Der Perlensee

Rosi Behringer
Der Perlensee
und weitere Erzählungen
aus dem indianischen Kulturkreis
Rosi Behringer
Der Perlensee
und weitere Erzählungen aus dem
indianischen Kulturkreis
1
ISBN
© 2016 Rosi Behringer
Arche-Leben
83404 Ainring
E-mail: [email protected]
Website: www.arche-leben.de
Verlag: epubli GmbH Berlin
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INHALT
Einführung
04
Der Perlensee
09
Der träumende Gepard
17
Der böse Geist des Berges
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Das Märchen von der Wolfsfrau
Die hässliche Schöne
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Der Krieger und der Weise des Berges
Aus uralten Menschheitstagen
60
Die dankbaren Tiere
Sehnsucht
Der Landverkauf
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75
76
Menschenherrschaft
81
Die zwei Wölfe
84
Es gab eine Zeit
87
Weitere Werke der Autorin und Bildnachweis
3
36
89
EINFÜHRUNG
Liebe Leserin, lieber Leser,
immer dann, wenn ein Volk aus der Menschheitsfamilie
ausgerottet wurde, wenn diese Ungeheuerlichkeit erst
einmal totgeschwiegen, dann beschönigt wird, geht der
Menschheit ein großer Teil seiner Kultur und seines
Urwissens verloren. Doch Generationen kommen nach,
denen bewusst ist, wie kostbar und unverzichtbar dieser
verlorene Teil des Netzes des Lebens ist, die den Verlust
schmerzlich spüren, das Unrecht nicht totschweigen und
versuchen, den letzten Rest von Kultur und Wissen des
verschwundenen Volkes wiederzubeleben. Versuchen, zu
retten, was noch zu retten ist.
So geschehen mit den Ureinwohnern des amerikanischen
Kontinentes – grausam verfolgt, vertrieben, ausgerottet,
von fremden Ignoranten, die in maßloser Überheblichkeit
für sich beanspruchten, das bessere Lebensmodell zu
haben. Das hatte zur Folge, dass der noch verbliebenen
Rest der ehemals starken Völker Amerikas nach den
Vorstellungen der Einwanderer „sozialisiert“ oder in
Reservationen gesperrt wurden, wo die Indianer z.T. bis
heute in Elend darben.
Doch wenn nicht alle Zeichen der Zeit trügen, macht sich
ein Umdenken breit. Hatten nicht in vielerlei Hinsicht – im
sozialen und politischen Gefüge, im Umgang mit der
Schöpfung und dem Materiellen, in der Hochachtung des
Mitmenschen und der Natur mit allem, was darin lebt, der
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„Rote Mann“, die „Rote Frau“, doch das bessere System
entwickelt und verwirklicht? Jene Menschen, die sich nicht
als „Krönung der Schöpfung“, sondern als ein
unverzichtbares, einmaliges Glied in der Kette alles
Lebendigen verstanden, betraut mit einer besonderen
Begabung und mit hoher Verantwortung? Jene Menschen,
die sich als unsterbliche, geistige Wesen erkannten, welche
die Aufgabe, sich zu entwickeln, in die materielle Welt und
damit in das Raum-Zeit-Gefüge geführt hatte?
Auch wenn es anders aussehen sollte - in Wirklichkeit ging
ihr Wissen nie verloren, wie nie etwas verloren geht an
Erkenntnis und Erfahrung. Es wurde gehütet, von
einzelnen, reifen Mitgliedern der Stämme und von
Generation zu Generation an ausgewählte Menschen
weitergegeben. An Ausgewählte darum um es vor
Zerstörung und Banalität zu schützen.
Uralt ist die indianische „Prophezeiung der Sieben Feuer“.
Jedes dieser „Feuer“ steht für eine Zeitepoche der
Menschheitsfamilie, in der sie schwerpunktmäßig ein
großes Thema lernt. Sie wurde dem „Weißen Mann“ im
Zeitalter des „Sechsten Feuers“ bekannt, für das
vorausgesagt war, dass die indianischen Stämme
ausgerottet werden und nur wenige der Roten Rasse
überleben. Es war von einer Zuwanderungsflut von
Menschen mit bleicher Hautfarbe die Rede, die den
riesigen Kontinent überschwemmen und in unersättlicher
Gier nach Materiellem und Gold alles Leben vernichten
werden, das sich ihren Zielen entgegenstellt. Sie sind dem
„Netz des Lebens“ feindlich gesinnt, weil sie das Geld
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anbeten bis zu dem Tag, an dem sie feststellen werden,
dass man Geld nicht essen kann.
