Pater Helmut Schlegel, Frankfurt hr 2-kultur Morgenfeier am Pfingstsonntag, 15.05.2016 Tiere – Viecher oder Geschwister? „Rennschwein Rudi Rüssel“ – schon der Titel dieses Kinderbuchs lässt mich schmunzeln. Und erst recht die Geschichte. Sie beginnt damit, dass das Mädchen Zuppi bei einer Tombola ein Ferkel gewinnt. Die Eltern sind überhaupt nicht erfreut und wollen das Schwein verkaufen, aber das lassen die drei Kinder nicht zu. Sie geben dem Ferkel den Namen „Rudi Rüssel“. Nach etlichen Turbulenzen wird es zu einem Bauern gebracht. Als dieser stirbt, verkauft der Sohn alle Tiere an einen Schweinemäster. Gerade noch rechtzeitig, bevor Rudi auf den Schlachthof gebracht werden soll, kann die Familie ihn zurückkaufen. Rudi wird schließlich berühmt: er nimmt an Schweinerennen teil und gewinnt eines nach dem anderen. Dabei verliebt er sich in die Schweinedame Gullinborsti. Die beiden werden Eltern von acht kleinen Ferkeln und führen fortan ein glückliches Schweineleben. Eine wirklich schöne Tiergeschichte, die auch uns Erwachsene begeistert. Aber ist sie nicht doch ziemlich schräg? Haben Sie schon mal was von einem „glücklichen Schweineleben“ gehört? Oder von Menschen, die für ein Schwein Sympathie empfinden? Die gar eine Beziehung zu ihm aufbauen? Wir kennen Schweine doch hauptsächlich als Gulasch, Schnitzel und Grillkotelett. Ein Schwein wird geboren, um gegessen zu werden. So einfach ist das. Etwa 30 Millionen dieser Spezies werden in Deutschland jährlich so mit Kraftfutter vollgestopft, dass sie innerhalb eines halben Jahres 110 bis 125 Kilo auf die Waage bringen. Den Tieren tut das gar nicht gut. Im Grunde auch uns Menschen nicht, denn unsere Gesundheit leidet unter zu viel Fleisch. Der große Arzt Albert Schweitzer hat schon lange vor der heute praktizierten industriellen Massentierhaltung gesagt: „Wer in diesen Abgrund von Qual, welche die Menschen über die Tiere bringen, hineingeblickt hat, der sieht kein Licht mehr; es liegt wie ein Schatten über allem, und er kann sich nicht mehr unbefangen freuen“. Musik 1: Felix Mendelssohn-Bartholdy, Frühlingslied (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). Ich kann mich noch gut entsinnen, dass ich im Religionsunterricht gelernt habe, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Die Vernunft, der freie Wille und vor allem die unsterbliche Seele erhöben ihn über alle anderen Geschöpfe. Spätestens durch die neuen Erkenntnisse der Tierbiologie müssen diese Alleinstellungsmerkmale des Menschen in Zweifel gezogen werden. Tiere sind intelligent. Sie können erkennen und lernen, fühlen und empfinden. Viele von ihnen – zumindest die höher entwickelten Wirbeltiere – verfügen über ein gewisses Ich-Bewusstsein und zeigen ein ausgeprägtes soziales Verhalten. Der vor kurzem verstorbene Schweizer Kapuziner und Theologe Anton Rotzetter hält es für „überholtes Denken“, nur Menschen eine Seele zuzusprechen. Er fragt: „Warum sollte Gott etwas erschaffen, was er dann wieder vernichtet? Was Gott erschafft, bleibt. Auch Sonne und Mond, Mensch und Tier - alles bleibt.“ 1 Man mag darüber streiten, ob Tiere nur ein begrenztes irdisches Leben fristen oder ob auch sie für die Ewigkeit bestimmt sind. Eines jedoch kann nicht infrage gestellt werden: Auch Tiere haben eine Würde. Eine von Gott gegebene Würde. Musik 2: F. Doppler , Mazurka (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). Christen feiern heute das Pfingstfest. Sie erinnern sich daran, was die Apostelgeschichte berichtet: der Geist Gottes erfüllte die Jüngerinnen und Jünger Jesu mit heiliger Begeisterung und befähigte sie, das Evangelium Jesu Christi in die Welt zu bringen. Menschen verschiedenster Kulturen und Sprachen konnten Gottes Tun verstehen. Und sie konnten einander verstehen. Ein wirkliches Wunder. Wer den Anfang der Bibel liest, entdeckt: Das Wunder des Gottesgeistes beginnt viel früher. Die Schöpfungsgeschichte beginnt so: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde: die Erde aber war wüst und wirr. Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“ (Gen 1,1f.) Die Menschheit wusste schon immer: Wasser ist der Urstoff des Lebens. Ohne Wasser kein Leben. Und doch – so sagt die Bibel – die eigentliche Impulsgeberin des Lebens ist die Ruach. So heißt sie im Hebräischen. Ins Deutsche übersetzt: die Geistin, also eine Frau. Wir können sie auch die göttliche Geistkraft oder die heilige Mutter alles Lebendigen nennen. Seit dem ersten Tag der Schöpfung, so die Bibel, schwebt sie über dem Wasser. Sie überschattet und befruchtet alles mit ihrer Kraft. Am sechsten Schöpfungstag lässt die Bibel Gott selbst sprechen. Ausdrücklich sagt er, dass sein Geist auch in den Tieren atmet. „Allen Tieren des Feldes, allen Vögeln des Himmels und allem, was sich auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, gebe ich alle grünen Pflanzen zur Nahrung.“ (Gen 1,30). Musik 3: Benjamin Godard, Allegretto (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). Die biblische Schöpfungsgeschichte ist keine naturwissenschaftliche Beschreibung, sie ist eher eine Art Ballade. Ein großer Gesang in poetischer Sprache. Was sie sagen will, ist dies: Nicht der Zufall gab die Initialzündung zur Entstehung des Universums, sondern die Ruach. Die Geistkraft Gottes durchflutet alles, was ist: Materie, Energie, Schwerkraft, Raum und Zeit, Gestirne, Galaxien, Erde, Pflanzen, Tiere, Menschen. Einfach alles. Es wäre wahrhaftig vermessen, wollten wir die Heilige Geistin und ihre schöpferische Kraft allein für uns Menschen reservieren. Im Buch Hiob fand ich einen sehr eindrucksvollen Text. In dieser biblischen Erzählung geht es um die Frage: woher kommt das Leiden? Hiob, der von Elend und Krankheit geschlagen ist, gerät in ein heftiges Streitgespräch mit seinen Freunden. Sie behaupten: Dein Unglück ist doch nur die Strafe Gottes für deine Sünden. Nein, sagt Hiob, Gott hält immer zu mir, auch jetzt. Und als meine Zeugen rufe ich die Geschöpfe an. 2 „Frag nur die Tiere, sie lehren es dich, die Vögel des Himmels, sie künden es dir. Rede zur Erde, sie wird dich lehren, die Fische des Meeres erzählen es dir. Wer wüsste nicht bei alledem, dass die Hand des Herrn dies gemacht hat? In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist.“ (Hiob 12, 7-10) Die Tiere als Zeuginnen und Zeugen in einem Disput unter Menschen? Ja, denn Gott hat auch den Tieren, ja allem Leben, eine Seele gegeben. Sie kennen Gottes Pläne, sie wissen, wer sie gemacht hat und wer sie schützt: die Hand des Herrn. Musik 4: Gabriel Fauré, Berceuse (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). Als Franziskaner möchte ich gerne von Franz von Assisi und seiner Art, mit Tieren umzugehen, sprechen. Papst Johannes Paul II. hat ihn 1980 zum Patron des Tierschutzes und der Ökologie erklärt. Sein Sonnengesang ist eines der bekanntesten und schönsten Schöpfungslieder der Weltliteratur. Es beginnt so: Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne; er ist der Tag, und du spendest uns das Licht durch ihn. Und schön ist er und strahlend in großem Glanz, dein Sinnbild, o Höchster. Dieses großartige Lied entstand im Jahr 1224. Dabei ging es Franz zu dieser Zeit gar nicht gut. Bei einer Reise in den Orient hatte er sich eine schlimme Krankheit geholt. Seine Augen taten beim kleinsten Sonnenstrahl weh. In seinem elenden Zustand ging er zum Kloster San Damiano bei Assisi, wo sich die ihm seelenverwandte Clara mit ihren Schwestern niedergelassen hatte. Im Garten des Klosters ließ er sich eine Strohhütte bauen und zog sich in die Dunkelheit zurück. Sein Zustand wurde nicht besser, aber Franz kämpfte sich durch die Schwermut und Verzweiflung durch, bis er wieder Licht sah. Sein Sonnengesang ist gewissermaßen ein Trotzdem-Lied. Leider kommen die Tiere im Sonnengesang nicht vor. Dafür erzählen seine Biographen eine Fülle von Tiergeschichten mit Franziskus, lustige und traurige. Wie er den Wolf zähmt und bei den Bewohnern der Stadt Gubbio eine tägliche Ration Fleisch für das Tier aushandelt, damit es keine Menschen angreift. Oder wie er den Vögeln predigt. Oder wie er von einem Metzger ein Lamm abkauft, das zum Schlachten bestimmt war. Ganz besonders hat er die Lerchen geliebt. Es gab wohl schon damals die Unsitte, Singvögel zu jagen und zu verspeisen. Darum wollte Franziskus ein Gesetz erwirken, das diese Praxis verbieten sollte. Er sagte: „Wenn ich einmal mit dem Kaiser sprechen kann, werde ich ihn bitten, um Gottes Liebe willen und kraft meiner Bitte eine schriftliche Verordnung zu erlassen, dass niemand die Schwestern Lerchen fangen oder ihnen irgendetwas Böses tun dürfe. Ebenso, dass alle Bürgermeister der Städte sowie Burg- und Gutsherren verpflichtet seien, jedes Jahr am Fest der Geburt des Herrn die