Prof. Dr. Markus Tomberg, Fulda hr1-Zusprüche vom 23.05. bis 27.05.2016 (ohne 26.05.) Montag, 23.05.2016 Lasst beides wachsen Es ist eine der ganz und gar unscheinbaren Geschichten im Neuen Testament, die Geschichte vom Unkraut unter dem Weizen. Sie fügt sich ein in eine Reihe von kleinen Erzählungen aus der Landwirtschaft, die der Evangelist Matthäus Jesus erzählen lässt. Es geht um Aussaat und Ernte, um die Winzigkeit eines Samenkorns und die Majestät der sich daraus entwickelnden Pflanze. Und es geht, Gartenliebhaber können ein Lied davon singen, es geht ums Unkraut. Nachzulesen im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Als Gartenratgeber ist der kleine Text allerdings nicht zu gebrauchen. Das Unkraut, so geht nämlich unsere Geschichte, das Unkraut steht mitten im Weizenacker, und eine Erklärung dafür ist schnell bei der Hand. Ein Feind hat es gesät, ein missgünstiger Nachbar, ein Neider oder auch Leute, die sich einen schlechten Scherz erlaubt haben, die Bibel ist da reichlich unpräzise. Und auch der Hinweis, wie mit dem Unkraut umzugehen ist, zeugt nicht unbedingt von guter Gartenkenntnis. Wegen der Gefahr, zusammen mit dem Unkraut auch die Fruchtpflanzen auszureißen und so die Ernte zu vernichten, solle man beides einfach wachsen lassen. Nein, als Gartenratgeber ist der Text wirklich nicht zu gebrauchen. Und doch handelt es sich um eine wirkmächtige, eine der wichtigsten Geschichten der ganzen Bibel. Und das nicht, weil da von Unkraut und Weizen gehandelt wird, sondern weil sowohl das gute Saatgut wie auch der verderbliche Beiwuchs wachsen sollen. Weizen und Unkraut: Gemeint sind nämlich gar nicht Nutzpflanze und Schädling. Sehr bald haben Christinnen und Christen die Geschichte verstanden als Hinweis darauf, wie mit fremden, aus ihrer Sicht falschen religiösen Überzeugungen umzugehen sei. Lasst beides wachsen, den Weizen und das Unkraut: Der Satz bekommt, so gelesen, einen ganz neuen Klang. Lasst beides wachsen: Das zielt auf religiöse Toleranz, auf ein friedliches Miteinander der Religionen. Reißt nichts aus: Das ist ein Appell zum Verzicht auf religiös motivierte Gewalt. Als solcher aber ist er notwendiger denn je.
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