FAKULTÄT W IRTSCHAFT UND SOZIALES DEPARTMENT: SOZIALE ARBEIT STUDIENGANG: ANGEWANDTE FAMILIENWISSENSCHAFTEN (MA) Wenn Familie dick macht Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen Master-Thesis Vorgelegt von: Marisa Hink Tag der Abgabe: 21.03.2016 Betreuende Prüferin: Prof. Dr. Katja Weidtmann Zweiter Prüfer: Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................................... 4 2 Definition und Prävalenz ....................................................................................... 6 2.1 Definition .................................................................................................... 6 2.2 Prävalenz .................................................................................................... 8 3 Ätiologie ............................................................................................................... 12 3.1 Die Entwicklung des Ernährungsverhaltens ................................................. 12 3.2 Der multifaktorielle Entstehungsprozess der Adipositas ................................ 15 3.2.1 Biologische Faktoren ............................................................................ 17 3.2.2 Kulturelle und sozioökonomische Faktoren ............................................ 18 3.2.3 Psychische Ursachen ............................................................................ 23 4 Aktuelle Empfehlungen zur Adipositasbehandlung ........................................ 27 4.1 Behandlungsempfehlungen der Adipositas .................................................. 27 4.2 Behandlungsempfehlungen von Adipositas und Essstörungen im Vergleich... 29 4.3 Psychologische Elemente in der Adipositasbehandlung ................................. 33 4.4 Aktueller Forschungsstand ......................................................................... 34 5 Die Familie im Fokus der Adipositasgenese ..................................................... 38 5.1 Familie und Gesundheit.............................................................................. 39 5.2 Adipositas unter dem Einfluss psychosozialer Ressourcen............................. 42 5.3 Adipositas und der soziale Status der Familie .............................................. 44 1 5.4 Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen .............................................. 47 5.4.1 Essen als Kompensation emotionaler Bedürfnisse .................................. 49 5.4.2 Rigides Ernährungsverhalten ............................................................... 51 5.4.3 Adipositas als Ausdruck familiärer Beziehungen ..................................... 52 5.5 Bedeutung der erlernten Emotionsregulation für das Erwachsenenalter ........ 55 6 Emotionsregulation im Fokus der Adipositasbetrachtung ............................. 61 6.1 Die Entwicklung der Emotionsregulation...................................................... 61 6.1.1 Der familiäre Einfluss auf die Entwicklung der Emotionsregulation .......... 63 6.1.2 Das Ernährungsverhalten im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung ............. 65 6.1.3 Adipositas als Resultat einer verminderten Fähigkeit zur Emotionsregulation ................................................................................................................... 67 6.2 Die Bedeutung der Emotionsregulation für die Adipositasbehandlung........... 73 6.2.1 Training der Emotionalen Kompetenz (TEK) als Element in der Adipositasbehandlung ................................................................................... 76 6.2.2 Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz als Ansatz für die Prävention und Behandlung von Adipositas ................................................................... 79 6.2.3 Angebote zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz ............... 82 7 Fazit .................................................................................................................... 84 8 Literaturverzeichnis........................................................................................... 88 9 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 97 10 Tabellenverzeichnis........................................................................................... 98 11 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 99 2 Anhang .................................................................................................................. 100 A BMI-Perzentilkurve Jungen ......................................................................... 100 B BMI-Perzentilkurve Mädchen ................................................................... 101 C Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Jungen - ......................................................................... 102 D Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Mädchen - ...................................................................... 103 E Emotionale Verarbeitungsprozesse bei adipösen Frauen im Vergleich zur Kontrollgruppe ....................................................................................... 104 F Interviewleitfaden .................................................................................. 105 Eidesstattliche Erklärung..................................................................................... 107 Danksagung .......................................................................................................... 108 3 1 Einleitung Weltweit sind etwa 600 Millionen Menschen von Adipositas betroffen (WHO 2016). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht in Zusammenhang von Übergewicht und Adipositas von einer weltweiten „um sich greifenden Epidemie“ (WHO, 2007, xi), die in europäischen Regionen eine der „schwerwiegendsten Probleme für die öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert“ darstellt (WHO, 2007, 1). Obwohl die Adipositasgenese auf eine Vielzahl von biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Faktoren zurückgeführt werden kann (Pudel & Westenhöfer, 1998, 134), wird der starke Anstieg der Adipositasprävalenz weitestgehend mit einer vermehrten Zufuhr energiereicher Nahrung und der zeitgleich abnehmenden körperlichen Aktivität begründet (WHO, 2007, 14). Dementsprechend setzen Maßnahmen zur Behandlung von Adipositas vorwiegend auf der Verhaltensebene an – bei dem Ernährungs- und Bewegungsverhalten. Während die Forschung sich in der Vergangenheit primär auf körperliche und genetische Ursachen fokussierte (Wirth, 2015, Blüher et al. 2013), wurden psychosoziale Faktoren als Ursache für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas weitaus weniger untersucht. Die Familie wird in Hinblick auf die Adipositasgenese sowie für Präventions- und Therapieansätze meist nebensächlich erwähnt. Beispielhaft zeigt sich dies in der aktuell gültigen „Interdisziplinären Leitlinie zur Prävention und Therapie von Adipositas“ der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG e.V., 2014). Dabei kommt der Familie in Hinblick auf die Entwicklung des Ernährungsverhaltens und insgesamt eines gesundheitsfördernden Verhaltens eine besonders bedeutungsvolle Aufgabe zu (WHO, 2007, 14). 4 In der hier vorliegenden Arbeit wird die Bedeutung der Familie in Hinblick auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Adipositas herausgestellt und diskutiert. Hierzu werden einführend die aktuellen Prävalenzzahlen der Adipositas betrachtet und die Faktoren dargestellt, die für die Entstehung der Adipositas diskutiert werden. Anschließend werden medizinische Klassifikationen und Behandlungsansätze der Adipositas hinterfragt und im Vergleich mit Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung (BES) kritisch betrachtet. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Auseinandersetzung mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen. Hierbei wird beleuchtet, inwiefern das zu Adipositas führende Ernährungsverhalten mit familiären Beziehungen in Zusammenhang steht. Der Fokus dieser Auseinandersetzung liegt auf der Emotionsregulation. Hierbei wird der Einfluss der direkten Ernährungserziehung und der grundlegenden Qualität familiärer Beziehungen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas dargestellt. Aufbauend auf diesen Ergebnissen werden abschließend Bedarfe und beispielhafte Möglichkeiten für die Betrachtung und Behandlung von Adipositas abgeleitet und aufgezeigt. 5 2 Definition und Prävalenz Im folgenden Kapitel wird einführend auf die Definition der Adipositas und die aktuellen Prävalenzzahlen eingegangen und somit ein grundlegender Einblick in die Bedeutung von Adipositas geschaffen. Hierbei verweist ein kurzer internationaler Vergleich der Prävalenzzahlen auf kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse auf Adipositas. In Bezug auf Deutschland werden die Adipositasprävalenzzahlen im zeitlichen Verlauf dargestellt, so dass sich hieraus die Aktualität und Relevanz des Themas Adipositas erkennen lässt. Ein wesentlicher Aspekt für diese Arbeit ist die Betrachtung der Prävalenzzahlen von Kindern und Jugendlichen, da hier der Familie eine maßgebliche Rolle in Bezug auf die Gewichtsentwicklung zukommt. 2.1 Definition Adipositas wird als ein über das Normalmaß hinausgehender Anteil des Körperfetts an der Gesamtkörpermasse definiert. Die Beurteilung der Körperfettmasse basiert auf der jeweiligen Körpergröße und dem Körpergewicht. Aus diesen anthropometrischen Größen lässt sich der Body Mass Index (BMI) errechnen, bei dem von einer engen Korrelation zum Fettanteil des Körpers ausgegangen wird (DAG e.V. et al., 2014, 15). Die Berechnung des Body Mass Index ist in Abb. 1 dargestellt. BMI = Körpergewicht (kg) Körpergröße (m)2 Abbildung 1: Berechnung des Body Mass Index (eigene Darstellung nach: DAG-Homepage, 2016) Der BMI ist somit eine indirekte Kenngröße der Körperfettmasse. In epidemiologischen Studien wurde bestätigt, dass der BMI mit der Körperfettmasse korreliert. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass bei gleichem BMI inter-individuell große Unterschiede in der Körperfettmasse bestehen. Aus dieser Perspektive ist der BMI ungeeignet, inter-individuelle Unterschiede, die bspw. mit dem Alter, dem 6 Geschlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit einhergehen, zu erfassen (Hauner, 2013, 9 – 10). Seit dem Jahr 2000 findet die altersunabhängige WHO-Klassifikation des Körpergewichts von Erwachsenen weltweit Verwendung (Hauner, 2013, 2). Die Gewichtsklassifikation nach dem BMI ist in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1: Klassifikation des Körpergewichts (eigene Darstellung nach WHO, 2016 a) Kategorie BMI = Risiko für (Gewicht kg / Folgeerkrankungen Größe m2) Untergewicht < 18,5 niedrig Normalgewicht 18,5 – 24,9 durchschnittlich Übergewicht 25 – 29,9 gering erhöht Adipositas Grad I 30 – 34,9 erhöht Adipositas Grad II 35 – 39,9 hoch Adipositas Grad III ≥ 40 sehr hoch Für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren wird eine Gewichtsklassifizierung mithilfe der alters- und geschlechtsabhängigen BMI-Perzentilkurven von Kromeyer et al. (2001) ermittelt. Überschreitet das Gewicht die 90. Perzentile, so gelten Kinder und Jugendliche als übergewichtig und oberhalb der 97. Perzentile als adipös (Boeing & Bachlechner, 2015, 372). Die Perzentilkurven für Kinder und Jugendliche sind im Anhang der Arbeit aufgeführt. 7 2.2 Prävalenz Die Prävalenz der Adipositas ist weltweit kontinuierlich steigend und hat sich in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt (WHO, 2016 b). Nationalen Studien zur Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in 190 Ländern zufolge waren im Jahr 2008 weltweit 9,8% der Männer und 13,8% der Frauen adipös (Wirth, 2013a, 26). Dabei nimmt die Prävalenz der Adipositas nicht in allen untersuchten Ländern im gleichen Maße zu, vielmehr ist eine gegenteilige Tendenz zu beobachten: Der Abstand zwischen den Ländern mit dem höchsten durchschnittlichen BMI und denen mit dem niedrigsten durchschnittlichen BMI hat sich in dem Zeitraum von 1980 bis 2008 von 5,4 kg/m2 auf 7,8 kg/m2 erhöht. Hierbei ist Nordamerika die Region mit dem höchsten durchschnittlichen BMI, während Kongo und Bangladesch die untersuchten Länder mit dem niedrigsten durchschnittlichen BMI darstellen. Diese Beobachtung unterstreicht die Abhängigkeit des Körpergewichtes von kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren, die wiederum in Wechselwirkung mit dem Individuum stehen (Wirth, 2013a, 29). In Deutschland sind 23,3% der Männer und 23,9% der Frauen von Adipositas betroffen (Mensink et al., 2013, 788). Auch wenn der BMI in Deutschland im weltweiten Vergleich weniger stark ansteigt als bspw. in Nordamerika oder Australien, zeigt der Vergleich des Mikrozensus von Daten aus den Jahren 1999 und 2009 eine stetige Zunahme der Adipositasprävalenz (Wirth, 2013a, 29 – 30). Die Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1, 2013) zeigen, dass der Anteil der übergewichtigen Männer und Frauen in den letzten 10 Jahren auf hohem Niveau stabil geblieben ist. Hingegen hat die Adipositasprävalenz weiter zugenommen. Obwohl die Adipositasprävalenz insgesamt mit zunehmendem Alter ansteigt, ist zu beobachten, dass diese in den letzten 10 Jahren vor allem in der Altersgruppe von jungen Erwachsenen im Alter von 25 – 34 Jahren zugenommen hat (Mensink et al., 2013, 788 - 790). Die Adipositasprävalenz in Deutschland ist im zeitlichen Verlauf seit 1990 in Abb. 2 dargestellt. 8 Abbildung 2: Entwicklung der Adipositasprävalenz bei Erwachsenen in Deutschland seit 1990 (Mensink et al., 2013, 790) Die Tendenz, dass Adipositas vermehrt in jungen Lebensjahren auftritt, ist bereits im Kindes- und Jugendalter zu beobachten. Nach der KIGGS Studie des Robert KochInstituts (RKI) aus dem Jahr 2007, in der das Gewicht und die Größe von 17 641 Kindern gemessen wurde, sind 6,3% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 – 17 Jahren adipös. Auf Deutschland hochgerechnet würde man auf dieser Zahlengrundlage von 800 000 adipösen Kindern und Jugendlichen ausgehen (Kurth & Schaffath-Rosario, 2007, 738). Die Adipositas-Prävalenzzahlen von Kindern und Jugendlichen sind, differenziert nach Alter in Abb. 3 dargestellt. 10 8 6 Jungen 4 Mädchen 2 Gesamt 0 3 - 6 Jahre 7- 10 Jahre 11 - 13 Jahre 14 - 17 Jahre Gesamt 3 - 17 Jahre Abbildung 3: Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Prozent (eigene Darstellung nach: Kurth & Schaffrath-Rosario, 2007, 738) Betrachtet man die Adipositasprävalenz von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen Verlauf, so hat sich diese bspw. in der Altersgruppe der 14 – 17-Jährigen seit den 9 1980er Jahren verdreifacht und lag 2008 bei 8,5% (RKI & BZgA, 2008, 44). Nach neuesten Zahlen liegt die Adipositasprävalenz bei 11 – 17-Jährigen bei 10% (RKI, 2015, 206). Diese Entwicklung ist als besonders besorgniserregend zu betrachten, da Adipositas in frühen Lebensjahren langfristig mit einem erhöhten Risiko für Folgeerkrankungen sowie einer vermehrten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und einer erhöhten Mortalität einhergeht (Sonntag & Schneider, 2015, 380-383). In Abb. 4 ist die BMI-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen Verlauf dargestellt. Hierzu wurden die Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) aus dem Erhebungszeitraum 2003 – 2006 (durchgezogene Linie) mit Referenzdaten verglichen, die im Zeitraum von 1985 – 1999 erhoben wurden (gestrichelte Linie). Abbildung 4: BMI-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen Vergleich (Kurth & Schaffrath-Rosario, 2007, 741) 10 Die Abbildung lässt erkennen, dass sich der BMI von Kindern und Jugendlichen in den letzten 20 Jahren deutlich erhöht hat. Insbesondere ab dem 7. Lebensjahr ist ein Anstieg des durchschnittlichen BMIs zu beobachten. Die Ergebnisse unterstreichen die gesundheitspolitische und gesellschaftliche Relevanz der Adipositas. Grundlegend ist zu beobachten, dass die Adipositasprävalenz in Deutschland kontinuierlich ansteigt. Der internationale Vergleich verweist auf den Einfluss kultureller und gesellschaftlicher Faktoren und legt nahe, dass der Lebensstil in modernen Industriestaaten wie Deutschland mit Adipositas assoziiert ist. Als besonders bedeutsam ist in dieser Entwicklung der starke Anstieg der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zu beurteilen. Die Frage, die sich hier anschließt, ist, welche Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas diskutiert werden und wie sich aus ihnen der Anstieg der Prävalenzzahlen erklären lässt. Im Folgenden werden die Faktoren, die mit Adipositas in Zusammenhang stehen, genauer betrachtet. 11 3 Ätiologie Die Entstehung der Adipositas basiert grundsätzlich auf dem anhaltenden „Prinzip der positiven Energiebilanz“, d.h., dass die Energiezufuhr bei Adipösen höher ist als deren Energieverbrauch. Hierbei beeinflussen eine Vielzahl von Faktoren sowohl die Energieaufnahme als auch die Energieabgabe (Pudel & Westenhöfer, 1998, 134 – 135). In der Diskussion über die Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas ist es hierbei unabdingbar, sich zunächst mit der Entwicklung des Ernährungsverhaltens auseinanderzusetzen. 3.1 Die Entwicklung des Ernährungsverhaltens Nach biologischem Verständnis ist dem Säugling die Fähigkeit zur Steuerung der Nahrungsaufnahme bereits angeboren. Dabei wird die Nahrungsaufnahme durch die Primärbedürfnisse Hunger, Durst und Sättigung reguliert. Diese biologische HungerSättigung-Regulation wird als Innensteuerung des Ernährungsverhaltens betrachtet (Pudel& Westenhöfer, 1998, 38, 46). Mit zunehmendem Alter wird das Ernährungsverhalten immer weniger von den sogenannten „Innenreizen“ Hunger und Sättigung reguliert, sondern vielmehr von Sekundärbedürfnissen gesteuert, die sich anhand von individuellen Lernprozessen ausbilden (Ellrott, 2007, 169). Diese Lernprozesse sind maßgeblich von der Familie und den kulturellen Bedingungen geprägt. Die Entwicklung des Ernährungsverhaltens im Kindes- und Jugendalter ist in Abb. 5 dargestellt. 12 Abbildung 5: Entwicklung des Ernährungsverhaltens (Ellrott, 2007, 167) Als „angeboren“ wird bspw. die Süß-Präferenz und Bitter-Aversion von Kleinkindern betrachtet. Hierbei bevorzugen Kinder zunächst süße und salzige Lebensmittel und vermeiden zumeist saure und bittere. Diese weltweiten Beobachtungen werden als das Ergebnis eines jahrhundertelangen Evolutionsprozesses verstanden (Ellrott, 2007, 167). Für Reeske und Spallek (2011) ist die Ausdifferenzierung des Ernährungsverhaltens als eine Interaktion von genetischen und umweltbedingten Faktoren zu beschreiben, die bereits in der pränatalen Phase beginnt. Hierbei beeinflusst die mütterliche Ernährungskultur den Stoffwechsel des Kindes bereits intrauterin. Diese pränatale Entwicklungsphase wird von den Autoren als besonders vulnerabel für die spätere Gewichtsentwicklung betrachtet (Reeske & Spallek, 2011, 274). Über die Nabelschnur und das Fruchtwasser nimmt das ungeborene Kind Nährstoffe auf und lernt dabei unterschiedliche Geschmackseindrücke kennen. Es wird angenommen, dass Kinder nach der Geburt die aus dem Mutterleib bekannten Geschmacksrichtungen bevorzugen. Ein ebensolcher Einfluss wird dem Stillen zugeschrieben. Auch hier verändert sich der Geschmack der Muttermilch je nach 13 Ernährungsweise der Mutter und beeinflusst hiermit die späteren Ernährungspräferenzen des Kindes (Ellrott, 2007, 167 – 168). Nach dem Abstillen kommt es zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Nahrungsaufnahme und der Ausbildung sogenannter „Sekundärbedürfnisse“, die im Gegensatz zur Hunger-Sättigung-Regulation nicht angeboren sind, sondern im Laufe des Lebens erlernt werden und somit vor allem als das Ergebnis eines kulturellen und familiären Lernprozesses zu betrachten sind (Pudel & Westenhöfer, 1998, 38). Diese Erkenntnisse bekräftigen die Relevanz einer psychosozialen Betrachtung des Ernährungsverhaltens und der Adipositas. Die weitere Ausdifferenzierung des kindlichen Ernährungsverhaltens wird entscheidend durch die familiären Ernährungsgewohnheiten geprägt. Dabei bildet sich das Ernährungsverhalten des Kindes vor allem durch das Beobachten und Imitieren des familiären Ernährungsverhaltens heraus. Die Familie vermittelt hierbei, welche Lebensmittel und Gerichte gegessen werden, welche Vorlieben und Abneigungen gegenüber Nahrungsmitteln bestehen, ob es regelmäßige, gemeinsame Mahlzeiten gibt und in welcher Atmosphäre gegessen wird. Hierbei gestaltet sich das familiäre Ernährungsverhalten maßgeblich in Interaktion mit gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und Normen (Petermann & Häring, 2003, 264). „Diese quasi vererbten Vorlieben werden ab der Geburt durch einen jahrelangen soziokulturellen Lernprozess überformt.