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FAKULTÄT W IRTSCHAFT UND SOZIALES
DEPARTMENT: SOZIALE ARBEIT
STUDIENGANG: ANGEWANDTE FAMILIENWISSENSCHAFTEN (MA)
Wenn Familie dick macht
Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen
Master-Thesis
Vorgelegt von:
Marisa Hink
Tag der Abgabe: 21.03.2016
Betreuende Prüferin:
Prof. Dr. Katja Weidtmann
Zweiter Prüfer:
Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................................... 4
2 Definition und Prävalenz ....................................................................................... 6
2.1 Definition .................................................................................................... 6
2.2 Prävalenz .................................................................................................... 8
3 Ätiologie ............................................................................................................... 12
3.1 Die Entwicklung des Ernährungsverhaltens ................................................. 12
3.2 Der multifaktorielle Entstehungsprozess der Adipositas ................................ 15
3.2.1 Biologische Faktoren ............................................................................ 17
3.2.2 Kulturelle und sozioökonomische Faktoren ............................................ 18
3.2.3 Psychische Ursachen ............................................................................ 23
4 Aktuelle Empfehlungen zur Adipositasbehandlung ........................................ 27
4.1 Behandlungsempfehlungen der Adipositas .................................................. 27
4.2 Behandlungsempfehlungen von Adipositas und Essstörungen im Vergleich... 29
4.3 Psychologische Elemente in der Adipositasbehandlung ................................. 33
4.4 Aktueller Forschungsstand ......................................................................... 34
5 Die Familie im Fokus der Adipositasgenese ..................................................... 38
5.1 Familie und Gesundheit.............................................................................. 39
5.2 Adipositas unter dem Einfluss psychosozialer Ressourcen............................. 42
5.3 Adipositas und der soziale Status der Familie .............................................. 44
1
5.4 Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen .............................................. 47
5.4.1 Essen als Kompensation emotionaler Bedürfnisse .................................. 49
5.4.2 Rigides Ernährungsverhalten ............................................................... 51
5.4.3 Adipositas als Ausdruck familiärer Beziehungen ..................................... 52
5.5 Bedeutung der erlernten Emotionsregulation für das Erwachsenenalter ........ 55
6 Emotionsregulation im Fokus der Adipositasbetrachtung ............................. 61
6.1 Die Entwicklung der Emotionsregulation...................................................... 61
6.1.1 Der familiäre Einfluss auf die Entwicklung der Emotionsregulation .......... 63
6.1.2 Das Ernährungsverhalten im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung ............. 65
6.1.3 Adipositas als Resultat einer verminderten Fähigkeit zur Emotionsregulation
................................................................................................................... 67
6.2 Die Bedeutung der Emotionsregulation für die Adipositasbehandlung........... 73
6.2.1 Training der Emotionalen Kompetenz (TEK) als Element in der
Adipositasbehandlung ................................................................................... 76
6.2.2 Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz als Ansatz für die Prävention
und Behandlung von Adipositas ................................................................... 79
6.2.3 Angebote zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz ............... 82
7 Fazit .................................................................................................................... 84
8 Literaturverzeichnis........................................................................................... 88
9 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 97
10 Tabellenverzeichnis........................................................................................... 98
11 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 99
2
Anhang .................................................................................................................. 100
A
BMI-Perzentilkurve Jungen ......................................................................... 100
B
BMI-Perzentilkurve Mädchen ................................................................... 101
C
Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen - Jungen - ......................................................................... 102
D
Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen - Mädchen - ...................................................................... 103
E
Emotionale Verarbeitungsprozesse bei adipösen Frauen im Vergleich zur
Kontrollgruppe ....................................................................................... 104
F
Interviewleitfaden .................................................................................. 105
Eidesstattliche Erklärung..................................................................................... 107
Danksagung .......................................................................................................... 108
3
1 Einleitung
Weltweit sind etwa 600 Millionen Menschen von Adipositas betroffen (WHO 2016).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht in Zusammenhang von Übergewicht
und Adipositas von einer weltweiten „um sich greifenden Epidemie“ (WHO, 2007, xi),
die in europäischen Regionen eine der „schwerwiegendsten Probleme für die
öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert“ darstellt (WHO, 2007, 1).
Obwohl die Adipositasgenese auf eine Vielzahl von biologischen, psychosozialen und
soziokulturellen Faktoren zurückgeführt werden kann (Pudel & Westenhöfer, 1998,
134), wird der starke Anstieg der Adipositasprävalenz weitestgehend mit einer
vermehrten Zufuhr energiereicher Nahrung und der zeitgleich abnehmenden
körperlichen Aktivität begründet (WHO, 2007, 14). Dementsprechend setzen
Maßnahmen zur Behandlung von Adipositas vorwiegend auf der Verhaltensebene an
– bei dem Ernährungs- und Bewegungsverhalten.
Während die Forschung sich in der Vergangenheit primär auf körperliche und
genetische Ursachen fokussierte (Wirth, 2015, Blüher et al. 2013), wurden
psychosoziale Faktoren als Ursache für die Entstehung und Aufrechterhaltung der
Adipositas weitaus weniger untersucht.
Die Familie wird in Hinblick auf die Adipositasgenese sowie für Präventions- und
Therapieansätze meist nebensächlich erwähnt. Beispielhaft zeigt sich dies in der
aktuell gültigen „Interdisziplinären Leitlinie zur Prävention und Therapie von
Adipositas“ der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG e.V., 2014). Dabei kommt
der Familie in Hinblick auf die Entwicklung des Ernährungsverhaltens und insgesamt
eines gesundheitsfördernden Verhaltens eine besonders bedeutungsvolle Aufgabe zu
(WHO, 2007, 14).
4
In der hier vorliegenden Arbeit wird die Bedeutung der Familie in Hinblick auf die
Entwicklung und Aufrechterhaltung der Adipositas herausgestellt und diskutiert.
Hierzu werden einführend die aktuellen Prävalenzzahlen der Adipositas betrachtet
und die Faktoren dargestellt, die für die Entstehung der Adipositas diskutiert werden.
Anschließend werden medizinische Klassifikationen und Behandlungsansätze der
Adipositas hinterfragt und im Vergleich mit Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und
der Binge-Eating-Störung (BES) kritisch betrachtet.
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Auseinandersetzung mit der Entstehung und
Aufrechterhaltung von Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen. Hierbei wird
beleuchtet, inwiefern das zu Adipositas führende Ernährungsverhalten mit familiären
Beziehungen in Zusammenhang steht. Der Fokus dieser Auseinandersetzung liegt auf
der Emotionsregulation. Hierbei wird der Einfluss der direkten Ernährungserziehung
und der grundlegenden Qualität familiärer Beziehungen auf die Entstehung und
Aufrechterhaltung von Adipositas dargestellt. Aufbauend auf diesen Ergebnissen
werden abschließend Bedarfe und beispielhafte Möglichkeiten für die Betrachtung
und Behandlung von Adipositas abgeleitet und aufgezeigt.
5
2 Definition und Prävalenz
Im folgenden Kapitel wird einführend auf die Definition der Adipositas und die
aktuellen Prävalenzzahlen eingegangen und somit ein grundlegender Einblick in die
Bedeutung von Adipositas geschaffen. Hierbei verweist ein kurzer internationaler
Vergleich der Prävalenzzahlen auf kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse auf
Adipositas. In Bezug auf Deutschland werden die Adipositasprävalenzzahlen im
zeitlichen Verlauf dargestellt, so dass sich hieraus die Aktualität und Relevanz des
Themas Adipositas erkennen lässt. Ein wesentlicher Aspekt für diese Arbeit ist die
Betrachtung der Prävalenzzahlen von Kindern und Jugendlichen, da hier der Familie
eine maßgebliche Rolle in Bezug auf die Gewichtsentwicklung zukommt.
2.1 Definition
Adipositas wird als ein über das Normalmaß hinausgehender Anteil des Körperfetts
an der Gesamtkörpermasse definiert. Die Beurteilung der Körperfettmasse basiert auf
der jeweiligen Körpergröße und dem Körpergewicht. Aus diesen anthropometrischen
Größen lässt sich der Body Mass Index (BMI) errechnen, bei dem von einer engen
Korrelation zum Fettanteil des Körpers ausgegangen wird (DAG e.V. et al., 2014, 15).
Die Berechnung des Body Mass Index ist in Abb. 1 dargestellt.
BMI =
Körpergewicht (kg)
Körpergröße (m)2
Abbildung 1: Berechnung des Body Mass Index
(eigene Darstellung nach: DAG-Homepage, 2016)
Der
BMI
ist
somit
eine
indirekte
Kenngröße
der
Körperfettmasse.
In
epidemiologischen Studien wurde bestätigt, dass der BMI mit der Körperfettmasse
korreliert. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass bei gleichem BMI inter-individuell
große Unterschiede in der Körperfettmasse bestehen. Aus dieser Perspektive ist der
BMI ungeeignet, inter-individuelle Unterschiede, die bspw. mit dem Alter, dem
6
Geschlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit einhergehen, zu erfassen (Hauner,
2013, 9 – 10).
Seit
dem
Jahr
2000
findet
die
altersunabhängige
WHO-Klassifikation
des
Körpergewichts von Erwachsenen weltweit Verwendung (Hauner, 2013, 2). Die
Gewichtsklassifikation nach dem BMI ist in Tabelle 1 dargestellt.
Tabelle 1: Klassifikation des Körpergewichts
(eigene Darstellung nach WHO, 2016 a)
Kategorie
BMI =
Risiko
für
(Gewicht kg /
Folgeerkrankungen
Größe m2)
Untergewicht
< 18,5
niedrig
Normalgewicht
18,5 – 24,9
durchschnittlich
Übergewicht
25 – 29,9
gering erhöht
Adipositas Grad I
30 – 34,9
erhöht
Adipositas Grad II
35 – 39,9
hoch
Adipositas Grad III
≥ 40
sehr hoch
Für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren wird eine Gewichtsklassifizierung mithilfe
der alters- und geschlechtsabhängigen BMI-Perzentilkurven von Kromeyer et al.
(2001) ermittelt. Überschreitet das Gewicht die 90. Perzentile, so gelten Kinder und
Jugendliche als übergewichtig und oberhalb der 97. Perzentile als adipös (Boeing &
Bachlechner, 2015, 372). Die Perzentilkurven für Kinder und Jugendliche sind im
Anhang der Arbeit aufgeführt.
7
2.2 Prävalenz
Die Prävalenz der Adipositas ist weltweit kontinuierlich steigend und hat sich in den
letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt (WHO, 2016 b).
Nationalen Studien zur Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in 190 Ländern
zufolge waren im Jahr 2008 weltweit 9,8% der Männer und 13,8% der Frauen adipös
(Wirth, 2013a, 26). Dabei nimmt die Prävalenz der Adipositas nicht in allen
untersuchten Ländern im gleichen Maße zu, vielmehr ist eine gegenteilige Tendenz
zu
beobachten:
Der
Abstand
zwischen
den
Ländern
mit
dem
höchsten
durchschnittlichen BMI und denen mit dem niedrigsten durchschnittlichen BMI hat
sich in dem Zeitraum von 1980 bis 2008 von 5,4 kg/m2 auf 7,8 kg/m2 erhöht. Hierbei
ist Nordamerika die Region mit dem höchsten durchschnittlichen BMI, während
Kongo
und
Bangladesch
die
untersuchten
Länder
mit
dem
niedrigsten
durchschnittlichen BMI darstellen. Diese Beobachtung unterstreicht die Abhängigkeit
des Körpergewichtes von kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren, die wiederum
in Wechselwirkung mit dem Individuum stehen (Wirth, 2013a, 29).
In Deutschland sind 23,3% der Männer und 23,9% der Frauen von Adipositas
betroffen (Mensink et al., 2013, 788). Auch wenn der BMI in Deutschland im
weltweiten Vergleich weniger stark ansteigt als bspw. in Nordamerika oder
Australien, zeigt der Vergleich des Mikrozensus von Daten aus den Jahren 1999 und
2009 eine stetige Zunahme der Adipositasprävalenz (Wirth, 2013a, 29 – 30).
Die Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1,
2013) zeigen, dass der Anteil der übergewichtigen Männer und Frauen in den letzten
10
Jahren
auf
hohem
Niveau
stabil
geblieben
ist.
Hingegen
hat
die
Adipositasprävalenz weiter zugenommen. Obwohl die Adipositasprävalenz insgesamt
mit zunehmendem Alter ansteigt, ist zu beobachten, dass diese in den letzten 10
Jahren vor allem in der Altersgruppe von jungen Erwachsenen im Alter von 25 – 34
Jahren zugenommen hat (Mensink et al., 2013, 788 - 790). Die Adipositasprävalenz
in Deutschland ist im zeitlichen Verlauf seit 1990 in Abb. 2 dargestellt.
8
Abbildung 2: Entwicklung der Adipositasprävalenz bei Erwachsenen in
Deutschland seit 1990 (Mensink et al., 2013, 790)
Die Tendenz, dass Adipositas vermehrt in jungen Lebensjahren auftritt, ist bereits im
Kindes- und Jugendalter zu beobachten. Nach der KIGGS Studie des Robert KochInstituts (RKI) aus dem Jahr 2007, in der das Gewicht und die Größe von 17 641
Kindern gemessen wurde, sind 6,3% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 –
17 Jahren adipös. Auf Deutschland hochgerechnet würde man auf dieser
Zahlengrundlage von 800 000 adipösen Kindern und Jugendlichen ausgehen (Kurth &
Schaffath-Rosario, 2007, 738). Die Adipositas-Prävalenzzahlen von Kindern und
Jugendlichen sind, differenziert nach Alter in Abb. 3 dargestellt.
10
8
6
Jungen
4
Mädchen
2
Gesamt
0
3 - 6 Jahre
7- 10 Jahre
11 - 13 Jahre
14 - 17 Jahre Gesamt 3 - 17
Jahre
Abbildung 3: Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Prozent
(eigene Darstellung nach: Kurth & Schaffrath-Rosario, 2007, 738)
Betrachtet man die Adipositasprävalenz von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen
Verlauf, so hat sich diese bspw. in der Altersgruppe der 14 – 17-Jährigen seit den
9
1980er Jahren verdreifacht und lag 2008 bei 8,5% (RKI & BZgA, 2008, 44). Nach
neuesten Zahlen liegt die Adipositasprävalenz bei 11 – 17-Jährigen bei 10% (RKI,
2015, 206). Diese Entwicklung ist als besonders besorgniserregend zu betrachten, da
Adipositas in frühen Lebensjahren langfristig mit einem erhöhten Risiko für
Folgeerkrankungen
sowie
einer
vermehrten
Inanspruchnahme
von
Gesundheitsleistungen und einer erhöhten Mortalität einhergeht (Sonntag &
Schneider, 2015, 380-383).
In Abb. 4 ist die BMI-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen Verlauf
dargestellt. Hierzu wurden die Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) aus dem
Erhebungszeitraum
2003
–
2006
(durchgezogene
Linie)
mit
Referenzdaten
verglichen, die im Zeitraum von 1985 – 1999 erhoben wurden (gestrichelte Linie).
Abbildung 4: BMI-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen
Vergleich (Kurth & Schaffrath-Rosario, 2007, 741)
10
Die Abbildung lässt erkennen, dass sich der BMI von Kindern und Jugendlichen in
den letzten 20 Jahren deutlich erhöht hat. Insbesondere ab dem 7. Lebensjahr ist ein
Anstieg des durchschnittlichen BMIs zu beobachten.
Die Ergebnisse unterstreichen die gesundheitspolitische und gesellschaftliche
Relevanz
der
Adipositas.
Grundlegend
ist
zu
beobachten,
dass
die
Adipositasprävalenz in Deutschland kontinuierlich ansteigt. Der internationale
Vergleich verweist auf den Einfluss kultureller und gesellschaftlicher Faktoren und
legt nahe, dass der Lebensstil in modernen Industriestaaten wie Deutschland mit
Adipositas assoziiert ist. Als besonders bedeutsam ist in dieser Entwicklung der starke
Anstieg der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zu beurteilen.
Die Frage, die sich hier anschließt, ist, welche Ursachen für die Entstehung und
Aufrechterhaltung der Adipositas diskutiert werden und wie sich aus ihnen der
Anstieg der Prävalenzzahlen erklären lässt. Im Folgenden werden die Faktoren, die
mit Adipositas in Zusammenhang stehen, genauer betrachtet.
11
3 Ätiologie
Die Entstehung der Adipositas basiert grundsätzlich auf dem anhaltenden „Prinzip der
positiven Energiebilanz“, d.h., dass die Energiezufuhr bei Adipösen höher ist als
deren Energieverbrauch. Hierbei beeinflussen eine Vielzahl von Faktoren sowohl die
Energieaufnahme als auch die Energieabgabe (Pudel & Westenhöfer, 1998, 134 –
135). In der Diskussion über die Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung
von Adipositas ist es hierbei unabdingbar, sich zunächst mit der Entwicklung des
Ernährungsverhaltens auseinanderzusetzen.
3.1 Die Entwicklung des Ernährungsverhaltens
Nach biologischem Verständnis ist dem Säugling die Fähigkeit zur Steuerung der
Nahrungsaufnahme bereits angeboren. Dabei wird die Nahrungsaufnahme durch die
Primärbedürfnisse Hunger, Durst und Sättigung reguliert. Diese biologische HungerSättigung-Regulation wird als Innensteuerung des Ernährungsverhaltens betrachtet
(Pudel& Westenhöfer, 1998, 38, 46).
Mit zunehmendem Alter wird das Ernährungsverhalten immer weniger von den
sogenannten „Innenreizen“ Hunger und Sättigung reguliert, sondern vielmehr von
Sekundärbedürfnissen gesteuert, die sich anhand von individuellen Lernprozessen
ausbilden (Ellrott, 2007, 169). Diese Lernprozesse sind maßgeblich von der Familie
und den kulturellen Bedingungen geprägt.
Die Entwicklung des Ernährungsverhaltens im Kindes- und Jugendalter ist in Abb. 5
dargestellt.
12
Abbildung 5: Entwicklung des Ernährungsverhaltens (Ellrott, 2007, 167)
Als „angeboren“ wird bspw. die Süß-Präferenz und Bitter-Aversion von Kleinkindern
betrachtet. Hierbei bevorzugen Kinder zunächst süße und salzige Lebensmittel und
vermeiden zumeist saure und bittere. Diese weltweiten Beobachtungen werden als
das Ergebnis eines jahrhundertelangen Evolutionsprozesses verstanden (Ellrott,
2007, 167).
Für Reeske und Spallek (2011) ist die Ausdifferenzierung des Ernährungsverhaltens
als eine Interaktion von genetischen und umweltbedingten Faktoren zu beschreiben,
die bereits in der pränatalen Phase beginnt. Hierbei beeinflusst die mütterliche
Ernährungskultur den Stoffwechsel des Kindes bereits intrauterin. Diese pränatale
Entwicklungsphase wird von den Autoren als besonders vulnerabel für die spätere
Gewichtsentwicklung betrachtet (Reeske & Spallek, 2011, 274).
Über die Nabelschnur und das Fruchtwasser nimmt das ungeborene Kind Nährstoffe
auf und lernt dabei unterschiedliche Geschmackseindrücke kennen. Es wird
angenommen, dass Kinder nach der Geburt die aus dem Mutterleib bekannten
Geschmacksrichtungen bevorzugen. Ein ebensolcher Einfluss wird dem Stillen
zugeschrieben. Auch hier verändert sich der Geschmack der Muttermilch je nach
13
Ernährungsweise
der
Mutter
und
beeinflusst
hiermit
die
späteren
Ernährungspräferenzen des Kindes (Ellrott, 2007, 167 – 168).
Nach
dem
Abstillen
kommt
es
zu
einer
weiteren
Ausdifferenzierung
der
Nahrungsaufnahme und der Ausbildung sogenannter „Sekundärbedürfnisse“, die im
Gegensatz zur Hunger-Sättigung-Regulation nicht angeboren sind, sondern im Laufe
des Lebens erlernt werden und somit vor allem als das Ergebnis eines kulturellen und
familiären Lernprozesses zu betrachten sind (Pudel & Westenhöfer, 1998, 38). Diese
Erkenntnisse bekräftigen die Relevanz einer psychosozialen Betrachtung des
Ernährungsverhaltens und der Adipositas.
Die
weitere
Ausdifferenzierung
des
kindlichen
Ernährungsverhaltens
wird
entscheidend durch die familiären Ernährungsgewohnheiten geprägt. Dabei bildet
sich das Ernährungsverhalten des Kindes vor allem durch das Beobachten und
Imitieren des familiären Ernährungsverhaltens heraus. Die Familie vermittelt hierbei,
welche Lebensmittel und Gerichte gegessen werden, welche Vorlieben und
Abneigungen gegenüber Nahrungsmitteln bestehen, ob es regelmäßige, gemeinsame
Mahlzeiten gibt und in welcher Atmosphäre gegessen wird. Hierbei gestaltet sich das
familiäre Ernährungsverhalten maßgeblich in Interaktion mit gesellschaftlichen und
kulturellen Bedingungen und Normen (Petermann & Häring, 2003, 264).
„Diese quasi vererbten Vorlieben werden ab der Geburt durch einen
jahrelangen soziokulturellen Lernprozess überformt.“ (Ellrott, 2007,
167)
Die Abbildung von Ellrott zeigt darüber hinaus, das die Entwicklung des
Ernährungsverhaltens über
die gesamte
Kindheit und Jugend hinweg von
Lernprozessen begleitet wird, die von der Erziehung geprägt sind (Ellrott, 2007, 167).
Zusammenfassend kann das Ernährungsverhalten als ein „Paradebeispiel“ für eine
biopsychosoziale Interaktion beschrieben werden (Wirth, 2015, 362). Hierbei sind
körperliche und seelische Erfahrungen eng miteinander verknüpft und stehen
14
zeitgleich
in
Wechselwirkung
mit
kulturellen
und
gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen.
