A M WO C H E N E N D E WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF1 MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 21./22. MAI 2016 72. JAHRGANG / 20. WOCHE / NR. 116 / 3,20 EURO Der letzte Tropfen FOTOS: JOHANNES SIMON, AFP, OH, LUKAS FELZMANN Die deutschen Bauern leiden unter dem Milchpreisverfall. Die Geschichte von einem, der aufgibt Buch Zwei, Seite 13 (SZ) Es ist nicht immer schön, wenn Dinge, die verschwunden sind, plötzlich wieder auftauchen. Das weiß jeder, der einmal eine Leiche im See versenkt hat und erleben muss, wie der See in einem dieser elenden Jahrhundert-Sommer plötzlich austrocknet. Schlimm wäre es auch, wenn die Schlaghose der Siebzigerjahre wiederkehrte. Oder ist sie schon wiedergekehrt und niemand hat es bemerkt, weil die Hosen heute sowieso immer woanders sitzen als Hosen normalerweise zu sitzen pflegen? Sehr schlimm: eingeladen sein, „wenn zu Hause die Räume stiller, der Café besser und keine Unterhaltung nötig ist“. Das letzte „was schlimm ist “ stammt – Kenner wissen Bescheid – von Gottfried Benn, dem fabelhaften Lyriker. Apropos: Es ist natürlich nicht schlimm, dass jetzt wieder mehr Lyrik gelesen wird; sehr schlimm dagegen ist, wenn plötzlich Leute, von denen man glaubte, dass sie qua Amtsentzug für immer verschwunden wären, plötzlich als Lyriker wieder auftauchen. Am schlimmsten: wenn diese Leute damit anfangen, ihre Gedichte einer breiteren Öffentlichkeit zuzuführen, wie Boris Johnson, der mit seinem Erdoğan-Limerick der Welt gezeigt hat, was er noch alles nicht kann. Der Blick in die Literaturgeschichte lehrt, dass Politiker gelegentlich zu Lyrikern werden können, wenn alles in ihnen bereit ist zum Saitenspiel. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter legte vor Zeiten den Poesieband „Auszeit“ vor, eine Sammlung von 18 Verskunstwerken, in denen Kiesewetter die Welt mit zärtlicher Geste berührt und damit einen feinen Kontrapunkt setzt zu seiner kürzlich an die Presse lancierten E-Mail. Darin hatte Kiesewetter über die Grünen-Abgeordnete Margit Stumpp geschrieben, sie sei eine . . . – naja, Kiesewetter schrieb eben sehr böse Dinge, die in seiner Lyrik viel nachdenklicher rüberkommen: „Hart klingt /der Groll der Nacht“ – es klingt wie Bedauern, ach, es ist beinahe, als hätte der Kiesewetter die Stumpp still geküsst. Ein Politiker der Gedichte schreibt, ist wie ein Kater, der nach dem Zweikampf in sich hinein schnurrt um seine Balance wiederzufinden. Hat Napoleon Gedichte geschrieben? Blücher? Beide wohl nicht. Aber der frankofone Sozialdemokrat Carlo Schmid brachte die giftig-schönen Verse von Charles Baudelaire ins Deutsche und sein schwäbischer Brieffreund Theodor Heuss sandte ihm 1955 ein schönes Gedicht: „Doch schüttle frisch der Heimat Apfelbäume/ und sorg dich nicht um die gerechten Reime.“ Schön, nicht? Das ist wirklich von Heuss und nicht von Guido Wolf. Von Guido Wolf, dem baden-württembergischen CDU-Fraktionschef, ist das hier: „Angesichts der Weinhoheiten/ sind alles andere Kleinigkeiten. So grüß’ ich mit La-OlaWelle/ die Weinhoheit an erster Stelle.“ Was wirklich schlimm ist, hat Benn leider nicht in sein Gedicht reingeschrieben. Medien, TV-/Radioprogramm Forum & Leserbriefe München · Bayern Rätsel & Schach Traueranzeigen 46-48 16 45 63 31-34 61020 4 190655 803203 SUPERSUPERGUT WAR’S GESCHLECHTERKRAMPF Zum Abschied von Pep Guardiola: eine Würdigung seiner Wortschöpfungen Die Toiletten in den USA werden zur Kampfzone für die Gender-Debatte Sport, Seite 41 Feuilleton, Seite 17 INTELLIGENTE SCHWÄRME Wie schaffen es 50 Millionen Vögel ohne Mathematik- oder Physik-Kenntnisse, in perfekter Formation zu fliegen? Wissen, Seite 38 Sprengstoff für die Koalition Scharfe Kritik