierig.
Und ich glaube, wenn man das meistert, dann hat man schon gewonnen.
Ulrike Ostner:
Sie haben ja auch Ihre Arbeitszeit reduziert, um ein bissel mehr Zeit zu haben für
den Alex.
Haben Sie trotz allem zwischendrin mal das Gefühl gehabt: ich verliere ihn, jetzt
kommt er irgendwie auf eine Bahn, jetzt driftet er irgendwie ab?
Carlos Benede:
Es war mal eine Zeit, die sehr schwierig war, ich weiß, da war er 15, 14, 15, wo ich
mir gedacht habe: Mensch, Carlos, was hast du dir angetan, schaffst du das
überhaupt? Ja, wo man auch zu sich ehrlich sein muss, ja, und sagen muss: hast
dich vielleicht übernommen und hinterfragst du dein Tun, dein Handeln auch immer
wieder.
Und, nee, aber meine Hartnäckigkeit oder das, was mich einfach ausmacht „ja“ zu
sagen und dabei zu bleiben, das hat mich …
Ulrike Ostner:
Das hat sich ausgezahlt auch.
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Carlos Benede:
Ja, genau.
Ulrike Ostner:
Sie haben ja noch ein Kind adoptiert. Gleiche Geschichte im Grunde genommen.
Carlos Benede:
Genau.
Ulrike Ostner:
Auch da ist die Mutter …
Carlos Benede:
War’s noch ein bissel krasser, ja.
Ulrike Ostner:
… durch den Vater zu Tode gekommen, genau.
Wie ging’s dem Buben, als er bei Ihnen angelandet ist, und bei Ihrem großen Sohn,
also Sie waren ja da zu zweit schon. Und das muss ja auch für den Großen
schwierig gewesen sein, zu sehen: Mensch, oh Gott, da ist noch so einer wie ich.
Carlos Benede:
Ja, da war’s ein besonders tragischer Fall, wo eben die Mutter auf offener Straße
erstochen worden ist, mit etlichen Messerstichen und dann mit Benzin übergossen
worden ist und dann angezündet worden ist. Und der Kleine war mit dabei.
Bei dem war’s besonders tragisch, weil, ich weiß es noch wie dann die damaligen
Kollegen mit zwei Streifenwägen gekommen sind und mir den Jungen dann
nachhause gebracht haben und ich dann den Alex an diesem Abend geweckt habe,
das war so gegen 23 Uhr, und habe gesagt: „Du, Alex, da kommt jetzt jemand, dem
ist dasselbe passiert wie dir.“
Und das war schon für ihn eine Sache, wo er erst einmal geschluckt hat, aber sofort
aufgestanden ist, mit rauf ins Wohnzimmer, und wir haben den Kleinen dann
empfangen.
Und das war so ein richtiges kleines Würmchen, mit drei Jahren, also so ein richtiger
goldiger Kerl. Er hat geschlafen, dann haben wir ihn sofort, also den angekokelten
Anorak haben wir runtergetan.
Und das war dann schon so, wo wir beide dann da saßen, im Wohnzimmer, und nur
einen Blick auf den Jungen geworfen haben, und man kann schon fast sagen
Nachtwache gehalten haben.
Und, ja, und am nächsten Tag, wie der Kleine dann eben wach war, man hat es
gemerkt, er war total verstört und auch dieser Blick, der war eigenartig, ja, eine
fremde Umgebung. Also es muss ganz schlimm gewesen sein für ihn.
An diesem Tag habe ich mir schon professionelle Hilfe geholt, da haben wir uns
dann eine Psychologin ins Haus geholt. Und man darf ja nicht vergessen, er war
damals noch im polizeilichen Schutzgewahrsam. Ich habe ihn nur Nachhause geholt,
weil ich gesagt habe: was soll ich mit dem Kleinen im Büro? Dann haben wir ihn halt
zu uns heimgebracht.