Die Familie nimmt in der Entwicklung des Ernährungsverhaltens die zentrale Rolle
ein. Dabei ist vor allem deren vielfältige Wirkungsweise bedeutsam, da sie auf
biologischer, soziokultureller und psychosozialer Ebene das Ernährungsverhalten
prägt und daher in Bezug auf die Adipositasgenese auf allen Ebenen diskutiert
werden muss.
Zugleich
unterstreicht
diese
Betrachtung,
dass
jegliche
Ausprägung
des
Ernährungsverhaltens auf diese Grundlage zurückzuführen ist. Dieser Aspekt wird in
Kapitel 4 in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Behandlungsansätzen
von Adipositas und Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung
erneut aufgegriffen und diskutiert.
3.2 Der multifaktorielle Entstehungsprozess der Adipositas
Betrachtet man die Entstehung der Adipositas, die auf eine positive Energiebilanz
zurückgeführt wird, so ist nicht abschließend geklärt, welche Faktoren diese in
welchem Maße beeinflussen und welche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen
Komponenten bestehen (Pudel & Westenhöfer, 1998, 134 –135).
Grundsätzlich ist die Entstehung der Adipositas multifaktoriell zu betrachten. Hilde
Bruch, die über vierzig Jahre als Psychiaterin auf dem Gebiet der Essstörungen
geforscht hat, konstatiert, dass die „Symptomkomplexe“ der Adipositas
„...weder rein physiochemisch noch physiologisch, noch allein auf
psychologische
oder
gesellschaftliche
Faktoren
zurückzuführen
[sind]; sie entwickeln sich vielmehr als Ausdruck von Störungen im
Zusammenspiel all dieser verschiedenen Kräfte.“ (Bruch, 1991, 16)
15
Nach Bruch ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sich Adipositas
anhand einer Vielzahl von Komponenten entwickelt und diese nicht als einheitlicher
Zustand, sondern
vielmehr in
ihrer
individuellen
Entwicklungsgeschichte
zu
betrachten ist (Bruch, 1991, 16).
Einen Einblick in die Komplexität und das Zusammenspiel von Einflussfaktoren auf
die Entstehung und Manifestation von Adipositas gibt das Poster von Schneider et al.
(2009), das in Abb. 6 dargestellt ist.
Abbildung 6: Ätiologie der Adipositas nach Schneider et al. (Schneider et al.,
2009)
Das Schaubild von Schneider verdeutlicht hierbei nicht nur die Vielzahl von Einfluss
nehmenden Faktoren, sondern ebenso die Verwobenheit der einzelnen Faktoren
untereinander.
16
In der Abbildung von Schneider et al. wird der Einfluss der Familie auf den Lebensstil
sowie auf psychische Faktoren dargestellt. Weiterhin werden die Wechselwirkungen
zwischen der Familie und dem sozioökonomischen Status deutlich. Auf diese Aspekte
des familiären Einflusses wird in Kapitel 5 ausführlich eingegangen.
Im Folgenden wird zunächst die Bedeutung biologischer, soziokultureller und
psychischer Faktoren als Ursache für Adipositas betrachtet.
3.2.1 Biologische Faktoren
Aus biologischer Sicht wird der Einfluss der Familie vorwiegend durch die Weitergabe
von Genen erklärt. Aus naturwissenschaftlicher Sicht wird angenommen, dass das
Körpergewicht zu 50 – 80%
biologisch „vererbt“ wird und damit auf genetische
Ursachen zurückzuführen ist.
Hintergrund dieser Annahme sind bspw. Untersuchungen an Zwillingen (SØrensen et
al., 1992) die adoptiert und getrennt voneinander aufgewachsen sind. Hierbei zeigte
sich, dass der BMI der Kinder mit dem ihrer leiblichen Eltern deutlich korrelierte,
während sich dieser Zusammenhang mit dem BMI der Adoptiveltern nicht bestätigte
(Frieling, Hinney & Bleich, 2015, 390). Aus diesen Ergebnissen wurde die biologische
Erblichkeit hergeleitet. Dabei beziehen diese Schätzungen sowohl direkte als auch
indirekte genetische Faktoren ein. Hierbei ist bspw. der übermäßige Hunger des
Säuglings als direkter und die Reaktion der Mutter, bspw. das häufige Stillen, als
indirekter Faktor zu bewerten (Blüher et al., 2013, 49).
Trotz dieser großen Erblichkeitsschätzungen kann bis heute nur ein kleiner Anteil der
Adipositas von etwa 5% durch molekulargenetische Befunde gesichert werden
(Frieling, Hinney & Bleich, 2015, 392).
Dabei scheint die monogene Form der Adipositas, welche auf die Mutation einzelner
Gene (hauptsächlich im Leptin-Melancortin-Stoffwechsel) zurückzuführen ist, eine
17
seltene Ausnahme darzustellen. Ein größerer Anteil lässt sich durch die polygene
Adipositas erklären, bei der grundsätzlich mehrere Gene einen jeweils kleinen Beitrag
in der Entstehung von Adipositas leisten und die außerdem in Wechselwirkung
miteinander und der Umwelt stehen. In Hinblick auf die geringe Anzahl gesicherter
Befunde wird gegenwärtig von einer „fehlenden oder versteckten Erblichkeit“
gesprochen. Demzufolge wäre der biologische Einfluss der Familie als gering
einzuschätzen. Große Erwartungen liegen hingegen auf neuen Technologien, die in
Zukunft eine vollständige und kostengünstige Analyse des gesamten Genoms
ermöglichen und hiermit möglicherweise weitere Mutationen identifizieren, die für die
Gewichtsregulation relevant sind (Frieling, Hinney & Bleich, 2015, 391 -393).
3.2.2 Kulturelle und sozioökonomische Faktoren
Der Einfluss sozioökonomischer Ursachen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung
von Adipositas gilt als vielfach belegt (Kurth & Rosario, 2007, 738). Hierbei nimmt die
Familie vorwiegend die Rolle der primären Sozialisationsinstanz ein und steht für die
Vermittlung von kulturellen, gesellschaftlichen und familiären Werten. Dabei ist die
Funktion
und
Wirkungsweise
der
Familie
stets
in
Abhängigkeit
von
den
sozioökonomischen Gegebenheiten der umgebenden Kultur und Gesellschaft sowie
den sozioökonomischen Faktoren der Familie selbst zu betrachten (Rattay, 2012, 2).
Grundlegend wird eine hohe Adipositasprävalenz mit dem Lebensstil der modernen
Industriegesellschaft assoziiert. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass der
sozioökonomische
Entwicklungsstand
eines
Landes
Einfluss
auf
die
Adipositasprävalenz nimmt. Während Adipositas bspw. in armen Regionen mit einem
hohen
sozialen
Status
assoziiert
ist,
zeigt
sich
in
den
wohlhabenderen
Industriestaaten ein inverses Verhältnis, so dass das Adipositasrisiko in diesen
Ländern vorwiegend mit einem niedrigen sozioökonomischen Status verbunden ist
(Zwick, 2011, 73).
18
Insbesondere mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft sind eine
Vielzahl von Änderungen in den Lebensgewohnheiten und –umständen verbunden,
die den gesamten Lebensstil beeinflussen und sich langfristig auf das Körpergewicht
auswirken (Wirth, 2013b, 38). So herrscht in den modernen Industriestaaten ein
ständiges Überangebot von Nahrung, das außerdem immer mehr davon geprägt ist,
schnell verfügbar und oftmals hochkalorisch zu sein. Für die Beschaffung der
Nahrung muss zeitgleich kaum noch körperliche Aktivität aufgewendet werden.
Zeitgleich werden auch soziale Kontakte und Wege der Informationsbeschaffung
zunehmend
durch
Medien
ermöglicht,
was
zusätzlich
zu
einer
geringeren
körperlichen Aktivität führt (Munsch & Hibert, 2015, 15 – 16). Unter dieser Annahme
lassen sich die hohen Adipositasprävalenzzahlen in modernen Industrieländern und
die vergleichsweise niedrigen Prävalenzzahlen in tendenziell sozioökonomisch
schwach entwickelten Ländern erklären.
Für Zwick sind die Ursachen der Adipositas aus dieser Perspektive „sozialer Natur“.
„Adipositas ist in den hoch industrialisierten Überflussgesellschaften
ein normal erwartbares Phänomen, das weitgehend aus den
veränderten Lebensbedingungen resultiert.“ (Zwick, 2011, 76 – 77)
Zugleich weist Zwick daraufhin, dass gesellschaftliche Veränderungen dabei immer in
Wechselwirkung mit individuellen Lernprozessen stehen (Zwick, 2011, 77).
So ist die Verbreitung von Adipositas ebenso im Kontext ihrer kulturellen und
gesellschaftlichen Bewertung zu betrachten. Während im letzten Jahrhundert in
Deutschland „Wohlbeleibtheit“ mit „Wohlsituiertheit“ assoziiert und dementsprechend
positiv konnotiert war, hat sich diese Sichtweise auf Adipositas in den letzten
Jahrzehnten komplett verändert (Wirth, 2013b, 38). Es ist in der modernen
ökonomisch saturierten Gesellschaft vielmehr als Aufgabe zu betrachten, dem
Überfluss zu trotzen und trotz des ständigen Überangebots an Nahrung dem hiesigen
Schlankheitsideal zu entsprechen (Zwick, 2011, 73). So hat sich eine negative soziale
19
Bewertung der Adipositas in Deutschland in den letzten 40 Jahren zunehmend
verbreitet. Die körperliche Erscheinung der Adipositas, die nicht den hiesigen Werten
und Schönheitsidealen entspricht, geht vielfach mit Diskriminierung einher, die
wiederum der Entwicklung von Adipositas förderlich ist (Warschburger, 2015, 396).
In diesem Zusammenhang sei bereits darauf hingewiesen, dass die soziokulturellen
Rahmenbedingungen zwar ein Risiko für die Entstehung von Adipositas darstellen.
Dennoch kann Adipositas nicht als automatische Folge äußerer Faktoren erwartet
werden. So zeigt sich, dass eine gesunde Entwicklung weitaus mehr von Anzahl und
der Qualität von persönlichen, familiären und sozialen Schutzfaktoren und weniger
von Risikofaktoren bestimmt wird (Hantel-Quitmann, 1997, 14) Auf die besondere
Bedeutung dieser Schutzfaktoren in Bezug auf Adipositas wird im Kapitel 5
weiterführend eingegangen.
Studien aus Deutschland weisen grundlegend auf einen deutlichen Zusammenhang
des individuellen sozioökonomischen Status und der Prävalenz von Adipositas hin.
Ergebnisse der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS 1), in der
der sozioökonomische Status anhand
Einkommens
zusammengefasst
und
des Bildungs- und Berufsstatus und
definiert
wurde,
zeigen,
dass
des
die
Adipositasprävalenz bei Frauen und Männern aller Altersgruppen bei einem niedrigen
sozialen Status am häufigsten vorzufinden ist. Ausnahme bildet die Altersgruppe der
46- bis 64- jährigen Männer, hier ist die Adipositasprävalenz bei mittlerem sozialen
Status am ausgeprägtesten (Mensink et al., 2013, 792).
Einen Einblick in die Einflussgröße einzelner Faktoren, die mit dem sozialen Status
assoziiert sind, liefert die Nationale Verzehrs-Studie II von 2008. Darin wurde der
Zusammenhang von Adipositas und den Aspekten Schulbildung, Familienstand und
Pro-Kopf-Netto-Einkommen differenziert untersucht.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Schulbildung einen enormen Einfluss auf die
Adipositasprävalenz aufweist. Im Vergleich zu der Gruppe mit (Fach-) Hochschulreife,
20
verdoppelt (Männer) bzw. verdreifacht (Frauen) sich die Adipositasprävalenz, wenn
der höchste Schulabschluss der Haupt- bzw. Volksschulabschluss ist (Max-RubnerInstitut, 2008, 89). Dieser Zusammenhang ist in Abb. 7 dargestellt.
40%
30%
Hauptschule
20%
Realschule
10%
(Fach-)Hochschulreife
0%
Männer
Frauen
Abbildung 7: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit von der Schulbildung
(eigene Darstellung nach: Max-Rubner-Institut, 2008, 89)
Ein fast ebenso starker Zusammenhang lässt sich in Relation zum Familienstand
ableiten. Demnach sind 13,2% der Männer und 12% der Frauen von Adipositas
betroffen, wenn diese ledig sind. Diese Prävalenzzahlen verdoppeln sich nahezu in
der Gruppe der verheirateten sowie geschiedenen Männer und Frauen. Am stärksten
ausgeprägt ist die Adipositasprävalenz bei verwitweten Männern (27,7%) und Frauen
(33,4%). Diese Zahlen sind altersbereinigt, d.h. die unterschiedliche Altersstruktur in
dem jeweiligen Familienstand wurde berücksichtigt (Max-Rubner-Institut, 2008, 91).
Die Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Familienstand ist in Abb. 8 dargestellt.
40%
30%
verheiratet
20%
ledig
geschieden
10%
verwitwet
0%
Männer
Frauen
Abbildung 8: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Familienstand
(eigene Darstellung nach: Max-Rubner-Institut, 2008, 91).
21
Deutlich weniger ausgeprägt sind nach der Nationalen Verzehrs-Studie die
Unterschiede
der
Adipositasprävalenz
nach
dem
Pro-Kopf-Netto-Einkommen.
Grundsätzlich bestätigt sich die Tendenz, dass die Adipositasprävalenz mit
steigendem Einkommen abnimmt. Eine Ausnahme bildet die Gruppe der Männer, die
pro Kopf unter 500 € Einkommen zur Verfügung haben. Diese sind seltener von
Adipositas betroffen, als Männer mit einem Einkommen zwischen 500 € und 1500 €
pro Kopf. Bei den Frauen ist hingegen eine kontinuierliche Abnahme der
Adipositasprävalenz bei steigendem Pro-Kopf-Netto-Einkommen zu beobachten.
Einzig in der höchsten Einkommensklasse von über 2000 € pro Kopf nimmt die
Adipositasprävalenz im Vergleich zur Einkommensklasse 1500 € bis 2000 € leicht zu
(Max-Rubner-Institut, 2008, 89 - 90). Die Ergebnisse sind in Abb. 9 veranschaulicht.
30%
25%
≤ 500 €
20%
> 500 - 1000 €
15%
> 1000 - 1500 €
10%
> 1500 - 2000 €
5%
> 2000 €
0%
Männer
Frauen
Abbildung 9: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Pro-Kopf-NettoEinkommen (eigene Darstellung nach: Max-Rubner-Institut, 2008, 90).
Die Ergebnisse der Nationalen Verzehrs-Studie weisen darauf hin, dass das finanzielle
Einkommen zwar ein entscheidender Faktor für die Adipositasgenese ist, noch
entscheidender scheint jedoch zu sein, auf welche Bildungsressourcen in den
Familien zurückgegriffen werden kann und wie sich die familiären Verhältnisse
gestalten.
Inwiefern
sich
der
soziale
Status
der
Familie
auf
die
Entstehung
und
Aufrechterhaltung der Adipositas im Kindes- und Jugendalter auswirkt, zeigen
darüber hinaus die Auswertungen des Robert Koch-Instituts (RKI), die in Abb. 10
dargestellt sind.
22
Abbildung
10:
Adipositasprävalenz
bei
Kindern
und
Jugendlichen
in
Abhängigkeit vom sozialen Status der Familie (RKI & BZgA, 2008, 43)
Insgesamt steigt die Prävalenz von Adipositas bei Mädchen und Jungen aller
Altersgruppen von 3 bis 17 Jahren an, je niedriger der soziale Status ihrer Familie
ist. Bei Mädchen sind die Unterschiede der Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom
sozialen
Status
der
Familie
am
deutlichsten
ausgeprägt.
Hier
liegt
die
Adipositasprävalenz bei niedrigem sozialen Status bis zu fünfmal höher als bei
Familien mit hohem sozialen Status (RKI & BZgA, 2008, 43).
Diese Daten betonen, dass der sozioökonomische Status der Familie einen
entscheidenden Einfluss auf die Adipositasprävalenz der Kinder und Jugendlichen
nimmt. Auf welche Weise der sozioökonomische Status der Familie zu der
Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas beiträgt, wird unter 5.3
ausführlicher beleuchtet.
3.2.3 Psychische Ursachen
In Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren, die für die Entstehung von
Adipositas eine Rolle spielen, werden seelische
Probleme bis hin zu psychischen
Störungen seit Jahren als Ursache für Adipositas untersucht und kontrovers
diskutiert.
23
Studien weisen bspw. daraufhin, dass psychische Störungen bei Adipösen häufiger
vorliegen als bei normalgewichtigen Personen. Insbesondere sind Adipöse demnach
häufiger als Normalgewichtige von Depressionen, Angststörungen und körperlichen
Beschwerden betroffen, die nicht auf organische Ursachen zurückzuführen sind
(Herpertz, 2013, 94 – 95).
In der Frage danach, ob psychische Probleme die Ursache oder die Folge von
Adipositas sind, lassen prospektive Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen
darauf schließen, dass bspw. Depressionen vielmehr als Ursache der Adipositas zu
bewerten sind als umgekehrt. Demnach stellt eine Depression im Kindes- und
Jugendalter ein Risikofaktor für die Entstehung von Adipositas im Erwachsenenalter
dar (Hasler et al., 2005, zitiert nach Herpertz, 2013). Die Ergebnisse einer Studie von
Luppino et al. (2010, zitiert nach Herpertz, 2013) weisen hingegen auf eine bipolare
Wirkungsweise hin. Demnach haben Adipöse ein 55% höheres Risiko, an
Depressionen zu erkranken. Ebenso haben Depressive ein um 58% höheres Risiko,
an Adipositas zu erkranken (Herpertz, 2013, 90 – 95).
Abgesehen von psychischen Störungen steht das psychische Befinden insgesamt eng
mit dem Ernährungsverhalten in Verbindung und kann hier sowohl hyperkalorisches
als auch hypokalorisches Essverhalten hervorrufen. In der deutschen Sprache
werden zahlreiche Redewendungen verwendet, die
darauf verweisen, dass das
Ernährungsverhalten nicht nur der Sättigung des Hungers dient, sondern darüber
hinaus weitere Funktionen erfüllt („ein Problem schlägt einem auf den Magen“, „man
frisst den Kummer in sich hinein…“) (Herpertz, 2013, 90).
Bereits die unter 3.1 dargestellte Betrachtung des Ernährungsverhaltens verweist
darauf, dass Essen, neben der physiologischen Versorgung des Körpers mit
Nährstoffen, eine ebenso bedeutende psychosoziale Funktion erfüllt.
Hierbei wird bei Adipösen
angenommen, dass negative Gefühlszustände zu einer
vermehrten Nahrungsaufnahme führen. Demnach dient das Essen den Adipösen als
24
Spannungsabfuhr und als „temporärer Aufschub disphorischer Gefühle“. In diesem
Sinne ist die Nahrungszufuhr als eine Strategie der Affektregulation zu bewerten, die
langfristig zu Adipositas führt (Herpertz, 2013, 90).
Es wird hierbei angenommen, dass akute intensive Emotionen oder Impulse die
selbstregulativen Prozesse der Adipösen in
Bezug auf die Nahrungsaufnahme
behindern. Untersuchungen weisen darauf hin, dass Adipöse im Vergleich zu
Normalgewichtigen häufiger inadäquate Strategien im Umgang mit ihren Emotionen
aufweisen, in dem Emotionen unterdrückt werden oder nicht erkannt und benannt
werden können. Hinzu kommt, dass ein „Überessen“ vermehrt mit einer erhöhten
nahrungsmittelbezogenen Belohnungssensivität einhergeht, so dass der Anreiz der
Nahrungsaufnahme zusätzlich erhöht ist (Munsch & Hilbert, 2015, 19 – 20).
Dieser zentrale Aspekt der Emotionsregulation in Bezug auf die Entstehung von
Adipositas wird ausführlich in Kapitel 6 besprochen.
Zusammenfassend kann in Bezug auf die Ursachenbeschreibung gesagt werden, dass
weder die Wirkungsweise der einzelnen Ebenen noch deren Zusammenspiel
abschließend geklärt ist. Aus medizinischer Sicht liegen nach wie vor große
Erwartungen
in
der
Erkennung
verschiedener
Gene,
die
in
gegenseitiger
Wechselwirkung für die Entstehung von Adipositas verantwortlich sein könnten.
Bisher kann Adipositas nur zu einem geringen Teil durch genetische Befunde erklärt
werden.
Hingegen steht Adipositas in einem klaren Zusammenhang zu dem modernen
Lebensstil westlicher Industriestaaten, der durch eine ständige Verfügbarkeit von
Nahrung und die fehlende Notwendigkeit körperlicher Bewegung gekennzeichnet ist.
Ein derartiger Lebensstil kann als „Grundlage“ einer positiven Energiebilanz
betrachtet werden.
25
Inwiefern diese äußeren Rahmenbedingungen zu Adipositas führen, ist wiederum
von individuellen psychischen und sozioökonomischen Faktoren abhängig. Insgesamt
führen diese Rahmenbedingungen vor allem dann zu Adipositas, wenn individuell auf
eingeschränkte Ressourcen zurückgegriffen werden kann. Neben einem niedrigen
finanziellen Einkommen wirkt sich vor allem ein geringes Bildungsniveau positiv auf
die Adipositasprävalenz aus.
Nicht zuletzt hat die psychische Gesundheit einen erheblichen Einfluss auf das
Ernährungsverhalten. So ist Adipositas mit verschiedenen psychischen Erkrankungen
assoziiert, wobei auch hier nicht abschließend geklärt ist, inwiefern sich Adipositas als
Folge oder als Ursache psychischer Erkrankungen darstellt. Grundsätzlich steht
Adipositas mit einem Ernährungsverhalten in Verbindung, dass der Regulation von
Emotionen dient.
So unterstreicht die Darlegung der diskutierten Ursachen den multifaktoriellen
Entstehungsprozess der Adipositas. Die Familie ist in diesem Prozess vor allem
deshalb so bedeutsam, weil sie alle genannten Ebenen maßgeblich beeinflusst.