an der Türkei Saudi-Arabien will in großem Umfang Waffen aus Deutschland kaufen – und bringt damit Union und SPD in Not: Die Kanzlerin ist für eine eher großzügige Exportpolitik, Vizekanzler Gabriel nicht Parlament hebt die Immunität von 138 Abgeordneten auf von christoph hickmann und georg mascolo Im Berliner Regierungsviertel wiederholt sich seit Monaten ein diplomatisches Ritual. Abgesandte der Botschaft Saudi-Arabiens, oft der Leiter der Mission, bitten bei den Staatssekretären im Auswärtigen Amt, bei Angela Merkels Sicherheitsberater Christoph Heusgen oder im Wirtschaftsministerium um ein Gespräch. Immer geht es um eine brisante Liste mit bisher nicht erteilten Ausfuhrgenehmigungen für jede Menge Kriegswaffen, Munition, Zünder und hochmoderne Zielsysteme – im Milliardenwert. Das Königshaus von Saudi-Arabien will die Waffen haben, und es verlangt Entscheidungen. Doch in der Bundesregierung bewegt sich nur wenig, wenn es um diese hoch umstrittenen Exporte geht. Manches wird noch durchgewunken, zuletzt im März die Lieferung von 23 Hubschraubern mit „militärischen Einbauten“. Weit umfangreicher aber ist, was von Sitzung zu Sitzung verschoben wird, und zwar seit Monaten. Berlin sagt weder Ja noch Nein. Die Sache birgt politischen Sprengstoff für die große Koalition, schließlich ist das potenzielle Empfängerland eine der Hauptkonfliktparteien im Nahen Osten. Nun kommen nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR zwei weitere Faktoren hinzu, die den Konflikt in der Bundesregierung noch anheizen könnten. Zum einen ist da der anstehende Export von insgesamt 48 Patrouillenbooten nach Saudi-Arabien. Zum anderen versucht die Waffenschmiede Heckler & Koch gerade, vor Gericht die Ausfuhr von Bauteilen für eine Gewehrfabrik zu erzwingen. So etwas hat es bislang noch nicht gegeben. Die ohnehin heikle Causa Reichtum kann manchmal schön blöd sein, schrecklich unpassend. Dem Römer Alfio Marchini, Spross einer Bauherrendynastie und Polospieler, ist sein Reichtum gerade so unangenehm, dass er ihn auf rührende Weise zu verstecken versuchte und dabei – nun ja – ganz dumm erwischt wurde. Vor einigen Tagen war das, in einer Raststätte auf der Ringstraße der Stadt, dem Grande Raccordo Anulare, zwischen Aurelia und Flaminia, auf dem Parkplatz vor dem Autogrill. Ein Leser der Zeitung La Repubblica sah dort, wie Marchini aus einem Fiat Panda stieg und sich hinter das Steuer seines grauen Ferrari setzte. Es war schon spät abends. Den Ferrari fuhr er selber heim, den Panda überließ er seinem Fahrer. Ein Ritual, wie die Römer bald erfahren sollten. Und das ist politisch durchaus relevant. Alfio Marchini möchte Bürgermeister von Rom werden. Die Wahl findet in zwei Wochen statt. Getragen wird der 51-jährige Unternehmer von der bürgerlichen Rechten und von der Enkelin des Duce, von Alessandra DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche Saudi-Arabien könnte in den nächsten Wochen noch einmal an Brisanz gewinnen. Die Liste mit Rüstungsgütern, deren Ausfuhr bislang nicht genehmigt wurde, ist lang, etwa 750 Schulterwaffen der Typen RGW 60 und RGW 90. Es finden sich darauf auch sogenannte Voranfragen aus der Industrie für 100 ungepanzerte Sattelschlepper der Marke MAN, für 30 Bergeund Pionierpanzer oder 200 geschützte Transportfahrzeuge vom Typ Boxer – neben Munition oder 20 000 Zündern für Granaten des Kalibers 40 Millimeter. Für die Entscheidung darüber ist der geheim tagende Bundessicherheitsrat zuständig, in dem neben der Kanzlerin ihre wichtigsten Minister sitzen. Obwohl Saudi-Arabien in einen Krieg in Jemen verstrickt ist, plädiert die Kanzlerin für eine aus Sicht der Kritiker eher großzügige Exportpolitik. Saudi-Arabien sei ein schwieriger