Texte Kristina Brignoli und Aurèle Sutter

Kristina Brignoli
Die Krähe
Mit schwarzen, leeren Augen beobachtete sie ihn. Doch er war zu vertieft in seine Arbeit, als dass er
den schwarzen Vogel auf seiner Fensterbank bemerkt hätte. Er hätte wahrscheinlich nicht einmal
einen Elefanten, der vor seiner Nase mit Bällen jonglierte, bemerkt. Und so sass die Krähe einfach nur
so da und er arbeitete, leise vor sich hinmurmelnd. Es war bereits dunkel und der schwarze Vogel
war längst verschwunden, als Marta an die Tür seines, wie er es nannte, Arbeitszimmers klopfte. Sie
hatte mit all den Jahren gelernt, die Begeisterung ihres Mannes zu akzeptieren, ja gar sie lieben
gelernt. Auch wenn es sie viel Zeit und Kraft gekostet hatte. Wie oft hatte sie alleine im Bett gelegen,
während er bis tief in die Nacht im Keller gesägt und gebohrt hatte. Wie oft hatte sie ihn verteidigen
müssen vor den abfälligen Bemerkungen Anderer. Sie bewunderte ihn gar ein wenig für seine
Fähigkeit sich zu begeistern. Auch wenn sie manchmal lieber einen normalen Ehemann gehabt hätte.
Einen, der nicht Tage im Keller mit Kinderspielzeug zubrachte. Doch sie liebte ihren Mann, alles an
ihm, und so auch seine Eigenheiten.
Er bemerkte sie erst, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn bat, ins Bett zu kommen.
«Ich hab‘s gleich. Nur noch ein wenig Arbeit! Dann habe ich‘s geschafft», meinte er zu ihr und wand
sich kurzerhand wieder seiner Arbeit zu.
Marta sah sich um. Das Chaos im Keller war immer wie schlimmer geworden. Anfangs waren es nur
kleine Modellflugzeuge gewesen. Dann wurden die Modellflugzeuge immer grösser und der Raum
füllte sich mehr und mehr mit seltsamen Flugmodellen. Überall lagen Schrauben, Muttern und Nägel
verstreut. Der Boden und überhaupt der ganze Raum waren mit einer immer dicker werdenden
Schicht von Sägemehl bedeckt. Das Ding, an dem er im Moment arbeitete, sah aus wie eine Art
menschengrosser Vogel. Oder besser gesagt: wie die Flügel eines Vogels. Das Konstrukt bestand
hauptsächlich aus Holz und wurde zusammengehalten von etlichen Schrauben. Was es
schlussendlich werden sollte, war für Marta unerkennbar. Wahrscheinlich würde er es sowieso nie
fertigstellen, genau wie all die anderen Projekte die er auf halbem Wege verworfen und mit etwas
Neuem angefangen hatte. Jedes Mal behauptete er, jetzt würde er es schaffen. Was genau er
schaffen wollte, wusste Marta nicht. Etwas niedergeschlagen machte sie sich wieder auf den Weg
aus dem Keller die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Die Anstrengung der Treppe liess sie oben
angekommen kurz innehalten und verschnaufen. Es war einer dieser Momente, in denen ihr bewusst
wurde, dass sie alt war und dass sie ihren Lebensabend wahrscheinlich damit verbringen würde,
darauf zu warten, dass ihr Mann endlich ins Bett kam. Ihre Hände hielten sich fest am Treppenlauf. Es
waren die Hände einer alten Dame, dachte sie sich. Die Hände eines Menschen, der viel und hart
gearbeitet hatte, gezeichnet von der vergangenen Zeit. Müde und erschöpft legte sie sich ins Bett.