Ja, und das ging halt dann so ein paar Tage lang, bis der Tag kam, wo dann
praktisch ein Platz gefunden gewesen wäre, wie’s dann soweit war, hat dann der
Alex plötzlich gesagt: „Warum lässt du den Kleinen nicht bei uns?“ Ich sagte: „Ja, wie
stellst du dir das vor?“ Dann sagte er wiederum: „Ja, warum soll’s dem nicht so gut
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gehen wie mir. Ihr wisst gar nicht was der jetzt durchmachen muss. Papa, du weißt
ganz genau, wenn wir den jetzt weggeben, er kommt ins Heim, eine Therapiestunde
nach der anderen, kommt in ein System rein, wo er vielleicht die Zuneigung oder die
Geborgenheit gar nicht hat.“
Und dann habe ich gesagt: „Alex, das können wir nicht, das ist ja wahnsinnig, du,
zwei Kinder, klar, du bist jetzt etwas größer, aber …“
Also er hat mich tatsächlich überredet, und hat mir dann auch versprochen, er fährt
ihn jeden Tag zum Kindergarten, er holt ihn …
Ulrike Ostner:
Also er war schon so alt, dass er das konnte.
Carlos Benede:
Jaja, mit der S-Bahn und, weil ich habe den Kleinen ja dann in der Nähe vom
Polizeipräsidium in München untergebracht, was den Kindergarten betrifft, und dass
ich halt gleich hin kann, wenn irgendwas los wäre.
Ja, und so war das dann.
Ulrike Ostner:
Wie verstehen sich diese zwei Brüder heute?
Carlos Benede:
Sehr gut. Sehr gut. Es ist, also ich sage immer Schicksale verbinden, und die haben
täglichen Telefonkontakt, Alex unterstützt ihn auch noch, wenn er, bei Schulaufgaben
oder frägt ihn, also fast täglich wie’s ihm geht, wie es in der Schule geht.
Also sie haben ein sehr, sehr, sehr enges Verhältnis.
Ulrike Ostner:
Jetzt ist der Kleine auch schon recht groß, nämlich in der Pubertät. Wie geht’s ihm?
Carlos Benede:
Ja, wie jedem normalen anderen auch, wo du dann wieder deine
Auseinandersetzungen hast.
Ulrike Ostner:
Aber nicht schlimmer, also das …
Carlos Benede:
Oder wie jeder Papa und jede Mama manchmal auch sagen muss: den könnt‘ ich
jetzt wieder an die Wand klatschen.
Also das ist ganz normal. Aber ihm geht’s gut, also ich muss ehrlich sagen, ich bin
auf beide sehr, sehr stolz.
Sie dürfen ja mal ausscheren, ja, auch meine beiden haben mal ausscheren dürfen
oder der Kleine darf mal ausscheren, aber – und das gehört dazu, ja.
Ulrike Ostner:
Aber es ging nie so weit, dass Sie Angst hatten: jetzt kommen sie mir auf die schiefe
Bahn?
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Carlos Benede:
Nein, definitiv nein.
Ulrike Ostner:
Ich meine, Sie sehen das ja jeden Tag bei „Weitblick“, Sie sehen die Jugendlichen ja.
Carlos Benede:
Ja, ja, genau. Nein, definitiv nicht, weil ich glaube es ist auch eine Erziehungssache,
ja, und ich möchte es jetzt auch nicht vergleichen mit unseren Insassen, weil das ein
himmelweiter Unterschied ist.
Das ist bei jeden Eltern, die Kinder auf die Welt bringen, ist verbunden mit einem
gewissen Erziehungsauftrag, auch wenn man den nicht benennt, aber du bist
verantwortlich für den, der dir da anvertraut worden ist, ja, in dem Fall deine eigenen
Kinder, bei mir die durch Gesetz adoptierten Kinder, und im „Weitblick“ die uns
Anvertrauten, durch die öffentlichen Kostenträger einfach.
Ulrike Ostner:
Jetzt haben Sie natürlich bei „Weitblick“ viel Arbeit, Sie haben ja auch aufgehört bei
der Polizei.
Carlos Benede:
Ja.
Ulrike Ostner:
Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen, dass Sie für den Kleinen – weil Sie
vorhin erzählt haben, beim Alex, das war so wichtig Zeit zu haben – das Gefühl: oh,
für den habe ich jetzt im Moment nicht genug Zeit, weil mich die Arbeit so auffrisst?
Carlos Benede:
Doch, nein. Also …
Ulrike Ostner:
Doch, nein.
Carlos Benede:
Also man muss, ja, mal so, mal so, genau.