“ (Ellrott, 2007, 167) Die Abbildung von Ellrott zeigt darüber hinaus, das die Entwicklung des Ernährungsverhaltens über die gesamte Kindheit und Jugend hinweg von Lernprozessen begleitet wird, die von der Erziehung geprägt sind (Ellrott, 2007, 167). Zusammenfassend kann das Ernährungsverhalten als ein „Paradebeispiel“ für eine biopsychosoziale Interaktion beschrieben werden (Wirth, 2015, 362). Hierbei sind körperliche und seelische Erfahrungen eng miteinander verknüpft und stehen 14 zeitgleich in Wechselwirkung mit kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Familie nimmt in der Entwicklung des Ernährungsverhaltens die zentrale Rolle ein. Dabei ist vor allem deren vielfältige Wirkungsweise bedeutsam, da sie auf biologischer, soziokultureller und psychosozialer Ebene das Ernährungsverhalten prägt und daher in Bezug auf die Adipositasgenese auf allen Ebenen diskutiert werden muss. Zugleich unterstreicht diese Betrachtung, dass jegliche Ausprägung des Ernährungsverhaltens auf diese Grundlage zurückzuführen ist. Dieser Aspekt wird in Kapitel 4 in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Behandlungsansätzen von Adipositas und Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung erneut aufgegriffen und diskutiert. 3.2 Der multifaktorielle Entstehungsprozess der Adipositas Betrachtet man die Entstehung der Adipositas, die auf eine positive Energiebilanz zurückgeführt wird, so ist nicht abschließend geklärt, welche Faktoren diese in welchem Maße beeinflussen und welche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten bestehen (Pudel & Westenhöfer, 1998, 134 –135). Grundsätzlich ist die Entstehung der Adipositas multifaktoriell zu betrachten. Hilde Bruch, die über vierzig Jahre als Psychiaterin auf dem Gebiet der Essstörungen geforscht hat, konstatiert, dass die „Symptomkomplexe“ der Adipositas „...weder rein physiochemisch noch physiologisch, noch allein auf psychologische oder gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen [sind]; sie entwickeln sich vielmehr als Ausdruck von Störungen im Zusammenspiel all dieser verschiedenen Kräfte.“ (Bruch, 1991, 16) 15 Nach Bruch ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sich Adipositas anhand einer Vielzahl von Komponenten entwickelt und diese nicht als einheitlicher Zustand, sondern vielmehr in ihrer individuellen Entwicklungsgeschichte zu betrachten ist (Bruch, 1991, 16). Einen Einblick in die Komplexität und das Zusammenspiel von Einflussfaktoren auf die Entstehung und Manifestation von Adipositas gibt das Poster von Schneider et al. (2009), das in Abb. 6 dargestellt ist. Abbildung 6: Ätiologie der Adipositas nach Schneider et al. (Schneider et al., 2009) Das Schaubild von Schneider verdeutlicht hierbei nicht nur die Vielzahl von Einfluss nehmenden Faktoren, sondern ebenso die Verwobenheit der einzelnen Faktoren untereinander. 16 In der Abbildung von Schneider et al. wird der Einfluss der Familie auf den Lebensstil sowie auf psychische Faktoren dargestellt. Weiterhin werden die Wechselwirkungen zwischen der Familie und dem sozioökonomischen Status deutlich. Auf diese Aspekte des familiären Einflusses wird in Kapitel 5 ausführlich eingegangen. Im Folgenden wird zunächst die Bedeutung biologischer, soziokultureller und psychischer Faktoren als Ursache für Adipositas betrachtet. 3.2.1 Biologische Faktoren Aus biologischer Sicht wird der Einfluss der Familie vorwiegend durch die Weitergabe von Genen erklärt. Aus naturwissenschaftlicher Sicht wird angenommen, dass das Körpergewicht zu 50 – 80% biologisch „vererbt“ wird und damit auf genetische Ursachen zurückzuführen ist. Hintergrund dieser Annahme sind bspw. Untersuchungen an Zwillingen (SØrensen et al., 1992) die adoptiert und getrennt voneinander aufgewachsen sind. Hierbei zeigte sich, dass der BMI der Kinder mit dem ihrer leiblichen Eltern deutlich korrelierte, während sich dieser Zusammenhang mit dem BMI der Adoptiveltern nicht bestätigte (Frieling, Hinney & Bleich, 2015, 390). Aus diesen Ergebnissen wurde die biologische Erblichkeit hergeleitet. Dabei beziehen diese Schätzungen sowohl direkte als auch indirekte genetische Faktoren ein. Hierbei ist bspw. der übermäßige Hunger des Säuglings als direkter und die Reaktion der Mutter, bspw. das häufige Stillen, als indirekter Faktor zu bewerten (Blüher et al., 2013, 49). Trotz dieser großen Erblichkeitsschätzungen kann bis heute nur ein kleiner Anteil der Adipositas von etwa 5% durch molekulargenetische Befunde gesichert werden (Frieling, Hinney & Bleich, 2015, 392). Dabei scheint die monogene Form der Adipositas, welche auf die Mutation einzelner Gene (hauptsächlich im Leptin-Melancortin-Stoffwechsel) zurückzuführen ist, eine 17 seltene Ausnahme darzustellen. Ein größerer Anteil lässt sich durch die polygene Adipositas erklären, bei der grundsätzlich mehrere Gene einen jeweils kleinen Beitrag in der Entstehung von Adipositas leisten und die außerdem in Wechselwirkung miteinander und der Umwelt stehen. In Hinblick auf die geringe Anzahl gesicherter Befunde wird gegenwärtig von einer „fehlenden oder versteckten Erblichkeit“ gesprochen. Demzufolge wäre der biologische Einfluss der Familie als gering einzuschätzen. Große Erwartungen liegen hingegen auf neuen Technologien, die in Zukunft eine vollständige und kostengünstige Analyse des gesamten Genoms ermöglichen und hiermit möglicherweise weitere Mutationen identifizieren, die für die Gewichtsregulation relevant sind (Frieling, Hinney & Bleich, 2015, 391 -393). 3.2.2 Kulturelle und sozioökonomische Faktoren Der Einfluss sozioökonomischer Ursachen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas gilt als vielfach belegt (Kurth & Rosario, 2007, 738). Hierbei nimmt die Familie vorwiegend die Rolle der primären Sozialisationsinstanz ein und steht für die Vermittlung von kulturellen, gesellschaftlichen und familiären Werten. Dabei ist die Funktion und Wirkungsweise der Familie stets in Abhängigkeit von den sozioökonomischen Gegebenheiten der umgebenden Kultur und Gesellschaft sowie den sozioökonomischen Faktoren der Familie selbst zu betrachten (Rattay, 2012, 2). Grundlegend wird eine hohe Adipositasprävalenz mit dem Lebensstil der modernen Industriegesellschaft assoziiert. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass der sozioökonomische Entwicklungsstand eines Landes Einfluss auf die Adipositasprävalenz nimmt. Während Adipositas bspw. in armen Regionen mit einem hohen sozialen Status assoziiert ist, zeigt sich in den wohlhabenderen Industriestaaten ein inverses Verhältnis, so dass das Adipositasrisiko in diesen Ländern vorwiegend mit einem niedrigen sozioökonomischen Status verbunden ist (Zwick, 2011, 73). 18 Insbesondere mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft sind eine Vielzahl von Änderungen in den Lebensgewohnheiten und –umständen verbunden, die den gesamten Lebensstil beeinflussen und sich langfristig auf das Körpergewicht auswirken (Wirth, 2013b, 38). So herrscht in den modernen Industriestaaten ein ständiges Überangebot von Nahrung, das außerdem immer mehr davon geprägt ist, schnell verfügbar und oftmals hochkalorisch zu sein. Für die Beschaffung der Nahrung muss zeitgleich kaum noch körperliche Aktivität aufgewendet werden. Zeitgleich werden auch soziale Kontakte und Wege der Informationsbeschaffung zunehmend durch Medien ermöglicht, was zusätzlich zu einer geringeren körperlichen Aktivität führt (Munsch & Hibert, 2015, 15 – 16). Unter dieser Annahme lassen sich die hohen Adipositasprävalenzzahlen in modernen Industrieländern und die vergleichsweise niedrigen Prävalenzzahlen in tendenziell sozioökonomisch schwach entwickelten Ländern erklären. Für Zwick sind die Ursachen der Adipositas aus dieser Perspektive „sozialer Natur“. „Adipositas ist in den hoch industrialisierten Überflussgesellschaften ein normal erwartbares Phänomen, das weitgehend aus den veränderten Lebensbedingungen resultiert.“ (Zwick, 2011, 76 – 77) Zugleich weist Zwick daraufhin, dass gesellschaftliche Veränderungen dabei immer in Wechselwirkung mit individuellen Lernprozessen stehen (Zwick, 2011, 77). So ist die Verbreitung von Adipositas ebenso im Kontext ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Bewertung zu betrachten. Während im letzten Jahrhundert in Deutschland „Wohlbeleibtheit“ mit „Wohlsituiertheit“ assoziiert und dementsprechend positiv konnotiert war, hat sich diese Sichtweise auf Adipositas in den letzten Jahrzehnten komplett verändert (Wirth, 2013b, 38). Es ist in der modernen ökonomisch saturierten Gesellschaft vielmehr als Aufgabe zu betrachten, dem Überfluss zu trotzen und trotz des ständigen Überangebots an Nahrung dem hiesigen Schlankheitsideal zu entsprechen (Zwick, 2011, 73). So hat sich eine negative soziale 19 Bewertung der Adipositas in Deutschland in den letzten 40 Jahren zunehmend verbreitet. Die körperliche Erscheinung der Adipositas, die nicht den hiesigen Werten und Schönheitsidealen entspricht, geht vielfach mit Diskriminierung einher, die wiederum der Entwicklung von Adipositas förderlich ist (Warschburger, 2015, 396). In diesem Zusammenhang sei bereits darauf hingewiesen, dass die soziokulturellen Rahmenbedingungen zwar ein Risiko für die Entstehung von Adipositas darstellen. Dennoch kann Adipositas nicht als automatische Folge äußerer Faktoren erwartet werden. So zeigt sich, dass eine gesunde Entwicklung weitaus mehr von Anzahl und der Qualität von persönlichen, familiären und sozialen Schutzfaktoren und weniger von Risikofaktoren bestimmt wird (Hantel-Quitmann, 1997, 14) Auf die besondere Bedeutung dieser Schutzfaktoren in Bezug auf Adipositas wird im Kapitel 5 weiterführend eingegangen. Studien aus Deutschland weisen grundlegend auf einen deutlichen Zusammenhang des individuellen sozioökonomischen Status und der Prävalenz von Adipositas hin. Ergebnisse der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS 1), in der der sozioökonomische Status anhand Einkommens zusammengefasst und des Bildungs- und Berufsstatus und definiert wurde, zeigen, dass des die Adipositasprävalenz bei Frauen und Männern aller Altersgruppen bei einem niedrigen sozialen Status am häufigsten vorzufinden ist. Ausnahme bildet die Altersgruppe der 46- bis 64- jährigen Männer, hier ist die Adipositasprävalenz bei mittlerem sozialen Status am ausgeprägtesten (Mensink et al., 2013, 792). Einen Einblick in die Einflussgröße einzelner Faktoren, die mit dem sozialen Status assoziiert sind, liefert die Nationale Verzehrs-Studie II von 2008. Darin wurde der Zusammenhang von Adipositas und den Aspekten Schulbildung, Familienstand und Pro-Kopf-Netto-Einkommen differenziert untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die Schulbildung einen enormen Einfluss auf die Adipositasprävalenz aufweist. Im Vergleich zu der Gruppe mit (Fach-) Hochschulreife, 20 verdoppelt (Männer) bzw. verdreifacht (Frauen) sich die Adipositasprävalenz, wenn der höchste Schulabschluss der Haupt- bzw. Volksschulabschluss ist (Max-RubnerInstitut, 2008, 89). Dieser Zusammenhang ist in Abb. 7 dargestellt. 40% 30% Hauptschule 20% Realschule 10% (Fach-)Hochschulreife 0% Männer Frauen Abbildung 7: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit von der Schulbildung (eigene Darstellung nach: Max-Rubner-Institut, 2008, 89) Ein fast ebenso starker Zusammenhang lässt sich in Relation zum Familienstand ableiten. Demnach sind 13,2% der Männer und 12% der Frauen von Adipositas betroffen, wenn diese ledig sind. Diese Prävalenzzahlen verdoppeln sich nahezu in der Gruppe der verheirateten sowie geschiedenen Männer und Frauen. Am stärksten ausgeprägt ist die Adipositasprävalenz bei verwitweten Männern (27,7%) und Frauen (33,4%). Diese Zahlen sind altersbereinigt, d.h. die unterschiedliche Altersstruktur in dem jeweiligen Familienstand wurde berücksichtigt (Max-Rubner-Institut, 2008, 91). Die Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Familienstand ist in Abb. 8 dargestellt. 40% 30% verheiratet 20% ledig geschieden 10% verwitwet 0% Männer Frauen Abbildung 8: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Familienstand (eigene Darstellung nach: Max-Rubner-Institut, 2008, 91). 21 Deutlich weniger ausgeprägt sind nach der Nationalen Verzehrs-Studie die Unterschiede der Adipositasprävalenz nach dem Pro-Kopf-Netto-Einkommen. Grundsätzlich bestätigt sich die Tendenz, dass die Adipositasprävalenz mit steigendem Einkommen abnimmt. Eine Ausnahme bildet die Gruppe der Männer, die pro Kopf unter 500 € Einkommen zur Verfügung haben. Diese sind seltener von Adipositas betroffen, als Männer mit einem Einkommen zwischen 500 € und 1500 € pro Kopf. Bei den Frauen ist hingegen eine kontinuierliche Abnahme der Adipositasprävalenz bei steigendem Pro-Kopf-Netto-Einkommen zu beobachten. Einzig in der höchsten Einkommensklasse von über 2000 € pro Kopf nimmt die Adipositasprävalenz im Vergleich zur Einkommensklasse 1500 € bis 2000 € leicht zu (Max-Rubner-Institut, 2008, 89 - 90). Die Ergebnisse sind in Abb. 9 veranschaulicht. 30% 25% ≤ 500 € 20% > 500 - 1000 € 15% > 1000 - 1500 € 10% > 1500 - 2000 € 5% > 2000 € 0% Männer Frauen Abbildung 9: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Pro-Kopf-NettoEinkommen (eigene Darstellung nach: Max-Rubner-Institut, 2008, 90). Die Ergebnisse der Nationalen Verzehrs-Studie weisen darauf hin, dass das finanzielle Einkommen zwar ein entscheidender Faktor für die Adipositasgenese ist, noch entscheidender scheint jedoch zu sein, auf welche Bildungsressourcen in den Familien zurückgegriffen werden kann und wie sich die familiären Verhältnisse gestalten. Inwiefern sich der soziale Status der Familie auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas im Kindes- und Jugendalter auswirkt, zeigen darüber hinaus die Auswertungen des Robert Koch-Instituts (RKI), die in Abb. 10 dargestellt sind. 22 Abbildung 10: Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit vom sozialen Status der Familie (RKI & BZgA, 2008, 43) Insgesamt steigt die Prävalenz von Adipositas bei Mädchen und Jungen aller Altersgruppen von 3 bis 17 Jahren an, je niedriger der soziale Status ihrer Familie ist. Bei Mädchen sind die Unterschiede der Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom sozialen Status der Familie am deutlichsten ausgeprägt. Hier liegt die Adipositasprävalenz bei niedrigem sozialen Status bis zu fünfmal höher als bei Familien mit hohem sozialen Status (RKI & BZgA, 2008, 43). Diese Daten betonen, dass der sozioökonomische Status der Familie einen entscheidenden Einfluss auf die Adipositasprävalenz der Kinder und Jugendlichen nimmt. Auf welche Weise der sozioökonomische Status der Familie zu der Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas beiträgt, wird unter 5.3 ausführlicher beleuchtet. 3.2.3 Psychische Ursachen In Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren, die für die Entstehung von Adipositas eine Rolle spielen, werden seelische Probleme bis hin zu psychischen Störungen seit Jahren als Ursache für Adipositas untersucht und kontrovers diskutiert. 23 Studien weisen bspw. daraufhin, dass psychische Störungen bei Adipösen häufiger vorliegen als bei normalgewichtigen Personen. Insbesondere sind Adipöse demnach häufiger als Normalgewichtige von Depressionen, Angststörungen und körperlichen Beschwerden betroffen, die nicht auf organische Ursachen zurückzuführen sind (Herpertz, 2013, 94 – 95). In der Frage danach, ob psychische Probleme die Ursache oder die Folge von Adipositas sind, lassen prospektive Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen darauf schließen, dass bspw. Depressionen vielmehr als Ursache der Adipositas zu bewerten sind als umgekehrt. Demnach stellt eine Depression im Kindes- und Jugendalter ein Risikofaktor für die Entstehung von Adipositas im Erwachsenenalter dar (Hasler et al., 2005, zitiert nach Herpertz, 2013). Die Ergebnisse einer Studie von Luppino et al. (2010, zitiert nach Herpertz, 2013) weisen hingegen auf eine bipolare Wirkungsweise hin. Demnach haben Adipöse ein 55% höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken. Ebenso haben Depressive ein um 58% höheres Risiko, an Adipositas zu erkranken (Herpertz, 2013, 90 – 95). Abgesehen von psychischen Störungen steht das psychische Befinden insgesamt eng mit dem Ernährungsverhalten in Verbindung und kann hier sowohl hyperkalorisches als auch hypokalorisches Essverhalten hervorrufen. In der deutschen Sprache werden zahlreiche Redewendungen verwendet, die darauf verweisen, dass das Ernährungsverhalten nicht nur der Sättigung des Hungers dient, sondern darüber hinaus weitere Funktionen erfüllt („ein Problem schlägt einem auf den Magen“, „man frisst den Kummer in sich hinein…“) (Herpertz, 2013, 90). Bereits die unter 3.1 dargestellte Betrachtung des Ernährungsverhaltens verweist darauf, dass Essen, neben der physiologischen Versorgung des Körpers mit Nährstoffen, eine ebenso bedeutende psychosoziale Funktion erfüllt. Hierbei wird bei Adipösen angenommen, dass negative Gefühlszustände zu einer vermehrten Nahrungsaufnahme führen. Demnach dient das Essen den Adipösen als 24 Spannungsabfuhr und als „temporärer Aufschub disphorischer Gefühle“. In diesem Sinne ist die Nahrungszufuhr als eine Strategie der Affektregulation zu bewerten, die langfristig zu Adipositas führt (Herpertz, 2013, 90). Es wird hierbei angenommen, dass akute intensive Emotionen oder Impulse die selbstregulativen Prozesse der Adipösen in Bezug auf die Nahrungsaufnahme behindern. Untersuchungen weisen darauf hin, dass Adipöse im Vergleich zu Normalgewichtigen häufiger inadäquate Strategien im Umgang mit ihren Emotionen aufweisen, in dem Emotionen unterdrückt werden oder nicht erkannt und benannt werden können. Hinzu kommt, dass ein „Überessen“ vermehrt mit einer erhöhten nahrungsmittelbezogenen Belohnungssensivität einhergeht, so dass der Anreiz der Nahrungsaufnahme zusätzlich erhöht ist (Munsch & Hilbert, 2015, 19 – 20). Dieser zentrale Aspekt der Emotionsregulation in Bezug auf die Entstehung von Adipositas wird ausführlich in Kapitel 6 besprochen. Zusammenfassend kann in Bezug auf die Ursachenbeschreibung gesagt werden, dass weder die Wirkungsweise der einzelnen Ebenen noch deren Zusammenspiel abschließend geklärt ist. Aus medizinischer Sicht liegen nach wie vor große Erwartungen in der Erkennung verschiedener Gene, die in gegenseitiger Wechselwirkung für die Entstehung von Adipositas verantwortlich sein könnten. Bisher kann Adipositas nur zu einem geringen Teil durch genetische Befunde erklärt werden. Hingegen steht Adipositas in einem klaren Zusammenhang zu dem modernen Lebensstil westlicher Industriestaaten, der durch eine ständige Verfügbarkeit von Nahrung und die fehlende Notwendigkeit körperlicher Bewegung gekennzeichnet ist. Ein derartiger Lebensstil kann als „Grundlage“ einer positiven Energiebilanz betrachtet werden. 