Presseartikel aus dbk 11/10

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01.11.2010
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Aktuelles Interview
„Tiere darf man töten und essen“
Die aktuelle Debatte zum Thema Fleischkonsum verdirbt so manchem Fleischesser den
Appetit und stellt auch Tierhalter an den Pranger. Nicht zuletzt deshalb drängt sich die
Frage auf, ob Fleischkonsum ethisch möglicherweise tatsächlich bedenklich ist und weshalb diese Debatte eine immer größere Dynamik entwickelt. Die Deutsche Bauern Korrespondenz sprach daher mit dem evangelischen Kirchenvertreter Dr. Clemens Dirscherl.
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dbk: Herr Dr. Dirscherl, die aktuelle Tierschutzdebatte kategorisiert sehr stark in
„gute Vegetarier“ oder „böse Fleischesser“.
Weshalb hat sich diese Diskussion um das Thema
Tierschutz bzw. Fleischkonsum so entwickelt?
Clemens Dirscherl: Die Tierschutzdebatte hat
sich schleichend entwickelt. Dafür sind verschiedene Entwicklungen verantwortlich: Erstens die Diskussion um Tierhaltung grundsätzlich, die sich aus der Entwicklung in einer naturentfremdeten Gesellschaft speist, die ihre
Grundbedürfnisse befriedigt hat. Die sogenannte Maslow-Bedürfnis-Pyramide besagt,
dass sich Persönlichkeiten, sobald entsprechende Bedürfnisse gedeckt sind, durch ein besonderes Ausmaß an Selbstentfaltung oder
Selbstverständnis definieren. Diese Selbstentfaltung – deswegen jetzt auch Stuttgart 21 –
findet sehr stark im ökologischen Bereich und
eben auch beim Tierschutz statt. Des Weiteren
gibt es seit längerem die Debatte um Tiertransporte. Und auch die Klimaschutzdiskussion ist verantwortlich, woher das Futter für die
Tiere kommt. Aus alldem hat sich ein gesellschaftliches Klima ergeben, in dem es schon
fast zur political correctness gehört, Fleischkonsum kritisch zu sehen.
Die Motivation dazu ist eine Selbstdefinition:
Wo kann ich als Einzelner gegen die vielen Kräfte, die ich gar nicht überschauen kann – Globalisierung, Finanzkapital, Kriege – ein kleines
Zeichen für mehr Frieden setzen? Das kann ich,
wenn ich meinen Frieden z. B. mit dem „Seelenheil“ des Tieres mache, sozusagen als Kompensation für die vielen Bedrohungsszenarien der
Welt.
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dbk: Allen Tierschutzforderungen der Verbraucher zum Trotz greifen die Konsumenten im Supermarkt dann aber doch zum
eher günstigen Produkt …
Dirscherl: … was überhaupt kein Widerspruch
ist. Dieses Verhalten folgt dem Grundsatz „der
Wille ist stark, das Fleisch ist schwach“. Die
Menschen anerkennen eine normative Kraft;
welche Moralvorstellungen gesellschaftlich getragen werden, was zum „guten Ton“ gehört.
Gleichzeitig wissen sie aber um ihren „Sündenfall“ beim Kauf von Billigfleisch im Supermarkt.
Gekauft wird es, weil man sich in diesem Moment nicht erwischt oder ertappt fühlt. Diese
Spaltung von Bewusstsein und Willen ist auch
der Ausdruck dafür, wie stark sich das gesell-
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Dr. Clemens Dirscherl ist Geschäftsführer
des Evangelischen Bauernwerks und leitender Agrarreferent der württembergischen Landeskirche. Seit 2005 ist er zudem Agrarbeauftragter der Evangelischen
Kirche Deutschlands. Nach dem Studium
der Soziologie, Politikwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Geografie in
Mainz, Wien und Freiburg promovierte er
1988 mit einer agrarsoziologischen Dissertation zum Dr. phil. an der Universität in
Freiburg.