Leute zu bewegen, Weizen und anderes Korn auf die Wege außerhalb der Städte und Burgen zu streuen, damit vor 3 allem die Schwestern Lerchen und andere Vögel an einem so hohen Festtag zu fressen haben“ (Per 14,3-4; vgl. 2 C 200 + SP 113/114). Musik 5: Georges Bizet, Intermezzo (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). Wenn Franziskus, wie eben gehört, die Lerchen durch ein kaiserliches Gesetz vor der Jagd retten will, dann geht es ihm darum, die Tiere vor der menschlichen Gier zu schützen. Seine Devise: Wer Tiere nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit und des Verbrauchs sieht, versündigt sich an ihnen. Sie sind nicht nur für die Menschen da, sie haben ihre eigene Würde, die ihnen von Gott gegeben ist. Darum nennt sie Franziskus - wie auch alle anderen Geschöpfe – seine Geschwister. Mehr noch: sie tragen - wie der Biograph Thomas von Celano Franziskus sagen lässt - ein Geheimnis Gottes in sich: „Schließlich nannte er alle Geschöpfe „Bruder und Schwester“ und erfasste in einer einzigartigen und für andere ungewohnten Weise mit dem scharfen Blick seines Herzens die Geheimnisse der Geschöpfe; war er doch schon zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes gelangt“ (1 C 81,5). Papst Franziskus hat nach Franz von Assisi seinen Namen gewählt und eine seiner Enzykliken bezieht sich auf den Sonnengesang und beginnt wie dieser mit der Überschrift „Laudato Si“. Ich finde darin nicht nur eine fundierte Analyse der ökologischen Krise und ihrer Ursachen. Ich finde auch sehr klare Forderungen an die Politik und die Wirtschaft. Eine drastische Wende sei notwendig. Die Technik dürfe sich nicht von der Ethik abkoppeln. Gewinnmaximierung könne niemals das oberste Ziel des Handelns sein. Der Papst nennt auch ganz konkrete Handlungsperspektiven für uns alle. Als Verbraucher werden wir aufgerufen, verantwortungsvoll zu konsumieren und unsere Lebensgewohnheiten zugunsten der Schöpfung zu verändern. Wir alle, die wir den Planeten Erde bewohnen und für ihn verantwortlich sind, sollen die „Offenheit für das Staunen und das Wunder“ wieder lernen und uns in der Haltung der Genügsamkeit üben. Deutlich wird in den Worten des Papstes: wir haben nicht das Recht, uns den Geschöpfen gegenüber wie Herrscher und Ausbeuter zu verhalten. Sie besitzen einen Wert in sich. Die Schöpfung bildet als ganze eine universale Gemeinschaft. Nichts oder niemand darf aus dieser Geschwisterlichkeit ausgeschlossen werden. – Jede Grausamkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Tieren schaden nicht nur ihnen, sondern im Letzten auch uns Menschen. Musik 6: Alphonse Hasselmans, Feuilles d'Automne (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). Ich möchte Ihnen noch gerne Lisa vorstellen, eine junge quirlige Hundedame. Mit ihrem Herrchen Dieter kommt sie so alle sechs Wochen zu mir auf Besuch. Kaum habe ich die Haustüre geöffnet, höre ich den kleinen Spitz die Treppe hoch hecheln. Ein paar Sekunden schneller als ihr Herrchen steht Lisa plötzlich auf den Hinterpfoten vor mir, wedelt freudig mit dem Schwanz und begrüßt mich stürmisch. Während des Gesprächs legt sich Lisa still unter meinen Schreibtisch. Pünktlich, als hätte sie eine Uhr um den Hals, springt sie nach einer Stunde auf, schaut erst mich 4 und dann Dieter an: „He“, sagt sie mit ihren sprechenden Augen, „es ist Zeit, macht jetzt Schluss, ich will jetzt raus.“ Lisa ist nicht nur eine ausgesprochen schöne und anhängliche Hündin, sie ist auch intelligent und fast möchte ich sagen: empathisch. Sie denkt und fühlt. Sie kommuniziert mit Lauten und auch in ihrer Körpersprache. In ihren Augen leuchten Lebens- und Beziehungsfreude. Ich zögere nicht zu sagen: Lisa hat eine Seele. Ich spüre, dass Lisa Dieter gut tut. Sie macht ihm das Leben bunter und das Alter erträglicher. Wohl dem, der ein solches Geschöpf als lebendiges Gegenüber hat. Bei Lisa und anderen vierbeinigen Freunden fällt es mir ziemlich leicht, tierlieb zu sein. Ob ich es wirklich bin, das zeigt sich wohl erst dann, wenn ich mich entschieden einsetze für den Schutz aller Tiere: für ihre artgerechte Haltung, für eine tierfreundliche Landwirtschaft, für maßvollen Genuss von Fleisch. Musik 7: Camille Saint-Saens, Le Cygne (CD: The Romance of the Flute & Harp, Philippa Davis – Flöte / Thelma Owen – Harfe). 5
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