25 Inwiefern diese äußeren Rahmenbedingungen zu Adipositas führen, ist wiederum von individuellen psychischen und sozioökonomischen Faktoren abhängig. Insgesamt führen diese Rahmenbedingungen vor allem dann zu Adipositas, wenn individuell auf eingeschränkte Ressourcen zurückgegriffen werden kann. Neben einem niedrigen finanziellen Einkommen wirkt sich vor allem ein geringes Bildungsniveau positiv auf die Adipositasprävalenz aus. Nicht zuletzt hat die psychische Gesundheit einen erheblichen Einfluss auf das Ernährungsverhalten. So ist Adipositas mit verschiedenen psychischen Erkrankungen assoziiert, wobei auch hier nicht abschließend geklärt ist, inwiefern sich Adipositas als Folge oder als Ursache psychischer Erkrankungen darstellt. Grundsätzlich steht Adipositas mit einem Ernährungsverhalten in Verbindung, dass der Regulation von Emotionen dient. So unterstreicht die Darlegung der diskutierten Ursachen den multifaktoriellen Entstehungsprozess der Adipositas. Die Familie ist in diesem Prozess vor allem deshalb so bedeutsam, weil sie alle genannten Ebenen maßgeblich beeinflusst. In der vorliegenden Arbeit wird das Augenmerk vorwiegend auf die psychologischen Zusammenhänge der Adipositas gelegt und hier insbesondere die Rolle der Familie auf dieser Ebene betrachtet. Die besondere Bedeutung der Familie in Hinblick die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas wird in Kapitel 5 und 6 ausführlich besprochen. 26 4 Aktuelle Empfehlungen zur Adipositasbehandlung Im Folgenden werden die aktuellen Behandlungsansätze der Adipositas dargestellt und insbesondere dahingehend überprüft, inwiefern psychologische Aspekte, die mit Adipositas in Verbindung stehen, berücksichtigt werden und in welcher Form die Familie in die Behandlungsansätze einbezogen wird. 4.1 Behandlungsempfehlungen der Adipositas Nach den interdisziplinären Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Adipositas sollte eine Gewichtsreduktionsmaßnahme aus den Modulen Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie bestehen. In Hinblick auf die Ernährung heißt es in den Leitlinien: „Zur Gewichtsreduktion sollen dem Patienten Ernährungsformen empfohlen werden, die über einen ausreichenden Zeitraum zu einem Energiedefizit führen und keine Gesundheitsschäden hervorrufen.“ (DAG et al., 2014, 45). Hierbei wird im Zuge der Ernährungsumstellung ein tägliches Energiedefizit von 500 kcal angestrebt, dass vor allem mittels einer Einschränkung des Fett- und Kohlenhydratverzehrs empfohlen wird. Hierdurch ist eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von 0,5 kg pro Woche zu erwarten (DAG et al., 2014 ,45 - 47). Weiterhin sollen adipöse Menschen grundlegend ermutigt werden, sich mehr körperlich zu bewegen. Für eine effektive Gewichtsreduktion wird ein moderates Ausdauertraining von mehr als 150 Minuten in der Woche empfohlen. Studien konnten belegen, dass hierbei der Energieverbrauch um 1200 – 1800 kcal pro Woche erhöht werden konnte und so zu einer Gewichtsreduktion von ca. 3% führte (DAG et al., 2014, 50 – 52). 27 In den Leitlinien wird außerdem darauf hingewiesen, dass verhaltenstherapeutische Elemente insbesondere in Kombination mit Ernährungs- und Bewegungstherapie einen positiven Einfluss auf die Gewichtsentwicklung nehmen. Hierbei dienen die verhaltenstherapeutischen Elemente vor allem der Unterstützung der Lebensstilintervention – der Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens. Eine Übersicht der verhaltenstherapeutischen Elemente ist in Abb. 11 dargestellt. Hierbei wird empfohlen, einzelne Elemente individuell und kontextabhängig anzuwenden (DAG et al., 2014, 53 – 55). a) Selbstbeobachtung von Verhalten und Fortschritt (Körpergewicht, Essmenge, Bewegung) Einübung eines flexibel kontrollierten Ess- und Bewegungsverhaltens (im Gegensatz zur rigiden Verhaltenskontrolle) Stimuluskontrolle Verstärkerstrategien (z. B. Belohnung von Veränderungen) Rückfallprävention Zielvereinbarungen Strategien zum Umgang mit wieder ansteigendem Gewicht b) Kognitive Umstrukturierung (Modifizierung des dysfunktionalen Gedankenmusters) Problemlösetraining/Konfliktlösetraining Soziales Kompetenztraining/Selbstbehauptungstraining Soziale Unterstützung Abbildung 11: Verhaltenstherapeutische Elemente in der Adipositasbehandlung (eigene Darstellung nach DAG et al., 2014, 55) Während der Großteil der hier unter Punkt a) aufgezeigten Elemente vorwiegend eine Änderung der Verhaltensebene unterstützen, setzen sich die unter Punkt b) aufgeführten verhaltenstherapeutischen Elemente mit den psychosozialen Ursachen der Adipositas auseinander. 28 Insgesamt konstatieren Munsch und Hilbert: „Erstaunlicherweise wird bei der Behandlung der Adipositas bis heute der kognitive Aspekt der KVT [Kognitiven Verhaltenstherapie] nur sehr selten berücksichtigt.“ (Munsch und Hilbert, 2015, 36) Es scheint, dass die psychologischen Ursachen der Adipositas in nur geringem Maße in die Behandlung dieser Erkrankung einfließen. In folgendem Vergleich der Adipositasbehandlung mit Behandlungsansätzen von Essstörungen, wie Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung (BES), wird die grundlegend unterschiedliche Betrachtungsweise dieser Erkrankungen deutlich. 4.2 Behandlungsempfehlungen von Adipositas und Essstörungen im Vergleich Während Anorexie, Bulimie und die Binge-Eating-Störung (BES) nach dem international anerkannten Diagnoseklassifikationssystem (ICD-10) als Essstörungen und damit als psychische Verhaltensstörungen klassifiziert sind, gilt Adipositas als eine endokrine Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit (ICD-10-Homepage, 2015). Aus dieser nahezu gegensätzlichen Klassifizierung leiten sich ebenso unterschiedliche Behandlungsansätze ab. Während psychologische Ursachen im Zentrum der Behandlung von Essstörungen stehen, wird Adipositas weitestgehend mit der vermehrten Zufuhr energiereicher Nahrung und zeitgleich abnehmender körperlicher Aktivität begründet (WHO, 2007, 14). Dementsprechend setzen Maßnahmen zur Behandlung von Adipositas, wie unter 4.1 bereits dargestellt, vorwiegend bei einer Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens an (DAG et al., 2014). Ersichtlich und verstärkt wird dies u.a. in dem Vergleich zwischen den Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Adipositas der Deutschen Adipositas Gesellschaft et al. (DAG) und den entsprechenden Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von 29 Essstörungen der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Medizin und Psychotherapie et al. (DGPM). Während in den Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Adipositas grundlegend ein „Basisprogramm“ bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie empfohlen wird, das eine Veränderung des „ungesunden Lebensstils“ zum Ziel hat (DAG et al., 2014, 42), ist die Psychotherapie die erste Wahl in der Behandlung der Essstörungen Anorexie, Bulimie und BES (DGPM et al., 2011, 12 – 27). Diese unterschiedliche Klassifikation und Behandlungsweise mag umso mehr verwundern, als dass jegliche Erscheinungsform des Ernährungsverhaltens als ein komplexes Zusammenspiel zu betrachten ist, das, wie in Kapitel 3 dargestellt, von einer Vielzahl von biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Faktoren beeinflusst wird und daher multifaktoriell geprägt ist (Herpertz, 2013, 90). In Bezug auf Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung werden hierbei ebenso wie bei der Adipositas biologische Ursachen wie bspw. Störungen im Leptinhaushalt, soziokulturelle Ursachen wie der Lebensstil und das Wertesystem der modernen Industriegesellschaft und psychosoziale Ursachen wie intra- und interpersonelle Konflikte diskutiert. Ebenfalls wird auch hier die multifaktorielle Entstehung der jeweiligen Essstörung betont (Pudel & Westenhöfer, 1998, 217 ff.). In den Leitlinien für adipöse Erwachsene wird als psychosoziale Ursache zwar aufgeführt, dass die Nahrungsaufnahme vielfach die Funktion erfüllt, dysphorische Gefühle zu regulieren (DAG et al., 2014, 23), doch wird dieser Aspekt in den Therapiezielen und -formen nicht weiter aufgegriffen. Vielmehr wird einleitend zur Verhaltenstherapie darauf hingewiesen, dass hierbei die Methoden zum Einsatz kommen, die systematisch das Verhalten ändern können (DAG et al., 2014, 54). 30 Für adipöse Kinder und Jugendliche werden die Behandlungsansätze nicht vollends auf eine Veränderung des Lebensstils beschränkt. So wird in der „Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter“ der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) explizit daraufhin gewiesen, dass psychologische Aspekte der Adipositasgenese in der Behandlung zu berücksichtigen sind: „Die Adipositasbehandlung hat psychologische Aspekte zu berücksichtigen, die die Entstehung oder Aufrechterhaltung der Adipositas maßgeblich beeinflussen. Ansonsten ist die Erreichung der definierten Therapieziele auf medizinischer, psychosozialer und verhaltensbezogener Ebene gefährdet.“ (AGA, 2014, 35) Hierbei ist nach den Leitlinien auch die gesamte familiäre Situation miteinzubeziehen, „da auffälliges Essen auch in Zusammenhang mit Eltern-Kind-Interaktionen auftreten kann.“ (AGA, 2014, 37) Der Aspekt der Eltern-Kind-Interaktion nimmt in der Auseinandersetzung mit dem familiären Einfluss auf Adipositas eine zentrale Stellung ein und wird in Kapitel 5 und 6 näher betrachtet. Besonders deutlich wird die unterschiedliche Einordung der Adipositas im Vergleich zur Binge-Eating-Störung, die mittlerweile als psychische Verhaltensstörung klassifiziert wurde. Die Binge-Eating-Störung, die durch das regelmäßige Auftreten von Essanfällen gekennzeichnet ist, stellt eine Art „Grenzfall“ dar, da diese vielfach mit Adipositas assoziiert ist. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 30% der Adipösen an einer Binge-Eating-Störung leiden (DAG et al., 2014, 24). In den Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen wird die Binge-Eating-Störung daher folgendermaßen von Adipositas abgegrenzt: 31 „Menschen mit der Diagnose einer „Binge-Eating-Störung“ (…) leiden unter regelmäßig auftretenden Essanfällen („Fressattacken“), bei denen sie große Nahrungsmengen verzehren und das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr Essverhalten zu verlieren.“ (DGPM et al., 2011, 28) Hingegen wird Adipositas folgendermaßen beschrieben: „Adipositas ist ein Zustand, der durch eine übermäßige Ansammlung von Fettgewebe im Körper gekennzeichnet ist; er sagt nichts über die Ätiologie, etwa im Sinne einer Essstörung, aus.“ (DGPM et al., 2011, 29) Diese Zitate verdeutlichen einprägsam die unterschiedliche Klassifizierung und Bewertung von Adipositas im Vergleich zu Essstörungen. Es scheint kaum nachvollziehbar, dass einerseits „regelmäßig auftretende Essanfälle“, die zu Adipositas führen, nahezu ausschließlich auf psychologische Ursachen zurückgeführt und dementsprechend behandelt werden, während andererseits Adipositas, die nicht mit Bulimie oder der Binge-Eating-Störung assoziiert ist, biologisch erklärt wird und dementsprechend psychologische Aspekte in der Behandlung weitestgehend außer Acht gelassen werden. Diese klare Trennung der Betrachtung von der Binge-Eating-Störung und Adipositas wird in den Leitlinien für Adipositas im Kindes- und Jugendalter unterminiert, da hier der Begriff des Binge-Eatings neu definiert wird. Hierbei geht es in Bezug auf Kinder und Jugendliche bei dem Essanfall nicht primär um die tatsächlich gegessene Nahrungsmenge, sondern vielmehr um das subjektive Gefühl des Kontrollverlustes bei dem Essen (LOC: loss of control eating) (AGA, 2014, 35 – 36). Hierbei ist LOC wie folgt definiert: 32 „Essen in Verbindung mit einem subjektiven Gefühl des Kontrollverlustes unabhängig von der gegessenen Menge“ (AGA, 2014, 36). Diese Perspektive entkräftet die klare Abgrenzung von Adipositas und der BingeEating-Störung in den Leitlinien für Diagnostik und Therapie der Essstörungen und verdeutlicht die Willkür einer solchen Abgrenzung. Nach Hilde Bruch werden Menschen grundsätzlich dann als essgestört beschrieben, wenn das Essen für sie eine „missbräuchliche“ Funktion hat. Eine „missbräuchliche Funktion“ hat das Essen nach Bruch dann, wenn es den Betroffenen nicht primär der Hunger-Sättigungs-Regulation, sondern vielmehr der Bewältigung von Problemen dient (Bruch, 1991, 13). 4.3 Psychologische Elemente in der Adipositasbehandlung Laut den Richtlinien für Psychotherapie sind in Bezug auf Essstörungen in Deutschland grundsätzlich die kognitive Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologische Psychotherapie sowie familientherapeutische Interventionen zu empfehlen, wenn sie spezifisch auf die jeweilige Essstörung ausgerichtet sind. Auch wenn die Datenlage sich insgesamt als unbefriedigend darstellt, gibt es Studien, die den Vergleich der einzelnen Therapieformen zulassen. Den Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen zufolge ist die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie am besten belegt und wird daher für die Behandlung von Bulimie und der Binge-Eating-Störung als Therapieform der ersten Wahl empfohlen (DGPM et al., 2011, 12 – 27). In einem Review von Hay über angewandte psychologische Behandlungsformen bei Essstörungen bestätigt sich, dass bei der Behandlung von Bulimie die kognitive Verhaltenstherapie die am meisten verwendete und wissenschaftlich untersuchte Therapieform ist. Hingegen zeichnet sich in zwei Follow-Up-Studien ab, dass die 33 interpersonale Psychotherapie bei der Behandlung von Anorexie und der BingeEating-Störung größere Erfolge aufweist als die kognitive Verhaltenstherapie. Insgesamt weist auch Hay auf den großen Forschungsbedarf bezüglich geeigneter Therapieformen von Essstörungen hin, insbesondere in Bezug auf die Binge-EatingStörung und nicht genauer definierten Essstörungen (Hay, 2013, 463 – 467). Zu den nicht genauer definierte Essstörungen zählt auch der unter 4.2 beschriebene LOC – bei dem ein subjektives Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen im Vordergrund steht, unabhängig von der objektiv gegessenen Nahrungsmenge. Während in Bezug auf Essstörungen erste Vergleiche zwischen den einzelnen Therapieformen gezogen werden können, liegen entsprechende Daten in Bezug auf die psychologische Behandlung von Adipositas nicht vor. Wie bereits unter 4.1. und 4.2 gezeigt werden konnte, wird den psychologischen Ursachen der Adipositas und dem Einfluss der Familie auf die psychologische Ebene in der Prävention und Behandlung von Adipositas bis heute verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht - insbesondere im Vergleich zu den „anerkannten Essstörungen“ Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung. Bspw. bleibt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den familiensystemischen Zusammenhängen der Adipositas bis heute weit hinter der familientherapeutischen Forschung in Bezug auf Anorexie und Bulimie zurück (Schweitzer, J. & von Schlippe, A., 2009, 168). 4.4 Aktueller Forschungsstand Evaluationen, die einen Evidenz-Vergleich zwischen unterschiedlichen psychologischen Ansätzen in der Behandlung von Adipositas zulassen, konnten im Rahmen dieser Arbeit nicht gefunden werden. Eine Ausnahme bildet hier die Studie von Lehrke und Laessle (2002). In ihrer Studie an 68 Kindern im Alter von 10 – 14 Jahren untersuchten Lehrke und Laessle, inwiefern ein familienorientiertes Training im Vergleich zu einem herkömmlichen Gruppentraining stärkere Therapieeffekte in 34 Hinblick auf die BMI-Entwicklung und psychosoziale Kriterien erzielt. Hierbei beinhalteten beide Gruppen die Vermittlung von Ernährungswissen, Steigerung der soma-motorischen Aktivität, Steigerung von Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Durchsetzungsvermögen, Steigerung von sozialen Fähigkeiten und Vermittlung eines positiven Körpergefühls. In dem familienorientierten Training wurde außerdem die familiäre Kommunikation und Interaktion einbezogen und bei Bedarf modifiziert. Beide Formen der Interventionen führten zu einer signifikanten Verringerung des BMIs und der Körperfettmasse und zu einer Verbesserung in Hinblick auf die psychosozialen Kriterien. Es konnten jedoch keine unterschiedlichen Therapieeffekte zwischen dem herkömmlichen Gruppenangebot und dem familienorientierten Training nachgewiesen werden (Lehrke & Laessle, 2002, 256 – 262). Lehrke und Laessle konstatieren, dass es an Studien fehlt, die die Einbeziehung der Familie und deren Wirkungsweise auf den Verlauf der Adipositasbehandlung detailliert und systematisch untersuchen. Hierbei betonen sie außerdem, dass der Erfolg einer solchen Behandlung bisher vorwiegend anhand des BMIs, der Körperzusammensetzung und zum Teil verschiedener Laborparameter bewertet wird. Sie plädieren in diesem Zusammenhang dafür, auch psychologische und psychosoziale Kriterien wie bspw. Selbstwertgefühl, Körperbild und Ängstlichkeit in Hinblick auf die Wirksamkeit der Adipositasbehandlung zu berücksichtigen, da diese zum Teil als ursächlich für die Adipositas betrachtet werden können und eine Verbesserung dieser Kriterien mit einer Verbesserung des Wohlbefindens einhergeht (Lehrke & Laessle, 2002, 260). Mc Lean et al. (2003) hat in einem Review darüber hinaus die Wirkungsweise von Familien in Bezug auf Gewichtsreduktion, Gewichtserhaltung und Gewichtskontrolle untersucht. Hierbei wird die Gewichtsentwicklung von Kindern in verschiedenen Studien besonders dann als erfolgreich beschrieben, wenn die Eltern an den Maßnahmen zur Gewichtsreduktion teilnehmen. Diese positiven Effekte konnten in einer 10-Jahres-Follow-Up-Studie signifikant belegt werden. Der gegenteilige Effekt konnte hingegen in einer Studie mit Jugendlichen gezeigt werden. Hier war die 35 Gewichtsreduktion signifikant weniger erfolgreich, wenn die Mütter in die Intervention involviert waren. In Bezug auf die Gewichtsentwicklung ließen sich in dieser Altersgruppe bessere Erfolge erzielen, wenn die Jugendlichen alleine an der Maßnahme teilnahmen (Mc Lean et al., 2003, 992). Mc Lean verweist in diesem Zusammenhang auf den enormen Forschungsbedarf in Hinblick auf die Wirkungsweise von Familien in Bezug auf die Gewichtsentwicklung. Ebenso betont Mc Lean, dass die Bewertung der Gewichtsentwicklung alleine nicht ausreicht, sondern es vielmehr auch um das Erlernen von speziellen Verhaltensweisen geht, deren Veränderung in der Bewertung von Interventionen berücksichtigt werden sollte (Mc Lean, et al., 2003, 1000 - 1001). In welchem Maße psychosoziale Elemente in der Prävention von Übergewicht eingesetzt werden und inwiefern Familien in die Programme einbezogen werden, zeigt folgende Untersuchung. In einem bundesweiten Modellvorhaben wurden über 700 Interventionen zur Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen gefördert und untersucht. Hierbei zeigte sich, dass eine Kombination aus verschiedenen Elementen (Ernährung, Bewegung, Psychosoziales, weitere gesundheitsrelevante Bereiche) in nur 28% der Maßnahmen umgesetzt wurde. Insgesamt bezogen etwa 15% der Maßnahmen psychosoziale Elemente mit ein. Alleinig mit psychosozialen Themen beschäftigten sich zudem 6% der Maßnahmen. Darüber hinaus richteten lediglich 3 % der Angebote ihre Maßnahmen auf die Lebenswelt Familie aus (Max-Rubner-Institut, 2013, 34- 36). Die Ergebnisse unterstreichen, dass psychosoziale Elemente in der Prävention von Übergewicht und insbesondere eine Ausrichtung auf die Familie in Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht bei Kindern stark unterrepräsentiert sind. 36 Abschließend kann zusammengefasst werden, dass es nicht das Ziel der Arbeit ist, die Ursachen der Adipositas vornehmlich auf familiäre und psychologische Ursachen zurückzuführen. Dennoch werden diese in der vorliegenden Arbeit besonders herausgearbeitet, um darzustellen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Wirkungsweise der Familie (auf psychologischer Ebene) eindeutige Belege liefern kann, die aber in der Praxis nicht (ausreichend) umgesetzt werden. Der Vergleich zu den sogenannten anerkannten Essstörungen wird aus selbigen Gründen herangezogen. Die differenzierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des Ernährungsverhaltens wird hierbei keineswegs in Frage gestellt. Eine grundsätzlich unterschiedliche Kategorisierung in psychisch bzw. endokrinologisch determiniert ist nach der hier vorliegenden Ausarbeitung jedoch nicht haltbar. Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass auf dieser Annahme basierende Behandlungsansätze der Adipositas zu kurz greifen, wesentliche Faktoren außer Acht gelassen werden und nicht wesentlich zur Eindämmung der Adipositasprävalenz führen. 37 5 Die Familie im Fokus der Adipositasgenese Im Folgenden wird der Einfluss der Familie auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas in den Mittelpunkt gestellt. Hierbei wird zunächst auf die Bedeutung der Familie als Ressource für eine gesunde Entwicklung von Kindern eingegangen und dargestellt, inwiefern adipöse Kinder auf familiäre Ressourcen zurückgreifen können. Daran anknüpfend wird die Wirkungsweise der Familie in Wechselwirkung mit dem sozialen Status betrachtet und abschließend die Bedeutung familiärer Beziehungen auf die Adipositasgenese herausgestellt. Die familiäre Prägung kann genetische und soziokulturelle Einflüsse sowie Persönlichkeitsfaktoren und deren Ausprägungen abschwächen oder verstärken. Demnach kommt der Familie auf verschiedenen Ebenen eine besondere Bedeutung in der Adipositasentwicklung zu (Reich, 2003, 14 – 16). Die Familie nimmt bei der Prävention, Entwicklung und Bewältigung von Krankheiten eine zentrale Rolle ein. Abgesehen von biologischen Faktoren, die über die Eltern an die Kinder weitergegeben werden, nimmt die Familie als Sozialisationsinstanz auch in Bezug auf das Ernährungsverhalten eine vermittelnde Rolle von gesellschaftlichen und kulturellen Normen ein. Hierbei spiegelt sich der direkte Einfluss der Familie auf das Ernährungsverhalten auch in der Auswahl und Gestaltung der Mahlzeiten wieder. Darüber hinaus werden innerfamiliäre Beziehungen mit der Qualität der Ernährungserziehung zum Ausdruck gebracht und prägen die Entwicklung des Ernährungsverhaltens (Cierpka & Reich, 1997, 127) Grundlegend können Gesundheit und Krankheit als ein dynamischer Prozess betrachtet werden. Aus systemischer Sicht ist Krankheit ein „Phänomen, das in Beziehungen hergestellt wird“ (Hantel-Quitmann, 1997, 32). Hierbei geht die Erforschung der Wirkungsweise von familiären Beziehungen in ihren Anfängen auf Salvador Minuchin (1986) zurück. Minuchin erforschte gemeinsam mit Rosman und Baker die Beziehungsmuster in den Familien bei Kindern mit Diabetes, Asthma und 38 bei anorektischen Mädchen. Hierbei traten vier Merkmale in unterschiedlicher Ausprägung wiederholt in den familiären Beziehungen auf: Verstrickung, Überfürsorglichkeit, Rigidität und ein inadäquater Umgang mit Konflikten. „ […] die Gesamtheit der transaktionalen Muster dieser Familien schien uns charakteristisch für einen Familienprozeß, der die Somatisierung zumindest fördert.“ (Minuchin, Rosman & Baker, 1986, 43) Maßgeblich für eine psychosomatische Erkrankung des Kindes ist den Autoren zufolge darüber hinaus, inwiefern das Kind in die elterlichen Konflikte einbezogen wird. So verbündet sich bspw. ein Elternteil mit dem Kind gegen den anderen Elternteil oder partnerschaftliche Konflikte werden auf das Kind umgeleitet, so dass Eltern in der Sorge um das Kind eigene Konflikte in den Hintergrund drängen (Minuchin, Rosman & Baker, 19863, 46). So sieht Hantel-Quitmann kindliche „Störungen“ als Anzeichen für erhebliche Beeinträchtigungen in der elterlichen Paarbeziehung (Hantel-Quitmann, 2015, 48). Inwiefern diese Merkmale in familiären Beziehungen bei adipösen Kindern und Jugendlichen beschrieben werden können, wird im Folgenden und insbesondere unter Punkt 5.4 und im Kapitel 6 genauer betrachtet. 5.1 Familie und Gesundheit Die Familie hat als zentrale Sozialisationsinstanz einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit ihrer Mitglieder. Kinder erlernen insbesondere anhand der alltäglichen familiären Interaktion grundlegende Einstellungen und Fähigkeiten auf körperlicher, seelischer, sozialer und kognitiver Ebene, die ihre gesundheitliche Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Dabei wird die gesundheitliche Entwicklung durch alltägliche familiäre Praktiken wie bspw. die Regelung des Tagesablaufes, die Gestaltung der Mahlzeiten und das Bewegungs- und Freizeitverhalten geprägt (Rattay et al., 2012, 2). 39 Hierbei hat die Ausgestaltung familiärer Beziehungen einen maßgeblichen Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung. Familiäre gesundheitsfördernde Aspekte sind vor allem ein Erziehungsstil, der auf die Selbstständigkeit des Kindes ausgerichtet ist sowie ein positives Familienklima und eine enge Geschwisterbeziehung. Hinzu kommen sozioökonomische Faktoren wie eine gute finanzielle Situation und ein hoher Bildungsstand der Eltern (Rattay et al., 2012, 2). Nach Egle ist für die Gesundheit von Kindern vor allem die Qualität der Beziehung zu primären Bezugspersonen von entscheidender Bedeutung: „Als wichtigste protektive Faktoren von Familie in Hinblick auf das gesundheitliche Wohlergehen eines Kindes werden eine dauerhaft gute Beziehung zu primären Bezugspersonen und ein sicheres Bindungsverhalten eingestuft.“ (Egle et al. 2002, zitiert nach Rattay, P. et al, 2012, 2). Hingegen sind ungünstige materielle Bedingungen, niedrige Schulbildung, eine emotional negative Eltern-Kind-Beziehung, chronische Disharmonie der Eltern und autoritäres elterliches Verhalten Risikofaktoren für eine gesunde kindliche Entwicklung (Rattay, P. et al, 2012, 2). Insgesamt finden sich nur wenige Studien über den Einfluss des Familienklimas auf den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen. Eine Befragung von Jugendlichen zu diesem Thema zeigt, dass Jugendliche, die sich von ihrer Familie unterstützt fühlen und das familiäre Klima als positiv beschreiben, sich signifikant gesünder fühlen als Jugendliche, die das nicht berichten (Almgren, Magarti & Mogford, 2009, zitiert nach Rattay, 2012, 4). Im Rahmen des Kinder- und Jugendsurveys (KIGGs) des Robert Koch-Instituts wurden von 2003 - 2006 die Daten von 17 392 Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 – 17 Jahren erfasst. Für die Studie „Bedeutung der familialen Lebenswelt für 40 die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“, die im Rahmen des KIGGS erhoben wurde, wurde mindestens ein Elternteil zur Gesundheit ihres Kindes schriftlich befragt. Hierbei wird die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Zusammenhang mit der elterlichen Lebenslage betrachtet. Eine Übersicht der ermittelten Faktoren und deren Einfluss auf die Kinder ist im Anhang dargestellt. Die Ergebnisse zeigen, dass starke Defizite im Familienklima bei Jungen und Mädchen aller Altersgruppen mit einer von den Eltern als „nicht gut“ eingestuften Gesundheit einhergeht. Lediglich bei Jungen im Grundschulalter von 7 – 10 Jahren lässt sich keine signifikante Abhängigkeit der Gesundheit von der Qualität des Familienklimas erkennen. Das Familienklima wurde mithilfe einer modifizierten Skala von Schneewind ermittelt, das bspw. familialen Zusammenhalt, Kontrolle und gemeinsame Freizeitgestaltung beinhaltet (Rattay et al., 2012, 4). Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass das Familienklima der maßgebliche Einfluss ist, der sich über die gesamte Altersspanne von 3 – 17 Jahren am deutlichsten auf die elterliche Einschätzung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Einen ähnlich relevanten Einfluss über alle Altersspannen hinweg stellt für Jungen weiterhin der Migrationshintergrund beider Elternteile dar. Für Mädchen ist dieser Einfluss in dieser Studie so nicht zu finden (Rattay, P. et al., 2012, 10 – 12). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die familiäre Atmosphäre, die wesentlich von der Beziehungsqualität in der Familie geprägt ist, einen immensen Einfluss auf die kindliche Gesundheit hat. Abschließend ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Wahrnehmung „familiärer Aufgaben“ stets in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten ist. So ist der Familie in der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung ein wachsendes Maß an Eigenverantwortung zugesprochen worden. Zeitgleich kann die Familie dabei immer weniger auf gesellschaftliche Unterstützung 41 und Solidarität zurückgreifen. Hierbei stellt die Individualisierung und Globalisierung erweiterte Anforderungen an die Familie. Familien sind durch wachsende Mobilitätsund Vereinbarkeitsanforderungen und die Abnahme sozialer Sicherung zunehmend belastet und in ihren Ressourcen eingeschränkt. Es ist daher ebenso als gesellschaftliche Aufgabe zu betrachten, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Ressourcen von Familien stärken (Kolip & Lademann, 2016, 517 – 518). HantelQuitmann sieht vor allem in der exklusiven Zuständigkeit der Familie für die emotionalen Bedürfnislagen eine grundlegende Überforderung von Familien, zumal diese mit einer emotionalen Verarmung von außerfamiliären Bereichen einhergeht (Hantel-Quitmann, 1997, 18). 5.2 Adipositas unter dem Einfluss psychosozialer Ressourcen Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern adipöse Kinder und Jugendliche im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern auf familiäre, persönliche und soziale Ressourcen zurückgreifen können. Hierbei ist Gesundheit grundsätzlich als „das Ergebnis von protektiven Faktoren [zu verstehen], Krankheit dagegen als Folge versagender Schutzfaktoren bei vorhandenen Risikofaktoren […]“ (Hantel-Quitmann, 1997, 12) In der Studie von Hölling et al. (2008) wird auf Basis der Daten des Kinder- und Jugendsurveys KIGGS untersucht, inwiefern „chronische Gesundheitsprobleme“ wie Asthma, Adipositas und ADHS in Zusammenhang mit personalen, familiären und sozialen Schutzfaktoren stehen und wie sich dieser Zusammenhang auf die subjektiv erlebte Lebensqualität der Betroffenen auswirkt. Hierbei sind mit personalen Schutzfaktoren Merkmale der Persönlichkeit gemeint, die mit einer guten Widerstandsfähigkeit (Resilienz) assoziiert sind, wie bspw. ausgeglichenes Temperament, intellektuelle Begabung und Kontaktfähigkeit. Als 42 familiäre Schutzfaktoren gelten hierbei ein positives Familienklima, konstruktive innerfamiliäre Kommunikation, positiv erlebte Bindung und Beziehung, Anregung und Förderung und ein förderndes Erziehungsverhalten. Als soziale Ressourcen werden gemeinsame Aktivitäten mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen, das Erleben von Zuneigung und Spaß und die Unterstützung bei der Bewältigung von Problemen verstanden. Für die Studie wurden die Selbstauskünfte von 6813 Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 – 17 Jahren ausgewertet (Hölling H. et al., 2008, 607 – 608). Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden mit Adipositas sowohl in Hinblick auf personale als auch auf familiäre und soziale Ressourcen über signifikant geringere Schutzfaktoren verfügen als die Gruppe der Nicht-Adipösen. Darüber hinaus beurteilen die adipösen Kinder und Jugendlichen ihre Lebensqualität niedriger als Kinder und Jugendliche ohne Adipositas. ADHS ist, ebenso wie Adipositas, mit verminderten Ressourcen auf den genannten Ebenen und einer geringeren Lebensqualität assoziiert (Hölling H. et al., 2008, 610, 612 - 614). Bezeichnend ist in der Studie weiterhin, dass die untersuchten „chronischen Gesundheitsprobleme“ nicht gleichermaßen mit verminderten Ressourcen einhergehen. So konnten bspw. keine signifikanten Unterschiede in Hinblick auf die Ressourcen von Kindern mit und ohne Asthma festgestellt werden. Hingegen war Adipositas auf allen untersuchten Ebenen, der personalen, familiären und sozialen Ebene, mit verminderten Ressourcen assoziiert. Die Autoren schließen aus den unterschiedlichen Ergebnissen, dass sowohl Adipositas als auch ADHS scheinbar weitaus mehr von psychosozialen als von körperlichen Aspekten bestimmt werden als es bei Asthma der Fall zu sein scheint. Zeitgleich werden beide Erkrankungen stärker von sozialer Stigmatisierung begleitet als Asthma, was wiederum eine erhöhte Belastung auf der psychosozialen Ebene darstellt (Hölling H. et al., 2008, 616 – 618). Die Ergebnisse unterstreichen, dass für das Verständnis von Adipositas die psychosozialen Faktoren weitaus stärker in den Vordergrund gerückt werden sollten. 43 Der entscheidende Aspekt einer gesunden Entwicklung ist einigen Autoren zufolge die Beziehungsqualität in der Familie, mehr als sozioökonomische Aspekte, wobei diese in eindeutiger Wechselwirkung miteinander stehen. Im Folgenden wird die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen beleuchtet und der Schwerpunkt auf die psychosoziale Ebene des familiären Einflusses gelegt. 5.3 Adipositas und der soziale Status der Familie Wie bereits in Kapitel 3 dargestellt ist die Adipositasprävalenz in westlichen Industriestaaten mit einem niedrigen sozialen Status assoziiert (Zwick, 2011, 73). Studien weisen in diesem Zusammenhang daraufhin, dass hierbei die Bildung und der Familienstand einen größeren Einfluss auf die Adipositasprävalenz haben als das finanzielle Einkommen (Max-Rubner-Institut, 2008, 89 - 91). Nachfolgend wird beschrieben, wie sich der soziale Status auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas auswirkt und wie dies in Zusammenhang mit familiären Beziehungen steht. In Bezug auf das Ernährungsverhalten konnte in sozial benachteiligten Familien beobachtet werden, dass sich die tägliche Ernährung der untersuchten Kinder insgesamt als unausgewogen und vielfach stark fett- bzw. zuckerhaltig darstellt. Darüber hinaus hatten die Mahlzeiten in den Familien i.d.R. keine tagesstrukturierende Funktion, sondern wirkten vielmehr planlos und unkontrolliert (Hunger, 2014, 7). Die Vorstellungen einer gesunden Ernährung weichen in diesen Familien vielfach wesentlich von den normativen Ernährungsempfehlungen ab. So sind bspw. Getränke stark zuckerhaltig, „Essen aus der Dose“ wird zum Teil als „frisches Kochen“ gewertet, Nahrungsmittel wie „Milchschnitte“ werden als Milchmahlzeit betrachtet und fettfreie Süßigkeiten wie Lakritz und Gummibären gelten als „gesunde Süßigkeiten“ (Hunger, 2014, 8). 44 Reeske und Spallek beschreiben, inwiefern das Ernährungsverhalten der Kinder mit dem sozialen Status ihrer Eltern zusammenhängt. Sie konnten in Abhängigkeit vom sozialen Status bspw. wesentliche Unterschiede im Stillverhalten der Mütter und in der Zufuhr von energiereichem Essen und Trinken beobachten. Während 90,5 % der Mütter mit hohem sozialen Status stillen, sind es nur 67,3% der Mütter mit einem niedrigen sozialen Status. Hierbei ist das Stillen als ein präventiver Aspekt in der Adipositasgenese zu betrachten. Die Zufuhr an energiereichen Nahrungsmitteln nimmt hingegen mit zunehmendem sozialen Status ab. Während etwa ein Viertel der Kinder aus Familien mit einem hohen sozialen Status die höchste Energiezufuhr erreichen, sind es bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozialen Status 41%. Eine hohe Zufuhr an energiereichen Lebensmitteln gilt als wesentlicher Einflussfaktor für eine positive Energiebilanz (Reeske & Spallek, 2011, 275). Beide Studien bekräftigen, dass die Vermittlung von Ernährungswissen einen wichtigen Aspekt in der Prävention und Behandlung von Adipositas darstellt. In Bezug auf adipöse Kinder sind die Eltern sinnvollerweise in die Behandlung mit einzubeziehen, da sie maßgeblich das Ernährungsverhalten der Familie bestimmen. Weitere Beobachtungen legen außerdem nahe, dass das fehlende Ernährungswissen in sozial benachteiligten Familien nicht alleinig die Ursache für ein Ernährungsverhalten „ungesundes“ und die Entstehung von Adipositas darstellt. Vielmehr zeigt sich, dass in Familien oftmals Ressourcen und Erziehungskompetenzen fehlen, um eine angemessene Ernährungsweise umzusetzen. Hunger (2014) beschreibt in ihrer Studie anschaulich, inwiefern die Adipositasgenese in den untersuchten Familien mit einem niedrigen sozialen Status von dem Aspekt der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kindern geprägt ist. Hierbei berichten die meisten Mütter in der Studie, dass sie in Bezug auf die Nahrungszufuhr ihrer Kinder um die erzieherische und soziale Kontrolle bemüht sind. Dabei zeigten sich laut Hunger zwei Strategieformen der Mütter. Zum einen 45 überlassen die Mütter ihren Kindern bewusst die Strukturierung der Mahlzeiten, um ihnen eine individuelle Befriedigung ihrer Hunger- und Sättigungsbedürfnisse zu ermöglichen. Dies führt bspw. dazu, dass Mahlzeiten ausfallen, am Nachmittag gekocht wird, oder spät am Abend Brote geschmiert werden, je nach den Bedürfnissen des Kindes. Zum anderen beanspruchen Mütter eine klare Rationierung der Mahlzeiten, sowohl in Bezug auf die Essenszeiten als auch in Bezug auf die Portionsgrößen. Zugleich wurde hierbei beobachtet, dass diese Strategie von nahezu täglichen Ausnahmen gekennzeichnet ist. Motiv für diese Ausnahmen kann bspw. das bewusste verwöhnen und belohnen mit Süßigkeiten, Fast Food und anderem in besonderen Situationen (Wochenende, Ferien, Krankheit etc.) sein. Weiterhin kann dem Bitten und Drängen der Kinder nach bestimmten Lebensmitteln oftmals entweder nicht standgehalten werden, oder diese Lebensmittel werden gezielt dargeboten, um „einfach mal seine Ruhe haben zu können“. Bezeichnend bei diesen Ergebnissen ist darüber hinaus, dass, obwohl diese Beobachtungen nahelegen, dass die Ausnahmen quasi die Regel darstellen, die betroffenen Mütter an ihrer Vorstellung festhalten, die Ernährung ihrer Kinder gut und kontrolliert zu gestalten (Hunger, 2014, 7 - 8). Diese Beobachtungen stützen die Annahme von Zwick, der das inadäquate Ernährungs- und Bewegungsverhalten insgesamt als vordergründige Ursache der Adipositas betrachtet und auf die dahinterliegenden gesamtgesellschaftlichen und familiären Ursachen verweist, die seiner Meinung nach Erosion und Funktionsdefizite aufweisen (Zwick & Renn, 2011, 284 – 285). Grundlegend verweist Hantel-Quitmann darauf, dass die soziale Lage der Familie das Wohlbefinden der Kinder maßgeblich beeinflusst. So sind Kinder aus Familien, die von finanziellen Beschränkungen oder Arbeitslosigkeit betroffen sind, häufiger ängstlich als Kinder aus Familien ohne diese Erfahrungen. Diese Ängste können wiederum als Anzeichen für familiäre Belastungen verstanden werden. Diese durch äußere Umstände ausgelöste Belastung kann durch eine emotionale Zuwendung in der Familie kompensiert werden (Hantel-Quitmann, 2013, 43). Wie die 46 Beobachtungen von Hunger zeigen, führen diese äußeren Umstände jedoch oftmals dazu, dass die familiären Ressourcen für eine adäquate Kompensation nicht ausreichend vorhanden sind und somit auf andere Formen der Bedürfnisbefriedigung, wie der Darbietung von Nahrung, zurückgegriffen wird. So ist der Einfluss des sozialen Status auf die Adipositasprävalenz ebenso in Wechselwirkung mit den psychosozialen Ressourcen wie der Erziehungs- und Beziehungskompetenz der Familien zu betrachten. Nach den dargestellten Beobachtungen ist eine übermäßige Ernährung in sozial benachteiligten Familien mit Themen wie Strukturgebung, Kontrolle, Grenzen setzen und adäquater Bedürfnisbefriedigung verbunden. In diesen Bereichen fehlt es den Eltern oftmals an Kompetenzen und Ressourcen, um adäquate Lösungen umzusetzen. Dieser Aspekt wird in der allgemeinen Adipositasbetrachtung bisher unzureichend berücksichtigt. Der Zusammenhang von elterlichen Erziehungskompetenzen und –ressourcen findet kaum Eingang in Präventions- und Behandlungsansätze und wird in der praktischen Arbeit mit adipösen Kindern und Jugendlichen weitestgehend vernachlässigt. Vielmehr wird sich in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen wie auch Erwachsenen auf eine Optimierung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens konzentriert. 