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Auszug aus Kapitel 23: Guardians und Kapitel 24: Runaway
(Seite 278 - 310)
[Notiz: Die Hauptpersonen des Buches sind Cleo und Chester. Sie arbeiten bei einer
geheimen Organisation, genannt O.F.M.C.. Ihr nächster Auftrag findet in Eleven statt einer Stadt im Paralleluniversum „Zetta“ welches durch ein Portal betreten werden kann.
Eleven ist eine altmodische Stadt (alte Fachwerkhäuser oder aus Stein gebaut) in der nur
nicht-menschliche Kreaturen wie Dämonen, Gnome, Trolle und ähnliches leben.]
Chester lief ruhig neben mir, seine Hände waren in seinen Hosentaschen vergraben.
„Eleven ist wirklich eine sehr fremdartige Stadt“, bemerkte ich. Chester nickte
sacht. „Ja, aber du wirst merken, umso öfter du Eleven betreten wirst, umso mehr
wirst du ein Teil der Stadt sein. Du wirst niemals wirklich hier hingehören, aber du
wirst dich daran gewöhnen“
Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen.
Plötzlich packte mich eine Hand unsanft an der Schulter. Ich stieß einen kurzen
Schrei aus und drehte mich schnell um.
„Was geht, Leute?“ Takeo schaute mich breit grinsend an. „Alles klar, Puppe?“,
fragte er fröhlich. Ich zuckte mit den Schultern. „Ging mir schon besser“
Takeo lachte leise. „Ihr seid ja schon wieder hier! Ihr scheint die Stadt zu lieben,
nicht wahr?“ Chester schüttelte den Kopf. „Du weißt meine Einstellung zu Eleven.
Außerdem besuche ich nur Eleven im Auftrag der Organisation“
Takeo seufzte. „Also habt ihr keine Zeit für ein kleines Spiel?“, fragte er
enttäuscht. „Nicht im geringsten“, entgegnete Chester trocken. „Dann eben nicht.
Aber erzählt mal, was habt ihr den lieben langen Tag so gemacht?“, dann fügte er
leise hinzu: „Wenn ihr es schon nicht für nötig gehalten habt, mich zu besuchen...“
Chester deutete in die Ferne. Dort konnte man jedoch nichts außer ein paar
Häuserreihen erkennen. „Wir waren im Zirkus. Es war schrecklich. Ein weiterer
Punkt wieso ich diese Stadt hasse“
Takeo verzog den Mund. „Beim Zirkus also? Hat euch die Show gefallen?“, fragte
er und ich hatte das Gefühl, er wusste genau Bescheid, was geschehen war. Doch
anstatt direkt zu antworten, fragte ich: „Warst du etwa schon einmal dort?“ Dann
setzte ich leiser hinterher: „Es wurden Leute ermordet“
Takeo rieb sich die Hände und lachte.
„Klar, ich war einmal dort. Ihr müsst wissen, dieser Zirkus ist der einzige, den es
hier gibt. Es ist etwas ganz besonderes. Ist er einmal in Eleven, ist es eine große
Attraktion. Doch die Leute kommen nicht zum Zirkus, wegen den ersten paar
Auftritten. Das ödet sie nämlich an“
Ich erinnerte mich zurück an das Publikum, dass die Artisten mit den
Feuerfackeln ausgebuht hatte. „Die Auftritte, die im zweiten Teil der Show sind,
sind der eigentliche Grund wieso sie diesen Zirkus besuchen. In der Tat werden
Leute ermordet und es kommt noch schlimmer: Yoshio, der Direktor vom Zirkus,
hat den Grundgedanken, dass nur die Hälfte des Publikums lebendig die Show
verlässt. Der Rest wird während der Show getötet. Ein großes Blutbad... Vielleicht
klingt das seltsam für euch, aber es ist eine Art Ehre für sie in aller Öffentlichkeit
getötet zu werden. Sie melden sich dafür freiwillig. Hingegen sind die, die lebendig
hinaus kommen, enttäuscht...“ Chester schaute Takeos entsetzt an. „Das ist ja völlig
krank!“, stieß er hervor.
Takeo schaute zum Boden und grinste hämisch. „Willkommen in der Hölle“
Ich hörte wie Chester laut schluckte. „Ich will so schnell wie möglich zurück nach
New York. Erst recht nachdem ich das erfahren habe“, murmelte er. Takeo schaute
ihn direkt an. „New York? Hey Chester, ich hätte da... Eine Frage“ Takeo stutzte
kurz, bevor er fortfuhr. „Könntest du... Ich meine, wäre es möglich, dass ich...“ Er
fasste sich nervös in den Nacken. „Dürfte ich mal mit nach New York? Einen Tag
lang?“, fragte er schließlich. Chesters Gesicht verfinsterte sich. Vermutlich gefiel
ihm diese Frage ganz und gar nicht.
„Du weißt Bescheid, Kumpel. Kein Bewohner von Eleven darf jemals nach New
York. Nicht einmal du. Was sollen die Leute denn denken, wenn sie dich zu
Gesicht bekommen? ‚Der Teufel ist in der Stadt‘?!“, fragte Chester mit fester Stimme.
Takeo hob beschwichtigend die Arme. „Das ist kein Problem, ich kann mich
verkleiden oder so. Aber New York ist so cool! Mann, du hast mir schon so viel
davon erzählt! Ich will diese fahrenden Blechbüchsen mit eigenen Augen sehen!
Und eure Kommunikationskästchen!“ Chester schaute entnervt. „Du meinst Autos
und Handys?“ Takeo nickte eifrig. „Genau die! Die Technik in eurer Welt ist ja so
cool! Ich will das mit eigenen Augen miterleben. Nur ein einziges Mal. Komm
schon Chester, sei nicht so streng!“ Doch Chester schüttelte entschlossen den
Kopf. „Vergiss es, ich will mir keinen Ärger bei Gabby einhandeln“ Chester deutete
über seine Schulter. „Wir müssen jetzt wirklich los. Wir haben eine Mission“
Takeo schaute grimmig drein. Dann lief er an uns vorbei. Im Vorbeigehen sagte
er leise: „Bis bald, Puppe“ Von Chester verabschiedete er sich nicht.