In der vorliegenden Arbeit wird das Augenmerk vorwiegend auf die psychologischen
Zusammenhänge der Adipositas gelegt und hier insbesondere die Rolle der Familie
auf dieser Ebene betrachtet. Die besondere Bedeutung der Familie in Hinblick die
Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas wird in Kapitel 5 und 6 ausführlich
besprochen.
26
4 Aktuelle Empfehlungen zur Adipositasbehandlung
Im Folgenden werden die aktuellen Behandlungsansätze der Adipositas dargestellt
und insbesondere dahingehend überprüft, inwiefern psychologische Aspekte, die mit
Adipositas in Verbindung stehen, berücksichtigt werden und in welcher Form die
Familie in die Behandlungsansätze einbezogen wird.
4.1 Behandlungsempfehlungen der Adipositas
Nach den interdisziplinären Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Adipositas
sollte
eine
Gewichtsreduktionsmaßnahme
aus
den
Modulen
Ernährungs-,
Bewegungs- und Verhaltenstherapie bestehen. In Hinblick auf die Ernährung heißt es
in den Leitlinien:
„Zur Gewichtsreduktion sollen dem Patienten Ernährungsformen
empfohlen werden, die über einen ausreichenden Zeitraum zu einem
Energiedefizit führen und keine Gesundheitsschäden hervorrufen.“ (DAG
et al., 2014, 45).
Hierbei wird im Zuge der Ernährungsumstellung ein tägliches Energiedefizit von 500
kcal angestrebt, dass vor allem mittels einer Einschränkung des Fett- und
Kohlenhydratverzehrs empfohlen wird. Hierdurch
ist eine durchschnittliche
Gewichtsreduktion von 0,5 kg pro Woche zu erwarten (DAG et al., 2014 ,45 - 47).
Weiterhin sollen adipöse Menschen grundlegend ermutigt werden, sich mehr
körperlich zu bewegen. Für eine effektive Gewichtsreduktion wird ein moderates
Ausdauertraining von mehr als 150 Minuten in der Woche empfohlen. Studien
konnten belegen, dass hierbei der Energieverbrauch um 1200 – 1800 kcal pro Woche
erhöht werden konnte und so zu einer Gewichtsreduktion von ca. 3% führte (DAG et
al., 2014, 50 – 52).
27
In den Leitlinien wird außerdem darauf hingewiesen, dass verhaltenstherapeutische
Elemente insbesondere in Kombination mit Ernährungs- und Bewegungstherapie
einen positiven Einfluss auf die Gewichtsentwicklung nehmen. Hierbei dienen die
verhaltenstherapeutischen
Elemente
vor
allem
der
Unterstützung
der
Lebensstilintervention – der Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens.
Eine Übersicht der verhaltenstherapeutischen Elemente ist in Abb. 11 dargestellt.
Hierbei wird empfohlen, einzelne Elemente individuell und kontextabhängig
anzuwenden (DAG et al., 2014, 53 – 55).
a)
 Selbstbeobachtung von Verhalten und Fortschritt (Körpergewicht, Essmenge,
Bewegung)
 Einübung eines flexibel kontrollierten Ess- und Bewegungsverhaltens (im Gegensatz
zur rigiden Verhaltenskontrolle)
 Stimuluskontrolle
 Verstärkerstrategien (z. B. Belohnung von Veränderungen)
 Rückfallprävention
 Zielvereinbarungen
 Strategien zum Umgang mit wieder ansteigendem Gewicht
b)
 Kognitive Umstrukturierung (Modifizierung des dysfunktionalen Gedankenmusters)
 Problemlösetraining/Konfliktlösetraining
 Soziales Kompetenztraining/Selbstbehauptungstraining
 Soziale Unterstützung
Abbildung
11:
Verhaltenstherapeutische
Elemente
in
der
Adipositasbehandlung (eigene Darstellung nach DAG et al., 2014, 55)
Während der Großteil der hier unter Punkt a) aufgezeigten Elemente vorwiegend
eine Änderung der Verhaltensebene unterstützen, setzen sich die unter Punkt b)
aufgeführten verhaltenstherapeutischen Elemente mit den psychosozialen Ursachen
der Adipositas auseinander.
28
Insgesamt konstatieren Munsch und Hilbert:
„Erstaunlicherweise wird bei der Behandlung der Adipositas bis heute der
kognitive Aspekt der KVT [Kognitiven Verhaltenstherapie] nur sehr selten
berücksichtigt.“ (Munsch und Hilbert, 2015, 36)
Es scheint, dass die psychologischen Ursachen der Adipositas in nur geringem
Maße in die Behandlung dieser Erkrankung einfließen. In folgendem Vergleich
der Adipositasbehandlung mit
Behandlungsansätzen von Essstörungen, wie
Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung (BES), wird die grundlegend
unterschiedliche Betrachtungsweise dieser Erkrankungen deutlich.
4.2 Behandlungsempfehlungen von Adipositas und
Essstörungen im Vergleich
Während Anorexie, Bulimie und die Binge-Eating-Störung (BES) nach dem
international anerkannten Diagnoseklassifikationssystem (ICD-10) als Essstörungen
und damit als psychische Verhaltensstörungen klassifiziert sind, gilt Adipositas als
eine endokrine Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit (ICD-10-Homepage, 2015).
Aus dieser nahezu gegensätzlichen Klassifizierung leiten sich ebenso unterschiedliche
Behandlungsansätze ab. Während psychologische Ursachen im Zentrum der
Behandlung von Essstörungen stehen, wird Adipositas weitestgehend mit der
vermehrten Zufuhr energiereicher Nahrung und zeitgleich abnehmender körperlicher
Aktivität begründet (WHO, 2007, 14). Dementsprechend setzen Maßnahmen zur
Behandlung von Adipositas, wie unter 4.1 bereits dargestellt, vorwiegend bei einer
Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens an (DAG et al., 2014).
Ersichtlich und verstärkt wird dies u.a. in dem Vergleich zwischen den Leitlinien zur
Prävention und Behandlung von Adipositas der Deutschen Adipositas Gesellschaft et
al. (DAG) und den entsprechenden Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von
29
Essstörungen der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Medizin und
Psychotherapie et al. (DGPM).
Während in den Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Adipositas
grundlegend ein „Basisprogramm“ bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs- und
Verhaltenstherapie empfohlen wird, das eine Veränderung des „ungesunden
Lebensstils“ zum Ziel hat (DAG et al., 2014, 42), ist die Psychotherapie die erste
Wahl in der Behandlung der Essstörungen Anorexie, Bulimie und BES (DGPM et al.,
2011, 12 – 27).
Diese unterschiedliche Klassifikation und Behandlungsweise mag umso mehr
verwundern, als dass jegliche Erscheinungsform des Ernährungsverhaltens als ein
komplexes Zusammenspiel zu betrachten ist, das, wie in Kapitel 3 dargestellt, von
einer Vielzahl von biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Faktoren
beeinflusst wird und daher multifaktoriell geprägt ist (Herpertz, 2013, 90).
In Bezug auf Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung werden hierbei ebenso
wie bei der Adipositas biologische Ursachen wie bspw. Störungen im Leptinhaushalt,
soziokulturelle Ursachen wie der Lebensstil und das Wertesystem der modernen
Industriegesellschaft und psychosoziale Ursachen wie intra- und interpersonelle
Konflikte diskutiert. Ebenfalls wird auch hier die multifaktorielle Entstehung der
jeweiligen Essstörung betont (Pudel & Westenhöfer, 1998, 217 ff.).
In den Leitlinien für adipöse Erwachsene wird als psychosoziale Ursache zwar
aufgeführt, dass die Nahrungsaufnahme vielfach die Funktion erfüllt, dysphorische
Gefühle zu regulieren (DAG et al., 2014, 23), doch wird dieser Aspekt in den
Therapiezielen und -formen nicht weiter aufgegriffen. Vielmehr wird einleitend zur
Verhaltenstherapie darauf hingewiesen, dass hierbei die Methoden zum Einsatz
kommen, die systematisch das Verhalten ändern können (DAG et al., 2014, 54).
30
Für adipöse Kinder und Jugendliche werden die Behandlungsansätze nicht vollends
auf eine Veränderung des Lebensstils beschränkt. So wird in der „Leitlinie zur
Diagnostik, Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und
Jugendalter“ der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter
(AGA)
explizit
daraufhin
gewiesen,
dass
psychologische
Aspekte
der
Adipositasgenese in der Behandlung zu berücksichtigen sind:
„Die
Adipositasbehandlung
hat
psychologische
Aspekte
zu
berücksichtigen, die die Entstehung oder Aufrechterhaltung der
Adipositas maßgeblich beeinflussen. Ansonsten ist die Erreichung der
definierten Therapieziele auf medizinischer, psychosozialer und
verhaltensbezogener Ebene gefährdet.“ (AGA, 2014, 35)
Hierbei ist nach den Leitlinien auch die gesamte familiäre Situation miteinzubeziehen,
„da auffälliges Essen auch in Zusammenhang mit Eltern-Kind-Interaktionen auftreten
kann.“ (AGA, 2014, 37) Der Aspekt der Eltern-Kind-Interaktion nimmt in der
Auseinandersetzung mit dem familiären Einfluss auf Adipositas eine zentrale Stellung
ein und wird in Kapitel 5 und 6 näher betrachtet.
Besonders deutlich wird die unterschiedliche Einordung der Adipositas im Vergleich
zur
Binge-Eating-Störung,
die
mittlerweile
als
psychische
Verhaltensstörung
klassifiziert wurde. Die Binge-Eating-Störung, die durch das regelmäßige Auftreten
von Essanfällen gekennzeichnet ist, stellt eine Art „Grenzfall“ dar, da diese vielfach
mit Adipositas assoziiert ist. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 30% der
Adipösen an einer Binge-Eating-Störung leiden (DAG et al., 2014, 24). In den
Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen wird die Binge-Eating-Störung daher
folgendermaßen von Adipositas abgegrenzt:
31
„Menschen mit der Diagnose einer „Binge-Eating-Störung“ (…) leiden
unter regelmäßig auftretenden Essanfällen („Fressattacken“), bei
denen sie große Nahrungsmengen verzehren und das Gefühl haben,
die Kontrolle über ihr Essverhalten zu verlieren.“ (DGPM et al., 2011,
28)
Hingegen wird Adipositas folgendermaßen beschrieben:
„Adipositas ist ein Zustand, der durch eine übermäßige Ansammlung
von Fettgewebe im Körper gekennzeichnet ist; er sagt nichts über
die Ätiologie, etwa im Sinne einer Essstörung, aus.“ (DGPM et al.,
2011, 29)
Diese Zitate verdeutlichen einprägsam die unterschiedliche Klassifizierung und
Bewertung von Adipositas im Vergleich zu Essstörungen.
Es scheint kaum nachvollziehbar, dass einerseits „regelmäßig auftretende Essanfälle“,
die zu Adipositas führen, nahezu ausschließlich auf psychologische Ursachen
zurückgeführt und dementsprechend behandelt werden, während andererseits
Adipositas, die nicht mit Bulimie oder der Binge-Eating-Störung assoziiert ist,
biologisch erklärt wird und dementsprechend psychologische Aspekte in der
Behandlung weitestgehend außer Acht gelassen werden.
Diese klare Trennung der Betrachtung von der Binge-Eating-Störung und Adipositas
wird in den Leitlinien für Adipositas im Kindes- und Jugendalter unterminiert, da hier
der Begriff des Binge-Eatings neu definiert wird. Hierbei geht es in Bezug auf Kinder
und Jugendliche bei dem Essanfall nicht primär um die tatsächlich gegessene
Nahrungsmenge, sondern vielmehr um das subjektive Gefühl des Kontrollverlustes
bei dem Essen (LOC: loss of control eating) (AGA, 2014, 35 – 36). Hierbei ist LOC
wie folgt definiert:
32
„Essen
in
Verbindung
mit
einem
subjektiven
Gefühl
des
Kontrollverlustes unabhängig von der gegessenen Menge“ (AGA,
2014, 36).
Diese Perspektive entkräftet die klare Abgrenzung von Adipositas und der BingeEating-Störung in den Leitlinien für Diagnostik und Therapie der Essstörungen und
verdeutlicht die Willkür einer solchen Abgrenzung.
Nach Hilde Bruch werden Menschen grundsätzlich dann als essgestört beschrieben,
wenn das Essen für sie eine „missbräuchliche“ Funktion hat. Eine „missbräuchliche
Funktion“ hat das Essen nach Bruch dann, wenn es den Betroffenen nicht primär der
Hunger-Sättigungs-Regulation, sondern vielmehr der Bewältigung von Problemen
dient (Bruch, 1991, 13).
4.3 Psychologische Elemente in der Adipositasbehandlung
Laut den Richtlinien für Psychotherapie sind in Bezug auf Essstörungen in
Deutschland grundsätzlich die kognitive Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologische
Psychotherapie sowie familientherapeutische Interventionen zu empfehlen, wenn sie
spezifisch auf die jeweilige Essstörung ausgerichtet sind. Auch wenn die Datenlage
sich insgesamt als unbefriedigend darstellt, gibt es Studien, die den Vergleich der
einzelnen Therapieformen zulassen. Den Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen
zufolge ist die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie am besten belegt und
wird daher für die Behandlung von Bulimie und der Binge-Eating-Störung als
Therapieform der ersten Wahl empfohlen (DGPM et al., 2011, 12 – 27).
In einem Review von Hay über angewandte psychologische Behandlungsformen bei
Essstörungen bestätigt sich, dass bei der Behandlung von Bulimie die kognitive
Verhaltenstherapie die am meisten verwendete und wissenschaftlich untersuchte
Therapieform ist. Hingegen zeichnet sich in zwei Follow-Up-Studien ab, dass die
33
interpersonale Psychotherapie bei der Behandlung von Anorexie und der BingeEating-Störung größere Erfolge aufweist als die kognitive Verhaltenstherapie.
Insgesamt weist auch Hay auf den großen Forschungsbedarf bezüglich geeigneter
Therapieformen von Essstörungen hin, insbesondere in Bezug auf die Binge-EatingStörung und nicht genauer definierten Essstörungen (Hay, 2013, 463 – 467). Zu den
nicht genauer definierte Essstörungen zählt auch der unter 4.2 beschriebene LOC –
bei dem ein subjektives Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen im Vordergrund
steht, unabhängig von der objektiv gegessenen Nahrungsmenge.
Während in Bezug auf Essstörungen erste Vergleiche zwischen den einzelnen
Therapieformen gezogen werden können, liegen entsprechende Daten in Bezug auf
die psychologische Behandlung von Adipositas nicht vor.
Wie bereits unter 4.1. und 4.2 gezeigt werden konnte, wird den psychologischen
Ursachen der Adipositas und dem Einfluss der Familie auf die psychologische Ebene
in der Prävention und Behandlung von Adipositas bis heute verhältnismäßig wenig
Aufmerksamkeit entgegengebracht - insbesondere im Vergleich zu den „anerkannten
Essstörungen“ Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung. Bspw. bleibt die
wissenschaftliche
Auseinandersetzung
mit
den
familiensystemischen
Zusammenhängen der Adipositas bis heute weit hinter der familientherapeutischen
Forschung in Bezug auf Anorexie und Bulimie zurück (Schweitzer, J. & von Schlippe,
A., 2009, 168).
4.4 Aktueller Forschungsstand
Evaluationen,
die
einen
Evidenz-Vergleich
zwischen
unterschiedlichen
psychologischen Ansätzen in der Behandlung von Adipositas zulassen, konnten im
Rahmen dieser Arbeit nicht gefunden werden. Eine Ausnahme bildet hier die Studie
von Lehrke und Laessle (2002). In ihrer Studie an 68 Kindern im Alter von 10 – 14
Jahren untersuchten Lehrke und Laessle, inwiefern ein familienorientiertes Training
im Vergleich zu einem herkömmlichen Gruppentraining stärkere Therapieeffekte in
34
Hinblick auf die BMI-Entwicklung und psychosoziale Kriterien erzielt. Hierbei
beinhalteten beide Gruppen die Vermittlung von Ernährungswissen, Steigerung der
soma-motorischen Aktivität, Steigerung von Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl,
Durchsetzungsvermögen, Steigerung von sozialen Fähigkeiten und Vermittlung eines
positiven Körpergefühls. In dem familienorientierten Training wurde außerdem die
familiäre Kommunikation und Interaktion einbezogen und bei Bedarf modifiziert.
Beide Formen der Interventionen führten zu einer signifikanten Verringerung des
BMIs und der Körperfettmasse und zu einer Verbesserung in Hinblick auf die
psychosozialen Kriterien. Es konnten jedoch keine unterschiedlichen Therapieeffekte
zwischen dem herkömmlichen Gruppenangebot und dem familienorientierten
Training nachgewiesen werden (Lehrke & Laessle, 2002, 256 – 262).
Lehrke und Laessle konstatieren, dass es an Studien fehlt, die die Einbeziehung der
Familie und deren Wirkungsweise auf den Verlauf der Adipositasbehandlung
detailliert und systematisch untersuchen. Hierbei betonen sie außerdem, dass der
Erfolg einer solchen Behandlung bisher vorwiegend anhand des BMIs, der
Körperzusammensetzung und zum Teil verschiedener Laborparameter bewertet wird.
Sie
plädieren
in
diesem
Zusammenhang
dafür,
auch
psychologische
und
psychosoziale Kriterien wie bspw. Selbstwertgefühl, Körperbild und Ängstlichkeit in
Hinblick auf die Wirksamkeit der Adipositasbehandlung zu berücksichtigen, da diese
zum Teil als ursächlich für die Adipositas betrachtet werden können und eine
Verbesserung dieser Kriterien mit einer Verbesserung des Wohlbefindens einhergeht
(Lehrke & Laessle, 2002, 260).
Mc Lean et al. (2003) hat in einem Review darüber hinaus die Wirkungsweise von
Familien in Bezug auf Gewichtsreduktion, Gewichtserhaltung und Gewichtskontrolle
untersucht. Hierbei wird die Gewichtsentwicklung von Kindern in verschiedenen
Studien besonders dann als erfolgreich beschrieben, wenn die Eltern an den
Maßnahmen zur Gewichtsreduktion teilnehmen. Diese positiven Effekte konnten in
einer 10-Jahres-Follow-Up-Studie signifikant belegt werden. Der gegenteilige Effekt
konnte hingegen in einer Studie mit Jugendlichen gezeigt
werden. Hier war die
35
Gewichtsreduktion
signifikant
weniger
erfolgreich,
wenn
die
Mütter
in
die
Intervention involviert waren. In Bezug auf die Gewichtsentwicklung ließen sich in
dieser Altersgruppe bessere Erfolge erzielen, wenn die Jugendlichen alleine an der
Maßnahme teilnahmen (Mc Lean et al., 2003, 992).
Mc Lean verweist in diesem Zusammenhang auf den enormen Forschungsbedarf in
Hinblick auf die Wirkungsweise von Familien in Bezug auf die Gewichtsentwicklung.
Ebenso betont Mc Lean, dass die Bewertung der Gewichtsentwicklung alleine nicht
ausreicht,
sondern
es
vielmehr
auch
um
das
Erlernen
von
speziellen
Verhaltensweisen geht, deren Veränderung in der Bewertung von Interventionen
berücksichtigt werden sollte (Mc Lean, et al., 2003, 1000 - 1001).
In welchem Maße psychosoziale Elemente in der Prävention von Übergewicht
eingesetzt werden und inwiefern Familien in die Programme einbezogen werden,
zeigt folgende Untersuchung.
In einem bundesweiten Modellvorhaben wurden über 700 Interventionen zur
Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen gefördert und untersucht.
Hierbei zeigte sich, dass eine Kombination aus verschiedenen Elementen (Ernährung,
Bewegung, Psychosoziales, weitere gesundheitsrelevante Bereiche) in nur 28% der
Maßnahmen umgesetzt wurde. Insgesamt bezogen etwa 15% der Maßnahmen
psychosoziale Elemente mit ein. Alleinig mit psychosozialen Themen beschäftigten
sich zudem
6% der Maßnahmen. Darüber hinaus richteten lediglich 3 % der
Angebote ihre Maßnahmen auf die Lebenswelt Familie aus (Max-Rubner-Institut,
2013, 34- 36). Die Ergebnisse unterstreichen, dass psychosoziale Elemente in der
Prävention von Übergewicht und insbesondere eine Ausrichtung auf die Familie in
Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht bei Kindern stark unterrepräsentiert
sind.
36
Abschließend kann zusammengefasst werden, dass es nicht das Ziel der Arbeit ist,
die Ursachen der Adipositas vornehmlich auf familiäre und psychologische Ursachen
zurückzuführen. Dennoch werden diese in der vorliegenden Arbeit besonders
herausgearbeitet, um darzustellen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit der Wirkungsweise der Familie (auf psychologischer Ebene) eindeutige Belege
liefern kann, die aber in der Praxis nicht (ausreichend) umgesetzt werden. Der
Vergleich zu den sogenannten anerkannten Essstörungen wird aus selbigen Gründen
herangezogen.
Die
differenzierte
Auseinandersetzung
mit
unterschiedlichen
Erscheinungsformen des Ernährungsverhaltens wird hierbei keineswegs in Frage
gestellt. Eine grundsätzlich unterschiedliche Kategorisierung in psychisch bzw.
endokrinologisch determiniert ist nach der hier vorliegenden Ausarbeitung jedoch
nicht haltbar. Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass auf dieser
Annahme basierende Behandlungsansätze der Adipositas zu kurz greifen, wesentliche
Faktoren außer Acht gelassen werden und nicht wesentlich zur Eindämmung der
Adipositasprävalenz führen.
37
5 Die Familie im Fokus der Adipositasgenese
Im Folgenden wird der Einfluss der Familie auf die Entstehung und Aufrechterhaltung
der Adipositas in den Mittelpunkt gestellt. Hierbei wird zunächst auf die Bedeutung
der Familie als Ressource für eine gesunde Entwicklung von Kindern eingegangen
und dargestellt, inwiefern adipöse Kinder auf familiäre Ressourcen zurückgreifen
können. Daran anknüpfend wird die Wirkungsweise der Familie in Wechselwirkung
mit dem sozialen Status betrachtet und abschließend die Bedeutung familiärer
Beziehungen auf die Adipositasgenese herausgestellt.
