Lise Meitner Einführungs-Essay von Janin Afken LISE MEITNER – „UNSERE MADAME CURIE“ Albert Einstein soll Lise Meitner „unsere Madame Curie“ genannt haben. Im Gegensatz zu Marie Curie erhielt Lise Meitner trotz mehrfacher Nominierungen nie den Nobelpreis. Dennoch markiert die Bezeichnung den Stellenwert Lise Meitners in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Wissenschaft der Kernphysik in Deutschland. Gerade in den 20er Jahren war Lise Meitner nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit präsent und wissenschaftlich anerkannt, sondern auch international und unterhielt zahlreiche Korrespondenzen mit führenden Physikern ihrer Zeit. Während des 1. Weltkrieges, Anfang 1917, bekam Lise Meitner die Leitung der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie (KWI) in Berlin übertragen, die eigens für sie geschaffen worden war. Im Februar 1920 wurde die letzte offizielle Hürde für Wissenschaftlerinnen auf dem Weg zur Professur beseitigt: Es erfolgte die Zulassung für Frauen zur Habilitation an Universitäten und Hochschulen in Deutschland. Lise Meitner nahm das langersehnte Recht wahr und habilitierte im Oktober 1922 an der Universität Berlin als erste Physikerin an einer Universität in Preußen. Allein 1924 erhielt sie zwei Wissenschaftspreise: Die Medaille der American Association to Aid Women in Science (AAAWS) und die Leibniz-Medaille in Silber der Berliner Akademie. Lise Meitners Weg zum Erfolg war allerdings kein einfacher, sondern von zahlreichen Rückschlägen geprägt. JUGEND- UND STUDIENJAHRE IN WIEN Lise Meitner wurde am 17. November 1878 in Wien geboren. Die in jener Zeit üblichen Hemmnisse für Mädchen bestimmten ihre schulische und universitäre Laufbahn. Sie besuchte die öffentliche Volks- und Bürgerschule in Wien bis zu ihrem 14. Lebensjahr. Der Lehrstoff war wenig anspruchsvoll und eher allgemein bildend, aber zweckmäßig konzipiert: Er umfasste kaufmännisches Rechnen, einen Überblick über Geschichte und Naturwissenschaft sowie Zeichen-, Gesangs- und Handarbeitsunterricht. Mädchen und junge Frauen konnten lediglich den Beruf der Lehrerin ergreifen und dies nur in einem Fach, das keine Universitätsausbildung erforderte. Außerdem war ihnen der Besuch des Gymnasiums nicht gestattet, weshalb einzig die private Vorbereitung auf das Abitur blieb. Lise Meitner arbeitete sich in nur zwei Jahren mit der Hilfe eines Physikdoktoranden durch den Unterrichtsstoff von vier Jahren, parallel zu ihrer Ausbildung als Französischlehrerin. Im Juli 1901 absolvierte sie schließlich erfolgreich die Maturaprüfung. Noch im gleichen Jahr begann sie mit dem Studium der Physik und Mathematik an der Wiener Universität. In Österreich war das sogenannte ‚Frauenstudium‘ 1897 offiziell genehmigt worden. Von 1901 bis 1905 studierte Lise Meitner acht Semester Physik, Mathematik, Chemie und Philosophie. Als zweite Frau in Österreich promovierte Lise Meitner 1906 im Fach Physik an der Wiener Universität und erhielt die Note „einstimmig mit Auszeichnung“ (summa cum laude). Nach Beendigung des Referendariats, das konstitutiv für den Abschluss der Lehrerausbildung war, ging Lise Meitner im Herbst 1907 nach Berlin. Ihre Eltern hatten zwecks existentieller Absicherung auf die Beendigung der Lehrerinnenausbildung insistiert, gewährten ihr jedoch darüber hinaus die Erlaubnis für einen Berlinaufenthalt und finanzielle Unterstützung. LISE MEITNER IN BERLIN In Berlin wollte Lise Meitner vor allem die Vorlesungen Max Plancks, der einen exzellenten Ruf als theoretischer Physiker genoss, hören und ihre wissenschaftlichen Kenntnisse erweitern. In Preußen wurden Frauen erst 1909 offiziell zum Studium zugelassen, bis dahin konnten sie lediglich als Gasthörerinnen an den Vorlesungen und Seminaren teilnehmen, weshalb sich Lise Meitner zunächst um eine Erlaubnis zur Teilnahme bemühen musste. In den Erinnerungen Lise Meitners an eines der ersten Gespräche mit Max Planck heißt es: Er empfing mich sehr freundlich und lud mich auch schon bald zu sich nach Hause ein. Als ich ihn dort das erste Mal besuchte, sagte er zu mir: „Aber Sie sind doch schon Doktor! Was wollen Sie denn noch?