Im Zeitalter des „Siebten Feuers“ aber, in dem wir jetzt
leben, werden die Ideen und das Wissen der Alten Völker
in allen Völkern der Welt wiederauferstehen. Die jetzt
mächtigen Völker, die ihr System der ganzen Welt
aufzwingen und sie beherrschen wollen, erleben dann das
Zusammenführen von Ursache und Wirkung. Das bedeutet.
sie werden erfahren, was gewachsen ist aus dem, was sie
gedankenlos gesät haben – und sie werden die Ernte
einbringen müssen. Am siebten Feuer aber, so die
Prophezeiung, könnte die Welt verbrennen.
Gerade jetzt, wo sich die kapitalistisch/materialistisch
geprägten, pseudodemokratischen (weil in Wirklichkeit vom
Kapital beherrschten) westlichen Nationen, die eine
Werteverlust sonders gleichen erleiden und sich ein
Zusammenbrechen des ganzen Systems abzeichnet,
melden sich jene indianischen Wissenden vermehrt zu
Wort. Sie begegnen uns, den Völkern, die ihre Rasse fast
ausgerottet haben, trotz ihrer großen Überlegenheit an
seelischer Reife auf der Ebene der Gleichwertigkeit und
Gleichordnung, wissend, dass auch sie all ihre
Erkenntnisse aus der einen Quelle der Wahrheit geschöpft
haben, aus der alles kommt, was gut, recht, wahr und
schön ist.
Wegen ihrer Bescheidenheit trotz ihres immensen Wissens
erstaunen sie uns, fallen aber relativ wenigen Menschen
auf.
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Doch mehr denn je dürfen wir an den Kulturschätzen der
Indianischen Völker teilhaben, an ihren Märchen und
Mythen mit starker Symbolkraft und ihrem ausgeprägten
Wissen über die Tiefen des Seins. Diese Schätze lassen
sich aufspüren – man suche nur eine gute Buchhandlung
auf.
Um einem viel geäußerten Wunsch entgegenzukommen,
habe ich aus meinem Buch „Erzählstund zwischen Tag und
Traum“ das derzeit nur in Manuskriptform vorliegt, einige
Erzählungen und Märchen indianischen Ursprungs in
diesem kleinen Bändchen zusammengefasst. Ich bin jetzt
schon gespannt, was meine verehrten Leserinnen und
Leser für sich aus diesen alten Märchen an Wahrheiten
schöpfen. Ich bekomme ja viele Rückmeldungen auf meine
Veröffentlichungen. So verschieden, wie die Menschen
sind, so verschieden sind die Dinge, die ihnen wichtig sind.
Es gibt bestimmt nur eine Wahrheit – jene, die aus der
Quelle der Wahrheit kommt - doch sie hat unzählige
Facetten. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es so viele
individuelle Wege zu unserem Ziel, der Vollendung in Gott,
gibt, wie Vater-Mutter-Gott Wesen geschaffen hat. Auf
welche Weise er seine geliebten, mit Entscheidungsfreiheit
und Eigenverantwortung ausgestatteten Wesen zu sich
heimführt, ist seine und seines Geschöpfes Sache. Darum
können auch diese Märchen, wie alle meine Bücher, nur
Anstoß zum Nachdenken sein und wenn es sein soll ein
kleiner Mosaikstein, eine kleine Botschaft auf dem Weg der
Hinspannung des kleinen Ich zum unendlich Großen.
Ihre Rosi Behringer
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Ainringer Moor mit dem sagenumwobenen
Untersberg im Berchtesgadener Land
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DER PERLENSEE
Vor langer Zeit streifte ein trauriger, junger Krieger durch
die Hochgebirgsregionen des großen Felsengebirges. Er
hatte sein Dorf verlassen. Seit seine geliebte Frau in die
ewigen Jagdgründe gegangen ist, konnte er das glückliche
Lachen der jungen Paare, das belanglose Plaudern der
Alten und das fröhliche Spiel der Kinder nicht mehr
ertragen. Er war hungrig, und müde, denn er hatte tagelang
nur Pilze und Beeren gegessen, weil ihm das Jagdglück
nicht hold war.