5.4 Adipositas im Kontext familiärer Beziehungen Aufgrund der dargestellten Zusammenhänge wird nachfolgend die Wirkungsweise familiärer Beziehungen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas beschrieben. Im Zusammenhang von Ernährung und familiären Beziehungen betont Reich die grundlegende Bedeutung der „nährenden Versorgung“ als wesentliches Medium der Beziehungsgestaltung. Besonders einprägsam ist diese Verbindung bereits bei der Ernährung des Säuglings zu beobachten. In dieser Phase kann das Kind durch das Stillen an der mütterlichen Brust erste intensive Beziehungserfahrungen mit der 47 Mutter sammeln. Reich betrachtet das familiäre Ernährungsverhalten insgesamt als zentralen Prozess der Kommunikation (Reich, 2003, 2). So kann Essen im familiären Kontext ein Ausdruck von Sympathie und Loyalität darstellen und ebenso einfordern (z.B.“welchen Kuchen magst Du lieber, den von Deiner Mutter oder den von mir?“) Darüber hinaus finden im Ernährungsverhalten gesellschaftliche und familiäre Werte wie bspw. Bescheidenheit, Selbstdisziplin oder Zügellosigkeit ihren Ausdruck (Schweitzer& Von Schlippe, 2009, 167). Gemeinsame Mahlzeiten sind, laut Peter, ein Symbol für die Verbundenheit der Familie, das neben der Versorgungsfunktion vor allem eine Kommunikationsfunktion in sich trägt (Peter, 2011, 144). Nach Hantel-Quitmann sind Mahlzeiten Rituale, die das kindliche Empfinden von Geborgenheit und Zugehörigkeit stärken (HantelQuitmann, 2013, 116). Die Vermittlung von familiären Ernährungsgewohnheiten ist dabei mit Themen wie Grenzziehung und Identitätszuweisung verbunden und eng mit der Familienstruktur und -dynamik verwoben (Peter, 2011, 144). Für (adipöse) Kinder ist das Thema Essen meist eng mit dem Erleben der Beziehung zu ihren Eltern verknüpft. „So testen Kinder über Essensanfragen vielfach die Stärke der eigenen Position, die Befindlichkeit der Mutter oder auch die Einigkeit der Eltern aus.“ (Hunger, 2014, 10) Dabei fehlt es den Eltern an geeigneten Strategien, ihre Vorstellungen einer richtigen Ernährungsweise den Kindern plausibel zu erklären und diese ihnen gegenüber durchzusetzen. Zeitgleich werden andere Bedürfnisse, die in dem Verlangen nach Essen ihren Ausdruck finden, von den Eltern nicht erkannt und daher der Wunsch nach Essen zum Teil fehlinterpretiert (Hunger, 2014, 11). 48 Insgesamt kann in Familien mit adipösen Kindern vielfach ein inkonsistenter Erziehungsstil beobachtet werden. So gelten in Bezug auf die Ernährung oftmals rigide und unrealistische Regeln, wie bspw. „nie wieder Süßes vom Taschengeld“ oder „nach 18 Uhr darf nichts mehr gegessen werden“. Darüber hinaus konnte in Familien mit adipösen Kindern eine Rollenverschiebung beobachtet werden, so dass die Kinder als verantwortlich für die „Einführung einer gesunden Ernährung“ in die Familie betrachtet wurden. Um eine Verhaltensänderung langfristig umzusetzen, ist es jedoch notwendig, dass die Familie in der Lage ist, diese Veränderungen nicht nur positiv zu unterstützen, sondern darüber hinaus eine gesunde Grundlage für Veränderungen zu schaffen (Wiegand & Ernst, 2015, 491). 5.4.1 Essen als Kompensation emotionaler Bedürfnisse Wird Nahrung in der Familie als Belohnung, Bestrafung oder Ersatz für emotionale Zuwendung eingesetzt, wird die Nahrungszufuhr „emotional aufgeladen“ und langfristig nicht durch die physischen Reize „Hunger“ und „Sättigung“, sondern verstärkt über Emotionen ausgelöst. Insbesondere dann, wenn Eltern auf kindliche Unzufriedenheit mit einem „Fütterungsverhalten“ reagieren, erlernen die Kinder, dass Essen der „Problemlösung“ dient. So werden negative Gefühle wie Langeweile, Frustration oder Traurigkeit mit Essen befriedigt. Damit erfüllt Essen nicht den ursprünglichen Sinn der Sättigung, sondern wird für eine emotionale Bedürfnisbefriedigung funktionalisiert (Petermann & Häring, 2003, 263 – 265). Unter dieser Annahme wird die Regulation von Emotionen über die Nahrungszufuhr bereits in der Kindheit erlernt und wesentlich von der Ernährungserziehung in der Familie geprägt. Hunger interpretiert das kindliche Verlangen nach Essen vielfach als ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Nähe und Beschäftigung, das aber von den Müttern nicht als solches wahrgenommen wird, sondern vielmehr auf der Ernährungsebene befriedigt wird. Bei älteren Kindern wird das Essen bereits als eine gezielte Kompensation von Langeweile oder zur Frustbewältigung eingesetzt (Hunger, 2014, 9). 49 Hilde Bruch sieht Zusammenhang mit die übermäßige einem Ernährung überbehütenden des Verhalten Kindes der insgesamt Mutter. im Beides interpretiert Bruch als einen Versuch, den eigenen grundlegend unsicheren Bindungsstil auszugleichen. Während wirkliche Nähe und Zuneigung in der Beziehung zu dem Kind fehlt, findet die mütterliche Liebe ihren Ausdruck in der Darbietung von Nahrung. Dieses Verhalten dient der Mutter, um eigene Angst- und Schuldgefühle zu reduzieren (Bruch, 1991, 93 - 95). Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass Nahrung in diesen Fällen schwerlich abgelehnt werden kann oder regelrecht eine Gier nach dieser Form der „Liebe“ entsteht. Die Beobachtungen von Hunger gehen in eine ähnliche Richtung: Sie beschreibt, dass Eltern ihren Kindern, aus einem schlechten Gewissen heraus, das Verlangen nach Essen nicht verweigern können, da es ihre Kinder schwer genug haben. Sie argumentieren ihr eigenes Nachgeben in Konflikten um das Essen zugleich mit dem Wunsch nach einem glücklichen Kind (Hunger, 2014, 9). Die hier dargestellten Ergebnisse unterstreichen, dass die Entwicklung des Ernährungsverhaltens direkt von der Erziehungs- und Beziehungsgestaltung geprägt wird. Das Ernährungsverhalten steht dabei im Zentrum der Ausgestaltung von familiären Beziehungen. So deutet das Funktionalisieren des Essens seitens der Eltern einerseits auf eine inadäquate Wahrnehmung kindlicher emotionaler Bedürfnisse hin und andererseits auf unzureichende Fähigkeiten in Bezug auf eine angemessene Bedürfnisbefriedigung. In diesem Zusammenhang sei erneut auf die psychischen und sozioökonomischen Ressourcen verwiesen, die die elterlichen Kompetenzen erheblich beeinflussen können. 50 5.4.2 Rigides Ernährungsverhalten Wird in Familien ein rigides Essmanagement betrieben, das starr reglementiert, was, wie und wie viel gegessen wird (z.B. „Du bist satt, wenn der Teller leer ist“), trägt dies dazu bei, dass die körpereigene Hunger-Sättigungs-Regulation durch eine Regulation durch Außenreize ersetzt wird (Petermann & Häring, 2003, 264). Ein übermäßiges Ernährungsverhalten wird von Adipösen bspw. häufig damit erklärt, dass bei ihnen die Fähigkeit, Hunger oder Sättigung zu spüren, gänzlich fehlt oder stark eingeschränkt ist. Dadurch wird Nahrung über die Sättigungsgrenze hinaus zugeführt, was zu einer positiven Energiebilanz und langfristig zu Übergewicht und Adipositas führt (Petermann & Häring, 2003, 263). Mata und Munsch (2011) belegen, dass ein rigides Essverhalten die Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden, erhöht. Sie vermuten, dass ein derartiges restriktives Verhalten die biologische Selbstregulation der Nahrungsaufnahme abschwächt und infolgedessen vermehrt aufgrund externer Faktoren und nicht aus einem inneren Hungergefühl heraus gegessen wird (Mata & Munsch, 2011, 548). Unter der Voraussetzung eines gesunden, vielseitigen Nahrungsangebots in der Familie weisen Kinder, die ihre Portionsgrößen und die Dauer der Mahlzeit selbst bestimmen können, das geringste Risiko auf, übergewichtig zu werden (Wiegand & Ernst, 2015, 490). In diesem Zusammenhang weist Reich daraufhin, dass mit der Regulation der Nahrungszufuhr zugleich körperliche und psychische Grenzen definiert werden. Die Entscheidung darüber, was und wie viel gegessen wird, ist im Beziehungskontext auch als ein Bestimmen von Grenzen zu verstehen, das mit der innerfamiliären Verteilung von Macht und Kontrolle verbunden ist (Reich, 2003, 2). 51 5.4.3 Adipositas als Ausdruck familiärer Beziehungen Neben der Wirkungsweise familiärer Beziehungen über die eben dargestellte direkte Ernährungserziehung können familiäre Beziehungen auch indirekt ein Ernährungsverhalten befördern, dass in erheblichem Maße zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas beiträgt. Hierbei wird grundlegend angenommen, dass familiäre Beziehungen und Interaktionsmuster die Entwicklung von psychosomatischen Erkrankungen fördern können. In diesem Zusammenhang sei erneut auf die Ergebnisse von Minuchin hingewiesen. Zwar ist die „psychosomatische Familie“ nach Minuchin (1986) ein theoretisches Konstrukt, doch zeichnen sich familiäre Beziehungen bei psychosomatischen Erkrankungen aus systemischer Sicht vor allem durch Rigidität, Verstrickungen, intergenerationelle Loyalitäten und harmonisierende Konfliktvermeidung aus (Hantel-Quitmann, 1997, 77). Bei einem Teil der von Adipositas Betroffenen ist, insbesondere aus familientherapeutischer Sicht, davon auszugehen, dass Adipositas ein Ausdruck intrapsychischer und interpersoneller Konflikte ist. Hierbei werden ursprüngliche Konflikte abgewehrt und auf das Ernährungsverhalten verschoben. Dementsprechend ist die Nahrungszufuhr als Versuch zu verstehen, ursprüngliche Konflikte zu bewältigen (Reich, 2003, 3 - 4). „Oftmals werden Konflikte auf die Ernährung verschoben, weil sie hier leichter zum Ausdruck gebracht werden können als in dem zu Grunde liegenden Konflikt“. (Reich, 2003, 3 –4) In diesem Sinne kann Adipositas auf eine Somatisierung von familiärer Dysfunktionalität hinweisen. Dabei wirkt die familiäre Dysfunktionalität indirekt auf eine Störung des Essverhaltens ein (Tetzlaff & Hilbert, 2014, 62). Tetzlaff und Hilbert (2014) fassen in ihrer Übersichtsarbeit den Einfluss der Familie auf Essanfälle im Kindes- und Jugendalter zusammen. Sie beziehen ihre Daten auf 52 die Entstehung der Binge-Eating-Störung (BES), die durch den Kontrollverlust über das Essen gekennzeichnet ist, ohne dass diese „Essanfälle“ von kompensierendem Verhalten begleitet werden (Tetzlaff & Hilbert, 2014, 67). Die Auswertung von Tetzlaff und Hilbert zeigt, dass eine unsichere Eltern-Kind-Bindung, eine elterliche Essstörung und inadäquate Kommunikations- und Verhaltensweisen mit dem Auftreten von Essanfällen des Kindes bzw. Jugendlichen korrelieren (Tetzlaff & Hilbert, 2014, 67). Hippel-Schuler und Pape konnten in ihrer langjährigen Arbeit mit adipösen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beobachten, dass das Essverhalten einer Familie oder eines Individuums als Ausdruck von Beziehungen mit sich selbst und mit anderen zu betrachten ist. Ein chronisches Missverhältnis von Kalorienbedarf und zufuhr, das unerwünschtes Übergewicht zur Folge hat, kann demnach ebenso als ein Hinweis auf ungelöste familiäre Konflikte verstanden werden (Hippel-Schuler & Pape, 1997, 198). „Das aktuelle Eß- und Bewegungsverhalten mitsamt der körperlichen Erscheinung der betroffenen Kinder stellt so betrachtet immer die derzeit bestmögliche Reaktion auf aktuelle und chronische Konflikte dar, die das einzelne Familienmitglied und das Familiensystem auf anderen Wegen zu lösen in diesem Moment nicht in der Lage sind.“ (Hippel-Schuler & Pape, 1997, 198) Petermann und Häring sehen dysfunktionale Kommunikations- und Konfliktbewältigungsmuster in der Familie als eine nicht zu vernachlässigende Ursache für die Entwicklung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen an. Sie fassen verschiedene Studien zusammen und kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder, die emotional vernachlässigt werden, ein neunfaches Risiko für die Entwicklung von Adipositas aufweisen. Partnerschaftliche Probleme der Eltern oder insgesamt nicht intakte Familienverhältnisse erhöhen das kindliche Risiko, an Adipositas zu erkranken, um das Siebenfache (Petermann und Häring, 2003, 265). 53 In dem 2008 veröffentlichten Kinder- und Jugendsurvey (KiGGS) konnte ein Zusammenhang zwischen einem schlechten Familienklima und der Prävalenz von Adipositas nachgewiesen werden. Hierbei waren Kinder aus Familien mit niedrigem familiären Zusammenhalt um 50% häufiger von Adipositas betroffen als Kinder aus Familien mit einem hohen familiären Zusammenhalt (RKI & BZgA, 2008, 47). Pott et al. (2010) untersuchten Gewichtsreduktionsprogrammes, inwiefern im Rahmen eines psychologische und ambulanten familiäre Charakteristika den Interventionserfolg beeinflussen. Hierbei wurde neben dem BMI der Eltern und der Geschwister die psychosoziale Risikobelastung der Familie, die Depressivität und der Bindungsstil der Hauptbezugsperson sowie die individuelle psychische Belastung des teilnehmenden Kindes einbezogen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine hohe psychosoziale Risikobelastung der Familie sowie eine mütterliche Depression und ein vermeidendes Bindungsverhalten der primären Bezugsperson, mehr als die psychische Belastung des zu behandelnden Kindes, mit einem Misserfolg der Gewichtsreduktion assoziiert sind. Abschließend betonen Pott et al., wie bedeutend „psychosoziale und emotionale Ressourcen der primären Bezugsperson“ für die Gewichtsregulation des Kindes sind und unterstreichen hiermit die Bedeutsamkeit von elterlichen Ressourcen in Hinblick auf die Gewichtsentwicklung (Pott et al., 2010, 351, 358). Die hier genannten Ergebnisse bekräftigen den Zusammenhang von Adipositas und familiären Beziehungen. So sind familiäre Konflikte, psychische Erkrankungen, negative Kommunikations- und Verhaltensmuster oder insgesamt ein negatives familiäres Klima mit Adipositas assoziiert. Hierbei ist anzunehmen, dass Essen den betroffenen Kindern dazu dient, Konflikte und Defizite über das Essen zu kompensieren. Diese Ergebnisse unterstreichen erneut die psychologische Bedeutung des Essens in Zusammenhang mit Adipositas und verweisen auf die, wie bereits unter 3.2.3 dargestellt, zentrale Bedeutung der Regulation von Emotionen. Auf diesen Zusammenhang wird unter Punkt 6 weiterführend eingegangen. Zunächst wird dargestellt, inwiefern sich diese meist in der Kindheit erlernte Verknüpfung 54 zwischen familiären Beziehungen und einem übermäßigen Ernährungsverhalten im Erwachsenenalter aufrechterhält. 5.5 Bedeutung der erlernten Emotionsregulation für das Erwachsenenalter Für einen Einblick in die Bedeutung und die Wirkungsweise des Essens als Strategie zur Emotionsregulation im Erwachsenenalter und deren Verankerung im familiären Kontext werden nachfolgend eigene Forschungsergebnisse herangezogen. Hierbei dienen Auszüge aus Interviews der Illustration, inwiefern Essen im subjektiven Erleben der Emotionsbefriedigung dient. Das Forschungsprojekt umfasste zehn qualitative, leitfadengestützte Interviews. Hierbei wurden die Teilnehmer strukturiert zu den Themenbereichen Gewichtsentwicklung, Ernährungsverhalten und familiäre Beziehungen befragt. Bis auf das Vorliegen einer Adipositas (BMI über 30) wurden keine weiteren Ein-und Ausschlusskriterien angewandt. Die Interviews wurden nach der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring (2013, 471) ausgewertet. Individuelle Zusammenhänge wurden darüber hinaus in Form von kurzen, anonymisierten Fallbeispielen nach Schmidt (2013, 447) dargestellt. Der Leitfaden für die Interviews ist dem Anhang beigefügt. Aufgrund der geringen Fallzahl sind die Ergebnisse des Projektes in ihrer Aussagekraft begrenzt. Dennoch finden sich hier detaillierte Hinweise, wie die Adipositasgenese aus subjektiver Sicht betrachtet wird und welche familiären Faktoren aus dieser Perspektive eine Rolle spielen. Die Auswertung der Interviews zeigt, dass Essen als Strategie zur Emotionsregulation bei allen Befragten eine Rolle spielt. Darüber hinaus betrachten acht der zehn Befragten ihr emotionales Ernährungsverhalten, bei dem das Essen durch Emotionen ausgelöst wird, explizit als Ursache für ihr starkes Übergewicht. Vier von Ihnen sehen es als alleinige Ursache ihrer Adipositas an. Weiterhin halten fünf der Befragten das erlernte Ernährungsverhalten für eine Ursache, zwei von Ihnen als alleinige Ursache 55 ihrer Adipositas. Zum erlernten Ernährungsverhalten zählt das Erlernen der Nahrungsmittelauswahl, Portionsgrößen und die Gestaltung der Mahlzeiten. Zwei Teilnehmer halten genetische Ursachen für mitverantwortlich für das starke Übergewicht. Mit dem Fokus auf das emotionale Ernährungsverhalten zeigt sich, dass es in der Spezifität der Emotionen, die das auslösende Motiv für das Essen darstellen, Häufungen gibt. Auffallend ist aber insgesamt die Vielfalt der Emotionen. Insgesamt überwiegen eindeutig die negativen Emotionen als auslösendes Motiv für das Essen. Am häufigsten wurde von den Befragten das Gefühl von „traurig/unglücklich sein“ als auslösendes Motiv für das Essen genannt. Nahezu ebenso häufig wurden unspezifische negative Gefühle genannt. Eine Übersicht der Emotionen und die Anzahl der Nennungen ist in der Abb. 12 dargestellt. Die Motive Trost, Belohnung und Beruhigung sind in der Abbildung als gesonderte Motive dargestellt, da es keine direkten Emotionen sind, sie aber auf eben solche zurückgeführt werden können. Abbildung 12: Emotionen, die das Essen auslösen (Hink, 2014, 13) 56 Die Vielfalt der hier dargestellten Emotionen legt nahe, dass nicht das Motiv selbst entscheidend ist für die Nahrungszufuhr, sondern vielmehr deren individuelle Bedeutung für den Adipösen. Dabei bringen alle hier befragten „emotionalen Esser“ bestimmte Lebensereignisse oder familiäre Beziehungen in der Kindheit mit ihrem aktuellen Ernährungsverhalten und ihrer Adipositasgenese in Verbindung. Hierbei gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den in der Kindheit erlebten und offensichtlich nicht ausreichend bewältigten Emotionen und den im Erwachsenenalter auslösenden Emotionen für das Ernährungsverhalten. Anna beschreibt, dass sie die Strategie des Essens im Umgang mit Emotionen bereits als Kind in ihrer Familie gelernt hat: „…Essen [war] immer sehr stark mit Emotionen verbunden […] im Sinne von Belohnung oder Entschädigung, oder Trost, es ging immer sehr in die Richtung. (…) Mit Belohnung oder Trost, das wurde mir einfach ganz früh schon angeeignet. Hast Du heute ´n schweren Tag gehabt, dann hier: iss Schokolade. Vielleicht ein bisschen überspitzt, aber gönn Dir was, so in Form von Essen.