Ich denke, da muss ich natürlich schauen, dass ich mich nicht ganz von meinem
Projekt „Weitblick“ vereinnahmen lasse. Also ich muss manchmal schon mich dazu
zwingen, dass ich Freiräume schaffe, ja, weil sonst weiß ich, dass eine Seite
vernachlässigt wird. Und das muss ich halt schauen, dass ich das in Einklang bringe.
Ulrike Ostner:
Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen?
Carlos Benede:
Ich hätt’s nicht geschafft, wenn ich jetzt bei der Polizei noch geblieben wäre, also
eins von den dreien wäre schief gegangen.
Ulrike Ostner:
Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen, wie alle Eltern?
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Carlos Benede:
Schlechtes Gewissen, ja, schlechtes Gewissen, ja, habe ich manchmal schon, wenn
ich auf irgendeiner Veranstaltung, die ihn betrifft, sei es jetzt Fußballspiel oder sei es
jetzt irgendein Kinobesuch oder wie auch immer, dann absagen muss, weil aufgrund
der Lage in unserem Hause eben ich da nicht dazukommen kann. Da hat man
natürlich ein schlechtes Gewissen und versucht das dann wieder auszugleichen,
indem man halt dann mal an einem anderen Tag was Sinnvolles dann erledigt.
Ulrike Ostner:
Also das geht ja allen Eltern so, die ganztags berufstätig sind und Kinder haben,
irgendwas kommt immer zu kurz.
Carlos Benede:
Ja. Ja.
Ulrike Ostner:
Trotzdem ist es, glaube ich, was Sie sich da ausgesucht haben, in Ihrem Leben, für
viele, aus der Perspektive anderer so, dass man sagt: ui, das ist viel.
Wer stützt Sie denn, wo tanken Sie?
Carlos Benede:
Die Zeit der Ruhe oder dass ich wieder Kraft tanken kann ist eigentlich so, dass
wenn ich sehe, dass ein, zwei Jugendliche in unserem Haus zum Beispiel zu einem
Abschluss kommen, ja, sei es jetzt im Beruf oder in der Schule, dann ist das für mich
eine Genugtuung wie eine Vitaminspritze, die wieder ein halbes Jahr andauert.
Und natürlich auch die Zeit der Muße, die muss auch sein, um wieder tanken zu
können und da ist es so, dass ich auch gerne in Klöster gehe, wo ich mich
zurückziehen kann. Letztes Jahr war ich in Österreich in einem Kloster, bei den
Zisterziensern, und da habe ich Kraft tanken können, auch die Gespräche mit dem
Prior haben mir sehr viel gebracht und auch die telefonischen Kontakte dorthin
bringen mir viel, dann aber auch …
Ulrike Ostner:
Das ist ja eine Grunderfahrung, wenn man das mal so zurückdenkt und auf Ihre
Kindheit kommt, Sie sind ja auch ohne Eltern aufgewachsen, die Mama, soweit ich
weiß, eine Spanierin, wurde ganz jung …
Carlos Benede:
Gastarbeiterin, ja.
Ulrike Ostner:
… ja, ganz jung schwanger, von ihrem farbigen Freund damals, und hat Sie in einem
Säuglingsheim abgeben, und dann am Ende sind Sie in einem katholischen
Kinderheim im Allgäu von Nonnen großgezogen worden.
Ihre Geschichte passt jetzt gar nicht zu den Skandalgeschichten, die man aus
katholischen Einrichtungen, Erziehungseinrichtungen jetzt in den letzten Jahren
gehört hat. Ihre Kindheit war gut da?
Carlos Benede:
Ja, richtig. Das waren die Dillinger Franziskanerinnen, in Kalzhofen haben die ein
Kinderheim betrieben. Wir haben eine, sage ich jetzt nach wie vor, eine
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hervorragende Kindheit gehabt, eine hervorragende Gruppenschwester.
Die Schwestern, die haben uns Halt gegeben, die haben uns … mei, das war einfach
klasse, es war eine große Familie, ja. Und wir haben ja heute noch Kontakt, zu
diesen Schwestern, ja, die jetzt, klar, im Altenruhestand sind, also wie Schwester
Augusta, Schwester Digna, Schwester Rosita, wie sie alle geheißen haben, das
waren Nonnen, die ihrer Zeit schon weit voraus waren, ja.
Ich denke mir oft, in der polizeilichen Arbeit kommst du ja manchmal in Haushalte
rein, in Häuser, wo du dir denkst: mein Gott, Carlos, hattest es du als Kind gut
gehabt.