Währenddessen dachte er an alles andere als ans Schlafen. Ich zeige es ihnen. Ihnen allen werde ich
es zeigen. Ich bin kein Versager. Ich werde Marta zeigen, dass sie keinen Versager geheiratet hat. Ich
werde sie stolz machen. Wie eine kaputte Schallplatte wiederholte er diese Worte unaufhörlichb
wobei sie mit jeder Minute, mit jeder festgezogenen Schraube etwas bestimmter und etwas lauter
wurden.
Einen Träumer oder kleinen Tüftler hatten sie ihn früher liebevoll genannt. Doch mit dem Älter
werden und mit der zunehmenden Verbissenheit auf seine Beschäftigung wurden die Blicke immer
befremdlicher und die Kommentare immer verachtender. Ein erwachsener Mann, der mit
Modellflugzeugen spielte. Wie oft hatte er sich anhören müssen, er sei ein Versager. Er würde es nie
zu was bringen. Er solle doch endlich realistisch sein und sich etwas Anständiges suchen. Die Luft in
dem muffigen Keller, das viele Sägemehl und die Dämpfe der Holzlackierungen täten ihm nicht gut,
meinten sie. Wie oft hatte er seiner Frau erklären müssen, er könne jetzt nicht aufhören. Doch jetzt
würde sich alles ändern, dachte er sich.
Plötzlich lachte er. Er lachte laut und erschrak beinahe selbst daran. Er blickte auf und schien wie aus
einem Traum aufgewacht. Die Sonne liess bereits ihre ersten warmen Strahlen auf die Erde hinab
und er sass einfach nur so da und beobachtete wie sie langsam hinter dem Horizont erschien und
immer grösser wurde. Wie lange hatte er nicht mehr aus dem Fenster geschaut und die Schönheit
gesehen? Wie lange sass er schon in seinem Keller? Erst jetzt bemerkte er den schwarzen Vogel, der
sich wieder auf seine Fensterbank gestellt hatte. Doch dieser klare Moment hielt nur kurz an und er
widmete sich wieder seinem eigentlichen Grund der Freude. Er hatte es vollbracht. Er hatte es
fertiggestellt. Da lag es nun vor ihm. Er empfand es als perfekt. Er sah nicht wie unsymmetrisch und
schräg seine zitternden alten Hände die Holzteile gefräst hatten. Er war wie geblendet von seinem
Stolz. Erneut lachte er. Lachte einfach laut hinaus. Schliesslich hob er es sich auf die Schulter und
stieg damit die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Er war wahrscheinlich noch nie so schnell und
leicht die Treppen hinaufgestiegen wie an jenem Tag. Und das mit dem schweren Gewicht des
Gegenstandes auf der Schulter. Leise schlich er sich ins Schlafzimmer und neben der schlafenden
Marta auf den Balkon hinaus. Er wollte sie nicht wecken – noch nicht. Er wollte erst einen Test
machen, um allfällige Fehler und Probleme noch beheben zu können. Er wollte sie nicht noch einmal
enttäuschen. Eifrig wie ein kleiner Junge schnallte er sich das Ding auf den Rücken und stieg auf die
Brüstung.
Er blickte sich kurz um. Es war vollkommen ruhig, Niemand unterwegs. Die Vögel hatten ihr
morgendliches Konzert anscheinend verschoben; vielleicht hörte er es aber auch einfach nicht. Er
holte tief Luft und blickte sich noch einmal nach der schlafenden Marta um. Da sah er erneut den
schwarzen Vogel. Er sass direkt neben ihm auf der Brüstung. Für einen kurzen Augenblick stand er
einfach so da. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. «Komm Vogel, flieg mit mir.»
Der Vogel blickte ihn lange an. Plötzlich schien sich in den leeren schwarzen Augen etwas zu regen. Es
war, als wollte er ihn bestätigen. Ihm sagen, tue es, spring mit mir.
Das Letzte, an das er sich erinnerte, war wie der Vogel unter ihm auf dem Boden aufschlug. Den Kopf
seltsam verdreht und die Augen wieder schwarz und leer.