Die familiäre Prägung kann genetische und soziokulturelle Einflüsse sowie
Persönlichkeitsfaktoren und deren Ausprägungen abschwächen oder verstärken.
Demnach kommt der Familie auf verschiedenen Ebenen eine besondere Bedeutung
in der Adipositasentwicklung zu (Reich, 2003, 14 – 16).
Die Familie nimmt bei der Prävention, Entwicklung und Bewältigung von Krankheiten
eine zentrale Rolle ein. Abgesehen von biologischen Faktoren, die über die Eltern an
die Kinder weitergegeben werden, nimmt die Familie als Sozialisationsinstanz auch in
Bezug auf das Ernährungsverhalten eine vermittelnde Rolle von gesellschaftlichen
und kulturellen Normen ein. Hierbei spiegelt sich der direkte Einfluss der Familie auf
das Ernährungsverhalten auch in der Auswahl und Gestaltung der Mahlzeiten wieder.
Darüber
hinaus
werden
innerfamiliäre
Beziehungen
mit
der
Qualität
der
Ernährungserziehung zum Ausdruck gebracht und prägen die Entwicklung des
Ernährungsverhaltens (Cierpka & Reich, 1997, 127)
Grundlegend können Gesundheit und Krankheit als ein dynamischer Prozess
betrachtet werden. Aus systemischer Sicht ist Krankheit ein „Phänomen, das in
Beziehungen hergestellt wird“ (Hantel-Quitmann, 1997, 32). Hierbei geht die
Erforschung der Wirkungsweise von familiären Beziehungen in ihren Anfängen auf
Salvador Minuchin (1986) zurück. Minuchin erforschte gemeinsam mit Rosman und
Baker die Beziehungsmuster in den Familien bei Kindern mit Diabetes, Asthma und
38
bei anorektischen Mädchen. Hierbei traten vier Merkmale in unterschiedlicher
Ausprägung
wiederholt
in
den
familiären
Beziehungen
auf:
Verstrickung,
Überfürsorglichkeit, Rigidität und ein inadäquater Umgang mit Konflikten.
„ […] die Gesamtheit der transaktionalen Muster dieser Familien
schien uns charakteristisch für einen Familienprozeß, der die
Somatisierung zumindest fördert.“ (Minuchin, Rosman & Baker,
1986, 43)
Maßgeblich für eine psychosomatische Erkrankung des Kindes ist den Autoren
zufolge darüber hinaus, inwiefern das Kind in die elterlichen Konflikte einbezogen
wird. So verbündet sich bspw. ein Elternteil mit dem Kind
gegen den anderen
Elternteil oder partnerschaftliche Konflikte werden auf das Kind umgeleitet, so dass
Eltern in der Sorge um das Kind eigene Konflikte in den Hintergrund drängen
(Minuchin, Rosman & Baker, 19863, 46). So sieht Hantel-Quitmann kindliche
„Störungen“ als Anzeichen für erhebliche Beeinträchtigungen in der elterlichen
Paarbeziehung (Hantel-Quitmann, 2015, 48). Inwiefern diese Merkmale in familiären
Beziehungen bei adipösen Kindern und Jugendlichen beschrieben werden können,
wird im Folgenden und insbesondere unter Punkt 5.4 und im Kapitel 6 genauer
betrachtet.
5.1 Familie und Gesundheit
Die Familie hat als zentrale Sozialisationsinstanz einen wesentlichen Einfluss auf die
Gesundheit ihrer Mitglieder. Kinder erlernen insbesondere anhand der alltäglichen
familiären Interaktion grundlegende Einstellungen und Fähigkeiten auf körperlicher,
seelischer, sozialer und kognitiver Ebene, die
ihre gesundheitliche Entwicklung
maßgeblich beeinflussen. Dabei wird die gesundheitliche Entwicklung durch
alltägliche familiäre Praktiken wie bspw. die Regelung des Tagesablaufes, die
Gestaltung der Mahlzeiten
und das Bewegungs- und Freizeitverhalten geprägt
(Rattay et al., 2012, 2).
39
Hierbei hat die Ausgestaltung familiärer Beziehungen einen maßgeblichen Einfluss
auf die gesundheitliche Entwicklung. Familiäre gesundheitsfördernde Aspekte sind
vor allem ein Erziehungsstil, der auf die Selbstständigkeit des Kindes ausgerichtet ist
sowie ein positives Familienklima und eine enge Geschwisterbeziehung. Hinzu
kommen sozioökonomische Faktoren wie eine gute finanzielle Situation und ein
hoher Bildungsstand der Eltern (Rattay et al., 2012, 2).
Nach Egle ist für die Gesundheit von Kindern vor allem die Qualität der Beziehung zu
primären Bezugspersonen von entscheidender Bedeutung:
„Als wichtigste protektive Faktoren von Familie in Hinblick auf das
gesundheitliche Wohlergehen eines Kindes werden eine dauerhaft
gute Beziehung zu primären Bezugspersonen und ein sicheres
Bindungsverhalten eingestuft.“ (Egle et al. 2002, zitiert nach Rattay,
P. et al, 2012, 2).
Hingegen sind ungünstige materielle Bedingungen, niedrige Schulbildung, eine
emotional negative Eltern-Kind-Beziehung, chronische Disharmonie der Eltern und
autoritäres
elterliches
Verhalten
Risikofaktoren
für
eine
gesunde
kindliche
Entwicklung (Rattay, P. et al, 2012, 2).
Insgesamt finden sich nur wenige Studien über den Einfluss des Familienklimas auf
den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen. Eine Befragung von
Jugendlichen zu diesem Thema zeigt, dass Jugendliche, die sich von ihrer Familie
unterstützt fühlen und das familiäre Klima als positiv beschreiben, sich signifikant
gesünder fühlen als Jugendliche, die das nicht berichten (Almgren, Magarti &
Mogford, 2009, zitiert nach Rattay, 2012, 4).
Im Rahmen des Kinder- und Jugendsurveys (KIGGs) des Robert Koch-Instituts
wurden von 2003 - 2006 die Daten von 17 392 Kindern und Jugendlichen im Alter
von 0 – 17 Jahren erfasst. Für die Studie „Bedeutung der familialen Lebenswelt für
40
die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“, die im Rahmen des KIGGS erhoben
wurde, wurde mindestens ein Elternteil zur Gesundheit ihres Kindes schriftlich
befragt. Hierbei wird die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Zusammenhang
mit der elterlichen Lebenslage betrachtet. Eine Übersicht der ermittelten Faktoren
und deren Einfluss auf die Kinder ist im Anhang dargestellt.
Die Ergebnisse zeigen, dass starke Defizite im Familienklima bei Jungen und
Mädchen aller Altersgruppen mit einer von den Eltern als „nicht gut“ eingestuften
Gesundheit einhergeht. Lediglich bei Jungen im Grundschulalter von 7 – 10 Jahren
lässt sich keine signifikante Abhängigkeit der Gesundheit von der Qualität des
Familienklimas erkennen. Das Familienklima wurde mithilfe einer modifizierten Skala
von Schneewind ermittelt, das bspw. familialen Zusammenhalt, Kontrolle und
gemeinsame Freizeitgestaltung beinhaltet (Rattay et al., 2012, 4).
Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass das Familienklima der maßgebliche
Einfluss ist, der sich über die gesamte Altersspanne von 3 – 17 Jahren am
deutlichsten auf die elterliche Einschätzung der Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen auswirkt. Einen ähnlich relevanten Einfluss über alle Altersspannen
hinweg stellt für Jungen weiterhin der Migrationshintergrund beider Elternteile dar.
Für Mädchen ist dieser Einfluss in dieser Studie so nicht zu finden (Rattay, P. et al.,
2012, 10 – 12).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die familiäre Atmosphäre, die
wesentlich von der Beziehungsqualität in der Familie geprägt ist, einen immensen
Einfluss auf die kindliche Gesundheit hat.
Abschließend
ist
in
diesem
Zusammenhang
darauf
hinzuweisen,
dass
die
Wahrnehmung „familiärer Aufgaben“ stets in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen
Entwicklungen zu betrachten ist. So ist der Familie in der aktuellen gesellschaftlichen
Entwicklung ein wachsendes Maß an Eigenverantwortung zugesprochen worden.
Zeitgleich kann die Familie dabei immer weniger auf gesellschaftliche Unterstützung
41
und Solidarität zurückgreifen. Hierbei stellt die Individualisierung und Globalisierung
erweiterte Anforderungen an die Familie. Familien sind durch wachsende Mobilitätsund Vereinbarkeitsanforderungen und die Abnahme sozialer Sicherung zunehmend
belastet und in ihren Ressourcen eingeschränkt. Es ist daher ebenso als
gesellschaftliche Aufgabe zu betrachten, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die
Ressourcen von Familien stärken (Kolip & Lademann, 2016, 517 – 518). HantelQuitmann sieht vor allem in
der exklusiven Zuständigkeit der Familie für die
emotionalen Bedürfnislagen eine grundlegende Überforderung von Familien, zumal
diese mit einer emotionalen Verarmung von außerfamiliären Bereichen einhergeht
(Hantel-Quitmann, 1997, 18).
5.2 Adipositas unter dem Einfluss psychosozialer
Ressourcen
Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern adipöse Kinder und Jugendliche im
Vergleich zu normalgewichtigen Kindern auf familiäre, persönliche und soziale
Ressourcen zurückgreifen können. Hierbei ist Gesundheit grundsätzlich als
„das Ergebnis von protektiven Faktoren [zu verstehen], Krankheit
dagegen als Folge versagender Schutzfaktoren bei vorhandenen
Risikofaktoren […]“ (Hantel-Quitmann, 1997, 12)
In der Studie von Hölling et al. (2008) wird auf Basis der Daten des Kinder- und
Jugendsurveys KIGGS untersucht, inwiefern „chronische Gesundheitsprobleme“ wie
Asthma, Adipositas und ADHS
in Zusammenhang mit personalen, familiären und
sozialen Schutzfaktoren stehen und wie sich dieser Zusammenhang auf die subjektiv
erlebte Lebensqualität der Betroffenen auswirkt.
Hierbei sind mit personalen Schutzfaktoren Merkmale der Persönlichkeit gemeint, die
mit einer guten Widerstandsfähigkeit (Resilienz) assoziiert sind, wie bspw.
ausgeglichenes Temperament, intellektuelle Begabung und Kontaktfähigkeit. Als
42
familiäre Schutzfaktoren gelten hierbei
ein positives Familienklima, konstruktive
innerfamiliäre Kommunikation, positiv erlebte Bindung und Beziehung,
Anregung
und Förderung und ein förderndes Erziehungsverhalten. Als soziale Ressourcen
werden gemeinsame Aktivitäten mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen, das Erleben
von Zuneigung und Spaß und die Unterstützung bei der Bewältigung von Problemen
verstanden. Für die Studie wurden die Selbstauskünfte von 6813 Kindern und
Jugendlichen im Alter von 11 – 17 Jahren ausgewertet (Hölling H. et al., 2008, 607 –
608).
Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden mit Adipositas sowohl in Hinblick auf
personale als auch auf familiäre und soziale Ressourcen über signifikant geringere
Schutzfaktoren verfügen als die Gruppe der Nicht-Adipösen. Darüber hinaus
beurteilen die adipösen Kinder und Jugendlichen ihre Lebensqualität niedriger als
Kinder und Jugendliche ohne Adipositas.
ADHS ist, ebenso wie Adipositas, mit
verminderten Ressourcen auf den genannten Ebenen und einer geringeren
Lebensqualität assoziiert (Hölling H. et al., 2008, 610, 612 - 614).
Bezeichnend ist in der Studie weiterhin, dass die untersuchten „chronischen
Gesundheitsprobleme“
nicht
gleichermaßen
mit
verminderten
Ressourcen
einhergehen. So konnten bspw. keine signifikanten Unterschiede in Hinblick auf die
Ressourcen von Kindern mit und ohne Asthma festgestellt werden. Hingegen war
Adipositas auf allen untersuchten Ebenen, der personalen, familiären und sozialen
Ebene, mit verminderten Ressourcen assoziiert. Die Autoren schließen aus den
unterschiedlichen Ergebnissen, dass sowohl Adipositas als auch ADHS scheinbar
weitaus mehr von psychosozialen als von körperlichen Aspekten bestimmt werden als
es bei Asthma der Fall zu sein scheint. Zeitgleich werden beide Erkrankungen stärker
von sozialer Stigmatisierung begleitet als Asthma, was wiederum eine erhöhte
Belastung auf der psychosozialen Ebene darstellt (Hölling H. et al., 2008, 616 – 618).
Die Ergebnisse unterstreichen, dass für das Verständnis von Adipositas die
psychosozialen Faktoren weitaus stärker in den Vordergrund gerückt werden sollten.
43
Der entscheidende Aspekt einer gesunden Entwicklung ist einigen Autoren zufolge
die Beziehungsqualität in der Familie, mehr als sozioökonomische Aspekte, wobei
diese in eindeutiger Wechselwirkung miteinander stehen. Im Folgenden wird die
Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen
beleuchtet und der Schwerpunkt auf die psychosoziale Ebene des familiären
Einflusses gelegt.
5.3 Adipositas und der soziale Status der Familie
Wie bereits in Kapitel 3 dargestellt ist die Adipositasprävalenz in westlichen
Industriestaaten mit einem niedrigen sozialen Status assoziiert (Zwick, 2011, 73).
Studien weisen in diesem Zusammenhang daraufhin, dass hierbei die Bildung und
der Familienstand einen größeren Einfluss auf die Adipositasprävalenz haben als das
finanzielle Einkommen (Max-Rubner-Institut, 2008, 89 - 91). Nachfolgend wird
beschrieben, wie sich der soziale Status auf die Entstehung und Aufrechterhaltung
der Adipositas auswirkt und wie dies in Zusammenhang mit familiären Beziehungen
steht.
In Bezug auf das Ernährungsverhalten konnte in sozial benachteiligten Familien
beobachtet werden, dass sich die tägliche Ernährung der untersuchten Kinder
insgesamt als unausgewogen und vielfach stark fett- bzw. zuckerhaltig darstellt.
Darüber
hinaus
hatten
die
Mahlzeiten
in
den
Familien
i.d.R.
keine
tagesstrukturierende Funktion, sondern wirkten vielmehr planlos und unkontrolliert
(Hunger, 2014, 7).
Die Vorstellungen einer gesunden Ernährung weichen in diesen Familien vielfach
wesentlich von den normativen Ernährungsempfehlungen ab. So sind bspw.
Getränke stark zuckerhaltig, „Essen aus der Dose“ wird zum Teil als „frisches
Kochen“ gewertet, Nahrungsmittel wie „Milchschnitte“ werden als Milchmahlzeit
betrachtet und fettfreie Süßigkeiten wie Lakritz und Gummibären gelten als „gesunde
Süßigkeiten“ (Hunger, 2014, 8).
44
Reeske und Spallek beschreiben, inwiefern das Ernährungsverhalten der Kinder mit
dem sozialen Status ihrer Eltern zusammenhängt. Sie konnten in Abhängigkeit vom
sozialen Status bspw. wesentliche Unterschiede im Stillverhalten der Mütter und in
der Zufuhr von energiereichem Essen und Trinken beobachten. Während 90,5 % der
Mütter mit hohem sozialen Status stillen, sind es nur 67,3% der Mütter mit einem
niedrigen sozialen Status. Hierbei ist das Stillen als ein präventiver Aspekt in der
Adipositasgenese zu betrachten. Die Zufuhr an energiereichen Nahrungsmitteln
nimmt hingegen mit zunehmendem sozialen Status ab. Während etwa ein Viertel der
Kinder aus Familien mit einem hohen sozialen Status die höchste Energiezufuhr
erreichen, sind es bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozialen Status 41%. Eine
hohe Zufuhr an energiereichen Lebensmitteln gilt als wesentlicher Einflussfaktor für
eine positive Energiebilanz (Reeske & Spallek, 2011, 275).
Beide Studien bekräftigen, dass die Vermittlung von Ernährungswissen einen
wichtigen Aspekt in der Prävention und Behandlung von Adipositas darstellt. In
Bezug auf adipöse Kinder sind die Eltern sinnvollerweise in die Behandlung mit
einzubeziehen, da sie maßgeblich das Ernährungsverhalten der Familie bestimmen.
Weitere Beobachtungen legen außerdem nahe, dass das fehlende Ernährungswissen
in sozial benachteiligten Familien nicht alleinig die Ursache für ein
Ernährungsverhalten
„ungesundes“
und die Entstehung von Adipositas darstellt. Vielmehr zeigt
sich, dass in Familien oftmals Ressourcen und Erziehungskompetenzen fehlen, um
eine angemessene Ernährungsweise umzusetzen.
Hunger (2014) beschreibt in ihrer Studie anschaulich, inwiefern die Adipositasgenese
in den untersuchten Familien mit einem niedrigen sozialen Status von dem Aspekt
der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kindern geprägt ist.
Hierbei berichten die
meisten Mütter in der Studie, dass sie in Bezug auf die
Nahrungszufuhr ihrer Kinder um die erzieherische und soziale Kontrolle bemüht sind.
Dabei zeigten sich laut Hunger zwei Strategieformen der Mütter. Zum einen
45
überlassen die Mütter ihren Kindern bewusst die Strukturierung der Mahlzeiten, um
ihnen eine individuelle Befriedigung ihrer Hunger- und Sättigungsbedürfnisse zu
ermöglichen. Dies führt bspw. dazu, dass Mahlzeiten ausfallen, am Nachmittag
gekocht wird, oder spät am Abend Brote geschmiert werden, je nach den
Bedürfnissen des Kindes. Zum anderen beanspruchen Mütter eine klare Rationierung
der Mahlzeiten, sowohl in Bezug auf die Essenszeiten als auch in Bezug auf die
Portionsgrößen. Zugleich wurde hierbei beobachtet, dass diese Strategie von nahezu
täglichen Ausnahmen gekennzeichnet ist. Motiv für diese Ausnahmen kann bspw. das
bewusste verwöhnen und belohnen mit Süßigkeiten, Fast Food und anderem in
besonderen Situationen (Wochenende, Ferien, Krankheit etc.) sein. Weiterhin kann
dem Bitten und Drängen der Kinder nach bestimmten Lebensmitteln oftmals
entweder nicht standgehalten werden, oder diese Lebensmittel werden gezielt
dargeboten, um „einfach mal seine Ruhe haben zu können“. Bezeichnend bei diesen
Ergebnissen ist darüber hinaus, dass, obwohl diese Beobachtungen nahelegen, dass
die Ausnahmen quasi die Regel darstellen, die betroffenen Mütter an ihrer
Vorstellung festhalten, die Ernährung ihrer Kinder gut und kontrolliert zu gestalten
(Hunger, 2014, 7 - 8).
Diese Beobachtungen stützen die Annahme von Zwick, der das inadäquate
Ernährungs- und Bewegungsverhalten insgesamt als vordergründige Ursache der
Adipositas betrachtet und auf die dahinterliegenden gesamtgesellschaftlichen und
familiären Ursachen verweist, die seiner Meinung nach Erosion und Funktionsdefizite
aufweisen (Zwick & Renn, 2011, 284 – 285).
Grundlegend verweist Hantel-Quitmann darauf, dass die soziale Lage der Familie das
Wohlbefinden der Kinder maßgeblich beeinflusst. So sind Kinder aus Familien, die
von finanziellen Beschränkungen oder Arbeitslosigkeit betroffen sind, häufiger
ängstlich als Kinder aus Familien ohne diese Erfahrungen. Diese Ängste können
wiederum als Anzeichen für familiäre Belastungen verstanden werden. Diese durch
äußere Umstände ausgelöste Belastung kann durch eine emotionale Zuwendung in
der
Familie
kompensiert
werden
(Hantel-Quitmann,
2013,
43).
Wie
die
46
Beobachtungen von Hunger zeigen, führen diese äußeren Umstände jedoch oftmals
dazu, dass die familiären Ressourcen für eine adäquate Kompensation nicht
ausreichend
vorhanden
sind
und
somit
auf
andere
Formen
der
Bedürfnisbefriedigung, wie der Darbietung von Nahrung, zurückgegriffen wird.
So ist der Einfluss des sozialen Status auf die Adipositasprävalenz ebenso in
Wechselwirkung mit den psychosozialen Ressourcen wie der Erziehungs- und
Beziehungskompetenz
der
Familien
zu
betrachten.
Nach
den
dargestellten
Beobachtungen ist eine übermäßige Ernährung in sozial benachteiligten Familien mit
Themen
wie
Strukturgebung,
Kontrolle,
Grenzen
setzen
und
adäquater
Bedürfnisbefriedigung verbunden. In diesen Bereichen fehlt es den Eltern oftmals an
Kompetenzen und Ressourcen, um adäquate Lösungen umzusetzen. Dieser Aspekt
wird in der allgemeinen Adipositasbetrachtung bisher unzureichend berücksichtigt.
Der Zusammenhang von elterlichen Erziehungskompetenzen und –ressourcen findet
kaum Eingang in Präventions- und Behandlungsansätze und wird in der praktischen
Arbeit mit adipösen Kindern und Jugendlichen weitestgehend vernachlässigt.
Vielmehr wird sich in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen wie auch
Erwachsenen auf eine Optimierung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens
konzentriert.
5.4 Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen
Aufgrund der dargestellten Zusammenhänge wird nachfolgend die Wirkungsweise
familiärer Beziehungen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas
beschrieben.