Als er sich dem Gipfelplateau näherte, auf dem er eine
blumenübersäte Grasmatte wusste, hörte er plötzlich
liebliche Flötenmusik. Wie verzaubert lauschte er der
traurigen Melodie. Ganz leise kletterte er die letzten
Felsstufen hinauf, um den Musiker ja nicht zu stören. Doch
was er dort sah, verschlug ihm die Sprache, damit hatte er
nicht gerechnet. Ein zierliches junges Mädchen, so zart und
fein, fast durchsichtig, als wäre es aus lauter Licht, saß auf
einem Felsblock inmitten einer Herde von Schafen und
spielte auf einer Flöte. Es hatte hauchzarte Flügel, wie eine
Libelle. Während es spielte, rannen Tränen über ihre
Wangen, die wie glänzende Perlen in die Blumenwiese
kullerten.
Lange hörte der junge Mann zu und schließlich fasste er
sich ein Herz und sprach die Fremde an. Er fragte, warum
sie weinen würde. Das Mädchen fuhr erschrocken herum
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und blickte ihn lange an. Es hatte seine Flöte ins Gras
gelegt und sagte nur: „Ich muss wegen der vielen Haustiere
der Menschen weinen. Die Menschen sperren sie in dunkle
Ställe. Nie dürfen sie das Licht des warmen Tages auf
ihrem Fell spüren, nie den erlösenden Regen trinken nach
einem heißen Sommertag. Sie kennen den Duft der
würzigen Wiesen nicht und nicht das kühle Dämmerlicht
des Waldes. Sie werden geschlagen und mit den Füßen
getreten. Ihr Leid dauert so lange, bis ihnen mit einem
scharfen Messer die Kehle durchgeschnitten wird und sie
unter Angst und Schmerzen verbluten. Die Menschen
haben vergessen, dass sie die Hüter der Tiere sind.“
Der Krieger wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Er
wollte sie gerne trösten, aber wie? Sie hatte ja Recht. Die
Menschen
waren lieblos und respektlos gegenüber der Kreatur.
Während
er noch nachdachte, trat das zarte Wesen ganz nahe an
ihn heran und drückte ihm ein kleines Lämmchen in die
Arme. „Sei gut zu ihm“, sagte es. „So kannst du mich am
ehesten trösten“.
Dann sammelte das Mädchen hastig die Perlen ein, die als
Tränen ins Gras gefallen waren und verstaute sie in einem
feinen Netz. Dann hob es ein Wolfsfell, das im Gras
gelegen hatte und das der Krieger erst jetzt bemerkte hoch
und streifte es sich über. Mit dem Perlennetz im Mund
huschte der Wolf in das Dickicht und verschwand spurlos.
Der junge Krieger überlegte, was er nun tun sollte. Er hatte
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das kleine Lämmchen im Arm, das hungrig an seinen
Fingern saugte. Er musste wohl oder übel zurück in sein
Dorf, sonst hatte das Lämmchen keine Überlebenschance.
Es brauchte Milch, die man bei den Farmern kaufen
konnte. Also ging er mit den Tierchen zurück, kaufte Milch
und zog damit sein Lämmchen auf. Das Tierchen war sehr
anhänglich und machte ihm viel, viel Freude.
Eines Tages, als er einem Stück Wild bis in die Felsregion
folgte, hörte er wieder das wohlvertraute Flötenspiel. Voller
freudiger Erwartung, die zauberhaft schöne Frau
wiederzusehen, stieg er zum Gipfelplateau auf. Doch
diesmal fand er nur einen wunderschönen Wolf vor mit
golden glänzendem Fell. Das Tier lauschte einem traurigen
Lied, das aus einer Felswand zu kommen schien und
Tränen rannen ihm über das Pelzgesicht, die wie Perlen in
das Gras fielen.
Der Krieger war erst ganz leise und beobachtete die
Szene. Dann nahm er aber allen Mut zusammen, trat auf
die Blumenwiese hinaus und fragte den Wolf: „Warum,
mein Bruder Wolf, weinst du“?