Eine Träne landete auf der trockenen Erde. Es waren nun schon fünf Jahre her seit der Beerdigung
ihres Mannes und seit diesen fünf Jahren legte sie jede Woche frische Blumen auf sein Grab. Der
Weg zum Friedhof war jedes Mal eine Herausforderung und die Momente, in denen ihr bewusst
wurde, dass sie alt war, häuften sich. Sie blickte noch ein letztes Mal auf das Grab ihres Mannes
zurück. Ihres dummen, dummen Mannes, dachte sie sich und ging. Wie jeden Tag sass auf dem
Grabstein eine schwarze Krähe mit seltsamen Augen.
Aurèle Sutter
Der Vergänglichkeit entflohen
Ein schrilles Geräusch erfüllt den Raum. Ich reisse meine Augen auf. Sogleich hämmert ein
pulsierender Schmerz an meinen Schläfen. Ich richte mich auf und schaue mit verschwommenen
Augen durch den Raum. Das Licht scheint mit schwachen Strahlen in den sonst noch dunklen Raum.
Ein stickiger, rauchiger Duft liegt in der Luft. Ich greife nach meinem Handy. Das Display blendet
meine verschlafenen Augen. Ungläubig kneife ich meine Augen zusammen. Vier verpasste Anrufe.
«Oh Scheisse», ich springe auf, packe meine Kleider auf dem dreckigem Sessel neben dem Bett,
springe rein und sprinte aus dem dunklen Zimmer. Durch die schmale Türe, eine alte Holztreppe
hinunter, die unter jeder Berührung knarzt, hinaus auf die Strasse. Nun strahlt die Sonne mir mit
voller Wucht entgegen. Ein Stich fährt mir durch den Kopf. Mit schmerzverzogenem Gesicht laufe ich
Richtung Westen die Strasse herunter. Ich greife nach meiner Mütze in meiner Tasche und bedecke
damit meine verfetteten Haare. Ich dränge mich durch die Menschenmasse, bis ich ins Restaurant an
der rechten Strassenseite abdrehen kann. Ich laufe zwischen den bedeckten Tischen nach hinten in
die Küche, packe meinen Kittel und stelle mich an den Herd. Der Junge neben mir schaut mich
wütend an und schüttelt den Kopf. Bevor ich ihn nach der Ursache fragen kann, ruft hinter mir eine
brummige feste Stimme: «Jacob! In mein Büro, sofort!». Ich lege das Handtuch hin und laufe im
Schatten meines breitschultrigen Patrons. Nachdem er sich ächzend auf seinem Sessel
niedergelassen hat, weist er mich auf einen der leeren Holzstühle vor ihm. Er holt tief Luft und wirft
mir dann kurz und knapp entgegen: «Jacob du bist raus.» Scheisse! «Nein ich...». «Nein, du bist raus,
ich habe es dir bereits bei den letzten Malen angedroht.» Er lässt mich nicht reden. Ich habe keine
Wahl und erlöse mich von dem engen Kittel, schmeisse ihn auf sein Pult, drehe mich um und dränge
mich durch die noch immer dichte Menschenmenge zurück zu meiner Wohnung. Die Tür klackt
hinter mir in die Verankerung, ich lasse mich auf das dunkle Kunstledersofa fallen und schalte den
Fernseher ein. Immer der gleiche Scheiss in der Glotze. Philipp, mein WG-Partner reisst mich aus
meinen Gedanken. «Alter, saugeil gewesen gestern!» Ich antworte ihm nur mit einem beklemmten
Brummen. «Wow, wohl ein bisschen verkatert?», fragt er misstrauisch. Ich schaue noch immer nicht
auf, fokussiere die alte Frau im TV, die vorgibt, sie könnte aus ein Paar Karten die Zukunft von
Menschen lesen. «Ich wurde rausgeschmissen … okay?!». Er lacht nur und geht wieder zurück in sein
Zimmer. «Halb so wild, ich habe da eine Idee.» In mir steigt die Wut hoch: «Halb so wild? Wegen dir
du…» Er schreit mir von seinem Zimmer aus dazwischen: «Hey, da bist du selbst schuld, ich kann
nichts dafür, wenn du dir vor der Arbeit mit uns die Birne vollkiffst.» Ich verstumme, stimmt, ich
muss mit dem Blödsinn aufhören, wenn ich mal einen Job behalten will. Plötzlich höre ich Schritte
aus dem Bad. Ich drehe meinen Kopf und das Erste, was ich sehe, sind wunderschöne lange Beine, ich
versuche aus dem Augenwinkel mehr von ihr zu sehen. Ich sehe die Umrisse ihres ganzen Körpers,
bekleidet nur mit einem feinen spitzen Höschen. Doch bevor ich sie wirklich sehen kann, läuft sie
schon an mir vorbei. Ich spüre noch ihre zarten Hände an meinen Schultern entlang gleiten. Sie
verschwindet in Philipps Zimmer. «Ich haue ab, lasse euch alleine.» Er erwidert: «Ist gut, ich melde
mich wegen der Sache mit dem Job.»