„Lass uns weitergehen“, sagte Chester und seufzte laut.
Takeo war inzwischen durch die Häuserreihen verschwunden.
Als wir weiterliefen, vereinzelten sich die Häuser. In Sicht kamen einige Felder
und weiter hinten konnte man die Silhouette von Bergen sehen.
Rechts von uns war ein Hügel in dessen Mitte ein altes Haus stand. Um den
Hügel herum waren ein paar Holzpfähle im Boden gerammt, um diese war gelbes
Band gespannt. Mehr konnte ich im dämmrigen Licht nicht erkennen. Ich zeigte
zum Haus. „Ist das die Farm?“, fragte ich. Chester ließ seinen Blick zum Haus
schweifen und schaute schnell wieder weg. Sein Blick war zum Boden gerichtet.
„Zur Hölle, Nein. Aber schau das Haus nicht so genau an“, meinte er flüsternd.
Fragend schaute ich immer noch zu dem Haus. Es zog meinen Blick magisch an.
„Wieso?“, fragte ich zurück. Chester fasste mich sanft am Kinn und drehte meinen
Kopf so, dass ich zu ihm schaute. „Das ist die verbotene Zone. Seltsame Dinge
geschehen dort. Du sollst also nicht in die Nähe des Hügels kommen und am
besten nicht einmal hinschauen, hast du mich verstanden?“ Ich nickte sachte, dann
ließ er mich los. Beinahe hätte ich wieder zu dem Haus hinüber geschaut, doch ich
konnte widerstehen.
Kurze Zeit später, betraten wir die Farm, die nur noch wenige hundert Meter vor
uns war. Wir liefen über einen großen Hof, links von uns war eine Weide auf der
Tiere grasten. Vor uns war ein altmodisches Backsteinhaus mit Strohdach. Das
Haus wirkte unglaublich klein, wie ein Miniaturhaus. Es bestand aus einem
Erdgeschoss und einem Dachboden. Trotzdem war es nur knapp zwei Meter hoch.
Chester klopfte an eine winzige Türe. Er musste sich ducken, da sie sich auf der
Höhe seiner Knie befand.
Nach kurzer Zeit wurde die Türe geöffnet und zwei kleine Gestalten traten
heraus. Es waren kleine Gnome. Einer von ihnen schien weiblich zu sein und der
andere männlich. Vermutlich das Paar, welches die Farm leitete. Chester lächelte
freundlich und schaute zu den Zweien hinunter. Diese schauten zu uns hinauf, als
seien wir Riesen. Schließlich ging Chester in die Hocke, um wenigstens annähernd
mit den Gnomen auf Augenhöhe zu sein. Ich tat es ihm gleich.
Der männliche Gnom blickte finster, hingegen betrachtete seine Frau uns mit
einem warmen Lächeln. Der Gnom-Mann streckte uns seine kleine Hand entgegen.
„Hallo“, sagte er kurz angebunden. Chester und ich grüßten ihn auch. „Ihr wisst das
Problem? Nachts werden unsere Dannos getötet. Von unserer Weide. Wir wissen
nicht, was dort passiert“ Der Gnom-Mann sprach langsam und angestrengt.
Scheinbar sprach er nicht sehr viel amerikanisch. Chester nickte. „Wir wissen
Bescheid. Wir beobachten einfach die ganze Nacht die Herde“ Der Gnom-Mann
verschränkte die Arme und nickte einverstanden. Die Frau fasste ihrem Mann sanft
an die Schulter und sagte etwas in der Sprache, die man in Eleven sprach. Der
Mann seufzte laut. „Wir haben eine Belohnung, wenn ihr helfen könnt“, sagte er
grimmig. „Und die wäre?“, fragte Chester interessiert. Der männliche Gnom fasste
kurz in seine Hosentasche und holte einen kleinen Beutel hervor, darin konnte man
klimpernde Münzen hören. „Dieses Geld.“ Chesters Augen strahlten. Wieder Geld
aus Eleven zu erhalten, musste für ihn eine großartige Belohnung sein, nach dem
Verlust, den er im Hotel erlitten hatte. Sein Auge war immer noch leicht blau
verschwollen. Der Gnom-Mann steckte den Beutel zurück in seine Tasche und
machte eine wegscheuchende Bewegung. „Nun geht!“, sagte er grob. Die Frau
winkte lächelnd. Dann schloss er einfach die Türe. „Nun gut. Jetzt wissen wir
wenigstens, dass das hier nicht völlig umsonst ist. Münzen als Belohnung sind echt
etwas tolles“
Chester stand auf und lächelte mir zu. „Lass uns zur Herde gehen. Unsere Schicht
beginnt genau jetzt“
Auf der grünen Weide waren die großen Tiere, die als Dannos bezeichnet wurden.
Sie waren riesig groß, erinnerten entfernt an Büffel, wenn sie nicht drei Beinpaare
besitzen würden und vier Augen. Ihr Fell war eine Mischung zwischen braun und
grün und einige Streifen zierten ihren breiten Rücken. Männliche Dannos waren mit
einem Ring durch die Nase gekennzeichnet.
Die Dannos grasten in aller Ruhe auf der Wiese und mir wurde klar, dass diese
Wesen trotz ihrer enormen Größe nicht zu fürchten waren. Sie waren friedliche
Wesen.
Chester lehnte sich an einen Holzzaun. Über die Weide fegte eine sanfte
Windböe, die die hohen Grashalme tanzen ließ. Ich schloss einen Moment die
Augen und genoss die Stille.
Eleven war eine laute Stadt.
Überall herrschte Lärm. Nur nicht hier. Man hörte nur den Wind und die
grasenden Dannos. Also genoss ich einen Moment die Stille.
Die Sonne versank langsam und tauchte den Himmel in ein abendliches Rot.
„Cleo?“ Chesters Stimme durchbrach die Stille. Ich schaute ihn an, direkt in seine
eisblauen Augen, die jedoch so viel Wärme spendeten. „Ich bin froh, dass wir das
alles hier zu zweit durchstehen“, sagte er und lächelte sacht. „Ich will dir etwas
schenken“ Er fasste kurz in seine Hosentasche, holte etwas hervor, was er jedoch in
seiner Faust verbarg. Dann nahm er meine Hand in seine und ließ einen kleinen
Gegenstand in meine Hand fallen. Ich schaute ihn kurz an, dann ließ er meine
Hand wieder los. Ich blickte in meine Handfläche.