Im Zusammenhang von Ernährung und familiären Beziehungen betont Reich die
grundlegende Bedeutung der „nährenden Versorgung“ als wesentliches Medium der
Beziehungsgestaltung. Besonders einprägsam ist diese Verbindung bereits bei der
Ernährung des Säuglings zu beobachten. In dieser Phase kann das Kind durch das
Stillen an der mütterlichen Brust erste intensive Beziehungserfahrungen mit der
47
Mutter sammeln. Reich betrachtet das familiäre Ernährungsverhalten insgesamt als
zentralen Prozess der Kommunikation (Reich, 2003, 2). So kann Essen im familiären
Kontext ein Ausdruck von Sympathie und Loyalität darstellen und ebenso einfordern
(z.B.“welchen Kuchen magst Du lieber, den von Deiner Mutter oder den von mir?“)
Darüber hinaus finden im Ernährungsverhalten gesellschaftliche und familiäre Werte
wie bspw. Bescheidenheit, Selbstdisziplin oder Zügellosigkeit ihren Ausdruck
(Schweitzer& Von Schlippe, 2009, 167).
Gemeinsame Mahlzeiten sind, laut Peter, ein Symbol für die Verbundenheit der
Familie, das neben der Versorgungsfunktion vor allem eine Kommunikationsfunktion
in sich trägt (Peter, 2011, 144). Nach Hantel-Quitmann sind Mahlzeiten Rituale, die
das kindliche Empfinden von Geborgenheit und Zugehörigkeit stärken (HantelQuitmann, 2013, 116).
Die Vermittlung von familiären Ernährungsgewohnheiten ist dabei mit Themen wie
Grenzziehung und Identitätszuweisung verbunden und eng mit der Familienstruktur
und -dynamik verwoben (Peter, 2011, 144).
Für (adipöse) Kinder ist das Thema Essen meist eng mit dem Erleben der Beziehung
zu ihren Eltern verknüpft.
„So testen Kinder über Essensanfragen vielfach die Stärke der
eigenen Position, die Befindlichkeit der Mutter oder auch die Einigkeit
der Eltern aus.“ (Hunger, 2014, 10)
Dabei fehlt es den Eltern an geeigneten Strategien, ihre Vorstellungen einer richtigen
Ernährungsweise den Kindern plausibel zu erklären und diese ihnen gegenüber
durchzusetzen. Zeitgleich werden andere Bedürfnisse, die in dem Verlangen nach
Essen ihren Ausdruck finden, von den Eltern nicht erkannt und daher der Wunsch
nach Essen zum Teil fehlinterpretiert (Hunger, 2014, 11).
48
Insgesamt kann in Familien mit adipösen Kindern vielfach ein inkonsistenter
Erziehungsstil beobachtet werden. So gelten in Bezug auf die Ernährung oftmals
rigide und unrealistische Regeln, wie bspw. „nie wieder Süßes vom Taschengeld“
oder „nach 18 Uhr darf nichts mehr gegessen werden“. Darüber hinaus konnte in
Familien mit adipösen Kindern eine Rollenverschiebung beobachtet werden, so dass
die Kinder als verantwortlich für die „Einführung einer gesunden Ernährung“ in die
Familie betrachtet wurden. Um eine Verhaltensänderung langfristig umzusetzen, ist
es jedoch notwendig, dass die Familie in der Lage ist, diese Veränderungen nicht nur
positiv zu unterstützen, sondern darüber hinaus eine gesunde Grundlage für
Veränderungen zu schaffen (Wiegand & Ernst, 2015, 491).
5.4.1 Essen als Kompensation emotionaler Bedürfnisse
Wird Nahrung in der Familie als Belohnung, Bestrafung oder Ersatz für emotionale
Zuwendung eingesetzt, wird die Nahrungszufuhr „emotional aufgeladen“ und
langfristig nicht durch die physischen Reize „Hunger“ und „Sättigung“, sondern
verstärkt über Emotionen ausgelöst. Insbesondere dann, wenn Eltern auf kindliche
Unzufriedenheit mit einem „Fütterungsverhalten“ reagieren, erlernen die Kinder, dass
Essen der „Problemlösung“ dient. So werden negative Gefühle wie Langeweile,
Frustration oder Traurigkeit mit Essen befriedigt. Damit erfüllt Essen nicht den
ursprünglichen
Sinn
der
Sättigung,
sondern
wird
für
eine
emotionale
Bedürfnisbefriedigung funktionalisiert (Petermann & Häring, 2003, 263 – 265). Unter
dieser Annahme wird die Regulation von Emotionen über die Nahrungszufuhr bereits
in der Kindheit erlernt und wesentlich von der Ernährungserziehung in der Familie
geprägt.
Hunger interpretiert das kindliche Verlangen nach Essen vielfach als ein Bedürfnis
nach Aufmerksamkeit, Nähe und Beschäftigung, das aber von den Müttern nicht als
solches wahrgenommen wird, sondern vielmehr auf der Ernährungsebene befriedigt
wird. Bei älteren Kindern wird das Essen bereits als eine gezielte Kompensation von
Langeweile oder zur Frustbewältigung eingesetzt (Hunger, 2014, 9).
49
Hilde
Bruch
sieht
Zusammenhang
mit
die
übermäßige
einem
Ernährung
überbehütenden
des
Verhalten
Kindes
der
insgesamt
Mutter.
im
Beides
interpretiert Bruch als einen Versuch, den eigenen grundlegend unsicheren
Bindungsstil auszugleichen. Während wirkliche Nähe und Zuneigung in der Beziehung
zu dem Kind fehlt, findet die mütterliche Liebe ihren Ausdruck in der Darbietung von
Nahrung. Dieses Verhalten dient der Mutter, um eigene Angst- und Schuldgefühle zu
reduzieren (Bruch, 1991, 93 - 95). Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass
Nahrung in diesen Fällen schwerlich abgelehnt werden kann oder regelrecht eine
Gier nach dieser Form der „Liebe“ entsteht.
Die Beobachtungen von Hunger gehen in eine ähnliche Richtung: Sie beschreibt,
dass Eltern ihren Kindern, aus einem schlechten Gewissen heraus, das Verlangen
nach Essen nicht verweigern können, da es ihre Kinder schwer genug haben. Sie
argumentieren ihr eigenes Nachgeben in Konflikten um das Essen zugleich mit dem
Wunsch nach einem glücklichen Kind (Hunger, 2014, 9).
Die hier dargestellten Ergebnisse unterstreichen, dass die Entwicklung des
Ernährungsverhaltens direkt von der Erziehungs- und Beziehungsgestaltung geprägt
wird. Das Ernährungsverhalten steht dabei im Zentrum der Ausgestaltung von
familiären Beziehungen. So deutet das Funktionalisieren des Essens seitens der
Eltern
einerseits
auf eine
inadäquate
Wahrnehmung kindlicher
emotionaler
Bedürfnisse hin und andererseits auf unzureichende Fähigkeiten in Bezug auf eine
angemessene Bedürfnisbefriedigung. In diesem Zusammenhang sei erneut auf die
psychischen und sozioökonomischen Ressourcen verwiesen, die die elterlichen
Kompetenzen erheblich beeinflussen können.
50
5.4.2 Rigides Ernährungsverhalten
Wird in Familien ein rigides Essmanagement betrieben, das starr reglementiert, was,
wie und wie viel gegessen wird (z.B. „Du bist satt, wenn der Teller leer ist“), trägt
dies dazu bei, dass die körpereigene Hunger-Sättigungs-Regulation durch eine
Regulation durch Außenreize ersetzt wird (Petermann & Häring, 2003, 264).
Ein übermäßiges Ernährungsverhalten wird von Adipösen bspw. häufig damit erklärt,
dass bei ihnen die Fähigkeit, Hunger oder Sättigung zu spüren, gänzlich fehlt oder
stark eingeschränkt ist. Dadurch wird Nahrung über die Sättigungsgrenze hinaus
zugeführt, was zu einer positiven Energiebilanz und langfristig zu Übergewicht und
Adipositas führt (Petermann & Häring, 2003, 263).
Mata
und
Munsch
(2011)
belegen,
dass
ein
rigides
Essverhalten
die
Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden, erhöht. Sie vermuten, dass ein
derartiges
restriktives
Verhalten
die
biologische
Selbstregulation
der
Nahrungsaufnahme abschwächt und infolgedessen vermehrt aufgrund externer
Faktoren und nicht aus einem inneren Hungergefühl heraus gegessen wird (Mata &
Munsch, 2011, 548).
Unter der Voraussetzung eines gesunden, vielseitigen Nahrungsangebots in der
Familie weisen Kinder, die ihre Portionsgrößen und die Dauer der Mahlzeit selbst
bestimmen können, das geringste Risiko auf, übergewichtig zu werden (Wiegand &
Ernst, 2015, 490).
In diesem Zusammenhang weist Reich daraufhin, dass mit der Regulation der
Nahrungszufuhr zugleich körperliche und psychische Grenzen definiert werden. Die
Entscheidung darüber, was und wie viel gegessen wird, ist im Beziehungskontext
auch als ein Bestimmen von Grenzen zu verstehen, das mit der innerfamiliären
Verteilung von Macht und Kontrolle verbunden ist (Reich, 2003, 2).
51
5.4.3 Adipositas als Ausdruck familiärer Beziehungen
Neben der Wirkungsweise familiärer Beziehungen über die eben dargestellte direkte
Ernährungserziehung
können
familiäre
Beziehungen
auch
indirekt
ein
Ernährungsverhalten befördern, dass in erheblichem Maße zur Entstehung und
Aufrechterhaltung von Adipositas beiträgt.
Hierbei
wird
grundlegend
angenommen,
dass
familiäre
Beziehungen
und
Interaktionsmuster die Entwicklung von psychosomatischen Erkrankungen fördern
können. In diesem Zusammenhang sei erneut auf die Ergebnisse von Minuchin
hingewiesen. Zwar ist die „psychosomatische Familie“ nach Minuchin (1986) ein
theoretisches
Konstrukt,
doch
zeichnen
sich
familiäre
Beziehungen
bei
psychosomatischen Erkrankungen aus systemischer Sicht vor allem durch Rigidität,
Verstrickungen,
intergenerationelle
Loyalitäten
und
harmonisierende
Konfliktvermeidung aus (Hantel-Quitmann, 1997, 77).
Bei
einem
Teil
der
von
Adipositas
Betroffenen
ist,
insbesondere
aus
familientherapeutischer Sicht, davon auszugehen, dass Adipositas ein Ausdruck
intrapsychischer und interpersoneller Konflikte ist. Hierbei werden ursprüngliche
Konflikte abgewehrt und auf das Ernährungsverhalten verschoben. Dementsprechend
ist die Nahrungszufuhr als Versuch zu verstehen, ursprüngliche Konflikte zu
bewältigen (Reich, 2003, 3 - 4).
„Oftmals werden Konflikte auf die Ernährung verschoben, weil sie
hier leichter zum Ausdruck gebracht werden können als in dem zu
Grunde liegenden Konflikt“. (Reich, 2003, 3 –4)
In
diesem
Sinne
kann
Adipositas
auf
eine
Somatisierung
von
familiärer
Dysfunktionalität hinweisen. Dabei wirkt die familiäre Dysfunktionalität indirekt auf
eine Störung des Essverhaltens ein (Tetzlaff & Hilbert, 2014, 62).
Tetzlaff und Hilbert (2014) fassen in ihrer Übersichtsarbeit den Einfluss der Familie
auf Essanfälle im Kindes- und Jugendalter zusammen. Sie beziehen ihre Daten auf
52
die Entstehung der Binge-Eating-Störung (BES), die durch den Kontrollverlust über
das Essen gekennzeichnet ist, ohne dass diese „Essanfälle“ von kompensierendem
Verhalten begleitet werden (Tetzlaff & Hilbert, 2014, 67). Die Auswertung von
Tetzlaff und Hilbert zeigt, dass eine unsichere Eltern-Kind-Bindung, eine elterliche
Essstörung und inadäquate Kommunikations- und Verhaltensweisen mit dem
Auftreten von Essanfällen des Kindes bzw. Jugendlichen korrelieren (Tetzlaff &
Hilbert, 2014, 67).
Hippel-Schuler und Pape konnten in ihrer langjährigen Arbeit mit adipösen Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen beobachten, dass das Essverhalten einer Familie
oder eines Individuums als Ausdruck von Beziehungen mit sich selbst und mit
anderen zu betrachten ist. Ein chronisches Missverhältnis von Kalorienbedarf und zufuhr, das unerwünschtes Übergewicht zur Folge hat, kann demnach ebenso als ein
Hinweis auf ungelöste familiäre Konflikte verstanden werden (Hippel-Schuler & Pape,
1997, 198).
„Das aktuelle Eß- und Bewegungsverhalten mitsamt der körperlichen
Erscheinung der betroffenen Kinder stellt so betrachtet immer die
derzeit bestmögliche Reaktion auf aktuelle und chronische Konflikte
dar, die das einzelne Familienmitglied und das Familiensystem auf
anderen Wegen zu lösen in diesem Moment nicht in der Lage sind.“
(Hippel-Schuler & Pape, 1997, 198)
Petermann
und
Häring
sehen
dysfunktionale
Kommunikations-
und
Konfliktbewältigungsmuster in der Familie als eine nicht zu vernachlässigende
Ursache für die Entwicklung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen an. Sie
fassen verschiedene Studien zusammen und kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder,
die emotional vernachlässigt werden, ein neunfaches Risiko für die Entwicklung von
Adipositas aufweisen. Partnerschaftliche Probleme der Eltern oder insgesamt nicht
intakte Familienverhältnisse erhöhen das kindliche Risiko, an Adipositas zu
erkranken, um das Siebenfache (Petermann und Häring, 2003, 265).
53
In dem 2008 veröffentlichten Kinder- und Jugendsurvey (KiGGS) konnte ein
Zusammenhang zwischen einem schlechten Familienklima und der Prävalenz von
Adipositas nachgewiesen werden. Hierbei waren Kinder aus Familien mit niedrigem
familiären Zusammenhalt um 50% häufiger von Adipositas betroffen als Kinder aus
Familien mit einem hohen familiären Zusammenhalt (RKI & BZgA, 2008, 47).
Pott
et
al.
(2010)
untersuchten
Gewichtsreduktionsprogrammes,
inwiefern
im
Rahmen
eines
psychologische
und
ambulanten
familiäre
Charakteristika den Interventionserfolg beeinflussen. Hierbei wurde neben dem BMI
der Eltern und der Geschwister die psychosoziale Risikobelastung der Familie, die
Depressivität und der Bindungsstil der Hauptbezugsperson sowie die individuelle
psychische Belastung des teilnehmenden Kindes einbezogen. Die Ergebnisse zeigen,
dass eine hohe psychosoziale Risikobelastung der Familie sowie eine mütterliche
Depression und ein vermeidendes Bindungsverhalten der primären Bezugsperson,
mehr als die psychische Belastung des zu behandelnden Kindes, mit einem Misserfolg
der Gewichtsreduktion assoziiert sind. Abschließend betonen Pott et al., wie
bedeutend „psychosoziale und emotionale Ressourcen der primären Bezugsperson“
für die Gewichtsregulation des Kindes sind und unterstreichen hiermit die
Bedeutsamkeit von elterlichen Ressourcen in Hinblick auf die Gewichtsentwicklung
(Pott et al., 2010, 351, 358).
Die hier genannten Ergebnisse bekräftigen den Zusammenhang von Adipositas und
familiären Beziehungen. So sind familiäre Konflikte, psychische Erkrankungen,
negative Kommunikations- und Verhaltensmuster oder insgesamt ein negatives
familiäres Klima mit Adipositas assoziiert. Hierbei ist anzunehmen, dass Essen den
betroffenen Kindern dazu dient, Konflikte und Defizite über das Essen zu
kompensieren. Diese Ergebnisse unterstreichen erneut die psychologische Bedeutung
des Essens in Zusammenhang mit Adipositas und verweisen auf die, wie bereits
unter 3.2.3 dargestellt, zentrale Bedeutung der Regulation von Emotionen. Auf
diesen Zusammenhang wird unter Punkt 6 weiterführend eingegangen. Zunächst
wird dargestellt, inwiefern sich diese meist in der Kindheit erlernte Verknüpfung
54
zwischen familiären Beziehungen und einem übermäßigen Ernährungsverhalten im
Erwachsenenalter aufrechterhält.
5.5 Bedeutung der erlernten Emotionsregulation für das
Erwachsenenalter
Für einen Einblick in die Bedeutung und die Wirkungsweise des Essens als Strategie
zur Emotionsregulation im Erwachsenenalter und deren Verankerung im familiären
Kontext werden nachfolgend eigene Forschungsergebnisse herangezogen. Hierbei
dienen Auszüge aus Interviews der Illustration, inwiefern Essen im subjektiven
Erleben der Emotionsbefriedigung dient.
Das Forschungsprojekt umfasste zehn qualitative, leitfadengestützte Interviews.
Hierbei
wurden
die
Teilnehmer
strukturiert
zu
den
Themenbereichen
Gewichtsentwicklung, Ernährungsverhalten und familiäre Beziehungen befragt. Bis
auf das Vorliegen einer Adipositas (BMI über 30) wurden keine weiteren Ein-und
Ausschlusskriterien angewandt. Die Interviews wurden nach der qualitativen
Inhaltsanalyse von Mayring (2013, 471) ausgewertet. Individuelle Zusammenhänge
wurden darüber hinaus in Form von kurzen, anonymisierten Fallbeispielen nach
Schmidt (2013, 447) dargestellt. Der Leitfaden für die Interviews ist dem Anhang
beigefügt. Aufgrund der geringen Fallzahl sind die Ergebnisse des Projektes in ihrer
Aussagekraft begrenzt. Dennoch finden sich hier detaillierte Hinweise, wie die
Adipositasgenese aus subjektiver Sicht betrachtet wird und welche familiären
Faktoren aus dieser Perspektive eine Rolle spielen.
Die Auswertung der Interviews zeigt, dass Essen als Strategie zur Emotionsregulation
bei allen Befragten eine Rolle spielt. Darüber hinaus betrachten acht der zehn
Befragten ihr emotionales Ernährungsverhalten, bei dem das Essen durch Emotionen
ausgelöst wird, explizit als Ursache für ihr starkes Übergewicht. Vier von Ihnen sehen
es als alleinige Ursache ihrer Adipositas an. Weiterhin halten fünf der Befragten das
erlernte Ernährungsverhalten für eine Ursache, zwei von Ihnen als alleinige Ursache
55
ihrer Adipositas. Zum erlernten Ernährungsverhalten zählt das Erlernen der
Nahrungsmittelauswahl, Portionsgrößen und die Gestaltung der Mahlzeiten. Zwei
Teilnehmer halten genetische Ursachen für mitverantwortlich für das starke
Übergewicht.
Mit dem Fokus auf das emotionale Ernährungsverhalten zeigt sich, dass es in der
Spezifität der Emotionen, die das auslösende Motiv für das Essen darstellen,
Häufungen gibt. Auffallend ist aber insgesamt die Vielfalt der Emotionen. Insgesamt
überwiegen eindeutig die negativen Emotionen als auslösendes Motiv für das Essen.
Am häufigsten wurde von den Befragten das Gefühl von „traurig/unglücklich sein“ als
auslösendes Motiv für das Essen genannt. Nahezu ebenso häufig wurden
unspezifische negative Gefühle genannt. Eine Übersicht der Emotionen und die
Anzahl der Nennungen ist in der Abb. 12 dargestellt.
Die Motive Trost, Belohnung und Beruhigung sind in der Abbildung als gesonderte
Motive dargestellt, da es keine direkten Emotionen sind, sie aber auf eben solche
zurückgeführt werden können.
Abbildung 12: Emotionen, die das Essen auslösen (Hink, 2014, 13)
56
Die Vielfalt der hier dargestellten Emotionen legt nahe, dass nicht das Motiv selbst
entscheidend ist für die Nahrungszufuhr, sondern vielmehr deren individuelle
Bedeutung für den Adipösen. Dabei bringen alle hier befragten „emotionalen Esser“
bestimmte Lebensereignisse oder familiäre Beziehungen in der Kindheit mit ihrem
aktuellen Ernährungsverhalten und ihrer Adipositasgenese in Verbindung. Hierbei
gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den in der Kindheit erlebten
und
offensichtlich
nicht
ausreichend
bewältigten
Emotionen
und
den
im
Erwachsenenalter auslösenden Emotionen für das Ernährungsverhalten.
Anna beschreibt, dass sie die Strategie des Essens im Umgang mit Emotionen bereits
als Kind in ihrer Familie gelernt hat:
„…Essen [war] immer sehr stark mit Emotionen verbunden […] im
Sinne von Belohnung oder Entschädigung, oder Trost, es ging immer
sehr in die Richtung. (…) Mit Belohnung oder Trost, das wurde mir
einfach ganz früh schon angeeignet. Hast Du heute ´n schweren Tag
gehabt, dann hier: iss Schokolade. Vielleicht ein bisschen überspitzt,
aber gönn Dir was, so in Form von Essen.“
Helma beschreibt darüber hinaus, wie sie selbst geneigt ist, das Muster, das
Emotionen mit Essen befriedigt werden, an ihren Sohn weiter zu geben:
„ […] ich habe einen 13 Monate alten Sohn, wo ich extrem merke,
dass ich da wirklich in meine Kindheit zurückfalle, über meinen Sohn,
dass ich immer versucht bin, ihm aus Belohnung was zu essen zu
geben und das kommt aus meiner Kindheit. Also Essen war
Belohnung.“
Andere der Befragten beschreiben vielmehr, dass sie aufgrund schwieriger familiärer
Beziehungen oder schwieriger Lebenssituationen selbst die Strategie entwickelt
haben, ihre Emotionen mit Essen zu regulieren.
57
So
führt
Christian
sein
starkes
Übergewicht
alleinig
auf
emotionales
Ernährungsverhalten zurück. Er isst, wenn er ein hohes Maß an Angst und Stress
empfindet, oder wenn er sich belohnen will. Den Zusammenhang zu seiner Familie
beschreibt er wie folgt:
„Im jugendlichen Alter war das sehr schlimm. Meine Mutter ist auch
nicht ohne Belastung, die hat die Flucht mitgemacht als Kind. So, die
hat natürlich auch viele Ängste mit der Muttermilch an die Kinder
weitergegeben. Ja und wenn sie das nicht mehr verkraftet hat, hat
sie Anfälle gekriegt. [...] dann hatte sie Herzschmerzen und so
Atemnot. Und das geht dann natürlich auch auf´s Gemüt.“
Bereits als Kind hat er begonnen in Situationen, die ihn stark belasteten, zu essen.