Ich verlasse das Haus und laufe der Mittagsonne entgegen, direkt zum Park, in den ich immer gehe,
wenn ich mal abschalten muss. Ich setze mich auf eine der halbmorschen roten Bänke und schaue
verträumt den Menschen zu: Alte Rentner, Kinder, deren Mütter wohl auch keinen Job haben. Oder
weshalb sind sie um diese Zeit im Park? Die Frau von heute Morgen, Wow! Cheryl heisst sie, glaube
ich. Plötzlich ein Hupen, es reisst mich aus meinem Traum. Ich schaue zu meiner Rechten und im
silbernen Auto am Strassenrand sitzt Philipp und winkt mich zu sich herüber. «Seit wann kannst du
Autofahren? Und woher hast du ein Auto?» Er antwortet selbstbewusst und mit einem Lächeln im
Mundwinkel: «Steig ein, ich habe einen Job für uns.» Mit Argwohn steige ich in den alten Lexus ein
und schliesse die Tür. «Also, um was geht es?», frage ich ihn neugierig. Wir biegen gerade unsanft in
eine Querstrasse ein, welche an beiden Seiten mit Garagentoren geziert ist. «Ich bringe uns Geld»,
erwidert Philipp knapp, als er in der schmalen Gasse vor versprayten Toren hält. Was zum Teufel
wollen wir hier? «Warte hier und komm in einer Minute nach.» Ich nicke, wenn auch leicht verstört.
Es war ruhig, aber irgendetwas sagte mir, dass etwas nicht stimmt. Warum fährt Philipp ein Auto?
Woher hat er es überhaupt? Ich steige aus und folge ihm in ein älteres, dreckiges Haus. Ich nehme
die Türklinke in die Hand, doch plötzlich geht sie von selbst auf. Erschrocken schau ich in Philipps
Augen: «Komm lass uns gehen.» Kaum im Auto, drückt er mir einen Rucksack in die Hand. «Das erste
Couvert ist für dich.» Ich öffne den Reissverschluss des dunkelgrauen Rucksacks und greife nach dem
weissen etwas kalten Umschlag. Als ich ihn öffne, stockt mir der Atem. «500? Für was?» Doch die
Frage erübrigt sich. Ein zweiter Griff in den Rucksack und ein sorgfältig verpacktes Paket kommt zum
Vorschein. Kokain. Ich schaue zu Philipp, der den Wagen aufheulen lässt und aus der Seitenstrasse
rausfährt. «Du musst nicht mitmachen, aber dann leg das Couvert wieder zurück.» Ich zögere einen
Moment, nur das Brummen des Motors ist zu hören, während wir an einer roten Ampel stehen.