Dort lag ein glänzender Anthrazit-Ring.
„Der Ring soll unsere Freundschaft symbolisieren. Wir sind doch das DreamTeam der Organisation. Findest du nicht auch?“, fragte er leise. Seine Stimme
zitterte vor Aufregung. „Ich habe denselben“, meinte er und hielt seine Hand in die
Höhe, an der derselbe schwarze Ring glänzte, wie ich ihn in meiner Hand hielt.
„Das ist echt nett von dir“, sagte ich leise, kaum hörbar, da es mir die Sprache
verschlagen hatte. Ich steckte mir den Ring an den Finger und betrachtete den
schwarzen Ring genau im Licht der untergehenden Sonne.
Er war wunderschön.
„Ich habe den Ring heute gekauft, als du im Laden warten solltest und ich einen
Moment weg war“
Ich nickte. Deswegen hatte Chester also ein Geheimnis daraus gemacht. Ich
schaute hinüber zu Chester, der mich genau beobachtete.
Plötzlich herrschten so viele Gefühle in mir. Freude über dieses Geschenk, aber
auch Trauer, dass ich bald New York verlassen musste.
Chester bemerkte, dass sich meine Augen mit Tränen füllten, da nahm er mich in
den Arm und stand mit mir am Rand der Weide.
Seine Umarmung spendete mir Trost und doch begann ich zu schluchzen.
Nur noch drei Tage, dann würde ich zurück nach Deutschland reisen und all dies
hinter mir lassen.
Eine weitere Stunde war vergangen, die friedliche Atmosphäre hielt an. Nichts war
bisher geschehen, was auf die vermeintlichen Danno-Morde hinweisen könnte.
Chester und ich hatten uns beide ins hohe Gras, an den morschen Holzzaun gesetzt
und beobachteten die Danno-Herde.
Der Himmel verdunkelte sich langsam. „Wenn nichts passiert, haben wir umsonst
hier gewartet“, sagte Chester mit einem Seufzen und schaute auf die Uhr. „Wenn
sich die unbekannten Danno-Mörder bald blicken lassen, können wir ja vielleicht
noch heute rechtzeitig nach Hause. Ich will hier nicht wirklich übernachten, mitten
in der Landschaft in einer Welt wie dieser...“
Ich stimmte Chester zu. „Vielleicht haben wir ja Glück“ Dann lehnte ich mich an
den Holzpfahl, der hinter mir im Boden steckte und schloss die Augen. Die Dannos
brummten zufrieden und ich hörte wie sie mit ihren Zähnen das Gras zermalmten.
„Cleo! Verdammt Cleo, wach auf!“, zischte Chester und rüttelte mich an der
Schulter wach. Ich war sofort hellwach und schaute mich um. Es war stockdunkel,
wahrscheinlich schon ein paar Stunden nach Mitternacht. Nur der Mond spendete
gespenstisches weißes Licht über die Szenerie.
„Was ist los?“, flüsterte ich zurück. Chester zeigte in die Ferne. „Da schleicht sich
etwas an. Ich kann es nicht erkennen, aber es müssen mehrere von ihnen sein. Wir
müssen jetzt auf der Hut sein. Wenn diese - was auch immer - ein Danno
umbringen können, ist mit ihnen nicht zu spaßen“
Gerade wollte ich aufstehen um einen Blick zu erhaschen, doch Chester zog mich
zurück. „Wir müssen in Deckung bleiben“, flüsterte er leise.
Die Unbekannten kamen immer näher und ließen sich immer besser erkennen.
Sie liefen auf vier Beinen und waren recht groß. Einer von ihnen hielt inne und
heulte laut auf. Das Heulen eines Wolfes...
„Verdammt! Schon wieder diese Höllenhunde!“, fluchte Chester und fasste mich
am Handgelenk. Mit gefletschten Zähnen liefen die Höllenhunde auf die Dannos
zu. Die Dannos reagierten panisch und wichen angsterfüllt zurück. Einer der
Dannos kam uns immer näher. Chester zog mich unter dem Holzzaun hindurch.
Wenige Sekunden später krachte das Tier gegen den Zaun, welcher bedrohlich
knarrte.
Beinahe waren wir von den schweren Füßen zermalmt worden. „Was machen wir
nun?“,
fragte
ich
hektisch
und
Chester
blickte
konzentriert
zu
den
heranpirschenden Höllenhunden. Einer der Höllenhunde sprang ein Danno an und
grub seine Pranken und seine Zähne in den massigen Rücken des Tieres. Ein
schmerzerfüllter Schrei ertönte.
Die anderen Höllenhunde kamen zusammen und griffen gemeinsam an. Chester
packte einen schweren Stein, der neben ihm im Gras lag. Er holte weit aus und warf
ihn gegen einen der Höllenhunde. Der Stein traf genau den Schädel des Tieres. Der
Höllenhund drehte sich verärgert um, aus seinem Maul rann der Speichel. Die
Augen des Höllenhundes begannen zu funkeln. Er hatte uns entdeckt. Er stieß ein
Jaulen aus und die anderen Höllenhunde schauten in unsere Richtung. „Wir sollten
jetzt schleunigst wegrennen!“, zischte Chester und zog mich hinter sich her. Chester
sprintete so schnell, dass es mir schwerfiel, hinterher zu kommen ohne zu stolpern.
Es schien, als rannte er blind drauflos. Die Höllenhunde holten immer mehr auf.
„Wo laufen wir hin?“, rief ich keuchend. Chester antwortete erst nach einigen
Momenten: „Keine Sorge. Ich habe eine Idee“
Chester rannte weiterhin durch die Dunkelheit und hielt mich fest am
Handgelenk gepackt.
Nach einem endlos erscheinenden Fußmarsch erschien in der Ferne die Form
eines Turmes, der in die Höhe ragte. Chester lief direkt darauf zu. Die Höllenhunde
verfolgten uns immer noch, ihre Münder schäumten, doch es schien als wollten sie
uns nur jagen, denn sie hätten uns mühelos einholen können.