“ Helma beschreibt darüber hinaus, wie sie selbst geneigt ist, das Muster, das Emotionen mit Essen befriedigt werden, an ihren Sohn weiter zu geben: „ […] ich habe einen 13 Monate alten Sohn, wo ich extrem merke, dass ich da wirklich in meine Kindheit zurückfalle, über meinen Sohn, dass ich immer versucht bin, ihm aus Belohnung was zu essen zu geben und das kommt aus meiner Kindheit. Also Essen war Belohnung.“ Andere der Befragten beschreiben vielmehr, dass sie aufgrund schwieriger familiärer Beziehungen oder schwieriger Lebenssituationen selbst die Strategie entwickelt haben, ihre Emotionen mit Essen zu regulieren. 57 So führt Christian sein starkes Übergewicht alleinig auf emotionales Ernährungsverhalten zurück. Er isst, wenn er ein hohes Maß an Angst und Stress empfindet, oder wenn er sich belohnen will. Den Zusammenhang zu seiner Familie beschreibt er wie folgt: „Im jugendlichen Alter war das sehr schlimm. Meine Mutter ist auch nicht ohne Belastung, die hat die Flucht mitgemacht als Kind. So, die hat natürlich auch viele Ängste mit der Muttermilch an die Kinder weitergegeben. Ja und wenn sie das nicht mehr verkraftet hat, hat sie Anfälle gekriegt. [...] dann hatte sie Herzschmerzen und so Atemnot. Und das geht dann natürlich auch auf´s Gemüt.“ Bereits als Kind hat er begonnen in Situationen, die ihn stark belasteten, zu essen. Bis heute hält er diese Form der Emotionsregulation aufrecht. Auch Frederike beschreibt, dass das Essen ihr hilft, diesen Druck abzubauen. Frederike isst, wenn sie starke Gefühle hat, die sie so nicht aushalten kann. Im Verlauf des Gesprächs erzählt sie, dass es bereits Phasen in ihrem Leben gab, in denen das Essen nicht ausreichend geholfen hat und es dann „anders gehen musste“ und beschreibt ein selbstverletzendes Verhalten. In diesem Kontext weist sie auf ihre Borderline-Erkrankung hin. Doris berichtet, dass sie immer dann isst, wenn sie sich traurig oder einsam fühlt. Später bringt sie den Zusammenhang von diesen Emotionen und dem Essen direkt mit ihren familiären Beziehungen in Verbindung: „Die wollten mich nicht, die wollten nichts mit mir zu tun haben, aber das Gefühl macht manchmal so´ n Stich und sagt: „friss doch mal ´ne Runde.“ 58 Die hier dargestellten Auszüge der Interviews weisen darauf hin, dass die Strategie des Essens zur emotionalen Bedürfnisbefriedigung aufgrund direkter Ernährungserziehung der Eltern bereits in der Kindheit erlernt wurde und die genannten adipösen Erwachsenen diese für noch immer ausschlaggebend für ihr aktuelles Ernährungsverhalten halten. Darüber hinaus deuten die Erzählungen daraufhin, dass familiäre Konflikte in der Kindheit dazu geführt haben, Essen zur Regulation von Emotionen einzusetzen. Insbesondere Emotionen, die für die damaligen Konflikte und Belastungen relevant waren, lösen hierbei bis ins Erwachsenenalter ein übermäßiges Essen aus. Zugleich konnte von den hier Befragten bis heute nicht (ausreichend) auf adäquate Strategien im Umgang mit ihren Emotionen zurückgegriffen werden, so dass das Essen bis heute zur Regulation von Emotionen eingesetzt wird. Zusammenfassend verdeutlichen maßgebliche Rolle der die Familie in Ergebnisse des Hinblick auf gesamten die Kapitels Entwicklung die des Ernährungsverhaltens und auf die Entstehung von Adipositas. Sozioökonomische Aspekte, wie bspw. das finanzielle Einkommen oder die Bildung, können hierbei direkt eine „ungesunde“ Ernährungsweise begünstigen. Die familiären Beziehungen sind jedoch in deutlich höherem Maße als bisher berücksichtigt ausschlaggebend für die Entwicklung des Ernährungsverhaltens und die Entstehung von Adipositas. Hierbei steht ein übermäßiges Essen des Kindes vielfach in Zusammenhang mit fehlenden elterlichen (Ernährungs-) Erziehungskompetenzen und / oder negativ erlebten familiären Beziehungen. „...der familiäre Kontext, in dem das Überessen und Dickbleiben stattfindet und Sinn ergibt, [bleibt] für die Diagnostik sowie als Quelle von Ressourcen zur Problembewältigung für die Behandlung weitgehend ungenutzt." (Hippel-Schuler & Pape, 1997, 191) So wird durch die Ernährungserziehung der Eltern erlernt, dass über das Essen emotionale Bedürfnisse befriedigt werden können. Darüber hinaus entwickeln Kinder 59 in schwierigen Lebenssituationen oder belastenden familiären Verhältnissen oftmals die Strategie, Konflikte und Emotionen mit Essen zu regulieren. Entscheidend in den hier dargestellten Zusammenhängen ist, dass es Eltern scheinbar an Kompetenzen und Ressourcen fehlt, kindliche Bedürfnisse adäquat wahrzunehmen und zu befriedigen und aus diesem Grund das Essen der Kompensation emotionaler Bedürfnisse dient. Hierbei ist die Wirkungsweise der Familie nicht als Schuldvorwurf zu betrachten, sondern soll vielmehr das Verständnis für die Entstehung von Krankheiten im Kontext familiärer Beziehungen erweitern (Hantel-Quitmann, 1997, 32). Die Berichte von erwachsenen Adipösen deuten weiterhin darauf hin, dass auch im Erwachsenenalter insbesondere die Gefühle das Essen auslösen, die in der Kindheit als belastend erlebt wurden und offensichtlich bis heute nicht ausreichend verarbeitet werden konnten (Hink, 2015, 13). Der zentrale Aspekt in Zusammenhang mit Adipositas ist die Regulation von Emotionen - sowohl in der direkten Ernährungserziehung als auch in familiären Beziehungen sowie im Erwachsenenalter. Aus diesem Grund wird im Folgenden der Einfluss der Familie auf die Entwicklung der Emotionsregulation eingehend betrachtet. Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass eine familienorientierte Gesundheitsförderung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken sollte. Hierbei geht es vor allem darum, zu einer Verbesserung des familiären Klimas beizutragen. Hierzu gehört weiterhin die Erweiterung der Lebenskompetenzen sowohl für Eltern als auch für die Heranwachsenden. Eine Stärkung der Erziehungs- und Lebenskompetenzen der Eltern wirkt sich hierbei indirekt positiv auf die Gesundheit der Kinder aus (Rattay, P. et al., 2012, 17). 60 6 Emotionsregulation im Fokus der Adipositasbetrachtung Aufbauend auf den bisherigen Ergebnissen wird die Regulation von Emotionen in diesem Kapitel ins Zentrum der Adipositasbetrachtung gestellt. Hierzu wird zunächst die Entwicklung der Emotionsregulation unter dem Einfluss der Familie dargestellt. Darüber hinaus eingeschränkten werden die Fähigkeit Zusammenhänge zur von Adipositas und einer Emotionsregulation abgebildet und diese insbesondere im Kontext der elterlichen Erziehungskompetenzen beleuchtet. Abschließend gibt die beispielhafte Darstellung eines Trainings zur Verbesserung der Emotionsregulationsfähigkeit und der Ansatz zur Stärkung elterlicher Kompetenzen einen Ausblick auf geeignete Ansätze für die Prävention und Behandlung von Adipositas. 6.1 Die Entwicklung der Emotionsregulation Die Fähigkeit, Emotionen angemessen zu regulieren, ist eine entscheidende Entwicklungsaufgabe in der Kindheit. Hierbei erlernt ein Kind, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu interpretieren und Strategien zu entwickeln, um mit ihnen umzugehen. Vielfach wird die Fähigkeit zur Emotionsregulation anhand von „Stress“Situationen bewertet, die emotional herausfordernd für das Individuum sind (Kullik & Petermann, 2012, 30). Bereits Säuglinge verfügen über ein Potenzial angeborener Emotionen und diesbezüglicher Verarbeitungsprozesse. Grundlegend wird die Entwicklung von Emotionen und ihre Regulation jedoch ebenso von der äußeren Umwelt geprägt. (Kullik & Petermann, 2012, 14 – 18). Alterstypische Strategien zur Emotionsregulation sind in Abb. 13 dargestellt. 61 Säugling weint um Trost der Eltern zu erhalten Kleinkind sucht aktiv nach elterlicher Unterstützung Vorschulkind beginnt über Emotionen zu sprechen Schulkind erlernt Ablenkungsstrategien zur Emotionsregulation Jugendlicher verfügt über individuelle Strategien zur Regulation der Emotionen Abbildung 13: Alterstypische Strategien zur Emotionsregulation (eigene Darstellung nach Kullik & Petermann, 2012, 28) Die Abbildung zeigt, wie sehr die Entwicklung der Emotionsfähigkeit im Zusammenspiel mit den Eltern erlernt wird. Die Fähigkeit, geeignete Strategien im Umgang mit positiven wie negativen Emotionen zu erlernen und umzusetzen, wird als wesentliches Merkmal der sozialen Kompetenz bewertet. Einflüsse, die auf die Entwicklung der Emotionsregulation einwirken, sind in Abb. 14 dargestellt (Kullik & Petermann, 2012, 21). Abbildung 14: Einflüsse auf die Entwicklung der Emotionsregulation (Kullik & Petermann, 2012, 30) Die Abbildung veranschaulicht, dass die Emotionsregulation von physiologischen Prozessen, dem individuellen kindlichen Temperament und der elterlichen Erziehung 62 bzw. dem sozialen Umfeld geprägt wird. Im Kontext dieser Arbeit wird im Folgenden der Fokus auf den Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Entwicklung der Emotionsregulation gelegt. 6.1.1 Der familiäre Einfluss auf die Entwicklung der Emotionsregulation Im Folgenden wird betrachtet, auf welche Weise die Familie Einfluss auf die Entwicklung der Emotionsregulation nimmt. Die Entwicklung der Emotionsregulationsfähigkeit des Kindes wird grundlegend von den Eltern geprägt. Das Erziehungsverhalten der Eltern kann dabei sowohl abschwächenden als auch verstärkenden Einfluss auf die Temperamenteigenschaften des Kindes nehmen. Hierbei trägt das Verhalten der Eltern in Bezug auf die Emotionen und das Verhalten ihres Kindes entscheidend zu dem Erlernen der Regulation von Emotionen des Kindes bei. Eine sichere und unterstützende ElternKind-Bindung ist hierbei eine förderliche Grundlage für die Entwicklung der Emotionsregulationsfähigkeit. Darüber hinaus können Eltern das Erlernen von Regulationsstrategien durch konkrete Anleitung direkt unterstützen (Kullik & Petermann, 2012, 95). „Erkennen Eltern die Emotionen ihres Kindes, akzeptieren sie diese und bieten sie eine Anleitung, die dem Kind im Umgang mit den eigenen Emotionen nützt, so wird von einer Sozialisation des kindlichen Emotionsverhaltens gesprochen.“ (Kullik & Petermann, 2012, 95) Werden Kinder hingegen für ihre Emotionen kritisiert und nicht angeleitet, konstruktiv mit ihnen umzugehen, wirkt sich dies negativ auf die Emotionsregulation der Kinder aus. Darüber hinaus kann auch ein hoch kontrollierendes Verhalten der 63 Eltern gegenüber ihren Kindern die Entwicklung der Emotionsregulation vermindern (Kullik & Petermann, 2012, 94 - 95). So zeigt eine Studie von Suveg, Jacob & Payne (2010), dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen hoher Emotionalität und Erregbarkeit sowie schlechter emotionaler Kontrolle der Mütter und einer dysfunktionalen Emotionsregulation der Kinder besteht (Suveg, Jacob & Payne, 2010, 683). Der familiäre Einfluss auf die Emotionsregulation ist in Abb. 15 dargestellt. Abbildung 15: Einfluss der Familie auf die Emotionsregulation (Petermann & Wiedebusch, 2008, 86) In der Abbildung von Petermann und Wiedebusch ist für die Entwicklung der Emotionsregulation besonders relevant, welche Koregulationen über die Eltern erlernt werden. Hierbei kann Essen als emotionale Bedürfnisbefriedigung als eine solche Koregulation verstanden werden. Ebenso entscheidend ist, wie mit den negativen Emotionen (des Kindes) umgegangen wird, wie Eltern auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren (Responsivität) und wie sich der Emotionsausdruck der Eltern gestaltet. Verminderte elterliche Kompetenzen und Ressourcen in diesem Bereich können dazu beitragen, dass Kinder ihre Emotionen nicht adäquat zu regulieren lernen und bspw. auf externe Regulationsstrategien wie das Essen zurückgreifen. 64 Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern Beeinträchtigungen in der Eltern-KindBeziehung mit einem „gestörten“ Ernährungsverhalten einhergehen können und wie dieses darüber hinaus in Zusammenhang mit Adipositas steht. 6.1.2 Das Ernährungsverhalten im Kontext der Eltern-KindBeziehung Die Fähigkeit der Affektregulation ist eng mit den frühkindlichen Erfahrungen verbunden, die ein Kind mit seinen primären Bezugspersonen erlebt hat. Hierbei ist ein unsicheres bzw. ängstliches Beziehungsmuster mit einem elterlichen Erziehungsverhalten assoziiert, das vorwiegend abweisend oder überprotektiv ist. Ein derartiges Erziehungsverhalten geht für das Kind dabei vielfach mit der Entwicklung inadäquater Strategien zur Affektregulation einher (Kullik & Petermann, 2012, 97 – 99). Hierbei ist Essen als eine Form der externen Emotionsregulation zu verstehen. Die Nahrungsaufnahme wird hierbei zur Reduktion negativer Emotionen wie Stress, Ärger oder Einsamkeit eingesetzt (Herpertz, 2015, 426). Ein Ernährungsverhalten, das vorwiegend zur Regulation von Emotionen funktionalisiert wird, kann demnach als „gestörtes Essverhalten“ betrachtet werden. In diesem Zusammenhang ist auch dann von einem gestörten Essverhalten zu sprechen, wenn es dabei nicht zu „Fressanfällen“ im Sinne einer Binge-EatingStörung kommt (Rommel et al. 2012, 21). Wilkinson et al. (2010) untersuchten den Zusammenhang von erlebter Bindungsqualität und der Fähigkeit zur Emotionsregulation. Die Ergebnisse zeigten zunächst, dass Menschen mit einem ängstlichen Bindungsmuster vermehrt zu einer externen Emotionsregulation neigen. In einem zweiten Schritt setzten Wilkinson et al. diese Ergebnisse in Korrelation zum Ernährungsverhalten und dem Körpergewicht der Probanden. Es zeigte sich eine signifikant positive Korrelation zwischen Bindungsangst und einem erhöhten BMI. Weiterhin wiesen übergewichtige und adipöse Menschen signifikant höhere Werte in der Störbarkeit des Essverhaltens auf 65 als normalgewichtige Menschen. Wilkinson et al. betrachten hierbei ein gestörtes Essverhalten als Mediator zwischen einem ängstlichen Bindungsmuster und einem erhöhten BMI (Wilkinson, 2010, 1444 – 1445). Eine Studie von Ihle et al. (2005) zeigt eine signifikante Korrelation von elterlicher Kontrolle und Überbehütung oder Ablehnung und Strafe mit einem gestörten Essverhalten des Kindes. Eine fehlende emotionale Wärme wurde in der Studie nicht mit einer Essstörungssymptomatik assoziiert (Ihle et al., 2005, 36 - 37). Topham et al. (2011) zeigen, dass ein autoritäres elterliches Verhalten bei 6 – 8jährigen Kindern mit einem emotionalen Ernährungsverhalten assoziiert ist. Emotionales Ernährungsverhalten meint hierbei, dass Gefühle mithilfe von Essen reguliert werden. Hierbei zeigte sich in der Studie insbesondere, dass das „unbegründete Bestrafen“ durch die Eltern mit einem emotionalen Essverhalten der Kinder einherging. Hierbei wird von den Autoren darauf hingewiesen, dass unbegründete Strafen mit einer Beeinträchtigung der Selbstregulation, mit einem höheren inneren Stresserleben und einem geringeren Selbstwertgefühl einhergeht (Topham et al., 2011, 263 – 264). Schützmann et al. (2008) belegen, dass ein abweisendes elterliches Verhalten bei 8 – 11-jährigen Kindern zu einem „gestörten Ernährungsverhalten“ führt (Schützmann et al., 2008, zitiert nach Rommel, 2012 22). Snoek et al. (2007) belegen, dass emotionales Essen bei Jugendlichen vor allem dann vorzufinden ist, wenn die Jugendlichen weniger mütterliche Unterstützung und stattdessen vermehrt Kontrolle durch die Mutter erfahren (Snoek et al., 2007, 228). Die hier dargestellten Studien weisen auf den Zusammenhang von elterlichem Erziehungsverhalten und der Entwicklung eines gestörten bzw. emotionalen Ernährungsverhaltens und einem erhöhten Körpergewicht. So konnten verschiedene Studien belegen, dass ein „gestörtes“ Ernährungsverhalten in Zusammenhang mit 66 dem elterlichen Erziehungsstil steht. Hierbei geht ein ablehnendes, wenig unterstützendes und bestrafendes Erziehungsverhalten mit Störungen im Ernährungsverhalten einher. Bei Erwachsenen konnte darüber hinaus ein unsicherer Bindungsstil mit Störungen im Ernährungsverhalten in Zusammenhang gesetzt werden. Zugleich ist auch ein Erziehungsverhalten, dass kontrollierend und überbehütend ist, mit Störungen im Ernährungsverhalten assoziiert. Hierbei steht ein derartiges Ernährungsverhalten in Korrelation mit einem erhöhten Körpergewicht und Adipositas. Für die Betrachtung der Adipositasgenese und von zukünftigen Behandlungsansätzen ist vor allem entscheidend, dass hier nicht die explizite Ernährungserziehung, sondern vielmehr ein genereller Erziehungsstil die Emotionsregulation beeinflusst und somit ein Ernährungsverhalten fördert, das erheblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas beiträgt. 6.1.3 Adipositas als Resultat einer verminderten Fähigkeit zur Emotionsregulation In diesem Unterkapitel wird dargestellt, inwiefern Adipositas mit Defiziten in der Emotionsregulation einhergeht und mit welcher Form des Ernährungsverhaltens diese Defizite assoziiert sind. Entscheidend für eine vermehrte Nahrungszufuhr ist nach van Strien (2005) grundlegend die Fähigkeit, die eigenen Emotionen wahrzunehmen. Negative Affekte führen demnach vor allem dann zum vermehrten Essen, wenn die Fähigkeit, die eigenen Emotionen bewusst wahrzunehmen, fehlt oder eingeschränkt ist (van Strien, 2005, 211 - 212). Darüber hinaus wird eine verminderte Fähigkeit zur Wahrnehmung und Regulation der eigenen Emotionen als individueller Risikofaktor für eine vermehrte Nahrungszufuhr und die Entstehung von Adipositas betrachtet (Moon & Berenbaum, 2009, 425). 67 Eine Studie von Rommel et al. mit 94 adipösen Frauen und 56 normalgewichtigen Frauen in der Kontrollgruppe bestätigt, dass die Wahrnehmung der eigenen Emotionen in der Gruppe der adipösen Frauen signifikant geringer ausgeprägt ist als bei den normalgewichtigen Frauen. Zugleich neigen die adipösen Frauen mehr als die normalgewichtigen Frauen dazu, ihre Emotionen mit einer vermehrten Nahrungszufuhr zu regulieren. Im Gegensatz zu bisherigen Studien kommen Rommel et al. jedoch zu dem Ergebnis, dass in der Gruppe der adipösen Frauen insbesondere diejenigen zu einem emotionalen Essen neigen, die in dieser Gruppe die höchsten emotionalen Kompetenzen aufweisen. Aufgrund der kontroversen Ergebnisse legen Rommel et al. nahe, dass nicht von einem gänzlichen Fehlen der emotionalen Kompetenzen, sondern vielmehr von einer Einschränkung ausgegangen werden kann. In diesem Zusammenhang wird auf den weiteren Forschungsbedarf bzgl. der Rolle der Emotionsregulation für die Entstehung von Adipositas hingewiesen (Rommel et al., 2012, 24). Verschiedene internationale Studien untersuchten bei übergewichtigen und adipösen Menschen differenziert, inwiefern Defizite in der Emotionsregulation mit einer bestimmten Ausprägung des Ernährungsverhaltens einhergehen. Die Kategorisierung des Ernährungsverhaltens erfolgte in den im Folgenden aufgeführten Studien auf Grundlage des Dutch Eating Behavior Questionnaire (DEBQ) von Van Strien (2010). Das emotionale Ernährungsverhalten (emotional eating behavior) ist dadurch gekennzeichnet, dass als Reaktion auf negative Gefühle gegessen wird. Hierbei wird angenommen, dass das Essen eine erlernte Strategie darstellt, um Emotionen zu regulieren (Stapleton & Whitehead, 2014, 359). Externales oder „Außenreiz abhängiges“ Ernährungsverhalten (external eating behavior) ist dadurch gekennzeichnet, dass bspw. der Anblick oder der Geruch von Lebensmitteln das Essen auslöst. Dieses Verhalten wird damit in Verbindung gebracht, dass die eigenen Körpersignale wie Hunger oder Sättigung nicht 68 ausreichend wahrgenommen werden und die Betroffenen daher vermehrt auf Außenreize reagieren (Stapleton & Whitehead, 2014, 359). Das gezügelte Ernährungsverhalten (restraint eating behavior) ist durch eine stete kognitive Kontrolle gekennzeichnet, die reguliert, was und wieviel gegessen wird. Hierbei wird angenommen, dass Stress oder starke Emotionen, die kognitive Kontrolle aufheben, zu einem unkontrollierten Essen führen (Pudel & Westenhöfer, 1998, 178). Häufig wird insbesondere das Auftreten von Essanfällen als Folge von Stress oder starken Emotionen mit einem grundsätzlich gezügelten Ernährungsverhalten assoziiert. Hierbei wird das „bewusst kontrollierte Essen“ durch das Auftreten von Stress oder starken Emotionen durchbrochen und führt zu einer vermehrten Nahrungszufuhr. Bereits in den 1980er Jahren konnte gezeigt werden, dass „gezügelte Esser“ weniger auf ihre inneren Körper- und Hungersignale reagieren (Stunkard & Messick, 1985, 81). Neuere Studien zeigen, dass Kinder mit einem „stark gezügelten Essverhalten“ dann vermehrt essen, wenn sie unter hohem Stressniveau stehen. Ein mäßiges Stressniveau hatte hingegen kaum Einfluss auf das Ernährungsverhalten (Balantekin & Roemmich, 2012, 298 – 303). Eine Studie von van Strien, Herman und Verheijden (2009) weist hingegen daraufhin, dass ein gezügeltes Ernährungsverhalten weniger stark mit Übergewicht assoziiert ist als das externale und das emotionale Ernährungsverhalten. Hierbei wird angenommen, dass ein gezügeltes Ernährungsverhalten die Nahrungsaufnahme grundsätzlich „erfolgreich kontrolliert“ und lediglich in Ausnahmefällen mit einem Überessen einhergeht, so dass es seltener zu Übergewicht und Adipositas führt (Van Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385). Van Strien, Herman & Verheijden sehen in ihrer Studie Übergewicht und Adipositas am stärksten mit einem emotionalen Ernährungsverhalten assoziiert (Van Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385). 