«Okay, wohin müssen wir das Zeug bringen?» «Das ist mein Junge!» Philipp klopft mir lachend auf die
Schulter und gibt Gas. Spät am Abend kommen wir nach Hause. «Das müssen wir feiern», krächzt
Philipp, als wir gerade die Wohnungstür öffnen und fängt an, wild auf seinem Handy herum zu
tippen. Ich lege mich auf mein Bett und ziehe eine kleine silberne Kasse hervor. Auf dem Deckel klebt
ein gelber Zettel «Für ein besseres Leben». Ich öffne, in Gedanken versunken, meine Kasse und lege
das Geld hinein. 500, das ist mehr als im ganzen letzten Monat. Ich grinse wie blöd und im selben
Moment klingelt es. Ich gehe an die Tür und öffne sie. Ich schaue in zwei schöne, grosse, grüne,
Frauenaugen und mir fällt schier die Kinnlade runter bei ihrem Anblick. Sie mustert mich von unten
nach oben. «Ich konnte dir heute Morgen gar nicht richtig Hallo sagen.» Sie nimmt mich in den Arm
und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich spüre, wie ich erröte und ich unangenehm heiss
bekomme. Sie kichert und läuft mit ihren Kolleginnen an mir vorbei. Ich schaue ihr wie benommen
hinterher, bis mich Philipp mit einem Schlag auf die Schulter aufscheucht. Er grinst mich an und
schaut meinem Blick nach. «Viel Spass heute», fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu und läuft in
die Küche. Ich hole mir ebenfalls ein Bier und setze mich auf die Coach. Während ich der Musik
lausche, füllt sich die Wohnung immer weiter. Wo ist wohl Cheryl? Ich muss sie heute noch sehen.
Nach einigen Bieren erblicke ich sie neben der Musikanlage und torkle langsam zu ihr rüber. Sieht sie
es mir an, dass ich zu viel getrunken habe? «Hey, hast du ein wenig zu viel gehabt?», fragt sie mich
schmunzelnd. Verdammt. «Ich? Nein sicher nicht!“, antworte ich verlegen. «Komm mit.» Sie packt
mich an der Hand und zieht mich hinter sich her. Trotz meinem erheblichen Alkoholpegel spüre ich,
wie mein Puls in die Höhe schiesst. Sie wirft mich auf mein Bett und sitzt auf mich drauf. Ich packe sie
und küsse sie zärtlich.
Ein hektisches Klopfen reisst mich aus dem Schlaf und bevor ich bei der Tür bin, steht Philip bereits
vor meiner Bettkante. «Philipp, was willst du hier?», er schaut mich gestresst an: «Wir müssen los.
Ich habe einen Job für uns.» Ich schaue rechts auf mein Bett, dort schläft Cheryl wie ein Engel.
«Jetzt?», flüstere ich energisch zurück. «Ja jetzt! Sonst sind wir raus.» Wieso jetzt?! Ich setze mich
sorgsam auf und schliesse langsam die Tür hinter mir. «Schau mich nicht so an, kannst ja gleich
wieder zurück zu ihr», entgegnet Philipp und steigt ins Auto. Das Paket haben wir abgeholt und wir
fahren jetzt über den Highway in das Westviertel. «Also du und Cheryl? Ist da was gelaufen?» Ich
höre ihm nur nebenbei zu, weil ich paranoid Ausschau nach der Polizei halte. «Das geht dich nichts
an.» Er lacht: «Nur ruhig, ist für mich in Ordnung, ihr passt sowieso besser zusammen.» Er biegt in die
Strasse ein wo unser Zielort liegen soll. Ein abruptes Bremsmanöver lässt meinen Kopf nach vorne
fallen. Philipp bleibt wie angewurzelt sitzen und starrt nach vorne. «Was sollte…» Oh nein, vor dem
Haus stehen circa vier Polizeiwagen und die Strasse ist abgesperrt. «Dreh um!», schrei ich ihn an. Er
tritt aufs Gas und macht ein schnelles Wendemanöver. Er biegt wieder auf den Highway. «Werden
wir verfolgt?» Ich schaue nach hinten, ein schwarzer BMW fährt knapp sechs Meter hinter uns.