Im Näherkommen nahm der Turm in der Ferne, die Gestalt einer Kirche an.
Gebaut aus dunklen Backsteinen, im gotischen Stile. Angekommen bei der Kirche,
öffnete Chester mit Mühe das riesige Holztor. Die Wölfe verlangsamten ihr Tempo.
Nach Atem ringend, brachten wir uns in der Kirche in Sicherheit. Ich ließ mich
rückwärts auf den Boden fallen und blickte den wütenden Höllenhunden entgegen.
Das Tor stand noch weit offen. „Chester, Schnell! Wir müssen das Tor schließen!“,
schrie ich ihn an, da er in den hinteren Teil der Kirche lief, ohne sich nach dem
offen stehenden Tor umzudrehen.
„Sie werden nicht hier rein kommen“, sagte er ruhig und betrachtete den Altar.
„Wieso?“, fragte ich verwirrt. Tatsächlich blieben die Höllenhunde vor dem Tor
stehen und knurrten mich an.
„Das hier ist eine Kirche. Ein heiliger Ort. Sie dürfen als Kreaturen der Hölle
keinen heiligen Boden betreten“, sagte er kurz angebunden. Das leuchtete mir ein.
Ich stand vom Boden auf und lief durch die riesige Kirche. Links und rechts von
mir waren Gebetsbänke und vor mir erstreckte sich ein massiver verstaubter Altar
mit einer prächtigen Orgel dahinter. Die Kirchenfenster ließen ein wenig Mondlicht
nach innen dringen und spiegelten sich hell auf dem Boden wider. Meine Schritte
hallten laut durch den Raum.
„Chester, wir sind hier eingesperrt. Wir können doch nicht die ganze Nacht hier
bleiben und warten bis die Höllenhunde weg sind. Wenn wir raus gehen, werden die
uns in Stücke reißen“ Er schaute sich immer noch suchend um. „Was sollen wir
bloß tun?“, fragte ich verzweifelt.
Chester atmete erleichtert aus. Und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf etwas in
der Ecke. Es war ein flaches Becken, das auf einem schwarzen Stein-Sockel stand.
Ich trat etwas näher an das Becken. Es war bis zum Rand mit Wasser gefüllt.
„Weihwasser“, stellte Chester fest. „Weißt du was das bedeutet?“, fragte er
grinsend. Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist unsere Lösung“ Eilig lief Chester
durch die Kirche und näherte sich einer Tür die zum Kirchturm hinauf führte.
Chester öffnete sie und erblickte einen kleinen Abstellraum, in dem eine steile
Treppe hinauf führte.
Hier standen ein Wischmopp, (der womöglich, wie die Kirche aussah, lange Zeit
nicht mehr zum Einsatz gekommen war) ein Besen und ein hölzerner Eimer.
Chester schnappte sich den Eimer und kippte dessen Inhalt über den staubigen
Boden. Es war eine grüne sumpfige Brühe die nach faulen Eiern stank. Mit dem
leeren Eimer lief Chester hinüber zum Becken mit dem Weihwasser und füllte ihn
damit.
„Reib dir mit dem Weihwasser das Gesicht ein und bekreuzige dich, dann werden
sie dich nicht angreifen“, befahl mir Chester und ich gehorchte mit rasendem
Herzen. Chester tat dasselbe und schleppte schließlich den mit Weihwasser
gefüllten Eimer in Richtung des Tores.
Er hielt vor den Höllenhunden an, die ihm bedrohlich entgegenblickten. Mit
Schwung schüttete er den Inhalt über die knurrende Meute von Höllenhunden. Bei
Kontakt mit dem Weihwasser begannen sie zu qualmen, als würde sie die
Flüssigkeit langsam zersetzten. Die Tiere jaulten schmerzerfüllt auf und nahmen
Reißaus.
Chester jubelte und warf den leeren Eimer in die Ecke. „Jetzt sollten wir
schleunigst zurück zur Farm“, sagte er triumphierend und wollte gerade hinaus
rennen. Ich deutete auf den Eimer. „Was ist mit den Dannos? Wir haben immer
noch keine Lösung, was wir unternehmen können, damit diese Höllenhunde kein
Tier der Herde mehr angreifen“ Chester fasste sich nachdenklich ans Kinn.
„Stimmt. Lass mich nachdenken“, murmelte er leise.
Dann sprang er auf, schnappte sich erneut den Eimer und füllte ihn mit
Weihwasser. „Dannos sind im Gegensatz zu den Höllenhunden keine Kreaturen
der Hölle. Wir schütten einfach ein wenig von dem Weihwasser in den Wassertrog
der Tiere und schon sind sie die Höllenhunde los. Diese würden niemals in die
Nähe eines heiligen Tieres kommen“
Chester lachte verzückt über seine eigene Idee und lief mitsamt dem Eimer nach
draußen.
Ich folgte ihm rasch.
Trotz seines kuriosen Planes hatte ich ein gutes Gefühl.
Den Rest der Nacht hatten wir auf der Weide der Dannos verbracht.
Dem verletzten Tier ging es verhältnismäßig gut, es hatte sich in Mitten der Herde
niedergelassen um sich auszuruhen. Es schien, als würde die Herde den Verletzten
schützen.
Als die Sonne langsam aufging und ihre ersten Sonnenstrahlen über das Land
verteilte, ging auch die Türe des kleinen Hauses auf. Ich war bereits wach, Chester
schlief noch. Er schnarchte leise und hatte seinen Kopf an meine Schulter gelehnt.
Der männliche Gnom lief zu uns hinüber und beobachtete uns aus nur einem
Meter Entfernung. „Guten Morgen“, sagte er mit tiefer grollender Stimme. Chester
schreckte hoch und blickte sich um. „Oh, guten Morgen“, sagte er schlaftrunken
und rieb sich die Augen.
