S. Scholl: Begrenzte Abhängigkeit 2016-2-128 Scholl - H-Soz-Kult

S. Scholl: Begrenzte Abhängigkeit
Scholl, Stefan: Begrenzte Abhängigkeit. „Wirtschaft“ und „Politik“ im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2015. ISBN:
978-3-593-50289-2; 443 S.
Rezensiert von: Wencke Meteling, Seminar
für Neuere Geschichte, Philipps-Universität
Marburg
Mit seiner Studie hat Stefan Scholl einen
Grundstein gelegt für eine Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts. Statt vorauszusetzen, dass es sich bei „Wirtschaft“ und „Politik/Staat“ um zwei genuine Gegenstandsbereiche handelt, die spezifischen Eigengesetzlichkeiten folgen, spürt er den diskursiven Grenzkämpfen vom späten 18. bis ins
späte 20. Jahrhundert nach. Aus einer Fülle an Schriftzeugnissen aus der Feder von
Ökonomen, Unternehmern, Verbandsfunktionären, Wirtschaftsjournalisten und Politikern
aus dem deutschsprachigen Raum (mit Ausnahme der DDR) arbeitet er heraus, „auf
welche Weise, in welchen Debatten und von
wem das Verhältnis von Wirtschaft und Politik durch sprachliche Abgrenzungen, Bedeutungszuschreibungen und Hierarchisierungen hervorgebracht und aktualisiert wurde“
(S. 11). Scholl negiert nicht, dass wirtschaftliche und politische Institutionalisierungsund Organisationsprozesse eine wichtige Rolle spielen, aber ihnen gilt nicht sein Erkenntnisinteresse. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem kurzen 20. Jahrhundert,
vor allem der Zeit der Weimarer Republik
und dem „Goldenen Zeitalter“, während das
Dritte Reich und die Ära „nach dem Boom“
knapper behandelt werden. Die Dissertation
ist am Bielefelder Sonderforschungsbereich
584 „Das Politische als Kommunikationsraum
in der Geschichte“ entstanden und verbindet
eine Diskursanalyse des Ökonomischen mit
einer Kulturgeschichte des Politischen.
Woher rührt die binär gedachte Struktur
von Wirtschaft und Politik als getrennten Entitäten? Insbesondere englische und französische Physiokraten mit ihrer Kritik an der
Kameralistik sowie klassische Autoren wie
Adam Smith vertraten im 18. und 19. Jahrhundert die Auffassung von der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie in Abgrenzung vom Staat
bzw. der Politik. Führende britische Ökono-
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men plädierten im 19. Jahrhundert dafür, politische und moralische Erwägungen aus der
„Political Economy“ herauszuhalten und die
Disziplin zu depolitisieren. Skeptisch gegenüber Politik, die sie mit Partikularinteressen
assoziierten, ließen sie die Bezeichnung „Political Economy“ fallen zugunsten von „Economics“. Zu Recht betont Scholl diesen „negativen partikularistischen Bedeutungsstrang
des Politikbegriffs“ (S. 60), der sich wie ein
roter Faden durch die Geschichte des wirtschaftsliberalen Diskurses zieht. Die Vertreter der deutschen Historischen Schule der
Nationalökonomie beschritten einen Sonderpfad, indem sie länger als ihre ausländischen Kollegen an der Einbettung der Wirtschaft in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und am Konzept der Volkswirtschaft
festhielten. Sie verwehrten sich gegen den
Vorwurf des „Politisierens“ und entgegneten,
über den Interessen und Parteien stehend die
„großen politischen Fragen“ (Gustav Schmoller) zu betrachten – unparteiisch und unpolitisch (S. 66). Dieser Ideenstrang einer spezifisch deutschen Staatsauffassung hätte sicher stärker herauspräpariert werden können. So endet das Weimar-Kapitel mit aufschlussreichen Passagen zu Carl Schmitt, den
Ordoliberalen Alexander Rüstow und Alfred
Müller-Armack und ihrem Konzept des „starken Staates“, das Anknüpfungspunkte bot
zum nationalsozialistischen „Primat der Politik“ (S. 176ff.).