«Nimm die Ausfahrt!», befehle ich Philipp. Doch der Wagen folgt uns weiter. Polizei? Nein, die hätten
uns einfach rausgenommen. Philipp hält rechts an und steigt aus. Gespannt warte ich ab, was nun
passieren wird. Der BMW hält vor uns an und drei Typen steigen aus dem Wagen. Einer der Drei läuft
direkt auf mich zu. Was will der von mir? Er steht nur gerade 40 cm vor mir und bevor ich realisieren
kann, was hier gerade geschieht, fährt ein riesiger Schmerz durch meine Magengrube. Ich sacke
zusammen, der kalte Asphalt drückt meinen Knien entgegen. Ich sehe, wie ein Fuss in meine
Richtung kommt. Mein Körper verspannt sich und mein Kopf schlägt hart auf dem Asphalt auf. Meine
Augen flackern, alles verschwimmt und wird dunkel.
Leise höre ich die Stimme von Philipp: «Alter, alles in Ordnung?» Ich öffne langsam meine Augen und
schaue ihn verwirrt an: «Was ist passiert?“ «Nun ja», fängt er an, «die Typen haben gedacht wir
hätten ihnen die Polizei aufgehetzt, dass kann mal passieren. Das Geld haben wir aber trotzdem.»
Könne mal passieren?! «Dann ist ja gut», antworte ich kalt. Den Rest der Fahrt reden wir kein Wort.
Mein Schädel pocht mit meinem Puls um die Wette, als wir neben unserem Appartement über den
Bordsteinrand fahren. In der Wohnung angekommen suche ich nach meiner alten Reisetasche und
lege meine wenigen, halbwegs schönen Kleider hinein. Gerade als ich dabei bin meine, Sparkasse zu
öffnen, betritt Philipp mein Zimmer. «Was machst du da?» Ohne ihn auch nur mit einem Blick zu
würdigen, antworte ich: «Ich gehe weg von hier.» Er sieht mich mit einer Mischung aus Furcht und
Wut an, genau kann ich seinen Blick nicht deuten. «Das kannst du nicht!» «Man soll nicht zu hoch
fliegen. Pass schön auf dich auf, Bruder, und bestell Cheryl schöne Grüsse.» Mit einer Kopfbewegung
deutet er nach hinten, ich drehe mich um, verdammt Cheryl habe ich vollkommen vergessen. Nimm
dich zusammen. Ich schaue auf das ungemachte Bett auf dem Cheryl liegt, sie starrt mich entsetzt an.
Für einen Augenblick schaue ich Cheryl tief in die Augen, danach Philipp. Ich greife nach meiner
Tasche und verlasse das Zimmer, hinaus auf die Strasse. Vor der Türe halte ich nochmals an, atme tief
ein und laufe weiter Richtung Osten. Die Mittagssonne blendet mich, bis ich meinen Hut aufsetze. Ich
kann den Blick von Philip und Cheryl hinter mir spüren, doch ich gehe weiter, ohne mich
umzudrehen.
Drei Monate später auf dem Weg zum Parkplatz, auf dem mein eigener Imbisswagen steht, laufe ich
beim alten Zeitungsladen vorbei. Dort stoppt mich eine Schlagzeile: «Messerstecherei unter
Drogendealern», weiter heisst es im Artikel, «der 21-jährige P.D. erliegt seinen schweren
Verletzungen.» Es läuft mir kalt den Rücken runter. Ich ahnte es, er flog zu hoch, er stürzte, er fiel.
Kraftlos senke ich meinen Kopf und starre blass auf den grauen Asphalt. Plötzlich spüre ich einen
warmen Druck an meiner Schulter, ich drehe mich um und schaue direkt in zwei grosse, grüne,
verweinte Augen.