Also diese Schwestern, die haben dir viel mitgegeben. Und das, was sie
insbesondere oder speziell was ich da mitgenommen habe, ist einfach für andere da
zu sein, für die Schwächeren in unserer Gesellschaft, die nicht auszugrenzen,
sondern wirklich mit all deiner Kraft, mit Fürsorge, zu schauen, dass es ihnen gut
geht, also mit wenigen Mitteln einfach, aber dass es ihnen gut geht, dass sie
zufrieden sind. Und das haben uns die Schwestern mit auf den Weg gegeben.
Ulrike Ostner:
Das ist ja etwas, was Sie im Grunde weiter praktizieren und es jetzt ja sogar soweit,
dass Sie sich für den Alex gegen eine Partnerin entschieden haben. Da würden
sicher viele Leute sagen: das wäre mir jetzt aber zu viel.
Carlos Benede:
Ja, das war damals so eine Situation, wo ich gemerkt habe, das passt ihm gar nicht.
Und da musst du dich halt dann entscheiden.
Und klar, jetzt bin ich froh, dass ich mir für den Alex entschieden habe.
Aber es ist einfach, ich denke einfach, um da noch mal auf die Schwestern
zurückzukommen, die uns ja damals auch so viel gegeben haben, und wo ich eine
innere Wut immer bekomme, wenn das medial dann so aufgepuscht wird, ja, dass es
nur die prügelnde Nonne gegeben hat, nur den missbrauchten Padre, der weiß Gott
was, seine sexuellen Fantasien auslebt.
Nein, also für Oberstaufen oder für die Dillinger Franziskanerinnen in Oberstaufen, in
Kalzhofen sage ich ganz klar: lege ich meine Hand ins Feuer, da war nie was, im
Gegenteil, wir könnten froh sein, wenn wir solche Einrichtungen noch mehrere in der
heutigen Zeit hätten.
Ulrike Ostner:
Dieses Gefühl, ohne Eltern aufzuwachsen, trotzdem aber sehr behütet und glücklich
fast, ja, so wie Sie das schildern?
Carlos Benede:
Ja. Ja.
Ulrike Ostner:
Hat Ihnen das geholfen Ihre zwei Söhne groß zu ziehen? Ich meine, Sie sind in
Anführungszeichen keine normale Familie.
Carlos Benede:
Ja, klar, aber du hast ja trotzdem auch Freunde oder in deinem Umfeld Freunde oder
sogar … ich weiß es, ich habe dann damals auch meine ehemalige Erzieherin, die
Schwester Augusta in Dillingen angerufen und habe ihr das gesagt gehabt, die dann
auch gesagt hat, sie unterstützt das oder sie unterstützt mich. Das ist so schön,
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wenn man das dann weiß, dass man so Menschen hat, ja, oder aber auch Freunde,
die dich immer wieder unterstützen, praktisch in Gedanken bei dir sind und das,
wenn man hat, ja, dieses soziale Umfeld, wenn das stimmt, dann, ich glaube, dann
kann’s jeder schaffen. Ich glaube, dass es viele solche Carlos gibt, in unserer
Gesellschaft, ja. Mich macht das froh und für mich ist das ja auch wiederum eine
Motivation, ja, da weiterzumachen, wo andere aufhören, ja. Und so, das macht uns
eigentlich auch ein Stückweit glücklich und zufrieden vor allem.
Ulrike Ostner:
Man spürt es, dass Sie viel zurück kriegen.
Jetzt haben wir ganz viel geredet über Ihre Söhne, ein bisschen über Ihre Biografie,
über Ihre Arbeit zu Beginn des Gesprächs. Wenn man das jetzt alles
zusammendenkt, was würden Sie sagen bedeutet dann Familie? Was ist eine
Familie?
Carlos Benede:
Familie, im klassischen Sinne, gibt’s für mich eigentlich gar nicht, sondern Familie ist
für mich, wenn zwei oder drei beisammen sind, die für einander einstehen, für
einander da sind, das ist für mich Familie.
Ulrike Ostner:
Vielen Dank, Carlos Benede.
Sie haben auch ein Buch geschrieben, es heißt „Kommissar mit Herz – Meine Jungs,
Mein Leben – Unser Weg“ ist bei Knaur erschienen und kostet als Taschenbuch 9,99
Euro.
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