„Wie ich sehe, war gestern erneut ein Angriff“, meinte der Gnom und deutete auf
das verwundete Tier. Chester nickte und streckte sich. „Richtig. Schuld an dem
ganzen waren ein Rudel Höllenhunde“ Die Augenbraue des Gnoms zog sich
verwundert hoch. „Wir haben sie schließlich in die Flucht geschlagen. Und
außerdem haben wir einen Tipp, wie ihr euch in Zukunft die Höllenhunde fern
haltet“ Chester griff den Eimer mit Weihwasser neben sich und reichte ihn dem
Gnom. Der Eimer wirkte viel zu groß in dem Armen des Gnoms. „Wir haben aus
der Kirche Weihwasser geholt, da Höllenhunde heilige Dinge meiden. Wir können
also empfehlen, immer einen Schluck Weihwasser in die Tränke der Tiere zu geben
und eventuell Holzkreuze aufzustellen“ Der Gnom nickte und grollte leise. „Gut
gut“ sagte er schließlich und stellte den Eimer mühselig ab. „Hier“ Er reichte
Chester den Beutel mit Münzen, den er uns schon am vorherigen Abend gezeigt
hatte. Chester nahm ihn breit grinsend entgegen.
Im nächsten Moment trat die Gnom-Frau aus dem Haus und hielt in den Händen
einen dampfenden Kuchen. Sie sagte etwas zu ihrem Gatten.
Dieser übersetzte: „Meine Frau ist froh, dass ihr helfen konntet. Sie will euch zum
Dank diesen Kuchen geben“ Chester nahm den kleinen Kuchen verbeugte sich
leicht.
„Vielen Dank“, sagte er und stand auf.
Der Gnom-Mann und seine Frau winkten. „Wir danken euch, für eure Hilfe“,
sagte er, als wir schon langsam über das Feld liefen.
Als wir endlich wieder in New York angekommen waren, hielt Chester nur noch
den halben Kuchen in der Hand. „Willst du sicher nichts von dem Kuchen? Ich
weiß zwar nicht, was da drin ist, aber es schmeckt toll“, sagte er schmatzend und
streckte mir den Kuchen entgegen. Ich winkte dankend ab. „Ich esse nichts, was
von Eleven kommt. Und schon gar nicht, wenn ich nicht weiß, aus was sie den
Kuchen gemacht haben“, meinte ich nur und Chester zuckte mit den Schultern.
Dann stopfte er sich ein weiteres Stück in den Mund. „Auf zum Missionsraum“,
sagte er mit vollem Mund und deutete zur Tür.
Im Missionsraum erwartete uns Gabrielle. Ihr Gesicht war rot vor Zorn und sie
blickte noch wütender, als sie Chester mit einem Kuchen in der Hand sah.
„Was ist deine Aufgabe in der Organisation?“, fragte sie streng und betonte jede
Silbe. Chester zuckte mit den Schultern und schluckte das Stück Kuchen in seinem
Mund hinunter. „Von Ort zu Ort rennen und einige seltsame Aufträge erfüllen?“,
fragte er und schaute sie direkt an. Gabrielle verengte die Augen zu zornigen
Schlitzen. „Hast du vielleicht schon etwas vom Wächter des Portals gehört?“, fragte sie
und Chester nickte. „Jawohl, das bin ich“
Gabrielle schaltete den Bildschirm neben sich ein.
„Dann hast du deinen Job wohl sehr schlecht gemacht“
Chester keuchte. „Wieso? Ich hab in Eleven alles richtig gemacht!“, rief er
verärgert.
Gabrielle tippte mit ihren Nägeln gegen den Bildschirm. „Dann schau her. Die
Überwachungskamera, von gerade eben“
Chester keuchte nochmals auf, dann flüsterte er zu mir gewandt. „Meinst du
Takeo ist...“, weiter kam er nicht, denn schon startete das schwarz-weiß Video auf
dem Bildschirm. Es zeigte den Portalraum. Einige Sekunden geschah nichts. Dann
öffnete sich das Portal. Ich konnte sehen, wie wir zwei hindurch liefen und dann
geschah wie in einem Standbild einige Zeit nichts mehr, nur ein paar Streifen
huschten über das Bild mit äußerst schlechter Qualität. Plötzlich trat eine Gestalt
durch das Portal und verließ geduckt mit eiligen Schritten den Raum.
Es war nicht Takeo.
Ich atmete erleichtert aus.
„Wer ist das?“, fragte Chester und fasste sich nachdenklich ans Kinn.
„Er ist ein Bewohner von Eleven. Sein Name ist Jusan“ Gabrielle verschränkte
die Arme. „Jusan ist ein Schwerverbrecher. Er wurde schon oft betraft wegen
Diebstahl und Mord. Jetzt flieht er nach New York und damit geht er eindeutig zu
weit. Wesen von Eleven haben hier nichts zu suchen“ Sie schaltete den Bildschirm
aus. „Eure Aufgabe ist es, ihn ausfindig zu machen. Er ist womöglich noch nicht
sehr weit gekommen. Habt ihr ihn geschnappt, ruft ihr einfach an und ich schicke
euch einen Mitarbeiter mit einem Transportwagen vorbei. Ihr sollt Jusan nicht
töten, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist“
Chester seufzte laut. „Einen Drecks-Auftrag nach dem anderen. Aber was soll‘s,
wir machen uns dann mal auf den Weg“
Gabrielle nickte mit fester Miene. Sie sagte nur: „Viel Erfolg“, dann sagte sie
nichts mehr, nur ihr Blick befahl uns schleunigst zu unserer Mission aufzubrechen.
Kaum hatten wir die Lagerhalle verlassen, konnten wir erkennen, dass Jusan hier
vorbei gekommen sein musste. Durch die Straße zog sich eine Schneise der
Verwüstung. Autos standen kreuz und quer auf der Straße und die Autodächer
waren zerkratzt. Die Fahrer hupten aufgeregt, ein paar waren ausgestiegen und
unterhielten sich aufgeregt.