69 In Bezug auf externales Ernährungsverhalten konnten van Strien, Herman und Verheijden (2009) keine signifikanten Unterschiede zwischen normal- und übergewichtigen Menschen feststellen. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die Annahme, dass es sich bei dem externalen Ernährungsverhalten um eine evolutionäre Anpassungsleistung handelt, die in modernen Industriegesellschaften das Ergebnis von stetig steigenden Außenreizen ist, die es zu verarbeiten gilt (Van Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385). Ellrott beschreibt es (wie in Abb. 16 dargestellt) als einen natürlichen Prozess, dass von Geburt bis etwa zur Mitte des Lebens die Außenreize zunehmenden Einfluss auf das Ernährungsverhalten nehmen. Dieser Trend ist in der zweiten Lebenshälfte wieder rückläufig (Ellrott, 2007, 168). Abbildung 16: Einfluss von Außenreizen auf das Ernährungsverhalten (Ellrott, 2007, 168) Eine Studie von Zijstra et al. (2012) untersuchte weiterhin 102 morbid adipöse Frauen und ebenso viele Frauen in der Kontrollgruppe, die in Hinblick auf Alter und Bildung der Untersuchungsgruppe angepasst war. Die beiden Gruppen wurden hinsichtlich ihrer erlebten Emotionen, ihrer emotionalen Verarbeitungsprozesse und ihrer Emotionsregulation miteinander verglichen. Die erhobenen Items und die dazugehörigen Ergebnisse sind im Anhang dargestellt. In einem zweiten Schritt untersuchten die Autoren, inwiefern die Ergebnisse einem bestimmten Ernährungsverhalten zuzuordnen sind. 70 Die Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede in Hinblick auf die erlebten Emotionen. So erleben morbid adipöse Frauen signifikant weniger positive und mehr negative Emotionen als die Frauen in der Kontrollgruppe. In der Gruppe der morbid Adipösen erleben die emotionalen und externalen Esser ihre Emotionen signifikant negativer als die gezügelten Esser (Zijstra, 2012, 1380). Darüber hinaus wies die Gruppe der morbid adipösen Frauen signifikant mehr Schwierigkeiten in der Identifizierung der eigenen Emotionen auf als Frauen in der Kontrollgruppe. Hierbei wird anstelle einer differenzierten Wahrnehmung von Emotionen ein undifferenzierter körperlicher Erregungszustand beschrieben, der wiederum die Gefühlslage und die Fähigkeit der Emotionsregulation negativ beeinträchtigt. In der Studie von Zijstra korreliert die Schwierigkeit, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, mit einem emotionalen und einem externalen Ernährungsverhalten, nicht aber mit einem gezügelten Essverhalten (Zijstra, 2012 1381 – 1382). Die Autoren wahrzunehmen, schlussfolgern, ein dass entscheidender die Schwierigkeit, Mechanismus in die eigenen Gefühle der Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas ist. Diese Studie stützt die These, dass adipöse Menschen mit einem emotionalen Ernährungsverhalten versuchen, die als stark wahrgenommenen Emotionen mithilfe einer vermehrten Nahrungszufuhr abzuschwächen (Zijstra, 2012, 1383). Des Weiteren zeigen die Ergebnisse der Studie, dass morbid adipöse Frauen signifikant stärker ihre Gefühle unterdrücken als die Frauen der Kontrollgruppe. Diesbezüglich konnte in der Studie jedoch kein Hinweis auf ein emotionales Ernährungsverhalten gefunden werden, da dieser Aspekt in der Gruppe der externalen und gezügelten Esser gleichwertig ausgeprägt ist (Zijstra, 2012 1383). Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse der hier dargestellten Studien die zentrale Rolle der Emotionsverarbeitung und –regulation in Hinblick auf die Entstehung und 71 Aufrechterhaltung von Adipositas. Hierbei dient eine vermehrte Nahrungszufuhr als Strategie zur Regulation Emotionsregulation nehmen von den Emotionen. Studien Verschiedene zufolge Aspekte Einfluss auf der das Ernährungsverhalten und das resultierende Körpergewicht. So werden bspw. die eigenen Emotionen vermindert, undifferenziert oder auch vermehrt negativ wahrgenommen oder unterdrückt. Wiederholt wird eine verminderte Fähigkeit der Emotionsregulation beschrieben. Während die Studien kontroverse Ergebnisse zum externalen und gezügelten Ernährungsverhaltens in Bezug zur Fähigkeit der Emotionsregulation liefern, ist ein emotionales Ernährungsverhalten einheitlich mit Defiziten in der Emotionsregulation assoziiert. Darüber hinaus haben van Strien, Herman & Verheijden ihre Ergebnisse mit einer Studie aus den 1980er Jahren (Van Strien 1986) verglichen und heben einen immensen Anstieg des emotionalen Ernährungsverhaltens hervor. Auf dieser Grundlage plädieren sie dafür, in der Debatte um die „aktuelle Adipositasepidemie“ vermehrt die Emotionen in den Blick zu nehmen. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf gesellschaftliche Veränderungen, die von einer Abnahme sozialer Verbundenheit und einer Zunahme von äußeren Gefahren wie Krieg und Gewalt geprägt ist (Van Strien, Herman & Verheijden, 2009, 385). Zusammenfassend konnte in diesem Kapitel dargestellt werden, dass Adipositas mit Einschränkungen in der Emotionsregulation einhergeht. Diese eingeschränkte Fähigkeit zur Emotionsregulation konnte darüber hinaus mit der elterlichen Erziehung in Bezug gebracht werden. Dieser Zusammenhang wurde bei adipösen Kindern und Jugendlichen bestätigt, die ihre Eltern als ablehnend, wenig unterstützend, bestrafend oder überbehütend beschreiben. Der gesamte Kontext familiärer Beziehungen und deren Wirkungsweise auf die Entstehung von Adipositas wird in den Behandlungsansätzen bisher jedoch völlig vernachlässigt. 72 Im Folgenden werden abschließend Behandlungsansätze aufgezeigt, die den zentralen Punkt der Emotionsregulation beinhalten und sich somit als Elemente in der Prävention und Behandlung von Adipositas eignen. 6.2 Die Bedeutung der Emotionsregulation für die Adipositasbehandlung „Multimodale Behandlung, die auf eine Änderung des Ernährungsund Bewegungsverhaltens fokussiert [ist] und dabei eine flexible Kontrolle des Essverhaltens unterstützt, erreicht die höchste Wirksamkeit. Die zu erwartenden Effekte sind jedoch als moderat zu bezeichnen.“ (Munsch & Hilbert, 2015, 59) Munsch und Hilbert postulieren die Notwendigkeit, die aktuellen Erkenntnisse über psychologische Mechanismen wie bspw. die Emotionsregulation in aktuelle Behandlungsmodelle für adipöse Menschen einfließen zu lassen, um die Wirksamkeit der Behandlung zu erhöhen. Sie betonen in diesem Zusammenhang die Vorteile eines unspezifischen Trainings zur Emotions- und Impulskontrolle, da sich eine Fokussierung auf das Problemverhalten, insbesondere bei Defiziten in der Emotionsregulation, kontraproduktiv auswirken kann. Bisher fehlen Studien, die die Wirksamkeit eines Trainings zur Emotionsregulation bei adipösen Menschen belegen. Munsch und Hilbert leiten die zu vermutende positive Wirkung eines solchen Trainings daher von Studien ab, die positive Effekte eines Trainings zur Emotionsregulation bei psychischen Störungen belegen können. So gehen bspw. Übungen zum Identifizieren von Emotionen oder zur Reduktion des Vermeidens von Gefühlen mit einer Verbesserung der Emotionsregulation und einem insgesamt verbesserten Behandlungseffekt bei psychischen Störungen einher (Munsch und Hilbert 2015, 35). Emotionen spielten in verhaltenstherapeutischen Ansätzen lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Im Zuge der „2. Welle der Verhaltenstherapie“ wurde zwar die 73 Relevanz der Emotionen in therapeutischen Interventionen erkannt, doch entwickelten sich daraus zunächst Ansätze, die die Veränderung einzelner Emotionen bzw. der zugehörigen Kognitionen und Verhaltensweisen zum Ziel hatten (Berking, 2015, 11). Betrachtet man die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, die in den Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Adipositas (DAG, 2014) als unterstützende Elemente empfohlen werden, so sind diese, mit dem Ziel der Veränderung des Ernährungsund Bewegungsverhaltens, dieser Phase zuzuordnen. Obwohl die Annahme, dass eine vermehrte Nahrungszufuhr maßgeblich auf Defizite in der Emotionswahrnehmung und -regulation zurückzuführen ist, durch zahlreiche Studien unterstützt wird, fehlen bisher Studien, die die Effektivität eines Trainings für adipöse Menschen zur Verbesserung der Emotionsregulation belegen. Das Fehlen randomisiert kontrollierter Studien weist hingegen auf den großen Forschungsbedarf in diesem Bereich hin. Eine Fallstudie von Telch (Telch 1997) sowie eine Pilotstudie von Svaldi et al. (Svaldi et al. 2014) konnten zeigen, dass bei Menschen mit Binge-Eating-Störung (BES) die Häufigkeit von Essanfällen durch ein Training der Emotionsregulation signifikant reduziert werden konnte. Eine Übersicht neuer Behandlungsansätze zur Emotions- und Impulsregulation in Bezug auf Adipositas ist nach Munsch und Hilbert in Tab. 2 dargestellt. 74 Tabelle 2 : Neue Behandlungsansätze zur Emotions- und Impulsregulation in Bezug auf Adipositas (Munsch & Hilbert, 2015, 36 – 37) Intervention Ziel Bezug zu Adipositas Emotionsregulation • Psychoedukation zu Grundemotionen, deren varianten und der Zusammenhang mit • • und -benennung Kognitionen • Interpersonelle Konflikte und soziales Verhalten Korrekte Emotionswahrnehmung • Zusammenhang von Psychophysiologie und Stimmung und Ernährungs- Verhalten verhalten • Selbstbeobachtung • Interpersonelle Situationen analysieren • Rollenwechsel und –spiele Emotionsregulation • Gefühle verstehen und akzeptieren lernen • „Abwarten lernen“ • Umgang mit Emotionen lernen • „You can´t stop the waves, • Akzeptanz und Toleranz gegenüber den Emotionen üben but you can learn to surf“ • • Funktionaler • • Gefühle verringern • Isolation und soziale Angst • Depressive oder ängstliche reduzieren Kognitive Umstrukturierung, Emotionsausdruck korrektive Erfahrungen im Kontraintuitives Handeln Umgang mit kritischen (z.B. sich angstauslösenden Situationen fördern Stimmung reduzieren • Situationen stellen) • Essen aufgrund aversiver Affektive Instabilität regulieren lernen Kognitive Neubewertung von Situationen Impulsregulation • Konfrontation z.B. mit • Nahrungsreizen und Reaktionsverhinderung mit Inhibitionstraining: bewusste • Kontrolle automatisierter • Verhaltensabläufe zurückerobern Gedächtnisspanne bzgl. • Arbeitsgedächtnistraining Wörtern, Zahlen und Bildern • Stärken der Exekutivfunktionen Verhaltensinhibition im Nahrungskontext dem Ziel „Nichts tun und lediglich abwarten“ • • Verbessertes bewusstes Steuern von Verhalten im trainieren Nahrungskontext • Verhaltenssteuerung 75 6.2.1 Training der Emotionalen Kompetenz (TEK) als Element in der Adipositasbehandlung Als mögliches Element in der Behandlung von Adipositas wird im Folgenden exemplarisch das Training der Emotionalen Kompetenz (TEK) vorgestellt. Es wurde ausgesucht, da es detailliert auf einzelne Aspekte eingeht, die unter 6.1.3 als essentiell für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Adipositas herausgearbeitet wurden. Das Training Emotionaler Kompetenz wurde entwickelt, um gezielt emotionale Kompetenzen zu stärken, die für die Gesundheit relevant sind. Hiernach sind sieben Kompetenzen für die Regulation der eigenen Emotionen besonders relevant. Auf Grundlage dieser Kompetenzen entwickelte Berking das „Training Emotionaler Kompetenz (TEK)-Modell“, das im Folgenden umrissen dargestellt wird. Abbildung 17: Training emotionaler Kompetenz (Berking, 2015, 15) 76 Berking betont, dass, auch wenn es im Ergebnis entscheidend ist, belastende Emotionen regulieren bzw. akzeptieren zu können, alle dargestellten Kompetenzen wie bspw. Wahrnehmen und Benennen der Emotionen ebenso relevant sind. Diese Fähigkeiten können das Regulieren bzw. Akzeptieren der Emotionen grundlegend unterstützen (Berking, 2015, 8). Das erste Ziel des Trainings ist zunächst die bewusste Wahrnehmung (1) sowie das Erkennen und Benennen (2) von Gefühlen. Es ist hierbei die Absicht, in vermeintlichen Erregungszuständen, ausgelöst durch Stress oder negative Emotionen, innezuhalten und mithilfe von Entspannungsübungen dem „Teufelskreis negativer Emotionen“ entgegenzuwirken. Dies stellt die Grundlage dafür dar, Emotionen wahrzunehmen und zu identifizieren und nicht wie bisher unspezifisch auf einen emotionalen Erregungszustand zu reagieren. Diese Inhalte werden bspw. von Muskel- und Atementspannungsübungen begleitet. Darüber hinaus wird trainiert, Situationen zu analysieren (3) und alternative Handlungsoptionen zu generieren. Hierbei werden zunächst „emotionsneutrale“ Situationen gewählt. Später können die erworbenen Fähigkeiten in belastenden Situationen angewendet werden. Ziel ist es, hierbei „Gefühle von Hilflosigkeit und Überforderung abzuwenden“ (Schwarz & Berking, 2013, 234). Hierzu können im Laufe des Trainings a) Ansatzpunkte für Veränderungen erarbeitet werden bzw. b) bei vergeblichen Änderungsversuchen ein „Akzeptieren und Aushalten von Emotionen“ trainiert werden (Berking, 2015, 14). Ein weiterer Schritt zur Stärkung der Emotionsregulation ist die „emotionale Selbstunterstützung“ (4). Hierbei gilt es, zunächst zu erkennen, welche Kognitionen mit belastenden Emotionen verbunden sind. Vielfach zeigen sich hierbei gedankliche Abwertungen der eigenen Person gegenüber. Mithilfe von Imaginationen entwickeln die Teilnehmer in belastenden Situationen ein wohlwollendes Mitgefühl für sich 77 selbst. Hierbei werden bspw. Sätze oder Bilder erarbeitet, die die Person in einer belastenden Situation stärken (Berking, 2015, 14, Schwarz & Berking, 2013, 233). Mit der „gezielten Regulation“ (5) wird angestrebt, belastende Gefühle positiv zu verändern. Hierbei ist es nicht das vorrangige Ziel, negative Gefühle abzuschwächen, sondern vielmehr positive Emotionen zu stärken. Hierzu wird erarbeitet, welches Gefühl die Situation bestimmt und welches Gefühl sich die Person stattdessen wünschen würde. Die Teilnehmer werden angeleitet, Ideen zu sammeln, was sie tun können, um sich dem gewünschten Gefühl anzunähern. Hierzu werden verschiedene Strategien gesammelt und im Alltag umgesetzt. In der Umsetzung ist es wichtig, trotz eventueller Schwierigkeiten bemüht zu bleiben oder alternative Strategien auszuprobieren, auch Teilerfolge zu würdigen und Misserfolge (für eine begrenzte Zeit) akzeptieren zu lernen (Berking, 2015, 15). Die Akzeptanz und Toleranz (6) ist eine wesentliche Kompetenz im Umgang mit negativen Emotionen, da eine (sofortige) willentliche Änderung unliebsamer Emotionen zumeist unrealistisch ist. Oftmals wird auf „schädliche Mittel“ zurückgegriffen, um derart belastende Emotionen zu vermeiden. Beim Erlernen der Akzeptanz belastender Emotionen ist es nicht das Ziel, diese Gefühle angenehm zu finden, sondern „geht es darum, Gefühlen die Erlaubnis zu geben, da zu sein und sich darüber bewusst zu sein, dass der rigide Kampf gegen unsere Gefühle diese nur stärker macht.“ (Schwarz & Berking, 2013, 232) Abschließend ist es Ziel des Trainings, sich emotional belastenden Situationen zu stellen (7). Auf diese Weise lassen sich die im Training erworbenen Kompetenzen erproben und weiter ausbauen. Anhand der praktischen Erfahrungen können weitere Kompetenzen zur Regulation und zur Akzeptanz von Emotionen erworben werden (Berking, 2015, 15 -16). 78 Das Training Emotionaler Kompetenz beinhaltet eine gezielte Stärkung von Fähigkeiten, die bei adipösen Menschen nach den unter 6.1.3 dargestellten Studien unzureichend ausgeprägt sind. So ist Adipositas bspw. mit Defiziten in der Wahrnehmung und Identifizierung von Emotionen assoziiert und Essen wird als Strategie zur Emotionsregulation genutzt, wenn Gefühle nicht mehr ausgehalten werden. Aufgrund der steigenden Prävalenzzahlen und der moderaten Erfolge bisheriger Behandlungsansätze ist es dringend notwendig, die Erkenntnisse über die Bedeutung der Emotionsregulationsfähigkeit für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas in der Prävention und Behandlung von Adipositas umzusetzen. Das Training von Berking bietet hier eine Vielzahl von Verknüpfungspunkten, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas relevant sind. Mit dem Fokus auf Familie wird abschließend auf die Bedeutung der Förderung von elterlichen Ressourcen in der Behandlung von Adipositas eingegangen. 6.2.2 Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz als Ansatz für die Prävention und Behandlung von Adipositas „Parenting is probably the most important public health issue facing our society” (Hoghugi, 1998, 1545 zitiert nach: BZgA, 2011, 10) In Hinblick auf die steigenden Adipositasprävalenzzahlen bei Kindern und Jugendlichen und den hier dargestellten Zusammenhang von Adipositas und dem elterlichen Erziehungsstil bzw. den familiären Beziehungen, ist die Einbeziehung der Eltern in die Behandlung der Adipositas dringend zu empfehlen. Hierin bietet sich die Möglichkeit, die Eltern-Kind-Beziehung positiv zu gestalten und sowohl internalisierendes als auch externalisierendes Verhalten der Kinder zu reduzieren (Petermann & Petermann, 2013, 3). In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Ernährungserziehung Bestandteil der elterlichen Kompetenzförderung 79 darstellen sollte. Viel entscheidender ist jedoch die Stärkung von elterlichen Kompetenzen, die die familiäre Beziehungsqualität betreffen. Den elterlichen Erziehungskompetenzen kommt hierbei in Bezug auf die Gesundheit der Kinder eine enorme Relevanz zu (BZgA, 2011, 11). „Eltern mit hoher Elternkompetenz bewahren das Kind nicht nur vor der Exposition gegenüber bestimmten Stressoren, sondern fungieren darüber hinaus auch als Co-Regulatoren der Erfahrungen von (Klein-) Kindern, bis diese ausreichende selbstregulative Fähigkeiten entwickelt haben.