Ich muss wegen meiner vielen Brüder und Schwestern
weinen, die von den Menschen verfolgt und ermordet
werden, aus purer Lust am Töten. Die Menschen töten die
Vögel, wenn sie nach dem langen Winter in ihre Heimat
zurückkehren wollen. Sie jagen meinen Bruder Fuchs zu
Tode, nur so zur
Freude und vergiften seine Kinder in ihrem Bau. Sie
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veranstalten große Jagdgesellschaften und metzeln die
schönen Tiere des Waldes und der Prärie nieder, lassen
ihre Körper in der heißen Sonne verwesen und nehmen nur
ihr Gehörn oder ihr Fell mit, um es an die Wände ihrer
Häuser zu heften“.
Der Krieger wollte den Wolf gerne trösten, wusste aber
nicht, was er sagen sollte. Plötzlich trat der Wolf ganz nahe
an ihn heran und sagte mit sanfter Stimme: „Singe vor
deinem Volk unsere alten Lieder, die uns Wildtiere ehren,
ehe wir von euren Pfeilen getroffen werden. Sage den
Menschen, dass wir Tiere ein Teil des Netzes des Lebens
sind, genauso wie sie. Sie haben vergessen, dass sie uns
Tiere hüten sollen. Wird aber ein Faden nach dem anderen
aus dem Netz des Lebens gelöst, löst sich das Ganze auf.
Das darf nicht sein! Ich liebe die Erde mit all ihrem Leben!“.
Der Krieger nickte zustimmend. Der Wolf aber lockte mit
sanftem Bellen ein kleines Wölflein aus dem Dickicht. Er
stupste es mit der Schnauze an, dem Krieger direkt vor die
Füße und sagte: „Sei gut zu ihm“. Dann schüttelte er sein
glänzendes Fell und nahm eine Hülle auf, die im Gras
gelegen hatte und die der Krieger erst jetzt bemerkte. Er
streifte sie sich über und hatte plötzlich die Gestalt einer
alten Frau, die hastig die Tränenperlen aus dem Gras
aufsammelte und dann lachend, mit leichtem Schritt, dem
Dickicht des Bergwaldes zustrebte und dort verschwand.
Nun hatte der Krieger das Wölflein im Arm, das sich
schutzsuchend an ihn schmiegte. Er nahm das Tierchen
mit in sein Dorf, wo er es zusammen mit dem Lämmchen
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aufzog. Bald folgte der kleine Wolf ihm wie ein treuer Hund,
beschützte ihn vor aller Gefahr und begleitete ihn, wenn er
auf der Jagd war.
Die Jahre vergingen. Noch immer trauerte der Krieger um
seine geliebte Frau, doch Lämmchen und Wolf schenkten
ihm so viel Liebe, dass er seine Trauer zu ertragen
vermochte. Doch die Lebenszeit eines Tieres ist nicht so
lange, wie die Lebenszeit des Menschen. Erst starb das
Schaf, einige Jahre später verlor der Krieger auch
seinen treuen Wolf. Der Mann war untröstlich. Einsam
streifte er nun wieder in den Bergregionen herum.
So vergingen viele, viele Sommer. Der Krieger war nun ein
alter Mann geworden. Eines Tages führte ihn sein Weg
wieder in die Berge. Er hatte sich verirrt und wusste nicht
wie – plötzlich stand er wieder auf dem wohlvertrauten
Bergplateau mit der blumenübersäten Wiese. Ein altes
Weiblein suchte dort nach heilkräftigen Kräutern. Lange
sah ihr der alte Krieger zu. Plötzlich zog die Frau eine Flöte
aus der Tasche und spielte das traurig-schöne, alt vertraute
Lied. Ihm wurde ganz warm ums Herz. Wieder fielen
Tränen ins Gras, die wie Perlen glänzten, doch diesmal
kamen sie von ihm.
Mitten in ihrem Lied setzte die Alte ab und kam mit leichten
Schritten auf den Krieger zu. Lange sah sie ihn an und
begann, die Tränenperlen im Gras einzusammeln. „Das
sind die Tränen, die du um meine geliebten Tiere geweint
hast“, sagte die Frau. „Komm mit, ich zeige dir etwas“.
