Predigt : „Erblickt in Gnade“ „Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ Liebe Gemeinde, wenn Sie sich eine Superpower aussuchen dürften, wie sie Superhelden besitzen – z.B.: Superman, Catwoman, Spiderman, Ironman, Captain America etc. – welche wäre es? Wäre es, fliegen zu können? Oder ein Röntgenblick? Wäre es, unheimlich stark zu sein, so dass man einen LKW mit Leichtigkeit in die Luft heben könnte? Oder wäre es, Telekinese, so dass man Gegenstände mit bloßer Gedankenkraft bewegen könnte. Das wäre praktisch, wenn die Fernbedienung oder das Handy gerade am anderen Ende des Zimmers liegt, aber die Couch gerade so bequem ist! Ich habe mir als Jugendliche oftmals auf dem Heimweg von der Schule gewünscht, ich könnte mich selbst mit einem Schnipsen von A nach B zaubern. Die Schultasche war schwer, ich selbst vom Schultag müde und da fängt man schon einmal an, zu träumen. Das sind natürlich alles in gewisser Weise Allmachtsphantasien, aber manchmal ist es doch schön, wenn man sich vorstellt, dieses oder jenes würde leichter von der Hand gehen. Diese Frage habe ich letztens im Rahmen der Passionsandachten auch einigen Jugendlichen gestellt. Dort wurde zuerst vom Fliegen geträumt, weil man dann an schöne Orte fliegen könnte und wenn es irgendwo schwierig wird, schwingt man sich einfach in die Lüfte und ist weg. – Schon darüber könnte man viel nachsinnen. Ein anderer wünschte sich übermenschliche Intelligenz, weil er sich dann alles bauen könnte, was man bräuchte, um ein Superheld zu sein. Also, ein bisschen wie Ironman mit seinem Fluganzug. Und wieder eine andere wünschte sich Unsichtbarkeit. An dieser Stelle möchte ich heute einhacken. Man könnte über das Für und Wider jeder dieser Wunschvorstellungen sicherlich einiges sagen, aber heute möchte ich bei der Unsichtbarkeit und ihrer Schwester der Sichtbarkeit bleiben. Unsichtbarkeit hat den Vorteil, dass man sich unbeachtet überall bewegen kann, bei so manchem Gespräch Mäuschen spielen kann und demnach mehr Informationen besitzt als die anderen. Und wir kennen alle den Spruch: „Wissen ist Macht“. Der Wunsch nach Unsichtbarkeit hat also eine mächtige Seite. Er zeigt aber auch noch etwas anderes; nämlich das Bedürfnis danach, sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Blicke haben eine große Wirkmächtigkeit. Es gibt nicht umsonst die Aussprüche „Wenn Blicke töten könnten“ und „Augen sind das Fenster zur Seele“. Zuweilen können wir Blicke kaum aushalten, müssen unseren eigenen Blick abwenden, wenn eine Situation uns zu nahe geht, zu viel preisgibt von unserem derzeitigen Seelenzustand. Mit unseren Augen können wir die Welt erblicken, aber die Blickrichtung ist zuweilen eben doppelseitig. Auch unsere innere Welt kann so erblickt werden und das gefällt uns nicht immer. Und mit den Blicken der anderen geht es uns genauso: sie können uns trösten und aufrichten, aber sie können uns ebenso auch vernichten. In vielen Volksfrömmigkeiten überall auf der Welt gibt es die Angst vor dem sogenannten „bösen Blick“. Dagegen gibt es Amulette, wie das Nazar-Amulett; die Hand mit dem blauen Augen drauf, das viele Menschen auch heute noch tragen; im Orient und auch in Israel ist es sehr verbreitet. In Südamerika dagegen wird den Neugeborenen als Schutz vor dem bösen Blick oder eben bösen und nicht wohlwollenden Blicken ein rotes Band ums Handgelenk gebunden. All das kann man jetzt natürlich als Mythos und Aberglauben