“ Als ich ihm antwortete, dass ich gerne ein wirkliches Verständnis der Physik gewinnen würde, sagte er nur ein paar freundliche Worte und ging nicht weiter auf die Sache ein. Natürlich schloß ich daraus, dass er keine sehr hohe Meinung von Studentinnen hatte, und das stimmte sicher zu dieser Zeit.1 Lise Meitner wollte nicht nur die Vorlesungen besuchen, sondern auch experimentell arbeiten. Deshalb wandte sie sich an den Leiter des Instituts für Experimentalphysik Heinrich Rubens. Er vermittelte Meitner an den Chemiker Otto Hahn, der sich im Sommer 1907 habilitiert hatte und bereits im Bereich der Radioaktivität forschte. Schon im Herbst 1907 begann die langjährige und produktive Zusammenarbeit zwischen Hahn und Meitner. Ein berufliches Fortkommen blieb für Lise Meitner vorerst aus. Als Frau hatte sie unter diskriminierenden Bedingungen zu leiden: Die mit Hahn gemeinsam genutzte Holzwerkstatt, die als Experimentallabor diente und an das Chemielabor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie (KWI) angeschlossen war, durfte sie nur durch die Hintertür betreten; außerdem arbeitete sie im Gegensatz zu Otto Hahn unentgeltlich. In einem Brief an eine Freundin aus dem Jahr 1910 thematisiert sie die ambivalenten Gefühle bezüglich ihrer Lebenssituation. Diese können gleichsam paradigmatisch für wissenschaftlich arbeitende Frauen gelesen werden: „Manchmal bin ich kleinmütig, und mein Leben mit seiner großen Unsicherheit, den ewig sich wiederholenden Sorgen, und dem Gefühl meiner Ausnahmestellung, des absolut Alleinseins, erscheint mir dann kaum erträglich. Und was mich am meisten bedrückt, ist der schreckliche Egoismus, der in meiner jetzigen Lebensweise liegt. Alles, was ich tue, nützt im besten Falle mir allein, meinem Ehrgeiz und meiner Freude am wissenschaftlichen Arbeiten.“2 Max Planck bot Lise Meitner Ende 1912 eine Assistentenstelle an, die sie von 1913 bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bekleidete. Sie war die erste weibliche Assistentin an der Berliner Universität. Am 1. August 1914 wurde Lise Meitner wissenschaftliches Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie und arbeitete nun offiziell am Institut gegen eine geringe Vergütung. 1918 entdeckte Lise Meitner durch ihre Forschungen ein neues radioaktives Element, das Protactinium. Während der 1920er Jahre konnte sich Lise Meitner endlich als Wissenschaftlerin durchsetzen. Sie arbeitete an einer Untersuchung über Beta- und Gammaspektren, womit sie sich in dem noch kleinen Bereich der Kernphysik einen Namen machte. 1 2 Meitner: Looking Back, S. 4. Zitiert nach Sime, Leipzig 2001, S. 43. Lemerich, Berlin 1988, S. 58. FLUCHT AUS DEUTSCHLAND UND DIE ENTDECKUNG DER KERNSPALTUNG Infolge des Wahlsiegs der Nationalsozialisten 1933 wurde Lise Meitner als Jüdin die Lehrbefugnis entzogen. Sie durfte nun weder die Universitätsgebäude betreten noch an Kolloquien, Tagungen oder Ähnlichem teilnehmen. Als österreichische Staatsbürgerin wurde Lise Meitner vorerst nicht verfolgt, weshalb sie ihre Forschungen am nicht-staatlichen KWI weiterführen konnte. Sie lebte als jüdische Wissenschaftlerin jedoch zunehmend isoliert, weshalb Meitner Otto Hahn 1934 zu einer erneuten Zusammenarbeit überredete. Nachdem sie fast zwölf Jahre an keinem gemeinsamen Projekt miteinander gearbeitet hatten, konzipierten sie in Kooperation mit Fritz Strassmann die Erforschung der Transurane, die ein paar Jahre später die Entdeckung der Kernspaltung zur Folge haben sollte. Durch die im März 1938 erfolgte Annexion Österreichs an das Deutsche Reich veränderte sich Lise Meitners Status