Der Doktor, der aufs Herzklopfen hört

Samstag/Sonntag, 26./27. März 2016
Nordkurier am Wochenende
nende
Seite 3
Der Doktor, der aufs
Herzklopfen hört
Das Stethoskop ist ihr Statussymbol, doch wissen es offenbar immer wenigerr Ärzte richtig zu
gebrauchen. Dagegen kämpft ein Kardiologe aus Neubrandenburg an – mit Bongos, Cello und
einer 5000-Watt-Lautsprecheranlage. Von einem, der auszieht, das Horchen
hen zu lehren.
Von Marlis Tautz
Es gehört
zum Klischee des Arztes wie
die weiße Kluft und die Doktorhandschrift – das Stethoskop. Wer es trägt, dem ist
die Profession gewissermaßen von der Brust abzulesen.
Doch droht das Ehrenzeichen
der Zunft offenbar mehr und
mehr zu einem Anhängsel,
einem bloßen Statussymbol
zu werden. Diagnose: vom
Aussterben bedroht. Vor allem Herzspezialisten schlagen Alarm: Statt zunächst
auf den Herzschlag zu hören, fahren Mediziner zunehmend gleich die große Technik auf. Die hohe Kunst des
Abhorchens, die sogenannte
Auskultation des Herzens,
gerät zunehmend in Vergessenheit, warnen sie und verweisen voller Sorge auf erste
Symptome des Niedergangs
selbst in den eigenen Reihen.
Im Fachblatt der Kardiologen, den Cardio News, wurde
kürzlich eine Episode geschildert, die nach einem eher
mittelprächtigen Ärztewitz
klingt: Ein Kardiologe geht
in den Ruhestand. Um den
möglichst lange und gesund
zu überdauern, schlägt er
via Internet-Forum die Gründung einer Selbsthilfegruppe
vor. Erfahrene Berufskollegen
sollten sich zusammentun
und sich fortan gegenseitig
untersuchen und behandeln
– sicher ist sicher. Daneben
fanden sich Arzt-Zitate dieser Art: „Stethoskop? Benutz
ich nicht mehr bei den guten
Bildern meines Echogeräts.“
Oder: „Ich hab‘s nur noch in
der Tasche, damit der Patient
mich ernst nimmt.“
Zu denen, die dem nicht
tatenlos zusehen wollen,
gehört Volker Bohlscheid,
Kardiologe und Chefarzt der
Inneren Medizin 3 am Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum in
Neubrandenburg. Deutschlandweit gibt er Fortbildungen zum Herz-Abhorchen.
Aus seiner Klinikerfahrung
schätzt er ein, dass noch
NEUBRANDENBURG.
Ein Stethoskop reicht Volker
Bohlscheid nicht.
FOTO: TAUTZ
gut ein Drittel der erfahrenen Kollegen die Technik
beherrscht. „Junge können
es oft gar nicht mehr. Sie
kommen mit viel TheorieWissen von der Universität
ins Krankenhaus“, sagt er.
„Und mit Angst vor dem Patienten.“ Das Studium lasse
zu wenig Zeit für praktische
Erfahrungen. Genau die
aber braucht es, um dem
Herzschlag Auffälligkeiten
abzulauschen. Eine defekte
Herzklappe klingt anders
als ein entzündeter Herzbeutel oder ein Loch in der
Herzscheidewand.
Einer horcht,
vier hören mit
Bei Untersuchungen im Klinikum setzt der Chefarzt
ein Set digitaler Stethoskope
ein: Während er ein Herz abhorcht, können bis zu vier
Paar Ohren mithören. Er
verfügt über ein Archiv mit
rund 150 Herztönen und
-geräuschen und einen gewaltigen Vorteil: sein musikalisches Gehör. Vor und
neben dem Medizinstudium
hat er sieben Jahre lang Musik studiert. Zudem stand die
„Herzauskultation“ zu seiner
Zeit noch im Lehrplan: vier
Stunden pro Woche, und
das drei Studienjahre lang.
Seine Seminare versteht
der Cellist, Pianist und Arzt
Bohlscheid als Kontrapunkt
Der kleine Unterschied
zwischen Ton und Geräusch
Herzklopfen, Herzton,
Herzgeräusch – alles eins?
Moment! Höchstens der
allgemeine Sprachgebrauch macht da keine
Unterschiede. Dem Arzt
hingegen gilt nur die gesunde Lautäußerung des
Herzens als Herzton. Ist
das Herz krank, verursacht
es zusätzlich Herzgeräusche.