abtun und das ist es sicherlich auch; aber es zeigt, dass wir Menschen uns sehr darüber bewusst sind, was Blicke alles auslösen, anrichten, aber auch vermitteln können. Der Wunsch nach Unsichtbarkeit ist als Ausdruck eines Schutzbedürfnisses daher eigentlich sehr nachvollziehbar. Welche Wirkmächtigkeit Blicke haben, davon berichtet an vielen Stellen auch die Bibel und zeigt damit immer wieder, wie gut sie die Menschen kennt: Die zerstörerische Wirkung von Blicken wird bereits zu Beginn in Genesis 4, bei Kain und Abel deutlich. Denn der böse Blick Kains war da ja der Vorbote der bald folgenden bösen, der mörderischen Tat. Genesis 4: Abel schlachtete eines von den ersten Lämmern seiner Herde und brachte die besten Fleischstücke dem Herrn als Opfer dar. Abels Opfer nahm der Herr an, 5 das von Kain aber nicht. Darüber wurde Kain zornig und starrte mit finsterer Miene vor sich hin. 6 "Warum bist du so zornig und blickst so grimmig zu Boden?", fragte ihn der Herr. 7 "Wenn du Gutes im Sinn hast, kannst du doch jedem offen ins Gesicht sehen. Wenn du jedoch Böses planst, dann lauert die Sünde dir auf. Sie will dich zu Fall bringen, du aber beherrsche sie!" Wie es weitergeht, wissen wir: Kain kann sich nicht beherrschen, ermordet Abel aus Eifersucht. Hier gilt in gewisser Weise also tatsächlich der Ausspruch: „Wenn Blicke töten könnten“ bzw. ohne „wenn“: „Blicke können töten“. Aber die Geschichte geht ja noch weiter. Kain wird sich darüber bewusst, dass er nun selbst den verachtenden Blicken der anderen ausgeliefert ist, fleht Gott an, ihn doch zu schützen. Weiter aus Genesis 4: "Meine Strafe ist zu hart - ich kann sie nicht ertragen!", erwiderte Kain. 14 "Du verstößt mich aus meiner Heimat, und auch vor dir muss ich mich verstecken! Gejagt und gehetzt werde ich umherirren, und jeder, der mich sieht, kann mich ungestraft töten!" 15 "Nein", sagte der Herr, "wenn dich jemand tötet, wird er dafür siebenfach bestraft werden!" Er machte ein Zeichen an Kain, damit jeder, der ihm begegnete, wusste: Kain darf man nicht töten. Der Bitte Kains kommt Gott mit dem sogenannten Kainsmal nach. Es zeigt. Ja, Kain ist schuldig, aber ihr anderen dürft euch nicht zum Richter aufspielen, nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, ihn nicht ermorden. Das steht euch nicht an. Seht ihn an, aber verurteilt ihn nicht. Blicke können vernichten. Das gilt für einen eindeutig grimmigen Blick wie den Kains, aber zuweilen können selbst gut gemeinte Blicke, das Gegenteil auslösen. Denn, wenn wir mitleidig auf andere Menschen schauen und das machen wir in der Kirche gerne und oft, dann baut das ein Gefälle auf. Wir denken, wir handeln diakonisch, aber in Wirklichkeit bleibt es ein Blick von oben herab. Ein bisschen so, wie wenn ich dem hockenden Bettler auf der Straße im Vorbeigehen ein paar Münzen in den Becher werfe. Nicht auf Augenhöhe, sondern von oben nach unten schaue ich dann. Und das ist nicht nur eine Frage der Blickrichtung, sondern auch der Haltung. Wir fragen uns, was können wir für die Flüchtlinge tun, aber fragen nur selten: Was haben die Flüchtlinge vielleicht auch an Gaben und Talenten mitgebracht? Als die Kinder beim Abendmahlskurs dieses Frühjahr ihre eigenen Abendmahlsbecher gestalteten, kamen sie ins Reden und berichteten wie selbstverständlich davon, dass sie neue Klassenkameraden bei sich in der Klasse hätten. Der eine könnte gut jonglieren und breakdancen und würde ihnen