als österreichische Staatsbürgerin: Sie wurde zur Bürgerin des deutschen Reiches erklärt und war als Jüdin damit von den Nürnberger Gesetzen betroffen. Diese sogenannten ‚Rassegesetze‘ legten fest, wer, wie und ab wann als ‚jüdisch‘ galt. All jene, die als ‚Juden‘ klassifiziert wurden, bekamen die Reichsbürgerschaft aberkannt und durften demnach keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Eine Flucht aus Deutschland wurde unausweichlich. Im Sommer 1938 glückte der fast 60-jährigen Lise Meitner mit Hilfe von Dirk Coster und Otto Hahn die Flucht über Holland und Dänemark nach Schweden. Sie blieb in regem Briefkontakt mit Hahn und Strassmann über das gemeinsam begonnene Projekt, das gerade zu diesem Zeitpunkt seinem Ende entgegen steuerte. Am 1. Januar 1939 interpretierte Lise Meitner brieflich gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch die für Hahn und Strassmann unverständlichen Versuchsergebnisse. Sie lieferten damit die physikalische Deutung und energetische Erklärung der Kernspaltung. Für die Entdeckung der Kernspaltung bekam Otto Hahn 1945 den Nobelpreis für Chemie überreicht, Lise Meitner und Fritz Strassmann wurden nicht bedacht. ES GIBT KEIN ZURÜCK Als Exilantin in Stockholm musste Lise Meitner mit fast 60 Jahren von vorne anfangen. Sie lebte zunächst in einem Hotel und hatte nur eine bescheidene Anstellung im Nobel-Institut für Physik, die sie als exzellente Wissenschaftlerin nicht zufriedenstellen konnte. Nur mit größten Schwierigkeiten konnte sie ihren Forschungen nachgehen, da die finanziellen Mittel und die notwendigen Apparaturen fehlten. Bis Kriegsende lebte sie als Wissenschaftlerin völlig isoliert. Am 6. August 1945 hatten die USA eine Atombombe auf Hiroshima abgeworfen. Seitens der Presse wurde Lise Meitner im Zuge dessen mehrfach mit der Bezeichnung ‚Mutter der Atombombe‘ konfrontiert. Die Entdeckung der Kernspaltung war Voraussetzung für die Entwicklung der Atombombe gewesen und hatte gleichzeitig das Atomzeitalter eingeleitet. Lise Meitner distanzierte sich ausdrücklich von dieser Zuschreibung mit dem Hinweis, lediglich physikalische Experimente durchgeführt zu haben und nicht zu wissen wie eine Atombombe funktioniere. Jedoch plagten sie starke Schuldgefühle, der wissenschaftlichen und politischen Dimension der Entdeckung der Kernspaltung nicht ausreichend Beachtung geschenkt zu haben. Lukrative Jobangebote im Bereich der Kernwaffenforschung schlug sie mehrfach aus, ganz im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen. Ein sechsmonatiger Aufenthalt in den USA als Gastprofessorin an der Catholic University of Washington, D. C. im Jahre 1946 gab der beruflichen Laufbahn Lise Meitners wieder Auftrieb. Sie wurde von der amerikanischen Presse zur ‚Frau des Jahres‘ gewählt. Ende 1947 erhielt sie an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm eine bezahlte Forschungsprofessur, die sie bis zu ihrer Emeritierung 1960 innehatte. Sie leitete dort die kernphysikalische Abteilung des Physikalischen Instituts. Zahlreiche Auszeichnungen folgten. 1968 starb sie in Cambridge (GB), wohin sie ihrem Neffen Otto Robert Frisch gefolgt war. Lise Meitner geriet infolge der ‚Rassenpolitik‘ der Nazis und des über sie ausgebreiteten Mantel des Schweigens in den Jahrzehnten nach dem Krieg in Vergessenheit. Sie stand im Schatten ihres Freundes und Kollegen Otto Hahn, der Deutschland und seine Arbeit nicht hatte verlassen müssen. Erst im Zuge der kritischen Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte, der zunehmenden Frauengeschichtsforschung und der verstärkt kritischen Auseinandersetzung mit den Folgen der Shoah zu Beginn der 1980er Jahre, bekam auch Lise Meitner als wichtige Forscherin und berühmte Persönlichkeit der Weimarer Republik erneut einen Platz in der Wissensgeschichte zuerkannt.
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