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Der Krieger folgte der Frau über viele Gipfel, über steinige
Schuttkare, blumenübersäte Wiesen und durch dunkle
Bergwälder, bis sie plötzlich an einen glitzernden See
kamen. Das Wasser funkelte im Licht der Sonne, wie er es
noch nie gesehen hatte.
„Das Glitzern kommt von den vielen Perlen und
Edelsteinen am Grund des Sees“, sagte die Alte. Jede
Perlenträne habe ich hierher gebracht, über viele, viele
Sommer. Jeden Hauch von Liebe, die die Menschen je den
Tieren erwiesen, habe ich als Edelstein auf den Grund des
Sees gelegt. Er wird immer größer und flacher. Eines
Tages, wenn die Menschen sich an ihre Verantwortung
erinnern, wenn sie durch Feuer und Flut, durch Sturm und
Krieg geläutert sind, wird sich ein Fluss seinen Weg durch
die Felswände bahnen und wird eine Verbindung herstellen
zum Perlenmeer. Dann wird es keine Tränen mehr geben,
nicht bei den Menschen noch bei den Tieren“.
Der Krieger war wie verzaubert. Die Alte trat ganz nahe an
ihn heran und schüttelte sich. Da fiel eine Hülle von ihr ab
und zum Vorschein kam seine geliebte, verstorbene Frau.
So jung und schön war sie, so lebendig und voller
Lebensfreude, dass
er plötzlich die Last des Alters umso mehr spürte.
Auch er schüttelte sich nun und sein alter Körper fiel wie
eine Hülle von ihm ab. Er spürte die Kraft der Jugend durch
seine Adern fließen und eine nie gekannte Lebensfreude
durchströmte ihn. Übermütig sprang er in die Luft – er war
so leicht, dass sie ihn trug. Er wandte sich gegen die
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untergehende Sonne und sah sie in einem nie gekannten
Glanz. Liebe und Geborgenheit hüllten ihn ein, die Luft war
erfüllt von wunderbarer Musik und er hatte das Gefühl,
endlich – nach langer Reise – nach Hause zu kommen. Ja,
er erinnerte sich – es fiel ihm wie Schuppen von den
Augen. Er erinnerte sich an alles, was je war – an sein
zurückgelegtes Erdenleben und an all das, was zuvor war.
Das unvorstellbare Glück, endlich den Weg nach seinem
wirklichen Zuhause gefunden zu haben, erfüllte ihn. Seine
Seele jubelte. Er nahm seine Frau bei der Hand und beide
gingen dem Licht der untergehenden Sonne entgegen.
Nur jene, die ein Herz voller Liebe haben, konnten die
beiden Hand in Hand über den Himmel wandern sehen.
Neben ihnen her sprangen ganz übermütig ein junger Wolf
und ein Lämmchen, die bei jedem Tritt ein leuchtendes
Goldwölckchen hinterließen. So lange konnte man die
Wiedervereinten sehen, bis sie nur noch wie vier
leuchtende Punkte aussahen und mit der Sonne hinter dem
Horizont verschwanden. Der Perlensee aber lag da,
tiefgründig und geheimnisvoll, als wäre nichts geschehen.
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DER TRÄUMENDE GEPARD
Hingestreckt im Schatten liegt er,
weit entrückt, der engen Welt,
die ihn hinter Gittern hält,
seinen schönen Körper schmiegt er
ins Strohbett unterm Zirkuszelt.
Und der Savanne Gräserduft
belebt sein Herz, das gramverzehrt.
Kein Gitterstab den Blick verwehrt,
im Sonnenlichte flirrt die Luft,
er fühlt sich froh und unbeschwert.
Fühlt seine Kraft! Grenzenlos frei!
Lagert im Schatten hoher Bäume,
durchmisst pfeilschnell die weiten Räume
und wie ein ferner Stammesschrei
klingt es ihm durch seine Träume.
Strampelnd zucken seine Glieder,
und der Menschen Lärmen, Lachen,
die sich darüber lustig machen,
hallt in seiner Seele wieder,
lässt ihn aus dem Traum erwachen.