Für den „Organisierten Kapitalismus“ im
Kaiserreich hat Hans-Ulrich Wehler eine zunehmende „Politisierung der Ökonomie“ bei
einer gleichzeitigen „Ökonomisierung der Politik“ ausgemacht (S. 71). Aber sosehr die
Zeitgenossen das Ineinanderwirken von Wirtschaft und Politik auch problematisierten – eine solche „zugespitzte diskursive Frontstellung“ (S. 72) etablierte sich erst in der Weimarer Republik. Jetzt wurden Wirtschaft und
Politik zu Antipoden und gehörte die Klage
über den Einfluss wirtschaftlicher Sonderinteressen auf die Politik und über schädliche
politische Eingriffe ins Wirtschaftsleben zum
Standardrepertoire des wirtschaftsliberalen
Diskurses. In konkreten Debatten um die
Wirtschaftsordnung, das Betriebsrätegesetz,
die „Wirtschaftsdemokratie“ und den Reichswirtschaftsrat, die Finanz-, Steuer-, Sozial-
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und Lohnpolitik bzw. das staatliche Schlichtungswesen sowie die internationale Politik
wird der ansonsten abstrakte Trennungsdiskurs gut fassbar. Im Kreuzfeuer der wirtschaftsliberalen Kritik der 1920er-und frühen
1930er-Jahre stand weniger Politik als solche
oder der Staat, sondern Gefährdungen der
Wirtschaft durch die parlamentarische Demokratie. Pejorative Semantiken wie „Politisierung“, „Parteipolitik“, „Politiker“ und ihre „sachfremden“ Eingriffe diskreditierten demokratische Politik als „unsachlich“ und „irrational“. Aus ihrer eigenen „Sachlichkeit“
leiteten die Unternehmer das Recht auf politische Einflussnahme ab, das sie den angeblich „macht-“ und „parteipolitisch“ agierenden Gewerkschaften absprachen (S. 100,
104, 119). Scholl weist auch auf den Paradigmenwechsel der akademischen Sozialpolitiker hin: Indem sie Sozialpolitik lediglich
als abhängige Variable der Wirtschaftslage begriffen, büßte Sozialpolitik ihren emanzipatorischen Gehalt ein, zumal ihr obendrein der
Ruch der Parteipolitik anhaftete. So vertrat
der Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik
Heinrich Herkner 1922 die Ansicht, dass „eine
gute Produktionspolitik die beste Sozialpolitik“ sei (S. 145) – eine Frühform des Slogans
„Sozial ist, was Arbeit schafft“. Den Kulminationspunkt der Weimarer Grenzziehungskämpfe bildete die Weltwirtschaftskrise, deren Ursachen einseitig einem „Politikversagen“ und „politischer Krankheit“ zugschrieben wurden (S. 164ff.).
Die Befunde zum Dritten Reich seien hier
nur knapp umrissen: Der nationalsozialistische Trennungsdiskurs zielte auf die Wiederherstellung des „Primats der Politik“, der im
verhassten liberalen „System“ von Weimar
angeblich außer Kraft gesetzt worden war.
Trotz des propagandistisch vertretenen „Primats der Politik“ kam es bekanntlich nicht
zu einer staatlichen Beherrschung oder gar
Lenkung der Wirtschaft im Nationalsozialismus. Gefordert war eine harmonische Ein-,
seltener eine Unterordnung unter politische,
und das hieß: weltanschauliche Ziele. „Politik“ zielte auf die Belange der „Volksgemeinschaft“ und implizierte grundsätzlich „völkische“ Politik. Mit einer so gearteten „Politisierung“ von Wirtschaft und ökonomischer
Wissenschaft bildete das Dritte Reich wohl in
der Tat „eine Ausnahmephase des Grenzziehungsdiskurses“ (S. 226).