Bis heute hält er diese Form der Emotionsregulation aufrecht.
Auch Frederike beschreibt, dass das Essen ihr hilft, diesen Druck abzubauen.
Frederike isst, wenn sie starke Gefühle hat, die sie so nicht aushalten kann. Im
Verlauf des Gesprächs erzählt sie, dass es bereits Phasen in ihrem Leben gab, in
denen das Essen nicht ausreichend geholfen hat und es dann „anders gehen musste“
und beschreibt ein selbstverletzendes Verhalten. In diesem Kontext weist sie auf ihre
Borderline-Erkrankung hin.
Doris berichtet, dass sie immer dann isst, wenn sie sich traurig oder einsam fühlt.
Später bringt sie den Zusammenhang von diesen Emotionen und dem Essen direkt
mit ihren familiären Beziehungen in Verbindung:
„Die wollten mich nicht, die wollten nichts mit mir zu tun haben, aber
das Gefühl macht manchmal so´ n Stich und sagt: „friss doch mal
´ne Runde.“
58
Die hier dargestellten Auszüge der Interviews weisen darauf hin, dass die Strategie
des
Essens
zur
emotionalen
Bedürfnisbefriedigung
aufgrund
direkter
Ernährungserziehung der Eltern bereits in der Kindheit erlernt wurde und die
genannten adipösen Erwachsenen diese für noch immer ausschlaggebend für ihr
aktuelles Ernährungsverhalten halten. Darüber hinaus deuten die Erzählungen
daraufhin, dass familiäre Konflikte in der Kindheit dazu geführt haben, Essen zur
Regulation von Emotionen einzusetzen. Insbesondere Emotionen, die für die
damaligen Konflikte und Belastungen relevant waren, lösen hierbei bis ins
Erwachsenenalter ein übermäßiges Essen aus. Zugleich konnte von den hier
Befragten bis heute nicht (ausreichend) auf adäquate Strategien im Umgang mit
ihren Emotionen zurückgegriffen werden, so dass das Essen bis heute zur Regulation
von Emotionen eingesetzt wird.
Zusammenfassend verdeutlichen
maßgebliche
Rolle
der
die
Familie
in
Ergebnisse
des
Hinblick
auf
gesamten
die
Kapitels
Entwicklung
die
des
Ernährungsverhaltens und auf die Entstehung von Adipositas. Sozioökonomische
Aspekte, wie bspw. das finanzielle Einkommen oder die Bildung, können hierbei
direkt eine „ungesunde“ Ernährungsweise begünstigen. Die familiären Beziehungen
sind jedoch in deutlich höherem Maße als bisher berücksichtigt ausschlaggebend für
die Entwicklung des Ernährungsverhaltens und die Entstehung von Adipositas.
Hierbei steht ein übermäßiges Essen des Kindes vielfach in Zusammenhang mit
fehlenden elterlichen (Ernährungs-) Erziehungskompetenzen und / oder negativ
erlebten familiären Beziehungen.
„...der familiäre Kontext, in dem das Überessen und Dickbleiben
stattfindet und Sinn ergibt, [bleibt] für die Diagnostik sowie als
Quelle von Ressourcen zur Problembewältigung für die Behandlung
weitgehend ungenutzt." (Hippel-Schuler & Pape, 1997, 191)
So wird durch die Ernährungserziehung der Eltern erlernt, dass über das Essen
emotionale Bedürfnisse befriedigt werden können. Darüber hinaus entwickeln Kinder
59
in schwierigen Lebenssituationen oder belastenden familiären Verhältnissen oftmals
die Strategie, Konflikte und Emotionen mit Essen zu regulieren. Entscheidend in den
hier dargestellten Zusammenhängen ist, dass es Eltern scheinbar an Kompetenzen
und Ressourcen fehlt, kindliche Bedürfnisse adäquat wahrzunehmen und zu
befriedigen und aus diesem Grund das Essen der Kompensation emotionaler
Bedürfnisse dient. Hierbei ist die Wirkungsweise der Familie nicht als Schuldvorwurf
zu betrachten, sondern soll vielmehr das Verständnis für die Entstehung von
Krankheiten im Kontext familiärer Beziehungen erweitern (Hantel-Quitmann, 1997,
32). Die Berichte von erwachsenen Adipösen deuten weiterhin darauf hin, dass auch
im Erwachsenenalter insbesondere die Gefühle das Essen auslösen, die in der
Kindheit als belastend erlebt wurden und offensichtlich bis heute nicht ausreichend
verarbeitet
werden
konnten
(Hink,
2015,
13).
Der
zentrale
Aspekt
in
Zusammenhang mit Adipositas ist die Regulation von Emotionen - sowohl in der
direkten Ernährungserziehung als auch in familiären Beziehungen sowie im
Erwachsenenalter. Aus diesem Grund wird im Folgenden der Einfluss der Familie auf
die Entwicklung der Emotionsregulation eingehend betrachtet.
Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass eine familienorientierte
Gesundheitsförderung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken sollte. Hierbei geht es
vor allem darum, zu einer Verbesserung des familiären Klimas beizutragen. Hierzu
gehört weiterhin die Erweiterung der Lebenskompetenzen sowohl für Eltern als auch
für die Heranwachsenden. Eine Stärkung der Erziehungs- und Lebenskompetenzen
der Eltern wirkt sich hierbei indirekt positiv auf die Gesundheit der Kinder aus
(Rattay, P. et al., 2012, 17).
60
6 Emotionsregulation im Fokus der
Adipositasbetrachtung
Aufbauend auf den bisherigen Ergebnissen wird die Regulation von Emotionen in
diesem Kapitel ins Zentrum der Adipositasbetrachtung gestellt. Hierzu wird zunächst
die Entwicklung der Emotionsregulation unter dem Einfluss der Familie dargestellt.
Darüber
hinaus
eingeschränkten
werden
die
Fähigkeit
Zusammenhänge
zur
von
Adipositas
und
einer
Emotionsregulation
abgebildet
und
diese
insbesondere im Kontext der elterlichen Erziehungskompetenzen beleuchtet.
Abschließend gibt die beispielhafte Darstellung eines Trainings zur Verbesserung der
Emotionsregulationsfähigkeit und der Ansatz zur Stärkung elterlicher Kompetenzen
einen Ausblick auf geeignete Ansätze für die Prävention und Behandlung von
Adipositas.
6.1 Die Entwicklung der Emotionsregulation
Die Fähigkeit, Emotionen angemessen zu regulieren, ist eine entscheidende
Entwicklungsaufgabe in der Kindheit. Hierbei erlernt ein Kind, die eigenen Gefühle
wahrzunehmen, zu interpretieren und Strategien zu entwickeln, um
mit ihnen
umzugehen. Vielfach wird die Fähigkeit zur Emotionsregulation anhand von „Stress“Situationen bewertet, die emotional herausfordernd für das Individuum sind (Kullik &
Petermann, 2012, 30).
Bereits Säuglinge verfügen über ein Potenzial angeborener Emotionen und
diesbezüglicher Verarbeitungsprozesse. Grundlegend wird die Entwicklung von
Emotionen und ihre Regulation jedoch ebenso von der äußeren Umwelt geprägt.
(Kullik
&
Petermann,
2012,
14
–
18).
Alterstypische
Strategien
zur
Emotionsregulation sind in Abb. 13 dargestellt.
61
Säugling
weint um Trost der Eltern zu erhalten
Kleinkind
sucht aktiv nach elterlicher Unterstützung
Vorschulkind
beginnt über Emotionen zu sprechen
Schulkind
erlernt Ablenkungsstrategien zur Emotionsregulation
Jugendlicher
verfügt über individuelle Strategien zur Regulation der Emotionen
Abbildung 13: Alterstypische Strategien zur Emotionsregulation
(eigene Darstellung nach Kullik & Petermann, 2012, 28)
Die
Abbildung
zeigt,
wie
sehr
die
Entwicklung
der
Emotionsfähigkeit
im
Zusammenspiel mit den Eltern erlernt wird.
Die Fähigkeit, geeignete Strategien im Umgang mit positiven wie negativen
Emotionen zu erlernen und umzusetzen, wird als wesentliches Merkmal der sozialen
Kompetenz bewertet. Einflüsse, die auf die Entwicklung der Emotionsregulation
einwirken, sind in Abb. 14 dargestellt (Kullik & Petermann, 2012, 21).
Abbildung 14: Einflüsse auf die Entwicklung der Emotionsregulation
(Kullik & Petermann, 2012, 30)
Die Abbildung veranschaulicht, dass die Emotionsregulation von physiologischen
Prozessen, dem individuellen kindlichen Temperament und der elterlichen Erziehung
62
bzw. dem sozialen Umfeld geprägt wird. Im Kontext dieser Arbeit wird im Folgenden
der Fokus auf den Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Entwicklung der
Emotionsregulation gelegt.
6.1.1 Der familiäre Einfluss auf die Entwicklung der
Emotionsregulation
Im Folgenden wird betrachtet, auf welche Weise die Familie Einfluss auf die
Entwicklung der Emotionsregulation nimmt.
Die Entwicklung der Emotionsregulationsfähigkeit des Kindes wird grundlegend von
den Eltern geprägt.
Das Erziehungsverhalten der Eltern kann dabei sowohl
abschwächenden als auch verstärkenden Einfluss auf die Temperamenteigenschaften
des Kindes nehmen. Hierbei trägt das Verhalten der Eltern in Bezug auf die
Emotionen und das Verhalten ihres Kindes entscheidend zu dem Erlernen der
Regulation von Emotionen des Kindes bei. Eine sichere und unterstützende ElternKind-Bindung ist hierbei eine förderliche Grundlage für die Entwicklung der
Emotionsregulationsfähigkeit. Darüber hinaus können Eltern das Erlernen von
Regulationsstrategien durch konkrete Anleitung direkt unterstützen (Kullik &
Petermann, 2012, 95).
„Erkennen Eltern die Emotionen ihres Kindes, akzeptieren sie diese
und bieten sie eine Anleitung, die dem Kind im Umgang mit den
eigenen Emotionen nützt, so wird von einer Sozialisation des
kindlichen Emotionsverhaltens gesprochen.“ (Kullik & Petermann,
2012, 95)
Werden Kinder hingegen für ihre Emotionen kritisiert und nicht angeleitet,
konstruktiv mit ihnen umzugehen, wirkt sich dies negativ auf die Emotionsregulation
der Kinder aus. Darüber hinaus kann auch ein hoch kontrollierendes Verhalten der
63
Eltern gegenüber ihren Kindern die Entwicklung der Emotionsregulation vermindern
(Kullik & Petermann, 2012, 94 - 95).
So zeigt eine
Studie von Suveg, Jacob & Payne (2010), dass ein signifikanter
Zusammenhang zwischen hoher Emotionalität und Erregbarkeit sowie schlechter
emotionaler Kontrolle der Mütter und einer dysfunktionalen Emotionsregulation der
Kinder besteht (Suveg, Jacob & Payne, 2010, 683). Der familiäre Einfluss auf die
Emotionsregulation ist in Abb. 15 dargestellt.
Abbildung 15: Einfluss der Familie auf die Emotionsregulation
(Petermann & Wiedebusch, 2008, 86)
In der Abbildung von Petermann und Wiedebusch ist für die Entwicklung der
Emotionsregulation besonders relevant, welche Koregulationen über die Eltern erlernt
werden. Hierbei kann Essen als emotionale Bedürfnisbefriedigung als eine solche
Koregulation verstanden werden. Ebenso entscheidend ist, wie mit den negativen
Emotionen (des Kindes) umgegangen wird, wie Eltern auf die Bedürfnisse des Kindes
reagieren (Responsivität) und wie sich der Emotionsausdruck der Eltern gestaltet.
Verminderte elterliche Kompetenzen und Ressourcen in diesem Bereich können dazu
beitragen, dass Kinder ihre Emotionen nicht adäquat zu regulieren lernen und bspw.
auf externe Regulationsstrategien wie das Essen zurückgreifen.
64
Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern Beeinträchtigungen in der Eltern-KindBeziehung mit einem „gestörten“ Ernährungsverhalten einhergehen können und wie
dieses darüber hinaus in Zusammenhang mit Adipositas steht.
6.1.2 Das Ernährungsverhalten im Kontext der Eltern-KindBeziehung
Die Fähigkeit der Affektregulation ist eng mit den frühkindlichen Erfahrungen
verbunden, die ein Kind mit seinen primären Bezugspersonen erlebt hat. Hierbei ist
ein
unsicheres
bzw.
ängstliches
Beziehungsmuster
mit
einem
elterlichen
Erziehungsverhalten assoziiert, das vorwiegend abweisend oder überprotektiv ist. Ein
derartiges Erziehungsverhalten geht für das Kind dabei vielfach mit der Entwicklung
inadäquater Strategien zur Affektregulation einher (Kullik & Petermann, 2012, 97 –
99). Hierbei ist Essen als eine Form der externen Emotionsregulation zu verstehen.
Die Nahrungsaufnahme wird hierbei zur Reduktion negativer Emotionen wie Stress,
Ärger oder Einsamkeit eingesetzt (Herpertz, 2015, 426).
Ein
Ernährungsverhalten,
das
vorwiegend
zur
Regulation
von
Emotionen
funktionalisiert wird, kann demnach als „gestörtes Essverhalten“ betrachtet werden.
In diesem Zusammenhang ist auch dann von einem gestörten Essverhalten zu
sprechen, wenn es dabei nicht zu „Fressanfällen“ im Sinne einer Binge-EatingStörung kommt (Rommel et al. 2012, 21).
Wilkinson
et
al.
(2010)
untersuchten
den
Zusammenhang
von
erlebter
Bindungsqualität und der Fähigkeit zur Emotionsregulation. Die Ergebnisse zeigten
zunächst, dass Menschen mit einem ängstlichen Bindungsmuster vermehrt zu einer
externen Emotionsregulation neigen. In einem zweiten Schritt setzten Wilkinson et
al. diese Ergebnisse in Korrelation zum Ernährungsverhalten und dem Körpergewicht
der Probanden. Es zeigte sich eine signifikant positive Korrelation zwischen
Bindungsangst und einem erhöhten BMI. Weiterhin wiesen übergewichtige und
adipöse Menschen signifikant höhere Werte in der Störbarkeit des Essverhaltens auf
65
als normalgewichtige Menschen. Wilkinson et al. betrachten hierbei ein gestörtes
Essverhalten als Mediator zwischen einem ängstlichen Bindungsmuster und einem
erhöhten BMI (Wilkinson, 2010, 1444 – 1445).
Eine Studie von Ihle et al. (2005) zeigt eine signifikante Korrelation von elterlicher
Kontrolle und Überbehütung oder Ablehnung und Strafe mit einem gestörten
Essverhalten des Kindes. Eine fehlende emotionale Wärme wurde in der Studie nicht
mit einer Essstörungssymptomatik assoziiert (Ihle et al., 2005, 36 - 37).
Topham et al. (2011) zeigen, dass ein autoritäres elterliches Verhalten bei 6 – 8jährigen Kindern mit einem emotionalen Ernährungsverhalten assoziiert ist.
Emotionales Ernährungsverhalten meint hierbei, dass Gefühle mithilfe von Essen
reguliert werden. Hierbei zeigte sich
in der Studie insbesondere, dass das
„unbegründete Bestrafen“ durch die Eltern mit einem emotionalen Essverhalten der
Kinder einherging. Hierbei wird von den Autoren darauf hingewiesen, dass
unbegründete Strafen mit einer Beeinträchtigung der Selbstregulation, mit einem
höheren inneren Stresserleben und einem geringeren Selbstwertgefühl einhergeht
(Topham et al., 2011, 263 – 264).
Schützmann et al. (2008) belegen, dass ein abweisendes elterliches Verhalten bei 8 –
11-jährigen Kindern zu einem „gestörten Ernährungsverhalten“ führt (Schützmann et
al., 2008, zitiert nach Rommel, 2012 22).
Snoek et al. (2007) belegen, dass emotionales Essen bei Jugendlichen vor allem
dann vorzufinden ist, wenn die Jugendlichen weniger mütterliche Unterstützung und
stattdessen vermehrt Kontrolle durch die Mutter erfahren (Snoek et al., 2007, 228).
Die hier dargestellten Studien weisen auf den Zusammenhang von elterlichem
Erziehungsverhalten und der Entwicklung eines gestörten bzw. emotionalen
Ernährungsverhaltens und einem erhöhten Körpergewicht. So konnten verschiedene
Studien belegen, dass ein „gestörtes“ Ernährungsverhalten in Zusammenhang mit
66
dem elterlichen Erziehungsstil steht. Hierbei geht ein ablehnendes, wenig
unterstützendes
und
bestrafendes
Erziehungsverhalten
mit
Störungen
im
Ernährungsverhalten einher. Bei Erwachsenen konnte darüber hinaus ein unsicherer
Bindungsstil mit Störungen im Ernährungsverhalten in Zusammenhang gesetzt
werden. Zugleich ist auch ein Erziehungsverhalten, dass kontrollierend und
überbehütend ist, mit Störungen im Ernährungsverhalten assoziiert. Hierbei steht ein
derartiges Ernährungsverhalten in Korrelation mit einem erhöhten Körpergewicht und
Adipositas.
Für die Betrachtung der Adipositasgenese und von zukünftigen Behandlungsansätzen
ist vor allem entscheidend, dass hier nicht die explizite Ernährungserziehung,
sondern vielmehr ein genereller Erziehungsstil die Emotionsregulation beeinflusst und
somit
ein
Ernährungsverhalten
fördert,
das
erheblich
zur
Entstehung
und
Aufrechterhaltung der Adipositas beiträgt.
6.1.3 Adipositas als Resultat einer verminderten Fähigkeit zur
Emotionsregulation
In diesem Unterkapitel wird dargestellt, inwiefern Adipositas mit Defiziten in der
Emotionsregulation einhergeht und mit welcher Form des Ernährungsverhaltens
diese Defizite assoziiert sind.
Entscheidend für eine vermehrte Nahrungszufuhr ist nach van Strien (2005)
grundlegend die Fähigkeit, die eigenen Emotionen wahrzunehmen. Negative Affekte
führen demnach vor allem dann zum vermehrten Essen, wenn die Fähigkeit, die
eigenen Emotionen bewusst wahrzunehmen, fehlt oder eingeschränkt ist (van Strien,
2005, 211 - 212). Darüber hinaus wird eine
verminderte Fähigkeit zur
Wahrnehmung und Regulation der eigenen Emotionen als individueller Risikofaktor
für eine vermehrte Nahrungszufuhr und die Entstehung von Adipositas betrachtet
(Moon & Berenbaum, 2009, 425).
67
Eine Studie von Rommel et al. mit 94 adipösen Frauen und 56 normalgewichtigen
Frauen in der Kontrollgruppe bestätigt, dass die Wahrnehmung der eigenen
Emotionen in der Gruppe der adipösen Frauen signifikant geringer ausgeprägt ist als
bei den normalgewichtigen Frauen. Zugleich neigen die adipösen Frauen mehr als die
normalgewichtigen
Frauen
dazu,
ihre
Emotionen
mit
einer
vermehrten
Nahrungszufuhr zu regulieren. Im Gegensatz zu bisherigen Studien kommen Rommel
et al. jedoch zu dem Ergebnis, dass in der Gruppe der adipösen Frauen insbesondere
diejenigen zu einem emotionalen Essen neigen, die in dieser Gruppe die höchsten
emotionalen Kompetenzen aufweisen. Aufgrund der kontroversen Ergebnisse legen
Rommel et al. nahe, dass nicht von einem gänzlichen Fehlen der emotionalen
Kompetenzen, sondern vielmehr von einer Einschränkung ausgegangen werden
kann. In diesem Zusammenhang wird auf den weiteren Forschungsbedarf bzgl. der
Rolle der Emotionsregulation für die Entstehung von Adipositas hingewiesen
(Rommel et al., 2012, 24).
Verschiedene internationale Studien untersuchten bei übergewichtigen und adipösen
Menschen differenziert, inwiefern Defizite in der Emotionsregulation mit einer
bestimmten Ausprägung des Ernährungsverhaltens einhergehen. Die Kategorisierung
des Ernährungsverhaltens erfolgte in den im Folgenden aufgeführten Studien auf
Grundlage des Dutch Eating Behavior Questionnaire (DEBQ) von Van Strien (2010).
Das emotionale Ernährungsverhalten (emotional eating behavior) ist dadurch
gekennzeichnet, dass als Reaktion auf negative Gefühle gegessen wird. Hierbei wird
angenommen, dass das Essen eine erlernte Strategie darstellt, um Emotionen zu
regulieren (Stapleton & Whitehead, 2014, 359).
Externales oder „Außenreiz abhängiges“ Ernährungsverhalten (external eating
behavior) ist dadurch gekennzeichnet, dass bspw. der Anblick oder der Geruch von
Lebensmitteln das Essen auslöst. Dieses Verhalten wird damit in Verbindung
gebracht, dass die eigenen Körpersignale wie Hunger oder Sättigung nicht
68
ausreichend wahrgenommen werden und die Betroffenen daher vermehrt auf
Außenreize reagieren (Stapleton & Whitehead, 2014, 359).
Das gezügelte Ernährungsverhalten (restraint eating behavior) ist durch eine stete
kognitive Kontrolle gekennzeichnet, die reguliert, was und wieviel gegessen wird.
Hierbei wird angenommen, dass Stress oder starke Emotionen, die kognitive
Kontrolle aufheben, zu einem unkontrollierten Essen führen (Pudel & Westenhöfer,
1998, 178).