Durch die Pumparbeit
des Organs entsteht
eine Schwingung, die im
Brustkorb widerhallt – der
Herzton. Er kann von
außen mit dem Stethoskop an verschiedenen
Punkten des Oberkörpers
unterschiedlich gut wahr-
genommen werden. Insgesamt handelt es sich um
vier Einzeltöne, von denen
zwei durch das Abhorchen
hörbar sind. Der erste
Herzton ist dumpf und
etwa 0,14 Sekunden lang,
der zweite lauter und heller und mit 0,11 Sekunden
eine Winzigkeit kürzer.
Wie schnell das Herz
schlägt, hängt vom Alter,
der Belastung und der
körperlichen Fitness ab.
Während es bei einem
gesunden Neugeborenen mit durchschnittlich
120 Schlägen pro Minute
tuckert, bringt es ein
70-jähriges Herz auf rund
nd
mt
70 Schläge.
zu einer allzu geräuschvollen
Welt. Darum schult er anfangs Grundlagen der akustischen Wahrnehmung, um
sich dann schrittweise den
Feinheiten des Herzens anzunähern. „Unter drei Tagen
geht das nicht, wenn man es
komplett vermitteln will.“
Auch der technische
Aufwand ist immens: eine
5000-Watt-Verstärkeranlage,,
Bassboxen, Cello und Bon-gos bringt Volker Bohlscheid
d
zum Einsatz. Er hat extra bei
ei
einem Schlagzeuger Untererricht genommen, um zu lerernen, mit zwei Schlegeln pro
Hand zu trommeln. Alles,
lles,
damit die Arbeit der Pumpe
mpe
hörbar, ja erlebbar, wird.. Um
die Technik immer weiter
auszufeilen, arbeitet derr Arzt
mit einem Akustik-Ingenieur
enieur
aus Berlin zusammen.
n. „Ich
komme mir ein bisschen
hen vor
wie ein Dinosaurier“,
r“, sagt
Volker Bohlscheid. „Oder
Oder wie
ein Gralshüter?“
Über Jahrtausende
e lag
nten
das Ohr am Patienten
Schon immer haben
ben Heiler
in den Körper von
n Kranken
hineingehört, um
m deren Leiden auf die Spur zu kommen.
Jahrtausende lang
ng geschah
das durch schlichtes
htes Ohr auff
legen. Bis ins frühe
ühe 19. Jahrhundert. Der französische
Mediziner René
né Théophil
Hyacinthe Laennec,
ennec, der von
1781 bis 1826
6 lebte, zog es
schließlich vor,
or, etwas mehr
Abstand zum
m Patienten zu
halten. Er probierte, ein
Papprohr auf
uf den Leib zu
setzen, durch
rch das er hören konnte.
e. Dabei stellte er
fest, dass die Töne auf diese
Weise sogar
ar noch besser klangen als bei
ei direktem Körperkontakt. Das Hörrohr war
erfunden.
n. „Bis in die 1970erund 1980er-Jahre
80er-Jahre wurde die
Arbeit mit dem Stethoskop
perfektioniert“,
tioniert“, sagt Volker
Bohlscheid.
heid. Danach traten
Echokardiogramm,
kardiogramm, Herzkatheterr und Kernspintomografiee bei der Untersuchung
des Herzens in den Vorder-
grund.
und. „Ja, wir haben heute
unglaubliche
nglaubliche Möglichkeiten
in
n der Medizin“, sagt der
Kardiologe. „Möglichkeiten,
von denen wir vor 30 Jahren
nur träumen konnten.“ Natürlich sei das unbenommen
im Interesse von Ärzten wie
Patienten. Leider gebe es
aber mittlerweile eine fatale
politische Entwicklung. „Das
Geld wird vor allem mit Apparaten verdient, die klinischen Fähigkeiten der Ärzte
werden vernachlässigt.“ Fähigkeiten, die seiner Ansicht
nach unerlässlich sind und
vor der Entscheidung für die
Technik stehen sollten, wie
das Anschauen und Abtasten,
das Riechen. Und eben nicht
zuletzt das Horchen.
Volker Bohlscheid verbindet
ärztliche Kunst mit seinem
feinen musikalischen Gehör.
FOTO: SERGEY NOVIKOV
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