Und der Alltag hat ihn wieder,
im Realen angekommen,
steht er auf, noch ganz benommen,
dehnt geschmeidig seine Glieder,
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neigt den Blick zum Boden nieder.
Mit fernem, leeren Trauerblick
beginnt er nun sein endlos Spiel.
Es erstirbt jeglich Gefühl.
Er geht zur Ecke und zurück,
geschmeidig, still und ohne Ziel,
wie Jahr und Tag, seit er geboren.
Wie teuer musste er bezahlen,
seines Traumes kurzes Glück!
Lässt ihn vor Sehnsucht tausend Qualen
leidend im Hier und Jetzt zurück,
einsam, traurig und verloren.
Doch irgendeinmal wird er wieder
in das Land der Träume fliehen,
wieder mit den Herden ziehen,
durch die Savannen, auf und nieder
und seiner Art uralte Lieder
werden in den Winden klingen,
ihm das Lied des Lebens singen.
Er wird still verzaubert lauschen,
sterbend sich neues Leben tauschen.
Dann erwacht er nie mehr wieder.
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DER BÖSE GEIST DES BERGES
Vor vielen, vielen Sommern gab es südlich des großen
Flusses einen Berg, der war so hoch und mächtig, dass
sein Schatten eine Tagesreise weit reichte.
Tag und Nacht stand eine dünne Rauchsäule über dem
Gipfel und die Alten sagten, dass ein böser Geist in seiner
Tiefe wohne, der Mensch und Tier viel Schaden zufüge. Er
sei so stark, dass kein Mensch gegen ihn etwas ausrichten
könne. Doch es geht auch die Sage um, dass ein tapferer
Krieger, der sich vor nichts und niemand fürchtet und der
auch die größte Herausforderung nicht scheut, den Dämon
des Berges herausfordern und besiegen könnte.
Ein Häuptling des Stammes, der mutiger und stärker war
als alle anderen, ärgerte sich über den finsteren Geist des
Berges, der wieder einmal die Erde zittern und die Felsen
zu Tal donnern ließ, so dass ein Teil seines Dorfes
zerschmettert wurde. Er legte die Kriegsbemalung an,
nahm seine Waffen und stieg zur Spitze des Berges hinauf.
Oben angekommen, sah er einen großen Krater, aus
dessen Schlund Qualm und stinkender, gelber Rauch
aufstiegen.
Der Häuptling hob einen Stein auf und schleuderte ihn in
den dunklen Abgrund. Ein Grummeln, Donnern und
Zischen war zu hören, dann flog ein glühend roter
Feuerball in den Himmel und schlug am Fuß des Berges
ein. Er entzündete das trockene Gras und ein großes Stück
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Wald- und Buschland brannte ab. Der Häuptling wurde
zornig und schleuderte noch mehr Steine in den finsteren
Schlund des Berges hinab. Sie kamen als glühende
Klumpen zurück und verwüsteten das Land. Die Erde
bebte, Flüsse trockneten in der Gluthitze der Lava aus, die
Bäume fingen Feuer, Tiere und Menschen starben im
Ascheregen.
Tief bekümmert sah der Häuptling, was er angerichtet
hatte. Voller Schmerz und Entsetzen beschloss er, sich
dem übermächtigen Feind im Zweikampf zu stellen. Er
stieg in den Krater hinab, um den bösen Geist zum Kampf
aufzufordern.
Am Grunde des Kraters fand er einen dunklen,
geheimnisvollen See vor. „Geist der Tiefe, komm heraus
und zeige dich“, rief er, so laut er konnte. „Ich bin ein
mächtiger Krieger und habe viele Feinde getötet. Du hast
mir und meinem Volk viel geschadet und bist zu meinem
größten Feind geworden. Komm hervor, ich will mit dir
kämpfen!“
Da donnerte und grollte es in der Tiefe und der Häuptling
hörte eine Stimme: „Schau in die Tiefe, wenn du den Mut
hast, deinem größten Feind in die Augen zu sehen!“ Kein
Windhauch störte den tiefblauen, glatten Spiegel des Sees.
Und als der Häuptling hinabblickte, sah er im dunklen
Wasser des Kratergrundes sein eigenes Gesicht.
21
Ende der Leseprobe von:
Der Perlensee - und weitere Erzählungen
aus dem indianischen Kulturkreis
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