Häufig wird insbesondere das Auftreten von Essanfällen als Folge von Stress oder
starken
Emotionen
mit einem
grundsätzlich
gezügelten Ernährungsverhalten
assoziiert. Hierbei wird das „bewusst kontrollierte Essen“ durch das Auftreten von
Stress oder starken Emotionen durchbrochen und führt zu einer vermehrten
Nahrungszufuhr. Bereits in den 1980er Jahren konnte gezeigt werden, dass
„gezügelte Esser“
weniger auf ihre inneren Körper- und Hungersignale reagieren
(Stunkard & Messick, 1985, 81). Neuere Studien zeigen, dass Kinder mit einem „stark
gezügelten Essverhalten“ dann vermehrt essen, wenn sie unter hohem Stressniveau
stehen. Ein mäßiges Stressniveau hatte hingegen kaum Einfluss auf das
Ernährungsverhalten (Balantekin & Roemmich, 2012, 298 – 303).
Eine Studie von van Strien, Herman und Verheijden (2009) weist hingegen daraufhin,
dass ein gezügeltes Ernährungsverhalten weniger stark mit Übergewicht assoziiert ist
als
das
externale
und
das
emotionale
Ernährungsverhalten.
Hierbei
wird
angenommen, dass ein gezügeltes Ernährungsverhalten die Nahrungsaufnahme
grundsätzlich „erfolgreich kontrolliert“ und lediglich in Ausnahmefällen mit einem
Überessen einhergeht, so dass es seltener zu Übergewicht und Adipositas führt (Van
Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385).
Van Strien, Herman & Verheijden sehen in ihrer Studie Übergewicht und Adipositas
am stärksten mit einem emotionalen Ernährungsverhalten assoziiert (Van Strien,
Herman & Verheijden, 2009, 385).
69
In Bezug auf externales Ernährungsverhalten konnten van Strien, Herman und
Verheijden
(2009)
keine
signifikanten
Unterschiede
zwischen
normal-
und
übergewichtigen Menschen feststellen. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf
die Annahme, dass es sich bei dem externalen Ernährungsverhalten um eine
evolutionäre Anpassungsleistung handelt, die in modernen Industriegesellschaften
das Ergebnis von stetig steigenden Außenreizen ist, die es zu verarbeiten gilt (Van
Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385).
Ellrott beschreibt es (wie in Abb. 16 dargestellt) als einen natürlichen Prozess, dass
von Geburt bis etwa zur Mitte des Lebens die Außenreize zunehmenden Einfluss auf
das Ernährungsverhalten nehmen. Dieser Trend ist in der zweiten Lebenshälfte
wieder rückläufig (Ellrott, 2007, 168).
Abbildung 16: Einfluss von Außenreizen auf das Ernährungsverhalten
(Ellrott, 2007, 168)
Eine Studie von Zijstra et al. (2012) untersuchte weiterhin 102 morbid adipöse
Frauen und ebenso viele Frauen in der Kontrollgruppe, die in Hinblick auf Alter und
Bildung der Untersuchungsgruppe angepasst war. Die beiden Gruppen wurden
hinsichtlich ihrer erlebten Emotionen, ihrer emotionalen Verarbeitungsprozesse und
ihrer Emotionsregulation miteinander verglichen. Die erhobenen Items und die
dazugehörigen Ergebnisse sind im Anhang dargestellt. In einem zweiten Schritt
untersuchten
die
Autoren,
inwiefern
die
Ergebnisse
einem
bestimmten
Ernährungsverhalten zuzuordnen sind.
70
Die Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede in Hinblick auf die erlebten Emotionen.
So erleben morbid adipöse Frauen signifikant weniger positive und mehr negative
Emotionen als die Frauen in der Kontrollgruppe. In der Gruppe der morbid Adipösen
erleben die emotionalen und externalen Esser ihre Emotionen signifikant negativer
als die gezügelten Esser (Zijstra, 2012, 1380).
Darüber hinaus wies die Gruppe der morbid adipösen Frauen signifikant mehr
Schwierigkeiten in der Identifizierung der eigenen Emotionen auf als Frauen in der
Kontrollgruppe. Hierbei wird anstelle einer differenzierten Wahrnehmung von
Emotionen ein undifferenzierter körperlicher Erregungszustand beschrieben, der
wiederum die Gefühlslage und die Fähigkeit der Emotionsregulation negativ
beeinträchtigt. In der Studie von Zijstra korreliert die Schwierigkeit, die eigenen
Emotionen
wahrzunehmen,
mit
einem
emotionalen
und
einem
externalen
Ernährungsverhalten, nicht aber mit einem gezügelten Essverhalten (Zijstra, 2012
1381 – 1382).
Die
Autoren
wahrzunehmen,
schlussfolgern,
ein
dass
entscheidender
die
Schwierigkeit,
Mechanismus
in
die
eigenen
Gefühle
der
Entstehung
und
Aufrechterhaltung der Adipositas ist. Diese Studie stützt die These, dass adipöse
Menschen mit einem emotionalen Ernährungsverhalten versuchen, die als stark
wahrgenommenen
Emotionen
mithilfe
einer
vermehrten
Nahrungszufuhr
abzuschwächen (Zijstra, 2012, 1383).
Des Weiteren zeigen die Ergebnisse der Studie, dass morbid adipöse Frauen
signifikant stärker ihre Gefühle unterdrücken als die Frauen der Kontrollgruppe.
Diesbezüglich konnte in der Studie jedoch kein Hinweis auf ein emotionales
Ernährungsverhalten gefunden werden, da dieser Aspekt in der Gruppe der
externalen und gezügelten Esser gleichwertig ausgeprägt ist (Zijstra, 2012 1383).
Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse der hier dargestellten Studien die zentrale
Rolle der Emotionsverarbeitung und –regulation in Hinblick auf die Entstehung und
71
Aufrechterhaltung von Adipositas. Hierbei dient eine vermehrte Nahrungszufuhr als
Strategie
zur
Regulation
Emotionsregulation
nehmen
von
den
Emotionen.
Studien
Verschiedene
zufolge
Aspekte
Einfluss
auf
der
das
Ernährungsverhalten und das resultierende Körpergewicht. So werden bspw. die
eigenen Emotionen vermindert, undifferenziert oder auch vermehrt negativ
wahrgenommen oder unterdrückt. Wiederholt wird eine verminderte Fähigkeit der
Emotionsregulation beschrieben. Während die Studien kontroverse Ergebnisse zum
externalen und gezügelten Ernährungsverhaltens in Bezug zur Fähigkeit der
Emotionsregulation liefern, ist ein emotionales Ernährungsverhalten einheitlich mit
Defiziten in der Emotionsregulation assoziiert.
Darüber hinaus haben van Strien, Herman & Verheijden ihre Ergebnisse mit einer
Studie aus den 1980er Jahren (Van Strien 1986) verglichen und heben einen
immensen Anstieg des emotionalen Ernährungsverhaltens hervor. Auf dieser
Grundlage plädieren sie dafür, in der Debatte um die „aktuelle Adipositasepidemie“
vermehrt die Emotionen in den Blick zu nehmen. Sie verweisen in diesem
Zusammenhang auf gesellschaftliche Veränderungen, die von einer Abnahme sozialer
Verbundenheit und einer Zunahme von äußeren Gefahren wie Krieg und Gewalt
geprägt ist (Van Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385).
Zusammenfassend konnte in diesem Kapitel dargestellt werden, dass Adipositas mit
Einschränkungen in der Emotionsregulation einhergeht. Diese eingeschränkte
Fähigkeit zur Emotionsregulation konnte darüber hinaus mit der elterlichen
Erziehung in Bezug gebracht werden. Dieser Zusammenhang wurde bei adipösen
Kindern und Jugendlichen bestätigt, die ihre Eltern als ablehnend, wenig
unterstützend,
bestrafend oder überbehütend beschreiben. Der gesamte Kontext
familiärer Beziehungen und deren Wirkungsweise auf die Entstehung von Adipositas
wird in den Behandlungsansätzen bisher jedoch völlig vernachlässigt.
72
Im Folgenden werden abschließend Behandlungsansätze aufgezeigt, die den
zentralen Punkt der Emotionsregulation beinhalten und sich somit als Elemente in der
Prävention und Behandlung von Adipositas eignen.
6.2 Die Bedeutung der Emotionsregulation für die
Adipositasbehandlung
„Multimodale Behandlung, die auf eine Änderung des Ernährungsund Bewegungsverhaltens fokussiert [ist] und dabei eine flexible
Kontrolle des Essverhaltens unterstützt, erreicht die höchste
Wirksamkeit. Die zu erwartenden Effekte sind jedoch als moderat zu
bezeichnen.“ (Munsch & Hilbert, 2015, 59)
Munsch und Hilbert postulieren die Notwendigkeit, die aktuellen Erkenntnisse über
psychologische
Mechanismen
wie
bspw.
die
Emotionsregulation
in
aktuelle
Behandlungsmodelle für adipöse Menschen einfließen zu lassen, um die Wirksamkeit
der Behandlung zu erhöhen. Sie betonen in diesem Zusammenhang die Vorteile
eines unspezifischen Trainings zur Emotions- und Impulskontrolle, da sich eine
Fokussierung auf das Problemverhalten, insbesondere bei Defiziten in der
Emotionsregulation, kontraproduktiv auswirken kann. Bisher fehlen Studien, die die
Wirksamkeit eines Trainings zur Emotionsregulation bei adipösen Menschen belegen.
Munsch und Hilbert leiten die zu vermutende positive Wirkung eines solchen
Trainings daher von Studien ab, die positive Effekte eines Trainings zur
Emotionsregulation bei psychischen Störungen belegen können. So gehen bspw.
Übungen zum Identifizieren von Emotionen oder zur Reduktion des Vermeidens von
Gefühlen mit einer Verbesserung der Emotionsregulation und einem insgesamt
verbesserten Behandlungseffekt bei psychischen Störungen einher (Munsch und
Hilbert 2015, 35).
Emotionen
spielten
in
verhaltenstherapeutischen
Ansätzen
lange
Zeit
eine
untergeordnete Rolle. Im Zuge der „2. Welle der Verhaltenstherapie“ wurde zwar die
73
Relevanz
der
Emotionen
in
therapeutischen
Interventionen
erkannt,
doch
entwickelten sich daraus zunächst Ansätze, die die Veränderung einzelner Emotionen
bzw. der zugehörigen Kognitionen und Verhaltensweisen zum Ziel hatten (Berking,
2015, 11).
Betrachtet man die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, die in den Leitlinien zur
Prävention und Behandlung von Adipositas (DAG, 2014) als unterstützende Elemente
empfohlen werden, so sind diese, mit dem Ziel der Veränderung des Ernährungsund Bewegungsverhaltens, dieser Phase zuzuordnen.
Obwohl die Annahme, dass eine vermehrte Nahrungszufuhr maßgeblich auf Defizite
in der Emotionswahrnehmung und -regulation zurückzuführen ist, durch zahlreiche
Studien unterstützt wird, fehlen bisher Studien, die die Effektivität eines Trainings für
adipöse Menschen zur Verbesserung der Emotionsregulation belegen. Das Fehlen
randomisiert kontrollierter Studien weist hingegen auf den großen Forschungsbedarf
in diesem Bereich hin.
Eine Fallstudie von Telch (Telch 1997) sowie eine Pilotstudie von Svaldi et al. (Svaldi
et al. 2014) konnten zeigen, dass bei Menschen mit Binge-Eating-Störung (BES) die
Häufigkeit von Essanfällen durch ein Training der Emotionsregulation
signifikant
reduziert werden konnte.
Eine Übersicht neuer Behandlungsansätze zur Emotions- und Impulsregulation in
Bezug auf Adipositas ist nach Munsch und Hilbert in Tab. 2 dargestellt.
74
Tabelle 2 : Neue Behandlungsansätze zur Emotions- und Impulsregulation in
Bezug auf Adipositas (Munsch & Hilbert, 2015, 36 – 37)
Intervention
Ziel
Bezug zu Adipositas
Emotionsregulation
•
Psychoedukation zu
Grundemotionen, deren
varianten und der
Zusammenhang mit
•
•
und -benennung
Kognitionen
•
Interpersonelle Konflikte und
soziales Verhalten
Korrekte Emotionswahrnehmung
•
Zusammenhang von
Psychophysiologie und
Stimmung und Ernährungs-
Verhalten
verhalten
•
Selbstbeobachtung
•
Interpersonelle Situationen
analysieren
•
Rollenwechsel und –spiele
Emotionsregulation
•
Gefühle verstehen und
akzeptieren lernen
•
„Abwarten lernen“
•
Umgang mit Emotionen lernen
•
„You can´t stop the waves,
•
Akzeptanz und Toleranz
gegenüber den Emotionen üben
but you can learn to surf“
•
•
Funktionaler
•
•
Gefühle verringern
•
Isolation und soziale Angst
•
Depressive oder ängstliche
reduzieren
Kognitive Umstrukturierung,
Emotionsausdruck
korrektive Erfahrungen im
Kontraintuitives Handeln
Umgang mit kritischen
(z.B. sich angstauslösenden
Situationen fördern
Stimmung reduzieren
•
Situationen stellen)
•
Essen aufgrund aversiver
Affektive Instabilität
regulieren lernen
Kognitive Neubewertung von
Situationen
Impulsregulation
•
Konfrontation z.B. mit
•
Nahrungsreizen und
Reaktionsverhinderung mit
Inhibitionstraining: bewusste
•
Kontrolle automatisierter
•
Verhaltensabläufe zurückerobern
Gedächtnisspanne bzgl.
•
Arbeitsgedächtnistraining
Wörtern, Zahlen und Bildern
•
Stärken der Exekutivfunktionen
Verhaltensinhibition im
Nahrungskontext
dem Ziel „Nichts tun und
lediglich abwarten“
•
•
Verbessertes bewusstes
Steuern von Verhalten im
trainieren
Nahrungskontext
•
Verhaltenssteuerung
75
6.2.1 Training der Emotionalen Kompetenz (TEK) als Element in der
Adipositasbehandlung
Als mögliches Element in der Behandlung von Adipositas wird im Folgenden
exemplarisch das Training der Emotionalen Kompetenz (TEK) vorgestellt. Es wurde
ausgesucht, da es detailliert auf einzelne Aspekte eingeht, die unter 6.1.3 als
essentiell für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Adipositas herausgearbeitet
wurden.
Das Training Emotionaler Kompetenz wurde entwickelt, um gezielt emotionale
Kompetenzen zu stärken, die für die Gesundheit relevant sind. Hiernach sind sieben
Kompetenzen für die Regulation der eigenen Emotionen besonders relevant. Auf
Grundlage dieser Kompetenzen entwickelte Berking das „Training Emotionaler
Kompetenz (TEK)-Modell“, das im Folgenden umrissen dargestellt wird.
Abbildung 17: Training emotionaler Kompetenz (Berking, 2015, 15)
76
Berking betont, dass, auch wenn es im Ergebnis entscheidend ist, belastende
Emotionen regulieren bzw. akzeptieren zu können, alle dargestellten Kompetenzen
wie bspw. Wahrnehmen und Benennen der Emotionen ebenso relevant sind. Diese
Fähigkeiten können das Regulieren bzw. Akzeptieren der Emotionen grundlegend
unterstützen (Berking, 2015, 8).
Das erste Ziel des Trainings ist zunächst die bewusste Wahrnehmung (1) sowie das
Erkennen und Benennen (2) von Gefühlen. Es ist hierbei die Absicht, in
vermeintlichen
Erregungszuständen,
ausgelöst
durch
Stress
oder
negative
Emotionen, innezuhalten und mithilfe von Entspannungsübungen dem „Teufelskreis
negativer Emotionen“ entgegenzuwirken. Dies stellt die Grundlage dafür dar,
Emotionen wahrzunehmen und zu identifizieren und nicht wie bisher unspezifisch auf
einen emotionalen Erregungszustand zu reagieren. Diese Inhalte werden bspw. von
Muskel- und Atementspannungsübungen begleitet.
Darüber hinaus wird trainiert, Situationen zu analysieren (3) und alternative
Handlungsoptionen zu generieren. Hierbei werden zunächst „emotionsneutrale“
Situationen gewählt. Später können die erworbenen Fähigkeiten in belastenden
Situationen angewendet werden. Ziel ist es, hierbei „Gefühle von Hilflosigkeit und
Überforderung abzuwenden“ (Schwarz & Berking, 2013, 234). Hierzu können im
Laufe des Trainings a) Ansatzpunkte für Veränderungen erarbeitet werden bzw. b)
bei
vergeblichen
Änderungsversuchen
ein
„Akzeptieren
und Aushalten von
Emotionen“ trainiert werden (Berking, 2015, 14).
Ein weiterer Schritt zur Stärkung der Emotionsregulation ist die „emotionale
Selbstunterstützung“ (4). Hierbei gilt es, zunächst zu erkennen, welche Kognitionen
mit belastenden Emotionen verbunden sind. Vielfach zeigen sich hierbei gedankliche
Abwertungen der eigenen Person gegenüber. Mithilfe von Imaginationen entwickeln
die Teilnehmer in belastenden Situationen ein wohlwollendes Mitgefühl für sich
77
selbst. Hierbei werden bspw. Sätze oder Bilder erarbeitet, die die Person in einer
belastenden Situation stärken (Berking, 2015, 14, Schwarz & Berking, 2013, 233).
Mit der „gezielten Regulation“ (5) wird angestrebt, belastende Gefühle positiv zu
verändern. Hierbei ist es nicht das vorrangige Ziel, negative Gefühle abzuschwächen,
sondern vielmehr positive Emotionen zu stärken. Hierzu wird erarbeitet, welches
Gefühl die Situation bestimmt und welches Gefühl sich die Person stattdessen
wünschen würde. Die Teilnehmer werden angeleitet, Ideen zu sammeln, was sie tun
können, um sich dem gewünschten Gefühl anzunähern. Hierzu werden verschiedene
Strategien gesammelt und im Alltag umgesetzt. In der Umsetzung ist es wichtig,
trotz eventueller Schwierigkeiten bemüht zu bleiben oder alternative Strategien
auszuprobieren, auch Teilerfolge zu würdigen und Misserfolge (für eine begrenzte
Zeit) akzeptieren zu lernen (Berking, 2015, 15).
Die Akzeptanz und Toleranz (6) ist eine wesentliche Kompetenz im Umgang mit
negativen Emotionen, da eine (sofortige) willentliche Änderung unliebsamer
Emotionen
zumeist
unrealistisch
ist.
Oftmals
wird
auf
„schädliche
Mittel“
zurückgegriffen, um derart belastende Emotionen zu vermeiden. Beim Erlernen der
Akzeptanz belastender Emotionen ist es nicht das Ziel, diese Gefühle angenehm zu
finden, sondern
„geht es darum, Gefühlen die Erlaubnis zu geben, da zu sein und sich
darüber bewusst zu sein, dass der rigide Kampf gegen unsere Gefühle
diese nur stärker macht.“ (Schwarz & Berking, 2013, 232)
Abschließend ist es Ziel des Trainings, sich emotional belastenden Situationen zu
stellen (7). Auf diese Weise lassen sich die im Training erworbenen Kompetenzen
erproben und weiter ausbauen. Anhand der praktischen Erfahrungen können weitere
Kompetenzen zur Regulation und zur Akzeptanz von Emotionen erworben werden
(Berking, 2015, 15 -16).
78
Das Training Emotionaler Kompetenz beinhaltet eine gezielte Stärkung von
Fähigkeiten, die bei adipösen Menschen nach den unter 6.1.3 dargestellten Studien
unzureichend ausgeprägt sind. So ist Adipositas bspw. mit Defiziten in der
Wahrnehmung und Identifizierung von Emotionen assoziiert und Essen wird als
Strategie zur Emotionsregulation genutzt, wenn Gefühle nicht mehr ausgehalten
werden.
Aufgrund der steigenden Prävalenzzahlen und der moderaten Erfolge bisheriger
Behandlungsansätze ist es dringend notwendig, die Erkenntnisse über die Bedeutung
der Emotionsregulationsfähigkeit für die Entstehung und Aufrechterhaltung von
Adipositas in der Prävention und Behandlung von Adipositas umzusetzen. Das
Training von Berking bietet hier eine Vielzahl von Verknüpfungspunkten, die für die
Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas relevant sind.
Mit dem Fokus auf Familie wird abschließend auf die Bedeutung der Förderung von
elterlichen Ressourcen in der Behandlung von Adipositas eingegangen.
6.2.2 Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz als Ansatz für
die Prävention und Behandlung von Adipositas
„Parenting is probably the most important public health issue facing
our society” (Hoghugi, 1998, 1545 zitiert nach: BZgA, 2011, 10)
In
Hinblick
auf
die
steigenden
Adipositasprävalenzzahlen
bei
Kindern
und
Jugendlichen und den hier dargestellten Zusammenhang von Adipositas und dem
elterlichen Erziehungsstil bzw. den familiären Beziehungen, ist die Einbeziehung der
Eltern in die Behandlung der Adipositas dringend zu empfehlen. Hierin bietet sich die
Möglichkeit,
die
Eltern-Kind-Beziehung
positiv
zu
gestalten
und
sowohl
internalisierendes als auch externalisierendes Verhalten der Kinder zu reduzieren
(Petermann & Petermann, 2013, 3). In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben,
dass die Ernährungserziehung Bestandteil der elterlichen Kompetenzförderung
79
darstellen sollte. Viel entscheidender ist jedoch die Stärkung von elterlichen
Kompetenzen, die die familiäre Beziehungsqualität betreffen. Den elterlichen
Erziehungskompetenzen kommt hierbei in Bezug auf die Gesundheit der Kinder eine
enorme Relevanz zu (BZgA, 2011, 11).