Der Grenzziehungsdiskurs im „Goldenen
Zeitalter“ rankte mehr um die gegenseitige Abhängigkeit, Verflechtung und Harmonie
von Wirtschaft und Politik. Scholl stellt den
ordnungspolitischen Sonderweg der Bundesrepublik heraus, waren Keynesianismus und
Planungsdiskurs doch schwächer, das Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft hingegen
stärker ausgeprägt als in den USA, Großbritannien oder Frankreich. „Planung“, „Kollektivismus“, „Wirtschaftslenkung“ und „politische Diktatur“ galten als Attribute des Systems der DDR und des Ostblocks; die Forderung der Gewerkschaften und der SPD nach
einer Demokratisierung der Betriebe werteten ihre Gegner als „Politisierung“, die die
wirtschaftliche und politische Freiheit bedrohe. Liberale Ökonomen wie Ludwig von Mises, Franz Böhm und Milton Friedman gingen so weit, den Markt zur demokratischsten Organisationsform überhaupt zu erklären. Gleichwohl blühten auch in der Bundesrepublik der Planungsdiskurs und die
Responsabilisierung des Staates für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, gipfelnd im
„Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ von 1967
und der „Globalsteuerung“. „Diese ökonomischen Ansprüche an den Staat lassen sich als
positive Wendung des Deutungsmusters ,Politikversagen‘ charakterisieren.“ (S. 255) Einen
„diskursiven Knotenpunkt“ (S. 300 u. 330) auf
dem Weg zu den Krisennarrativen der 1970erJahre1 und dem Siegeszug des wirtschaftsliberalen Diskurses macht Scholl in der Rezession von 1966/67 aus. Damals polemisierte Hans Christoph Freiherr von Tucher, Vorstandsmitglied der Bayerischen Vereinsbank,
man habe zu lange „auf dem Wirtschaftswundersofa vom Schlaraffenland geträumt“
(S. 301). Politik blieb das konstitutive Außen
für Wirtschaft, so Scholl in Anlehnung an Er1 Siehe
Martin H. Geyer, Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Sozialstaatsdebatten der 1970er Jahre und die
umstrittenen Entwürfe der Moderne, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 47–93; zeitgenössisch Claus
Offe, „Unregierbarkeit“. Zur Renaissance konservativer Krisentheorien, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur ,Geistigen Situation der Zeit’, Frankfurt am
Main 1979, Bd. 1, S. 294–318; Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders. (Hrsg.), Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 141–163.
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S. Scholl: Begrenzte Abhängigkeit
nesto Laclau; sei es durch die Ordnungspolitik, die eben keine politischen Eingriffe ins
Marktgeschehen vorsah, sei es als potentielle, „sachfremde“ Gefährdung der Wirtschaft.
Aus dieser diskursiven Trennung ergab sich
sowohl der ökonomische Anspruchsdiskurs
an Politik als auch der Vorwurf unzulässiger
Grenzüberschreitungen seitens der Politik –
eine Falle, aus der sich die Politik seither nicht
hat befreien können.
Ein gelungener Ausblick zur Ära „nach
dem Boom“ skizziert, wie sich diese Trends
mit der Durchsetzung der angebotspolitischen Hegemonie weiter verschärften. Das
wirtschaftsliberale Narrativ des drohenden
Verfalls der Sozialen Marktwirtschaft und die
ihm inhärente Politikkritik, befördert durch
die Public-Choice-Theorie, verdichteten sich
in den 1990er-Jahren, als das Deutungsmuster
„Globalisierung“ Diskurshoheit erlangte und
der „nationale Wettbewerbsstaat“ zum wirtschaftspolitischen Leitbild aufstieg (S. 354).
Wirtschaftsliberale Akteure waren weit davon entfernt, wertneutral auf die Eigenständigkeit der Wirtschaft von der Politik zu verweisen; im Gegenteil richteten sie eine Fülle von Ansprüchen an die Politik und kritisierten zugleich deren Grenzüberschreitungen. „Das ständige sprachliche Arbeiten an
der Grenzziehung“, so Scholl abschließend,
„lässt sich insofern als Stabilisierung des ökonomischen Diskurses begreifen.“ (S. 364) Einer der markantesten Züge dieses Diskurses
bestand darin, Politik auf das wirtschaftlich
Machbare und Wünschenswerte zu begrenzen und das politische Denken seines utopischen und emanzipatorischen Gehalts zu berauben. Heute begegnet uns der politische
Utopieverlust im Gewande der Austeritätspolitik.
HistLit 2016-2-128 / Wencke Meteling über
Scholl, Stefan: Begrenzte Abhängigkeit. „Wirtschaft“ und „Politik“ im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2015, in: H-Soz-Kult 26.05.2016.
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