Partner, auch die Menschenrechtslage sei beklagenswert – doch in einer vom Chaos bedrohten Region sei es einer der letzten verlässlichen Partner, den man zudem für eine Friedenslösung in Syrien brauche. Auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sehen dies angeblich so. Doch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) leistet Widerstand – auch wenn er von der Opposition hart für jene Fälle kritisiert wird, in denen er entgegen seiner Ankündigungen doch Rüstungsexporte in den arabischen Raum genehmigte. Gabriel könnte überstimmt werden. Das wäre ein Politikum. Deutsche Rüstungsgüter für Saudi-Arabien Wert der Ausfuhrgenhmigungen nach Saudi-Arabien, in Millionen Euro * 1. Halbjahr 2015 ** vorläufig 1237,2 (4,7) (Gesamtvolumen der Einzelausfuhrgenehmigungen, in Milliarden Euro) 361,0 (5,9) 209,0 170,4 (5,8) 56,9 58,8 (3,8) 29,9 (4,2) 45,5 2006 2007 (4,2) 2004 2005 168,0 (5,0) (4,0) 152,5 (4,8) 139,5 2010 2011 178,7* (7,56**) (5,4) (3,7) 2008 2009 2012 2013 2014 2015 SZ-Grafik; Quelle: BMWi Fiat statt Ferrari Roms Bürgermeisterkandidat betreibt viel Aufwand für seine Volksnähe. Sein Problem: der nächtliche Autotausch Mussolini. Von allen Plakatwänden lacht Alfio Marchini sein gewinnendes Lachen, es ist das gebräunte Lachen eines Glücksgesonnenen. Neben seinem Gesicht prangt ein großes, rosa Herz. Er tritt in Altersheimen auf, auf Gemüsemärkten, vor frustrierten Bewohnern der Vorstädte. Immer auf Achse – mit dem Panda, dem Durchschnittswagen der Italiener, dem Auto der Plebs, einem fahrenden Understatement. Als er in einer TV-Talkshow gefragt wurde, ob es tatsächlich wahr sei, dass er vor dem Autogrill den Panda mit dem Ferrari tausche, sagte Marchini: „Ja, immer. Man hat mir beigebracht, dass es nicht opportun ist, den Reichtum hervorzukehren.“ Nun, die Erklärung machte seinen Fall nicht wirklich besser. Sie offenbarte vielmehr das System der Anbiederung, diese hervorgekehrte Bescheidenheit, den politischen Opportunismus hinter dem heimlichen Autotausch an der Raststätte. Und so ergoss sich in den sozialen Netzwerken viel Häme über den armen reichen Mann. In den Zeitungen gab es auch Kommentare, die Marchini verteidigten, schließlich habe der nichts verbrochen. Solche auch, die den Spieß umdrehten und den Kritikern Heuchelei vorwarfen. Und dann Ganz oben auf der Liste der eigentlich überfälligen Entscheidungen steht die Ausfuhr von Teilen für das von Heckler & Koch hergestellte Sturmgewehr G36, das die Saudis seit 2008 in Lizenz fertigen dürfen. Seit November 2013 gibt es keine Genehmigungen mehr für fünf aus Deutschland gelieferte Komponenten, ohne die man nicht produzieren kann. Im August 2015 reichte Heckler & Koch, offenbar in enger Absprache mit saudischen Diplomaten in Berlin, eine Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht Frankfurt ein – ein bisher einmaliger Vorgang. Nach neuesten Informationen verlangt Heckler & Koch jetzt aber nicht mehr nur, dass die Bundesregierung über ihr Anliegen entscheidet, sondern will die Regierung per Urteil zur Erteilung der Genehmigung zwingen. Im April änderte Heckler & Koch seinen Klageantrag ab. Im Juni soll es nun zur mündlichen Verhandlung kommen. Was den Export von 48 Patrouillenbooten nach Saudi-Arabien angeht, zieht sich der Riss nicht nur durch die Bundesregierung, sondern auch durch die SPD. In einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion kam es kürzlich zu einem Disput zwischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Außenpolitiker Rolf Mützenich. Zunächst lobte Steinmeier vor den Abgeordneten Fortschritte, die in Saudi-Arabien gemacht würden, und machte kenntlich, dass er jedenfalls den Export der Patrouillenboote für vertretbar hält. Mützenich