„Was ist hier los?“, fragte Chester mit lauter Stimme und lief selbstsicher auf die
Fahrer zu. Der eine musterte Chester argwöhnisch, womöglich weil Chester noch
jung war und nicht nach einer Autoritätsperson aussah. Doch schließlich antwortete
er: „Hier war ein verrückter Kerl, der über die Autodächer gesprungen ist, plötzlich
sind die ganzen Autos durcheinander gefahren, weil sie versucht haben, zu bremsen
und mein Auto ist sogar mit dem da vorne kollidiert“, er schaute mit verärgertem
Gesicht hinüber zu seinem verbeulten Auto. „Und in wie sah der Kerl aus?“, fragte
Chester. Der Mann zuckte mit den Schultern. „Auf den ersten Blick schien es, als
hätte er eine grüne Haut, aber vielleicht habe ich mich versehen, ich war von der
Sonne geblendet“
„In welche Richtung ist er davon gelaufen?“, fragte Chester weiter. Der Mann
nickte in eine Richtung. „Die Straße hinauf. Aber was geht dich das eigentlich an?
Ich habe schon die Polizei alarmiert“ Chester rief nur ein kurzes „Danke!“ und
schon liefen wir in die besagte Richtung. Mülltonnen lagen umgeworfen umher und
sämtliche Papiere lagen auf dem Boden. Am Straßenrand war eine Mutter mit
einem Kinderwagen, in dem ein Baby schrie und sich einfach nicht beruhigen
wollte. „Diesen Jusan zu finden, wird wohl nicht allzu schwer sein. Er hinterlässt
eine eindeutige Spur“, murmelte ich. Chester antwortete nicht, sondern rannte
weiter durch die Straße. Wir liefen noch an einigen Autounfällen vorbei, die
zweifellos die Tat von Jusan gewesen sein mussten, doch irgendwann verlor sich die
Spur. Wir befragten Passanten, doch diese sagten, sie hätten nichts gesehen, oder sie
konnten nicht erkennen, wohin er geflüchtet war.
Zwei weitere Stunden irrten wir zu Fuß durch die Stadt.
„Ich kann nicht mehr. Ich geb auf“, keuchte Chester und setzte sich auf den
Boden an die Mauer eines Hauses. „Jetzt suchen wir schon zwei Stunden nach
diesem Mistkerl und es gibt keine Spur von ihm“ Ich schaute Chester mitleidig an.
Auch meine Füße schmerzten höllisch.
„Wir dürfen nicht aufgeben, Chester. Jusan kann sich zwar überall verstecken,
aber er kann nicht verschwunden sein. Er muss sich irgendwo in New York
befinden“
Chester schüttelte den Kopf. „In zwei Stunden könnte er schon überallhin
geflohen sein. Er scheint sehr schnell zu sein. Stell dir nur vor, er ist mit der Bahn
oder einem Bus geflüchtet, dann ist er jetzt schon über alle Berge“
Ich seufzte leise.
Plötzlich ertönte in der Ferne ein lauter schriller Schrei aus einer Gasse. Chester
und ich schauten schnell hinüber in die Richtung, aus der der Schrei gekommen
war. Mit einem weiteren Aufschrei stürzte eine Frau zu Boden, die aus der Gasse
flüchtete. Sie blieb auf dem Boden liegen und hielt ihre Arme schützend vor sich.
Chester und ich rannten schnell zu der Frau. „Ist alles klar mit Ihnen?“, rief Chester
im Rennen. Die Frau blickte auf und schaute Chester mit großen nassen Augen an.
In ihrem lockigen Haar klebte Blut. Bevor sie etwas antwortete, stand sie hastig auf
und rannte davon. Wir blickten verwundert der Frau hinterher, als plötzlich Chester
etwas gegen den Kopf geschmissen wurde. Eine Dose fiel mit einem metallenen
Geräusch zu Boden. Chester rieb sich den schmerzenden Kopf und warf einen
Blick in die Gasse. Hier lag viel Müll verstreut.
Und dort stand auch Jusan. Seine Haut war grün, sein Körper war muskulös und
überdeckt mit Narben und Blutergüssen. Sein Körper sah aus, als sei er stellenweise
irgendwann auseinander gefallen und er hätte ihn provisorisch wieder zusammengeflickt. Ich sah mir sein Gesicht genauer an. Seine Augenhöhlen waren schwarz und
ich konnte keine Augäpfel erkennen. Über seiner Augenbraue waren die römische
Zahl XIII für 13 tätowiert.
Chesters Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
„Hey Arschloch“ Chester trat ein paar Schritte vor und auch Jusan kam eilig auf
ihn zu. Nun standen sie sich dicht gegenüber. Jusan war einen ganzen Kopf größer
als Chester. Jusan atmete schnaubend aus.
„Zur Hölle, du stinkst aus dem Maul“, zischte Chester durch die Zähne. Da
schlug Jusan zu, doch Chester wich einen Schritt nach hinten und entkam dem
Faustschlag nur knapp. „Nicht einmal treffen kannst du? Alter, hast du keine Augen
im Kopf?“, stichelte Chester und lachte schallend auf. Daraufhin hob Jusan seinen
Arm. Auf dem Arm waren Tätowierungen von Augen zu sehen. Urplötzlich
blinzelten die Augen für eine Sekunde.
„Mein Gott, was...?“, keuchte Chester.
Scheinbar konnte Jusan mit den Augen auf seinen Armen sehen, denn er war
trotz seiner fehlenden Augäpfel in der Lage, seine Angriffe gut zu koordinieren.
Chester hatte verstanden und wich den folgenden Angriffen geschickt aus.
Er drängte Jusan langsam in die Ecke. Jusan brüllte auf. „Ihr wollt mich also
wieder einfangen?“, schrie er mit verzerrter Stimme. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ihr habt keine Ahnung! Könnt ihr euch denn nicht vorstellen, wieso ich geflohen
bin?“ Chester hob die Hände. „Keine Ahnung, aber es interessiert mich auch nicht.
Ich will dich nur nicht wieder sehen, du dreckiger Mistkerl! Geh in die Hölle
zurück, von der du herkommst!“, knurrte Chester. Jusan lachte dumpf auf.
„Ihr zwei wisst nichts über die Hölle aus der ich komme. Eleven ist eine Welt der
Verwesung und des Leidens. Ihr würdet auch von eurem Leid fliehen wenn ihr
könntet!“
Chester blieb regungslos stehen. „Von dem Leid fliehen?“, wiederholte er leise.