„Eltern mit hoher Elternkompetenz bewahren das Kind nicht nur vor der
Exposition gegenüber bestimmten Stressoren, sondern fungieren darüber
hinaus auch als Co-Regulatoren der Erfahrungen von (Klein-) Kindern, bis
diese ausreichende selbstregulative Fähigkeiten entwickelt haben.“
(Sapienza & Masten 2011, zitiert nach: BZgA, 2011, 14)
Eine
positiv
emotionale
Beziehung,
die
von
elterlicher
Zuwendung
und
Aufmerksamkeit geprägt ist sowie einem konsistent lenkenden Erziehungsverhalten,
dass auf übermäßig strenge und körperliche Bestrafungen und manipulative Kontrolle
verzichtet, wirkt sich grundlegend positiv auf die kindliche Entwicklung aus. Ein
solches Erziehungsverhalten wird somit als wesentlicher Schutzfaktor des Kindes
gegenüber körperlichen und seelischen Risiken betrachtet (Reichle & Gloger-Tippelt,
2007, 203)
Nach Baumrind lassen sich anhand der Komponenten Wärme und Zuwendung sowie
Lenkung und Kontrolle vier unterschiedliche Erziehungsstile klassifizieren. Demnach
geht ein autoritativer Erziehungsstil, der sich durch ein hohes Maß an elterlicher
Zuwendung und Wärme, ein mittleres bis hohes Maß an Kontrolle sowie klare
Grenzen
und
angemessene
Konsequenzen
auszeichnet,
mit
einer
positiven
Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung einher (Baumrind, 1991, nach BzGA, 2011,
20).
80
Abbildung 18: Erziehungsstile nach Baumrind (Baumrind 1991 zitiert nach BzGA,
2011, 20)
In Bezug auf Adipositas zeigte sich hingegen vielfach ein unsicherer Bindungsstil und
ein ablehnendes, wenig unterstützendes und bestrafendes sowie ein kontrollierendes
und
überbehütendes
Erziehungsverhalten.
Sowohl
die
hier
dargestellten
Zusammenhänge von Adipositas und familiären Beziehungen als auch die
Erkenntnisse über deren Bedeutung in Hinblick auf die gesunde Entwicklung von
Kindern bekräftigen die Relevanz einer familienorientierten Gesundheitsförderung.
Auch in diesem Zusammenhang ist auf die Rahmenbedingungen hinzuweisen, die
ihrerseits einen bedeutenden Einfluss auf die Erziehungskompetenzen der Eltern und
damit auf die Qualität familiärer Beziehungen nehmen. Hierbei können die vielfältigen
Anforderungen, denen Familien ausgesetzt sind sowie Belastungssituationen,
ökonomische
Probleme
oder
körperliche
wie
seelische
Erkrankungen
die
Erziehungskompetenzen der Eltern abschwächen (Petermann & Petermann, 2006, 5).
Abbildung 19:
Einflüsse auf die elterlichen Erziehungskompetenzen
(Belsky, 1984, 84)
81
Die Abbildung 19 von Belsky (1984) zeigt anschaulich, wie die elterlichen
Erziehungskompetenzen
in
Wechselwirkung
mit
der
Persönlichkeit
der
Individuen, der Paarbeziehung, der Arbeitssituation und dem sozialen Umfeld
stehen.
6.2.3 Angebote zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz
In einem Review von Herr et al. wurde die Wirksamkeit von elternzentrierten
Interventionen untersucht. Hierbei ist das einheitliche Ziel der unterschiedlichen
elternzentrierten Ansätze der Aufbau einer guten Eltern-Kind-Beziehung und die
Etablierung
effektiver
Erziehungsstrategien
der
Eltern,
um
die
kindlichen
Verhaltensauffälligkeiten zu reduzieren. So werden bspw. die kindlichen Fähigkeiten
der Emotionsregulation über ein Erziehungstraining der Eltern gefördert. Eltern
werden
in
ihrem
Erziehungsstil
dahingehend
unterstützt,
dem
Kind
eine
angemessene Aufmerksamkeit und Lob entgegenzubringen, klare Regeln und
logische Konsequenzen umzusetzen. Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass
elternzentrierte
Interventionen
externalisierenden
sowohl
bei
internalisierenden
Verhaltensauffälligkeiten
im
Sinne
als
einer
auch
bei
positiven
Verhaltensänderung der Kinder und einem verbesserten Wohlergehen der Eltern
wirksam sind. Zeitgleich weisen Herr et al. jedoch daraufhin, dass trotz der
nachgewiesenen
Effektivität
elternzentrierter
Interventionen
diese
nicht
bedarfsdeckend eingesetzt werden (Herr et al. 2015, 7 – 11).
In
Deutschland
gibt
Erziehungskompetenzen
es
eine
fördern.
Vielzahl
In
ihrer
von
Angeboten,
Expertise
die
elterliche
„Gesundheitsfördernde
Elternkompetenzen“ untersuchten Walper und Thönnissen 47 Angebote nach deren
inhaltlicher Ausrichtung. Die Auswertung zeigt, dass den Themen „emotionale
Zuwendung“ und dem „Stressmanagement der Eltern“, welches die Fähigkeit zur
Emotionsregulation beinhaltet, der größte Stellenwert eingeräumt wird. Etwa ein
Drittel der Programme beziehen außerdem die Bindungstheorie inhaltlich ein (BZgA,
2011, 222 – 223, 226).
82
Nach den dargestellten Ergebnissen sind diese Inhalte auf der Erziehungsebene für
die Behandlung von Adipositas besonders relevant. Vielfach richten sich die Angebote
an sozial benachteiligte Familien oder Alleinerziehende oder sind für alle Eltern offen.
Ein Angebot zur Steigerung der Elternkompetenz, das gezielt auf die Prävention und
Behandlung von Adipositas ausgerichtet ist, konnte in der Expertise nicht gefunden
werden. Grundlegend ist anzunehmen, dass Angebote, die die Emotionsregulation,
emotionale Zuwendung und die Bindungsqualität beinhalten, sich positiv auf familiäre
Beziehungen und Adipositas relevante Erziehungsthemen auswirken. Hierbei bleibt
jedoch fraglich, inwiefern sich Familien mit adipösen Kindern von einem solchen
Angebot angesprochen fühlen. Es ist weiterhin anzunehmen, dass Inhalte, die
zielgruppenspezifisch auf Familien mit adipösen Kindern ausgerichtet sind, die
Effektivität eines solchen Angebots erhöhen.
In Bezug auf die Behandlung von adipösen Kindern und Jugendlichen ist ein
multiprofessioneller Ansatz, der auf familienorientierte Konzepte ausgerichtet ist, als
dringend notwendig zu betrachtet. Dennoch ist die Behandlungswirklichkeit in
Deutschland von diesem Ideal weit entfernt (Wiegand & Ernst, 2015, 495 – 496).
83
7 Fazit
Weltweit hat sich die Adipositasprävalenz
in den letzten 30 Jahren mehr als
verdoppelt. Insbesondere westliche Industriestaaten, wie Deutschland, sind von
dieser Entwicklung betroffen. Etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in
Deutschland gilt als adipös. Als besonders besorgniserregend gelten vor allem die
steigenden Adipositasprävalenzzahlen bei Kindern und Jugendlichen, die sich seit den
1980er Jahren verdreifacht haben.
In der Diskussion über die Entstehung der Adipositas werden biologische,
sozioökonomische und psychische Ursachen diskutiert. Grundlegend kann Adipositas
als das Ergebnis eines multifaktoriellen Entstehungsprozesses betrachtet werden, der
von biologischen, gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren geprägt ist, die
zudem in Wechselwirkung miteinander stehen.
Obwohl die Entwicklung des Ernährungsverhaltens als ein „Paradebeispiel“ eines
biopsychosozialen Lernprozesses beschrieben wird, der maßgeblich durch die Familie
geprägt wird, werden diese Zusammenhänge in geringem Maße wissenschaftlich
diskutiert und in Präventions- und Behandlungsansätzen für die praktische
Umsetzung kaum berücksichtigt.
Studien belegen, dass die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entscheidend
von der Familie geprägt wird. Hierbei spielen sozioökonomische Faktoren eine
wesentliche Rolle. Viel entscheidender für eine gesunde Entwicklung von Kindern
scheint jedoch die Beziehungsqualität in der Familie zu sein. Hierbei können adipöse
Kinder und Jugendliche auf signifikant weniger familiäre sowie persönliche und
soziale Ressourcen zurückgreifen als normalgewichtige Kinder.
In Bezug auf Adipositas stehen Beziehungserfahrungen direkt mit der Entwicklung
und Ausdifferenzierung des Ernährungsverhaltens in Zusammenhang. So können sich
in der direkten Ernährungserziehung Hinweise auf die familiäre Beziehungsqualität
84
sowie
elterliche Erziehungskompetenz finden. Die Ergebnisse der Arbeit
zeigen,
dass bspw. ein rigides Ernährungsmanagement ein Ausdruck von Macht und
Kontrolle darstellen kann und somit mit einem autoritären Erziehungsstil assoziiert
ist. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Essen von Eltern eingesetzt wird, um
emotionale Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Ein derartiges „Funktionalisieren“
des Essens führt dazu, dass die eigentlichen kindlichen Bedürfnisse unbefriedigt
bleiben. Im Beziehungskontext können hierbei Rückschlüsse auf eine unsichere
Bindung und eine unzureichende Empathiefähigkeit bzw. Responsivität der Eltern
gezogen werden.
Der zentrale Aspekt in der Betrachtung des Ernährungsverhaltens von Adipösen ist,
dass das Essen als eine Strategie der externen Emotionsregulation zu verstehen ist.
Hierbei wird das Essen eingesetzt, um Emotionen zu regulieren. Diese Verknüpfung
wird vielfach über eine Ernährungserziehung erlernt, die kindliche emotionale
Bedürfnisse in Form von Essen befriedigt. Grundlegend wird davon ausgegangen,
dass der Emotionsausdruck, die Responsivität der Eltern, der familiäre Umgang mit
negativen Emotionen und familiäre „Koregulationen“ von Emotionen die Entwicklung
der Emotionsregulation des Kindes beeinflussen. Einzelne Untersuchungen von
adipösen Kindern belegen, dass eine unsichere Eltern-Kind-Bindung sowie ein
autoritäres, ablehnendes sowie auch überprotektives Erziehungsverhalten mit einem
„emotionalen Ernährungsverhalten“ des Kindes einhergeht, welches wiederum mit
Adipositas assoziiert ist.
Die Ergebnisse der Arbeit unterstreichen die maßgebliche Rolle der Familie in Hinblick
auf
die
Entstehung
und
Aufrechterhaltung
von
Adipositas.
Hierbei
konnte
herausgearbeitet werden, wie sehr Adipositas als das Ergebnis eines psychosozialen
Lernprozesses
betrachtet
werden
kann,
das
maßgeblich
durch
die
Beziehungserfahrungen in der Familie geprägt ist. Hierbei steht der zentrale Aspekt
der
Emotionsregulation
in
direktem
Zusammenhang
mit
dem
elterlichen
Erziehungsverhalten.
85
Vielfach bleibt die inadäquate Strategie des Essens zur Emotionsregulation bis ins
Erwachsenenalter wirksam. Insofern sind auch bei erwachsenen Adipösen familiäre
und psychologische Ursachen ihres Ernährungsverhaltens nicht zu vernachlässigen.
Bei einigen interviewten Adipösen zeigte sich außerdem, dass die Emotionen, die im
Erwachsenenalter die Nahrungszufuhr auslösen, mit unbearbeiteten familiären
Belastungen und Konflikten in Verbindung stehen.
Ganz im Gegensatz zu Präventions- und Behandlungsansätzen von Essstörungen wie
Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung, werden die psychosozialen
Ursachen und die damit in Zusammenhang stehenden familiären Beziehungen in der
Prävention und Behandlung von Adipositas weitestgehend außer Acht gelassen.
Gerade in Hinblick auf steigende Prävalenzzahlen, insbesondere bei Kindern und
Jugendlichen, den geringen Erfolgsquoten bisheriger Behandlungsansätze und den
damit verbundenen Kosten ist es dringend notwendig, die Erkenntnisse über die
Bedeutung der familiären Beziehungen und der Erziehungskompetenzen für die
Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas zu berücksichtigen und konkrete
Angebote zu entwickeln, die die Kompetenzen der Eltern im Sinne einer guten ElternKind-Bindung stärken.
Ein Ansatz zur Prävention und Behandlung von Adipositas, der die Regulation von
Emotionen
in den Vordergrund stellt, kann für Eltern, Kinder und adipöse
Erwachsene eine entscheidende Hilfestellung darstellen, um Emotionen adäquat zu
regulieren und nicht mehr auf die Strategie des Essens zurückzugreifen. Hierbei geht
es primär um eine Förderung der Wahrnehmung von Gefühlen und der Entwicklung
adäquater Strategien im Umgang mit
eigenen Emotionen oder den emotionalen
Bedürfnissen der Kinder.
Grundlegend
ist
hierbei
nicht
zu
vernachlässigen,
dass
sowohl
das
Erziehungsverhalten als auch die Fähigkeit zur Emotionsregulation immer in
Zusammenhang mit verfügbaren Ressourcen zu betrachten ist. Hierbei stehen
86
sozioökonomische
Ressourcen
stets
in
Wechselwirkung
mit
individuellen
Lernprozessen.
Insgesamt weisen die Ergebnisse der Arbeit auf einen weiteren Forschungsbedarf
hinsichtlich der Zusammenhänge von Adipositas und familiären Beziehungen hin.
Darüber hinaus fehlen Programme, die die bisherigen Erkenntnisse in Hinblick auf
Adipositas und Familie integrieren. Zugleich sind Interventionsprogramme zur
Stärkung
elterlicher
Ressourcen
kaum
auf
Familien
mit
adipösen
Kindern
ausgerichtet. Dementsprechend steht eine weiterführende Wirksamkeitsforschung in
diesem Bereich bisher aus.
Insbesondere in Bezug auf adipöse Kinder und Jugendliche ist es darüber hinaus
dringend notwendig, Institutionen wie Kindergarten, Schule oder Einrichtungen der
Jugendhilfe für die Zusammenhänge von familiären Beziehungen und Adipositas zu
sensibilisieren. Über den Weg der Elternarbeit sollten niedrigschwellige Angebote zur
Unterstützung von Familien mit adipösen Kindern und Jugendlichen geschaffen
werden.
Übergeordnet fehlt es an einer ganzheitlichen Betrachtung gesundheitlicher
Problemstellungen und einer Zusammenführung unterschiedlicher Fachrichtungen in
der Wissenschaft und in der Praxis. Die angewandten Familienwissenschaften können
hierbei ein bisher fehlendes Bindeglied zwischen gesundheitlichen, psychosozialen
und gesellschaftlichen Fachrichtungen darstellen und in dieser Funktion einen
wesentlichen
Beitrag
zum
umfassenderen
Verständnis
gesundheits-
und
gesellschaftsrelevanter Herausforderungen leisten.
87
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bei Kindern und Jugendlichen, 279 - 290, Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften
96
9 Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Berechnung des Body Mass Index
6
Abbildung 2:
Entwicklung der Adipositasprävalenz bei Erwachsenen in
Deutschland seit 1990
9
Abbildung 3:
Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Prozent
9
Abbildung 4:
BMI-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen
Vergleich
10
Abbildung 5:
Entwicklung des Ernährungsverhaltens
13
Abbildung 6:
Ätiologie der Adipositas nach Schneider et al
16
Abbildung 7:
Adipositasprävalenz in Abhängigkeit von der Schulbildung
21
Abbildung 8:
Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Familienstand
21
Abbildung 9:
Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom
Pro-Kopf-Netto-Einkommen
22
Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen
in Abhängigkeit vom sozialen Status der Familie
23
Abbildung 10:
Abbildung 11:
Verhaltenstherapeutische Elemente in der
Adipositasbehandlung
28
Abbildung 12:
Emotionen, die das Essen auslösen
56
Abbildung 13:
Alterstypische Strategien zur Emotionsregulation
62
Abbildung 14:
Einflüsse auf die Entwicklung der Emotionsregulation
62
Abbildung 15:
Einfluss der Familie auf die Emotionsregulation
64
Abbildung 16:
Einfluss von Außenreizen auf das Ernährungsverhalten
70
Abbildung 17:
Training emotionaler Kompetenz
76
Abbildung 18:
Erziehungsstile nach Baumrind
81
Abbildung 19:
Einflüsse auf die elterlichen Erziehungskompetenzen
81
97
10 Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Klassifikation des Körpergewichts
Tabelle 2 :
Neue Behandlungsansätze zur Emotionsund Impulsregulation in Bezug auf Adipositas
7
75
98
11 Abkürzungsverzeichnis
AGA:
Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter
BES:
Binge-Eating-Störung
BMI:
Body Mass Index
BZgA:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
DAG:
Deutsche Adipositas Gesellschaft
DEGS:
Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (RKI)
DGPM:
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie
ICD:
International Statistical Classification of Diseases and Related Health
Problems
KIGGS:
Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
(RKI)
KVT:
Kognitive Verhaltenstherapie
LOC:
Loss of Control Eating
RKI:
Robert Koch-Institut
WHO:
World Health Organization
99
Anhang
A
BMI-Perzentilkurve Jungen
(Kromeyer et al., 2001)
100
B
BMI-Perzentilkurve Mädchen (Kromeyer et al., 2001)
101
C
Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit
von Kindern und Jugendlichen - Jungen - (Rattay, 2012)
102
D
Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit
von Kindern und Jugendlichen - Mädchen - (Rattay, 2012)
103
E
Emotionale Verarbeitungsprozesse bei adipösen Frauen
im Vergleich zur Kontrollgruppe (Zijstra et al., 2012)
104
F
Interviewleitfaden
(Hink, 2015)
Gewichtsentwicklung und Ursachen
•
•
•
Erzählen Sie zunächst von Ihrer Gewichtsentwicklung, wenn möglich von der
Kindheit bis heute.
Gab es bestimmte Ereignisse, die Ihren Gewichtsverlauf (-zu- und abnahme)
beeinflusst haben?
Worin würden Sie selbst die Ursachen für Ihr Übergewicht sehen?
Ernährungsverhalten
•
Was würden Sie selbst sagen, inwiefern haben Sie Ernährungsweisen aus Ihrer
Kindheit/ Jugend bis heute beibehalten? Was ist Ihnen in besonderer Erinnerung
geblieben?
•
o
o
o
o
o
o
Welche Gründe fallen Ihnen ein, warum Sie essen:
Ich esse, wenn...
Ggf. anleiten: wenn ich traurig bin
Aus Langeweile
Als Belohnung
Wenn ich Stress habe
Um mich zu spüren
•
Können Sie sich erinnern, wann das angefangen hat, dass Sie aus diesen Gründen
essen?
•
•
•
Würden Sie selbst sagen, dass Sie regelmäßig an Essanfällen leiden?
Wenn ja, wie sehen diese dann aus?
Wenn ja, können Sie benennen, was die Auslöser für diese Essanfälle sind?
105
Familiäre Beziehungen mithilfe von Genogramm
Ich komme nun zum letzten Themenabschnitt, in dem ich Ihnen gerne einige Fragen zu Ihrer
Familie stellen würde. Hierzu würde ich gerne ein Genogramm mit Ihnen erstellen, um einen
Überblick über Ihre Familie und das Vorkommen von Adipositas zu erhalten.
Ihre Eltern
•
•
•
•
•
Wie würden Sie die Beziehung zu Ihren Eltern heute beschreiben?
Wie haben Sie Ihre Eltern als Kind erlebt?
Gab es Geschwister? Wie war die Beziehung untereinander?
Gab es in Ihrer Ursprungsfamilie besondere Lebensereignisse, die Sie als Familie stark
beeinflusst haben? (Tod, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung etc...)
Ist/ war jemand aus Ihrer Ursprungsfamilie übergewichtig/ adipös?
Kernfamilie
•
Sind Sie liiert/ verheiratet?
Haben Sie Kinder?
Wie würden Sie in ein paar Stichpunkten - die Beziehung zu Ihrem Partner/ Kindern
beschreiben?
Gab es in mit Ihrem Mann/ Ihren Kindern besondere Lebensereignisse, die Sie als
Familie stark beeinflusst haben? (Tod, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung etc...)
Ist jemand aus Ihrer Kernfamilie übergewichtig/ adipös?
•
Gab es vorherige Ehen/ Lebenspartnerschaften
•
•
•
•
Gibt es ihrerseits noch wichtige Informationen, die wir hier noch nicht angesprochen
haben?
Abschluss
Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und Ihre persönlichen Erzählungen!
Sollten Fragen etc. im Anschluss an dieses Gespräch auftauchen, melden Sie sich gerne!
106
Eidesstattliche Erklärung
Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe selbstständig
verfasst und nur angegebene Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Wörtlich oder
dem Sinn nach aus anderen Werken entnommene Stellen sind in allen Fällen unter
Angabe der Quelle kenntlich gemacht. Die Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher
Form keiner anderen Prüfungsbehörde zur Erlangung eines akademischen Grades
vorgelegt.
Osnabrück, den 21.03.2016
__________________
Marisa Hink
107
Danksagung
Ich danke Frau Prof. Dr. Katja Weidtmann für ihre stete, freundliche und konstruktive
Betreuung dieser Thesis und für ihren Einsatz in allen Studienangelegenheiten und
darüber hinaus.
Ich danke Herrn Prof. Dr. Hantel-Quitmann für die Betreuung dieser Arbeit, seine
umfangreiche Expertise und für zahlreiche wertvolle Impulse während des Studiums.
Ich
danke
dem
gesamten
Team
des
Studiengangs
„Angewandte
Familienwissenschaften“. Dieses Studium ist für mich eine bedeutende Möglichkeit
der beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung gewesen.
Ganz besonders danke ich meiner Familie. Ich danke meinem Mann, der mir in
diesen intensiven Familienjahren den Raum für dieses Studium ermöglicht hat und
mich ermutigt hat, diesen Weg zu gehen. Ich danke meinen Kindern für ihre Geduld
in „heißen Phasen“ und vor allem für ihre Freude in gemeinsamen Zeiten.
Ich danke meinen Eltern für ihre bestärkenden Worte und ihre tatkräftige
Unterstützung als Oma und Opa, ohne die die Realisierung dieses Studiums kaum
möglich gewesen wäre. Auch meinen Schwiegereltern danke ich herzlich für ihren
großelterlichen Einsatz.
Ich danke allen Freunden, die mich auf so unterschiedliche Art und Weise unterstützt
haben, insbesondere Nina, Julia, Thorsten, Nina und Christine.
108