Nichtigkeit - TU Dresden

Dr. Matthias Leist
Nichtigkeit
Wie sich aus § 124 Abs. 1 AO ergibt, sind alle Verwaltungsakte, die bekannt gegeben wurden, wirksam. Dies gilt
also unabhängig von der Rechtmäßigkeit; auch rechtswidrige Verwaltungsakte sind so lange wirksam, bis sie
aufgehoben werden (vgl. § 124 Abs. 2 AO). Demgegenüber sind nichtige Verwaltungsakte unwirksam (vgl. §§ 124
Abs. 3, 125 AO), d.h. sie entfalten keinerlei Rechtswirkungen.
Das eigentliche Problem der Nichtigkeit ist ihre Abgrenzung von der „normalen“ Rechtswidrigkeit (§ 125 Abs. 1 AO
macht deutlich, dass es sich bei der Nichtigkeit um einen Sonderfall der „krassen“ Rechtswidrigkeit handelt). Die
Unterscheidung hat erhebliche praktische Bedeutung. Erhält man z.B. einen nichtigen Steuerbescheid, muss man
(eigentlich) nichts gegen diesen unternehmen, denn er ist ja unwirksam; demgegenüber wäre ein „normal“
rechtswidriger Steuerbescheid wirksam, so dass man ihn einerseits zunächst befolgen, d.h. die Steuer bezahlen
müsste und andererseits mittels Einspruch (und ggf. Klage) anfechten müsste, um eine Aufhebung des Bescheids
und eine Rückzahlung der Steuer zu erreichen.
§ 125 Abs. 1 AO regelt als allgemeine Nichtigkeitsvorschrift, dass ein VA nichtig ist, soweit er erstens an einem
b e s o n d e r s schwerwiegenden Fehler leidet und dies zweitens bei verständiger Würdigung aller in Betracht
kommenden Umstände offenkundig ist.
- ein Fehler ist besonders schwerwiegend, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden
Anforderungen so erheblich verletzt (= so krass falsch ist), dass von niemandem erwartet werden kann, ihn als
verbindlich anzuerkennen;
- offenkundig ist dieser Fehler, wenn ihn jedermann schon bei überschlägiger Unterrichtung über die Sach- und
Rechtlage erkennen kann.
Nichtigkeit nach § 125 Abs. 1 AO kommt in der Praxis sehr selten vor. Anerkannte Fälle sind z.B. Verwaltungsakte, die gegen das Bestimmtheitsgebot nach § 119 Abs. 1 AO verstoßen; Steuerbescheide, die gegen das Schriftformerfordernis nach § 157 Abs. 1 Satz 1 AO verstoßen; Steuerbescheide, die ein Finanzbeamter für die von ihm
selbst zu zahlenden Steuern anfertigt; bewusster Verzicht auf Steuern (z.B. zur Anlockung von Unternehmensansiedlungen), ohne dass die Voraussetzungen für einen Erlass nach §§ 163, 227 AO erfüllt sind; bewusste Erhebung von Steuern für einen nicht der Besteuerung unterliegenden Gegenstand (Beispiel: Gemeinde setzt Hundesteuer für „Karlo“ fest, obwohl ihr bekannt ist, dass es sich um einen Kater und nicht um einen Hund handelt).
§ 125 Abs. 2 AO enthält darüber hinaus einen speziellen Katalog von Nichtigkeitsgründen: Liegt einer dieser
Gründe vor, ist der VA nichtig, ohne dass zusätzlich die Voraussetzungen von § 125 Abs. 1 AO erfüllt sein
müssen. Demgegenüber nennt § 125 Abs. 3 AO eine Reihe von (Rechtswidrigkeits-)Gründen, d.h. formellen
oder materiellen Fehlern, die nicht zur Nichtigkeit des VA führen.
Nach § 125 Abs. 5 AO kann die Finanzbehörde jederzeit die Nichtigkeit (verbindlich) feststellen; der Steuerpflichtige kann dies auch beantragen (und ggf. einklagen). Allerdings empfiehlt sich in einem Fall, in dem
jemand einen Verwaltungsakt erhält, der seiner Meinung nach nichtig ist, aus Sicherheitsgründen (wenigstens
parallel) die Einlegung eines Einspruches. Zwar ist ein nichtiger VA unwirksam, so dass an sich gar nichts
unternommen werden müsste. Doch ist die Unterscheidung zwischen „normaler“ und „krasser“ Rechtswidrigkeit
schwierig, weil der Übergang dazwischen fließend ist; d.h. das was aus Sicht des Steuerpflichtigen „krass
falsch“ ist, kann aus Sicht der Finanzbehörde (oder des zuständigen Gerichts) „normal falsch“ sein. Wenn dann
keine fristgerechte Anfechtung des Bescheids erfolgt ist, wird dieser bestandskräftig und kann nicht mehr
aufgehoben werden.
Legt der Steuerpflichtige in einem solchen Fall Einspruch (oder Anfechtungsklage, falls die Behörde den Einspruch zurückweist, weil sie ihren Bescheid für rechtmäßig hält) ein, wird der Bescheid aufgehoben, wenn der
Bescheid nur „normal“ rechtswidrig ist; der Einspruch (bzw. die Anfechtungsklage) hat also Erfolg. Ist der VA
dagegen - auch aus Sicht der Finanzbehörde (oder des Gerichts) - sogar nichtig, kann der Bescheid eigentlich
nicht aufgehoben werden, denn es gibt ihn ja rechtlich betrachtet gar nicht; nach der Rechtsprechung des BFH
soll jedoch auch bei nichtigen Verwaltungsakten aus Gründen der Rechtsklarheit eine Aufhebung des VA
möglich sein, so dass der Einspruch (bzw. die Anfechtungsklage) auch im Fall der Nichtigkeit Erfolg hat. Damit
hat der Steuerpflichtige das gleiche Ziel erreicht, dass er auch mit einem Antrag nach § 125 Abs. 5 AO hätte
erreichen können - nur dass dieser Antrag für ihn mit dem großen Risiko verbunden gewesen wäre, dass er
sich über die Nichtigkeit, d.h. das Ausmaß der Rechtswidrigkeit geirrt hätte, mit der Folge, dass der VA mangels
Anfechtung hätte bestandskräftig werden können.