Sein Blick war plötzlich ganz leer und schaute nur in die Ferne. Jusan hechtete auf
ihn zu und schlug ihn mit der Faust heftig gegen den Kopf. Chester fiel ohnmächtig
zu Boden. „Chester!“, kreischte ich laut, wollte gerade auf ihn zu rennen, als ich
bemerkte, dass Jusan nun mich angreifen wollte. Ich floh in Richtung der Sackgasse
und schaute flüchtig den Müll neben mir an.
Denk nach, denk nach, hallte es mir durch den Kopf. Dann entdeckte ich ein breites
Stück Holz. Ich schnappte mir das Holzstück und wehrte den kommenden Angriff
von Jusan ab. Ich keuchte vor Anstrengung. Jusan war wirklich stark.
„Endlich sehe ich dich wieder“, sagte er plötzlich und blieb schwer atmend
stehen. Ich ließ das Brett sinken. „Ich habe dich noch nie gesehen“, sagte ich heiser
und meine Gedanken rasten. Jusan ballte eine Faust. „Du kannst dich nicht
entsinnen? In Eleven, du bist nach der Nacht im Hotel zurück nach New York
gekehrt. Als du dich ein letztes Mal umsahst, hast du mir genau in die Augen
geblickt“, sagte er und tatsächlich erinnerte ich mich. Ich wurde damals von
jemandem beobachtet, den ich jedoch nicht genauer erkennen konnte, weil er sofort
im Schatten eines Hauses verschwand. Und es war Jusan gewesen, welcher nun nur
wenige Meter vor mir stand. Ich keucht auf. „Das ändert gar nichts! Du musst
zurück nach Eleven, das ist eine Regel an die du dich zu halten hast! Scheinbar
nimmst du Regeln im Allgemeinen nicht so ernst, nicht wahr? Du bist ein
Verbrecher!“ Jusan grinste breit. „Wenn ein Regelverstoß, Geld einbringt, ist es mir
das wert“ Meine Augen weiteten sich.
„Geld? Hast du etwa auch die Kasse in Twelve ausgeräumt?“, rief ich entsetzt.
Jusan nickte. Wütend rannte ich auf Jusan zu, hob das Brett in die Höhe und schlug
es ihm, schneller als er hätte reagieren können, gegen den Kopf. Er taumelte und
stürzte zum Boden. Er regte sich nicht mehr. Jusan war ohnmächtig. Hinter mir
hörte ich ein leises Stöhnen. Chester rappelte sich vom Boden auf und lief taumelnd
zu mir hinüber. „Gute Arbeit“, sagte er und rieb sich den Kopf.
„Ich werde gleich die Organisation benachrichtigen“ Schon hatte er das Handy
ans Ohr gelegt und wartete auf eine Antwort. Ich beugte mich zu Jusan hinunter.
In irgendeiner Art und Weiße tat er mir Leid. Er wollte aus seinem Elend fliehen
und wir würden ihn genau dorthin zurück schicken.
Und noch eine weitere Frage bedrückte mich.
Wieso hatte sich Chester von Jusans Gesagtem so ablenken lassen?
Nach einer Weile erreichte uns ein Pizzawagen. Ich schaute Chester fragend an. Aus
dem Pizzawagen traten zwei Männer, der eine war ziemlich dick, der andere hager
und groß. Sie verfrachteten Jusan im hinteren Teil des Lieferwagens. „Du wunderst
dich bestimmt, wieso unser Transportwagen als Pizzawagen getarnt ist, nicht
wahr?“, fragte mich Chester unterdessen. Ich nickte.
„Nun, stell dir mal vor, wir hätten einen Wagen, mit der Aufschrift: O.F.M.C. Wir
sind die Organisation für magische Kreaturen... Wäre etwas auffällig, meinst du nicht
auch?“, Chester grinste und auch ich musste lachen. „Das stimmt“, sagte ich und
lief zu den Fahrern hinüber, die inzwischen wieder im Auto saßen. „Könnt ihr uns
vielleicht mitnehmen?“, fragte ich den hageren Kerl, doch er schüttelte den Kopf.
„Gabrielle hat gemeint, euch würde es nicht schaden, wenn ihr zu Fuß lauft. Tut
mir Leid, Leute. Es war ein eindeutiger Befehl, euch nicht mitzunehmen“ Der Fahrer
schaltete das Fahrzeug an und fuhr ohne ein weiteres Wort davon. Chester knurrte.
„Das gibt es doch nicht. Gabby lässt uns laufen? Diese Frau ist ein Unmensch!“
Verärgert stampfte er die Straße entlang. „Wo willst du hin?“, fragte ich. Chester
schnaubte leise. „Nach Hause. Was denkst denn du?“, antwortete er barsch. „Ich
bin müde. Schließlich sind wir jetzt schon seit über 35 Stunden unterwegs, in
Eleven konnte ich nur kurz die Augen schließen und das war’s auch schon“
Ich folgte ihm eilig. Die Luft war drückend warm und am Himmel verdunkelten
sich die Wolken. Es begann nicht zu regnen, doch nach einer Weile zuckten in der
Ferne helle Blitze am Himmel, immer gefolgt von einem tiefen Grollen. Chester
und ich liefen in schnellen Schritten zu seiner Wohnung und obwohl wir uns
beeilten, dauerte es eine ganze Weile, bis wir sie endlich erreicht hatten.
Chester ließ sich in seinen Sessel fallen. „Ich bin erledigt. Ich würde sagen, wir
bestellen noch eine Pizza, damit wir was im Magen haben und dann gehen wir
schlafen“ Ich nickte ihm zu. Chester bestellte die Pizza dieses Mal telefonisch,
obwohl sich die Pizzeria gegenüber von seinem Haus befand.
Endlich klingelte es an der Tür, der Lieferant überreichte uns die Pizza und
Chester bezahlte.
Er stellte den Karton auf dem kleinen Tisch ab, öffnete den Deckel und nahm
sich ein Stück.
Auch ich nahm mir ein Stück und wir beide aßen schweigend.
Schließlich sagte ich: „Mir gehen die Worte von Jusan nicht aus dem Kopf“
Chester schluckte einen Happen Pizza hinunter. „Der Kerl tut dir doch nicht etwa
Leid?“, fragte er spitz und ich zuckte mit den Schultern. „Ich würde nicht in Eleven
leben wollen“, sagte ich leise. Chester lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Die
Bewohner von Eleven kennen es gar nicht anders. Sie wollen es auch nicht anders.