Foto: privat
schaftliche Klima zum Thema Fleisch ausgeprägt hat. Weil ich mich selber ertappe, dass ich
das billigere Fleisch kaufe, bin ich in Meinungsumfragen umso konsequenter und gebe meine
Unterschrift umso bereitwilliger Peta, Animals
Angels oder anderen Tierschutzorganisationen,
um so mein Verhalten zu kompensieren – quasi
Buße zu tun.
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dbk: Welche Rolle spielen dabei die
Medien?
Dirscherl: Die Medien kennen die Einstellung
des Verbrauchers, billiges Fleisch zu wollen,
aber gleichzeitig das Schwein nicht am Fleischerhaken sehen zu mögen. Indem die Medien
auf der Empörungsklaviatur spielen, geben sie
dem Verbraucher die gewünschte „Entlastung“.
Damit erkaufen sie sich ein hohes Maß an Zustimmung.
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dbk: Wie sehen Sie aus moral-ethischer
bzw. moral-theologischer Sicht Tierhaltung und Fleischkonsum – darf man Tiere
töten und essen?
Dirscherl: Ja, Tiere darf man töten und essen.
Wir leben nun mal in einer unperfekten Welt mit
Sünde und Verzeihung. Deswegen ist es auch
tragbar, dass der Mensch Fleisch isst. Denken
Sie an die biblischen Überlieferungen, an die
Freude des Vaters über den verlorenen Sohn.
Was hat er gesagt: „Lasst uns ein Fest feiern,
lasst einen Ochsen schlachten, es soll ein Festmahl werden.“ Wir müssen uns aber fragen, ob
wir Maß halten. Noch nie in der Menschheitsgeschichte wurde so viel Fleisch gegessen wie heute. Wir leben in einer maßlosen Gesellschaft,
und genau darin besteht die Gefahr, dass die Tiere durch diese Maßlosigkeit ihre Mitgeschöpflichkeit und damit ihre Würde verlieren.
Und wir müssen uns fragen, ob es eine gute
Entwicklung ist, wenn Mastschweine- oder Hühnerhaltungsanlagen mit wahrhaftig agrarindustriellen Dimensionen entstehen. Das dürfen wir
nicht wegreden. Grundsätzlich wird alles, was mit
einer bestimmten Größendimension verbunden
ist, im menschlichen Empfinden als „Masse“
wahrgenommen: in seinen negativen Folgen Massentourismus, Massenkonsum und dann entsteht
die tiefe Skepsis gegenüber Massentierhaltung.
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dbk: Wie können Tierhalter und ihre Organisation diesem Trend entgegenwirken?
Dirscherl: Verständnis zeigen! Das schlimmste
wäre, zu diffamieren. Problematisch ist es,
wenn der Berufsstand sagt, wir müssen die Diskussion versachlichen. Denn Tiere sind für die
Gesellschaft mehrheitlich keine Sachen, sondern Mitgeschöpfe. Wir müssen mit dieser Emotionalisierung vielmehr einhergehen. Die Tierhalter müssen klar verdeutlichen, dass man Verständnis für kritische Anfragen hat, dass man
auch als Landwirt die Tiere mag, sie als Mitgeschöpfe sieht, aber sie gleichzeitig auch dem
Menschen zum Nutzen gegeben sind – eben
Nutztiere und keine Kuscheltiere.
Eigentlich müsste jeder Landesbauernverband, am besten noch jeder Kreisbauernverband, einen Vorzeigestall haben, den die Verbraucher als „gläsernen Modellstall“ besuchen
können – und zwar ohne Schutzkleidung. Damit
müsste verdeutlicht werden, dass sich alle Landwirte an diesem Vorzeigeobjekt orientieren.
Gleichzeitig muss aber auch begründet werden,
dass nicht jeder Landwirt diesen optimalen
Standard erreichen kann – genauso wenig, wie
jedes Kind in der Mietwohnung sein eigenes
Zimmer hat. Obwohl sein Budget begrenzt ist,
hat er das Ziel, Schritt für Schritt kleine Verbesserungen voranzutreiben. Diese Botschaft müssen die Tierhalter transportieren. Es ist ein langer Prozess, aber ich bin überzeugt, dass wir die
Mehrheit der Gesellschaft argumentativ erreichen können. Das Gespräch führte Dr. Anni Neu