das jetzt beibringen. Er hätte das auf seiner Flucht gelernt und sich so ein bisschen Geld dazu verdient. Sie sprachen nicht davon, dass ein neuer Flüchtlingsjunge bei ihnen in der Klasse sei, sondern nur aus dem Zusammenhang erschloss ich, dass es wohl so sein musste. Sie sahen nur, was er ihnen an tollen Einflüssen mitgebracht hatte und wie er dies mit ihnen teilte. Ein anderer Junge sagte, er habe einen neuen Freund, der toll zeichnen könnte und ihm immer neue, lustige Cartoons zeichnete – auch der Zeichner war wohl ein Flüchtlingsjunge, aber auch hier spielte das keine Rolle. Die Kinder sahen sich nicht in der stärkeren Rolle; dachten nicht daran, dass sie nun aus Nettigkeit oder Gutmenschentum die Flüchtlingskinder integriert hatten, sondern sie sahen nur: da sind zwei Neue und die haben interessante Talente. Das ist für mich Begegnung auf Augenhöhe. Begegnung auf Augenhöhe, den anderen wahrnehmen, so wie er ist, ohne ihn zu demaskieren und zu stark sein Innenleben nach außen zu kehren, aber zugleich mehr zu sehen als die Maske, die er/die sie vielleicht nach außen hin trägt. Das ist eine hohe Kunst und das kostet auch - das muss man zugeben – viel Mühe und Feingefühl. Jesus suchte stets die Begegnung auf Augenhöhe. All seine Heilungswunder, all seine Begegnung geschahen nie von oben herab. Im Gegenteil er hielt oftmals extra an, machte sie die Mühe, den anderen wirklich zu sehen, mit ihm zu sprechen, wahrzunehmen, was er oder sie brauchte und wollte. Er machte sich die Mühe, die Menschen aus ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit herauszulösen. Denn, wer krank oder arm oder unbeliebt war, wurde auch zu Jesus Zeiten gern übersehen. Und so blieb er stehen, schaute herauf zu Zachäus, der auf den Baum geklettert war, um einen Blick auf ihn zu erhaschen und schenkte ihm mehr als nur einen unbedeutenden Blick auf ihn. Sprach ihn an, nahm ihn wahr. (Lk 19) Und so erblickte er auch den Gelähmten am Teich Betesda, nahm ihn wahr und fragte ihn ganz direkt: Willst du gesund werden? Erst als Jesus mit ihm geredet hatte und verstanden hatte, was den Gelähmten abhielt, sprach er ihn gesund. Und er wurde gesund. (Joh 5) In Jesus machte Gott sich unmittelbar sichtbar, so sichtbar, dass selbst der zweifelnde Thomas Jesus sehen und begreifen konnte. Und Gott machte in Jesus noch mehr. Er ließ auch uns in unserer Menschlichkeit neu sichtbar werden. Er zeigte uns sozusagen uns selbst und welch Weitherzigkeit, welch Mut und auch welch Hoffnung auch in uns vorhanden ist. Denn Jesus ist ein Sohn der Menschen. Bei Gott gilt daher: Wir sind alle schon längst erkannt. Wir müssen uns nicht verstellen und auch nicht verstecken. Es ist müßig, irgendwelche Masken vor Gott zu tragen und das entlastet. Gott kennt unsere guten Eigenschaften, er kennt auch unsere Schattenseiten und er nimmt uns dennoch oder gerade deshalb so an, wie wir sind. Er sieht unsere Schwächen und er sieht unsere Stärken. Aber er verurteilt nicht, sondern er richtet uns auf. Wenn Gott unser Richter ist, dann geht es stets ums Aufrichten, ums Stärken unserer Stärken, nie ums Niederdrücken oder gar Vergelten. Denn Gott sieht jeden und jede von uns und spricht: „siehe, es ist sehr gut.“ (Gen 1) Amen. „Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft und Vorstellungskraft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.“ ©Bettina Növer
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