Sie sind mit dem zufrieden was sie dort haben. Nur solche Rebellen wie Jusan
beschweren sich über den fehlenden Wohlstand der Stadt und wollen woanders hin.
Das ist völlig normal. Du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen“ Ich
schaute Chester direkt an. „Wieso hast du so komisch auf seine Worte reagiert?“,
fragte ich ihn und Chester schluckte. Er versuchte seine aufkommende Aufregung
zu verbergen. „Ich habe nur nachgedacht“, sagte er schließlich. Ich beobachtete ihn
genau. „Seine Worte haben dich völlig aus der Bahn geworfen. Willst du mir denn
nicht sagen, was mit dir los war?“
Chester zögerte. Es schien, als sei es ihm sehr unangenehm. „Jusan hat davon
geredet, dass er es in seiner Situation nicht mehr ertragen konnte und deswegen
geflüchtet ist. Das hat mich sehr an mich selbst erinnert“ Er senkte seine Stimme.
Im Raum war plötzlich eine unangenehme Stille. „Wieso?“, fragte ich und Chester
zuckte kurz mit den Schultern.
„Ich bin auch geflohen. Von Zuhause. Damals war ich noch jung“ Ich nickte.
Über meine Arme lief eine Gänsehaut. Zum ersten Mal seitdem ich Chester
getroffen hatte, erzählte er etwas von sich. Zum ersten Mal zeigte er mir, was ihn
bedrückte.
„Wieso bist du denn von daheim weggelaufen?“, fragte ich nach. Chester senkte
den Kopf. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich bin nicht in den besten
Familienverhältnissen groß geworden, musst du wissen. New York ist einfach nicht
die Großstadt in der ein Kind aufwachsen sollte... Meinem Vater war es wichtiger,
Drogen zu nehmen, als sich um sein eigenes Kind zu kümmern, meine Mutter war
fast nie zuhause. Ich hatte noch zwei weitere Geschwister“ Chester schluckte
schwer. „Mein älterer Bruder hat mich fast tot geprügelt, da bin ich eines Tages
abgehauen. Ich war damals vierzehn. Ich weiß bis heute nicht, was aus ihnen
geworden ist“ Seine Augen wurden glasig und er schaute mit leerem Blick zum
Boden. „Als Straßenkind habe ich es geschafft mich Tag für Tag durchzuschlagen.
Doch eines Nachts geschah etwas Seltsames. Ich hatte mich in einer Gasse
niedergelassen, fernab von all den Gefahren der Nacht, weg von meiner Familie, im
Schutz der Schatten, als plötzlich fremde Menschen auf mich zukamen. Sie
fletschten die Zähne und sahen richtig gefährlich aus. Aber trotzdem waren es
Menschen. Sie griffen mich an, ich versuchte mich so gut es ging, zu verteidigen, als
einer nach den anderen zu Boden ging. Doch ich hatte nichts getan. Es war jemand
anderes Aufgetaucht. Dort im Mondlicht stand eine Frau. Sie hatte die Angreifer
außer Gefecht gesetzt. Sie half mir auf und sagte mir, dass ich in Zukunft besser auf
mich achtgeben sollte. Doch als sie meinte, ich soll nun nach Hause gehen, konnte
ich nur antworten, dass ich gar kein zuhause habe. Die Frau dachte kurz darüber
nach und schließlich nahm sie mich mit. Sie führte mich zu einem großen
unterirdischem Gebäude, in dem viele fremde Menschen waren. Ich hatte große
Angst, was nun geschehen würde... Sie brachte mich zu einem Mann. Der Mann
wirkte freundlich und besprach sich noch eine Weile mit der Frau. Schließlich
meinten sie, ich solle bei ihnen bleiben, ich sei bei ihnen sicher. Die Frau verriet mir
ihren Namen, sie sagte, ich solle sie Gabby nennen. So kam ich zur Organisation.
Doch damals war Gabby noch nicht die Leiterin der O.F.M.C. Erst nachdem ihr
Mann George verstarb, übernahm sie die Führung“
Chesters Geschichte lastete schwer auf mir. So viele Dinge waren vorgefallen, die
er vor mir geheim gehalten hatte.
„Aber wenn Gabrielle dich schon so lange kennt, wieso darfst du nicht auch bei
der Organisation ein Zimmer haben?“, fragte ich.
„Gabrielle lernte mich kennen, als einen Straßenjungen, schon mit vierzehn
kleinkriminell. Also wundert es mich nicht, dass sie ein schlechtes Bild von mir hat.
Ich habe mich verändert. Doch das will sie einfach nicht einsehen. Du hast
bestimmt bemerkt, wenn ich mit ihr rede, wie gefühllos sie mir gegenüber ist. Aber
das habe ich mittlerweile akzeptiert, Gabby ist so wie sie ist und ich weiß wieso. Der
Tod ihres Mannes hat sie damals schlimm mitgenommen“
Nachdenklich schaute ich mein Pizzastück an, das ich in der Hand hielt. „Heißt
das, Gabrielle kann mich auch nicht mehr leiden? Schließlich hat sie mich auch
einfach so rausgeworfen“ Chester zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht genau, vielleicht ist es einfach deswegen, weil du in letzter Zeit
viel Kontakt mit mir hast. Ich könnte mir vorstellen, dass sie das missbilligt“
Wieder nickte ich. Chester nahm sich das letzte Pizzastück und seufzte. „Jetzt
sind wir beide in dieser Welt voller Freaks gelandet, aber ich schätze, wir kommen
gut zurecht“
Er schenkte mir ein kurzes Lächeln.
Als er das Stück aufgegessen hatte, streckte er sich in seinem Sessel. „Eine Mütze
Schlaf haben wir uns jetzt auf jeden Fall verdient“, meinte er und ich nickte ihm
zustimmend zu.
Mein Körper war ganz taub vor Müdigkeit, deswegen schnappte ich mir die
Decke und legte mich hin. Chester schaute noch kurz zu mir hinüber. Schließlich
sagte er: „Gute Nacht. Schlaf gut“ und verschwand mit leisen Schritten aus dem
Wohnzimmer.