“ (Sapienza & Masten 2011, zitiert nach: BZgA, 2011, 14) Eine positiv emotionale Beziehung, die von elterlicher Zuwendung und Aufmerksamkeit geprägt ist sowie einem konsistent lenkenden Erziehungsverhalten, dass auf übermäßig strenge und körperliche Bestrafungen und manipulative Kontrolle verzichtet, wirkt sich grundlegend positiv auf die kindliche Entwicklung aus. Ein solches Erziehungsverhalten wird somit als wesentlicher Schutzfaktor des Kindes gegenüber körperlichen und seelischen Risiken betrachtet (Reichle & Gloger-Tippelt, 2007, 203) Nach Baumrind lassen sich anhand der Komponenten Wärme und Zuwendung sowie Lenkung und Kontrolle vier unterschiedliche Erziehungsstile klassifizieren. Demnach geht ein autoritativer Erziehungsstil, der sich durch ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung und Wärme, ein mittleres bis hohes Maß an Kontrolle sowie klare Grenzen und angemessene Konsequenzen auszeichnet, mit einer positiven Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung einher (Baumrind, 1991, nach BzGA, 2011, 20). 80 Abbildung 18: Erziehungsstile nach Baumrind (Baumrind 1991 zitiert nach BzGA, 2011, 20) In Bezug auf Adipositas zeigte sich hingegen vielfach ein unsicherer Bindungsstil und ein ablehnendes, wenig unterstützendes und bestrafendes sowie ein kontrollierendes und überbehütendes Erziehungsverhalten. Sowohl die hier dargestellten Zusammenhänge von Adipositas und familiären Beziehungen als auch die Erkenntnisse über deren Bedeutung in Hinblick auf die gesunde Entwicklung von Kindern bekräftigen die Relevanz einer familienorientierten Gesundheitsförderung. Auch in diesem Zusammenhang ist auf die Rahmenbedingungen hinzuweisen, die ihrerseits einen bedeutenden Einfluss auf die Erziehungskompetenzen der Eltern und damit auf die Qualität familiärer Beziehungen nehmen. Hierbei können die vielfältigen Anforderungen, denen Familien ausgesetzt sind sowie Belastungssituationen, ökonomische Probleme oder körperliche wie seelische Erkrankungen die Erziehungskompetenzen der Eltern abschwächen (Petermann & Petermann, 2006, 5). Abbildung 19: Einflüsse auf die elterlichen Erziehungskompetenzen (Belsky, 1984, 84) 81 Die Abbildung 19 von Belsky (1984) zeigt anschaulich, wie die elterlichen Erziehungskompetenzen in Wechselwirkung mit der Persönlichkeit der Individuen, der Paarbeziehung, der Arbeitssituation und dem sozialen Umfeld stehen. 6.2.3 Angebote zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz In einem Review von Herr et al. wurde die Wirksamkeit von elternzentrierten Interventionen untersucht. Hierbei ist das einheitliche Ziel der unterschiedlichen elternzentrierten Ansätze der Aufbau einer guten Eltern-Kind-Beziehung und die Etablierung effektiver Erziehungsstrategien der Eltern, um die kindlichen Verhaltensauffälligkeiten zu reduzieren. So werden bspw. die kindlichen Fähigkeiten der Emotionsregulation über ein Erziehungstraining der Eltern gefördert. Eltern werden in ihrem Erziehungsstil dahingehend unterstützt, dem Kind eine angemessene Aufmerksamkeit und Lob entgegenzubringen, klare Regeln und logische Konsequenzen umzusetzen. Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass elternzentrierte Interventionen externalisierenden sowohl bei internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten im Sinne als einer auch bei positiven Verhaltensänderung der Kinder und einem verbesserten Wohlergehen der Eltern wirksam sind. Zeitgleich weisen Herr et al. jedoch daraufhin, dass trotz der nachgewiesenen Effektivität elternzentrierter Interventionen diese nicht bedarfsdeckend eingesetzt werden (Herr et al. 2015, 7 – 11). In Deutschland gibt Erziehungskompetenzen es eine fördern. Vielzahl In ihrer von Angeboten, Expertise die elterliche „Gesundheitsfördernde Elternkompetenzen“ untersuchten Walper und Thönnissen 47 Angebote nach deren inhaltlicher Ausrichtung. Die Auswertung zeigt, dass den Themen „emotionale Zuwendung“ und dem „Stressmanagement der Eltern“, welches die Fähigkeit zur Emotionsregulation beinhaltet, der größte Stellenwert eingeräumt wird. Etwa ein Drittel der Programme beziehen außerdem die Bindungstheorie inhaltlich ein (BZgA, 2011, 222 – 223, 226). 82 Nach den dargestellten Ergebnissen sind diese Inhalte auf der Erziehungsebene für die Behandlung von Adipositas besonders relevant. Vielfach richten sich die Angebote an sozial benachteiligte Familien oder Alleinerziehende oder sind für alle Eltern offen. Ein Angebot zur Steigerung der Elternkompetenz, das gezielt auf die Prävention und Behandlung von Adipositas ausgerichtet ist, konnte in der Expertise nicht gefunden werden. Grundlegend ist anzunehmen, dass Angebote, die die Emotionsregulation, emotionale Zuwendung und die Bindungsqualität beinhalten, sich positiv auf familiäre Beziehungen und Adipositas relevante Erziehungsthemen auswirken. Hierbei bleibt jedoch fraglich, inwiefern sich Familien mit adipösen Kindern von einem solchen Angebot angesprochen fühlen. Es ist weiterhin anzunehmen, dass Inhalte, die zielgruppenspezifisch auf Familien mit adipösen Kindern ausgerichtet sind, die Effektivität eines solchen Angebots erhöhen. In Bezug auf die Behandlung von adipösen Kindern und Jugendlichen ist ein multiprofessioneller Ansatz, der auf familienorientierte Konzepte ausgerichtet ist, als dringend notwendig zu betrachtet. Dennoch ist die Behandlungswirklichkeit in Deutschland von diesem Ideal weit entfernt (Wiegand & Ernst, 2015, 495 – 496). 83 7 Fazit Weltweit hat sich die Adipositasprävalenz in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt. Insbesondere westliche Industriestaaten, wie Deutschland, sind von dieser Entwicklung betroffen. Etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland gilt als adipös. Als besonders besorgniserregend gelten vor allem die steigenden Adipositasprävalenzzahlen bei Kindern und Jugendlichen, die sich seit den 1980er Jahren verdreifacht haben. In der Diskussion über die Entstehung der Adipositas werden biologische, sozioökonomische und psychische Ursachen diskutiert. Grundlegend kann Adipositas als das Ergebnis eines multifaktoriellen Entstehungsprozesses betrachtet werden, der von biologischen, gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren geprägt ist, die zudem in Wechselwirkung miteinander stehen. Obwohl die Entwicklung des Ernährungsverhaltens als ein „Paradebeispiel“ eines biopsychosozialen Lernprozesses beschrieben wird, der maßgeblich durch die Familie geprägt wird, werden diese Zusammenhänge in geringem Maße wissenschaftlich diskutiert und in Präventions- und Behandlungsansätzen für die praktische Umsetzung kaum berücksichtigt. Studien belegen, dass die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entscheidend von der Familie geprägt wird. Hierbei spielen sozioökonomische Faktoren eine wesentliche Rolle. Viel entscheidender für eine gesunde Entwicklung von Kindern scheint jedoch die Beziehungsqualität in der Familie zu sein. Hierbei können adipöse Kinder und Jugendliche auf signifikant weniger familiäre sowie persönliche und soziale Ressourcen zurückgreifen als normalgewichtige Kinder. In Bezug auf Adipositas stehen Beziehungserfahrungen direkt mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung des Ernährungsverhaltens in Zusammenhang. So können sich in der direkten Ernährungserziehung Hinweise auf die familiäre Beziehungsqualität 84 sowie elterliche Erziehungskompetenz finden. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, dass bspw. ein rigides Ernährungsmanagement ein Ausdruck von Macht und Kontrolle darstellen kann und somit mit einem autoritären Erziehungsstil assoziiert ist. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Essen von Eltern eingesetzt wird, um emotionale Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Ein derartiges „Funktionalisieren“ des Essens führt dazu, dass die eigentlichen kindlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Im Beziehungskontext können hierbei Rückschlüsse auf eine unsichere Bindung und eine unzureichende Empathiefähigkeit bzw. Responsivität der Eltern gezogen werden. Der zentrale Aspekt in der Betrachtung des Ernährungsverhaltens von Adipösen ist, dass das Essen als eine Strategie der externen Emotionsregulation zu verstehen ist. Hierbei wird das Essen eingesetzt, um Emotionen zu regulieren. Diese Verknüpfung wird vielfach über eine Ernährungserziehung erlernt, die kindliche emotionale Bedürfnisse in Form von Essen befriedigt. Grundlegend wird davon ausgegangen, dass der Emotionsausdruck, die Responsivität der Eltern, der familiäre Umgang mit negativen Emotionen und familiäre „Koregulationen“ von Emotionen die Entwicklung der Emotionsregulation des Kindes beeinflussen. Einzelne Untersuchungen von adipösen Kindern belegen, dass eine unsichere Eltern-Kind-Bindung sowie ein autoritäres, ablehnendes sowie auch überprotektives Erziehungsverhalten mit einem „emotionalen Ernährungsverhalten“ des Kindes einhergeht, welches wiederum mit Adipositas assoziiert ist. Die Ergebnisse der Arbeit unterstreichen die maßgebliche Rolle der Familie in Hinblick auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas. Hierbei konnte herausgearbeitet werden, wie sehr Adipositas als das Ergebnis eines psychosozialen Lernprozesses betrachtet werden kann, das maßgeblich durch die Beziehungserfahrungen in der Familie geprägt ist. Hierbei steht der zentrale Aspekt der Emotionsregulation in direktem Zusammenhang mit dem elterlichen Erziehungsverhalten. 85 Vielfach bleibt die inadäquate Strategie des Essens zur Emotionsregulation bis ins Erwachsenenalter wirksam. Insofern sind auch bei erwachsenen Adipösen familiäre und psychologische Ursachen ihres Ernährungsverhaltens nicht zu vernachlässigen. Bei einigen interviewten Adipösen zeigte sich außerdem, dass die Emotionen, die im Erwachsenenalter die Nahrungszufuhr auslösen, mit unbearbeiteten familiären Belastungen und Konflikten in Verbindung stehen. Ganz im Gegensatz zu Präventions- und Behandlungsansätzen von Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und der Binge-Eating-Störung, werden die psychosozialen Ursachen und die damit in Zusammenhang stehenden familiären Beziehungen in der Prävention und Behandlung von Adipositas weitestgehend außer Acht gelassen. Gerade in Hinblick auf steigende Prävalenzzahlen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, den geringen Erfolgsquoten bisheriger Behandlungsansätze und den damit verbundenen Kosten ist es dringend notwendig, die Erkenntnisse über die Bedeutung der familiären Beziehungen und der Erziehungskompetenzen für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas zu berücksichtigen und konkrete Angebote zu entwickeln, die die Kompetenzen der Eltern im Sinne einer guten ElternKind-Bindung stärken. Ein Ansatz zur Prävention und Behandlung von Adipositas, der die Regulation von Emotionen in den Vordergrund stellt, kann für Eltern, Kinder und adipöse Erwachsene eine entscheidende Hilfestellung darstellen, um Emotionen adäquat zu regulieren und nicht mehr auf die Strategie des Essens zurückzugreifen. Hierbei geht es primär um eine Förderung der Wahrnehmung von Gefühlen und der Entwicklung adäquater Strategien im Umgang mit eigenen Emotionen oder den emotionalen Bedürfnissen der Kinder. Grundlegend ist hierbei nicht zu vernachlässigen, dass sowohl das Erziehungsverhalten als auch die Fähigkeit zur Emotionsregulation immer in Zusammenhang mit verfügbaren Ressourcen zu betrachten ist. Hierbei stehen 86 sozioökonomische Ressourcen stets in Wechselwirkung mit individuellen Lernprozessen. Insgesamt weisen die Ergebnisse der Arbeit auf einen weiteren Forschungsbedarf hinsichtlich der Zusammenhänge von Adipositas und familiären Beziehungen hin. Darüber hinaus fehlen Programme, die die bisherigen Erkenntnisse in Hinblick auf Adipositas und Familie integrieren. Zugleich sind Interventionsprogramme zur Stärkung elterlicher Ressourcen kaum auf Familien mit adipösen Kindern ausgerichtet. Dementsprechend steht eine weiterführende Wirksamkeitsforschung in diesem Bereich bisher aus. Insbesondere in Bezug auf adipöse Kinder und Jugendliche ist es darüber hinaus dringend notwendig, Institutionen wie Kindergarten, Schule oder Einrichtungen der Jugendhilfe für die Zusammenhänge von familiären Beziehungen und Adipositas zu sensibilisieren. Über den Weg der Elternarbeit sollten niedrigschwellige Angebote zur Unterstützung von Familien mit adipösen Kindern und Jugendlichen geschaffen werden. Übergeordnet fehlt es an einer ganzheitlichen Betrachtung gesundheitlicher Problemstellungen und einer Zusammenführung unterschiedlicher Fachrichtungen in der Wissenschaft und in der Praxis. Die angewandten Familienwissenschaften können hierbei ein bisher fehlendes Bindeglied zwischen gesundheitlichen, psychosozialen und gesellschaftlichen Fachrichtungen darstellen und in dieser Funktion einen wesentlichen Beitrag zum umfassenderen Verständnis gesundheits- und gesellschaftsrelevanter Herausforderungen leisten. 87 8 Literaturverzeichnis AGA (Hrsg.) 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In: Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, 279 - 290, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 96 9 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Berechnung des Body Mass Index 6 Abbildung 2: Entwicklung der Adipositasprävalenz bei Erwachsenen in Deutschland seit 1990 9 Abbildung 3: Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Prozent 9 Abbildung 4: BMI-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im zeitlichen Vergleich 10 Abbildung 5: Entwicklung des Ernährungsverhaltens 13 Abbildung 6: Ätiologie der Adipositas nach Schneider et al 16 Abbildung 7: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit von der Schulbildung 21 Abbildung 8: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Familienstand 21 Abbildung 9: Adipositasprävalenz in Abhängigkeit vom Pro-Kopf-Netto-Einkommen 22 Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit vom sozialen Status der Familie 23 Abbildung 10: Abbildung 11: Verhaltenstherapeutische Elemente in der Adipositasbehandlung 28 Abbildung 12: Emotionen, die das Essen auslösen 56 Abbildung 13: Alterstypische Strategien zur Emotionsregulation 62 Abbildung 14: Einflüsse auf die Entwicklung der Emotionsregulation 62 Abbildung 15: Einfluss der Familie auf die Emotionsregulation 64 Abbildung 16: Einfluss von Außenreizen auf das Ernährungsverhalten 70 Abbildung 17: Training emotionaler Kompetenz 76 Abbildung 18: Erziehungsstile nach Baumrind 81 Abbildung 19: Einflüsse auf die elterlichen Erziehungskompetenzen 81 97 10 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Klassifikation des Körpergewichts Tabelle 2 : Neue Behandlungsansätze zur Emotionsund Impulsregulation in Bezug auf Adipositas 7 75 98 11 Abkürzungsverzeichnis AGA: Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter BES: Binge-Eating-Störung BMI: Body Mass Index BZgA: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung DAG: Deutsche Adipositas Gesellschaft DEGS: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (RKI) DGPM: Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems KIGGS: Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (RKI) KVT: Kognitive Verhaltenstherapie LOC: Loss of Control Eating RKI: Robert Koch-Institut WHO: World Health Organization 99 Anhang A BMI-Perzentilkurve Jungen (Kromeyer et al., 2001) 100 B BMI-Perzentilkurve Mädchen (Kromeyer et al., 2001) 101 C Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Jungen - (Rattay, 2012) 102 D Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Mädchen - (Rattay, 2012) 103 E Emotionale Verarbeitungsprozesse bei adipösen Frauen im Vergleich zur Kontrollgruppe (Zijstra et al., 2012) 104 F Interviewleitfaden (Hink, 2015) Gewichtsentwicklung und Ursachen • • • Erzählen Sie zunächst von Ihrer Gewichtsentwicklung, wenn möglich von der Kindheit bis heute. Gab es bestimmte Ereignisse, die Ihren Gewichtsverlauf (-zu- und abnahme) beeinflusst haben? Worin würden Sie selbst die Ursachen für Ihr Übergewicht sehen? Ernährungsverhalten • Was würden Sie selbst sagen, inwiefern haben Sie Ernährungsweisen aus Ihrer Kindheit/ Jugend bis heute beibehalten? Was ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben? • o o o o o o Welche Gründe fallen Ihnen ein, warum Sie essen: Ich esse, wenn... Ggf. anleiten: wenn ich traurig bin Aus Langeweile Als Belohnung Wenn ich Stress habe Um mich zu spüren • Können Sie sich erinnern, wann das angefangen hat, dass Sie aus diesen Gründen essen? • • • Würden Sie selbst sagen, dass Sie regelmäßig an Essanfällen leiden? Wenn ja, wie sehen diese dann aus? Wenn ja, können Sie benennen, was die Auslöser für diese Essanfälle sind? 105 Familiäre Beziehungen mithilfe von Genogramm Ich komme nun zum letzten Themenabschnitt, in dem ich Ihnen gerne einige Fragen zu Ihrer Familie stellen würde. Hierzu würde ich gerne ein Genogramm mit Ihnen erstellen, um einen Überblick über Ihre Familie und das Vorkommen von Adipositas zu erhalten. Ihre Eltern • • • • • Wie würden Sie die Beziehung zu Ihren Eltern heute beschreiben? Wie haben Sie Ihre Eltern als Kind erlebt? Gab es Geschwister? Wie war die Beziehung untereinander? Gab es in Ihrer Ursprungsfamilie besondere Lebensereignisse, die Sie als Familie stark beeinflusst haben? (Tod, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung etc...) Ist/ war jemand aus Ihrer Ursprungsfamilie übergewichtig/ adipös? Kernfamilie • Sind Sie liiert/ verheiratet? Haben Sie Kinder? Wie würden Sie in ein paar Stichpunkten - die Beziehung zu Ihrem Partner/ Kindern beschreiben? Gab es in mit Ihrem Mann/ Ihren Kindern besondere Lebensereignisse, die Sie als Familie stark beeinflusst haben? (Tod, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung etc...) Ist jemand aus Ihrer Kernfamilie übergewichtig/ adipös? • Gab es vorherige Ehen/ Lebenspartnerschaften • • • • Gibt es ihrerseits noch wichtige Informationen, die wir hier noch nicht angesprochen haben? Abschluss Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und Ihre persönlichen Erzählungen! Sollten Fragen etc. im Anschluss an dieses Gespräch auftauchen, melden Sie sich gerne! 106 Eidesstattliche Erklärung Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe selbstständig verfasst und nur angegebene Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinn nach aus anderen Werken entnommene Stellen sind in allen Fällen unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht. Die Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde zur Erlangung eines akademischen Grades vorgelegt. Osnabrück, den 21.03.2016 __________________ Marisa Hink 107 Danksagung Ich danke Frau Prof. Dr. Katja Weidtmann für ihre stete, freundliche und konstruktive Betreuung dieser Thesis und für ihren Einsatz in allen Studienangelegenheiten und darüber hinaus. Ich danke Herrn Prof. Dr. Hantel-Quitmann für die Betreuung dieser Arbeit, seine umfangreiche Expertise und für zahlreiche wertvolle Impulse während des Studiums. Ich danke dem gesamten Team des Studiengangs „Angewandte Familienwissenschaften“. Dieses Studium ist für mich eine bedeutende Möglichkeit der beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung gewesen. Ganz besonders danke ich meiner Familie. Ich danke meinem Mann, der mir in diesen intensiven Familienjahren den Raum für dieses Studium ermöglicht hat und mich ermutigt hat, diesen Weg zu gehen. Ich danke meinen Kindern für ihre Geduld in „heißen Phasen“ und vor allem für ihre Freude in gemeinsamen Zeiten. Ich danke meinen Eltern für ihre bestärkenden Worte und ihre tatkräftige Unterstützung als Oma und Opa, ohne die die Realisierung dieses Studiums kaum möglich gewesen wäre. Auch meinen Schwiegereltern danke ich herzlich für ihren großelterlichen Einsatz. Ich danke allen Freunden, die mich auf so unterschiedliche Art und Weise unterstützt haben, insbesondere Nina, Julia, Thorsten, Nina und Christine. 108
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