widersprach entschieden. Und Gabriel? Der ist dem Vernehmen nach entschlossen, den Export aufzuhalten. Nun bleibt die Frage, ob der als unstet verschriene SPD-Chef dabei bleibt. Der Druck auf ihn dürfte eher noch zunehmen. Die Boote werden in Wolgast gefertigt. Im Nachbarwahlkreis der Kanzlerin. noch solche, die mit Verve versuchten, die Debatte auf die höhere Ebene des sozialen Neids zu heben. Man erinnerte auch daran, dass Roms vorläufig letzter Bürgermeister, der unlängst ruhmlos geschasste Chirurg Ignazio Marino, sich während des Wahlkampfs gern auf dem Sattel eines Fahrrads zeigte, um damit seine Volksnähe zu bezeugen – obschon sich aus diesem Volk ja kaum einer mit dem Rad in den römischen Verkehr wagt. Francesco Rutelli wiederum, Bürgermeister von 1993 bis 2001, fuhr während seiner Kampagne lässig und demonstrativ Mofa. Als er dann gewählt war, saß er immer im Fond einer Dienstlimousine. Doch Marchinis Geschichte bedient natürlich alle Klischees. Wäre er einfach mal zwei, drei Monate nur Panda gefahren, den ganzen Weg, von Zuhause bis in die Stadt und wieder zurück, wäre ihm die Polemik wohl erspart geblieben. Nun verlor er in den Umfragen in wenigen Tagen fast zehn Prozent der Wählergunst. oliver meiler Berlin/Ankara – Die Türkei hat mit dem Beschluss des Parlaments, die Immunität von mehr als einem Viertel der türkischen Abgeordneten aufzuheben, in Deutschland scharfe Kritik ausgelöst. „Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, darf sie ihren Rechtsstaat nicht aushöhlen“, sagte Justizminister Heiko Maas (SPD) in Berlin. Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte: „Grundsätzlich erfüllt uns die zunehmende innenpolitische Polarisierung in der Türkei mit Sorge.“ Für die innere Stabilität sei bedeutend, dass die wichtigen gesellschaftlichen Gruppen im Parlament vertreten seien, sagte er. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warf dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor, „eine Ein-Mann-Herrschaft“ zu zementieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel will mit Erdoğan am Montag in Istanbul über die Folgen der Immunitätsaufhebung und über die Flüchtlingskrise sprechen. Das Parlament in Ankara hatte auf Erdoğans Betreiben mit 376 von 550 möglichen Stimmen die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben. Sie könnten nun strafrechtlich verfolgt werden. Der Schritt richtet sich vor allem gegen die Fraktion der pro-kurdischen HDP. Erdoğan wirft ihr vor, sie sei der „verlängerte Arm“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. „Mein Volk will im Parlament keine Abgeordneten sehen, die Verbrechen begangen haben“, sagte er. Die HDP befürchtet nun die Festnahme von Abgeordneten, gegen die vor allem Terrorvorwürfe erhoben werden. Parlamentariern anderer Fraktionen wird unter anderem Amtsmissbrauch vorgeworfen. sz Seiten 4 und 6 MIT STELLENMARKT Dax ▲ Dow ▲ Euro ▶ Xetra 16:30 h 9893 Punkte N.Y. 16:30 h 17548 Punkte 16:30 h 1,1208 US-$ + 0,99% + 0,65% + 0,0006 DAS WETTER ▲ TAGS 26°/ 6° ▼ NACHTS Im Norden und Osten zeitweise stärker bewölkt und es kann regnen. Im Nordwesten sind einzelne Gewitter möglich. Sonst ist es heiter bis wolkig und trocken. Temperaturen 21 bis 26 Grad. Seite 16 Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0, Telefax -9777; [email protected] Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt), 089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte). Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, www.sz.de/abo A, B, F, GR, I, L, NL, SLO, SK: € 3,90; dkr. 31; £ 3,60; kn 35; SFr. 5,00; czk 115; Ft 1050 Die SZ gibt es als App für Tablet und Smartphone: sz.de/plus
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