vj 02_16_Mutig auf der ganzen Linie

T H U R G A U
MUTIG AUF DER GANZEN LINIE
Die Stadt Kreuzlingen unternimmt einen mutigen Schritt bei der Romanshorner­
strasse. Die wichtige Verkehrsachse soll nach dem Willen des Stadtrats eine Rosskur
erhalten und eine neue Ära einleiten.
Mit der Sanierung will der Stadtrat die Dominanz des Autos brechen
und die Wohnqualität aufwerten.
Zurzeit fahren täglich rund 16 000 Fahrzeuge – pardon, Autos – durch die Romanshornerstrasse. Für die Velofahrenden ist sie damit unattraktiv und wird,
trotz Radstreifen, als eher gefährlich
empfunden. Sie wurde deshalb als grosser Schwachpunkt im Agglomerationsprogramm des Bundes vermerkt, nicht
nur in Bezug auf den Velo- und Fussverkehr, sondern auch für den öffentlichen
Verkehr. Weil auch die Sanierung ohnehin ansteht, will der Stadtrat die Chance
packen und die Strasse im Rahmen des
Agglomerationsprogramms des Bundes
umgestalten und für mehr Wohnqualität
sorgen. Um Fehler bei der Planung möglichst zu vermeiden, lud der Stadtrat
deshalb Vertreter aller Interessengruppen zu drei Diskussionsrunden ein und
schlug verschiedene Varianten vor.
Dass ein Teil der Anwohner und das Gewerbe sich mehr Kapazitäten für das
Auto wünschten, erstaunte wenig. Doch
wenn der Stau als Grund angegeben
wird, entbehrt es nicht einer gewissen
Ironie, dass alle Teilnehmenden des ers8 REGIONAL 2/2016
ten Workshops die kurze Strecke ins
Stadthaus mit dem Auto zurücklegten.
Natürlich mit Ausnahme der Pro-VeloVertreterin und Stadtrat Ernst Zülle, der
bekanntlich gerne zu Fuss unterwegs ist.
Erfreulicherweise waren aber die meisten nach zähen und langen Verhandlungen damit einverstanden, dass mehr
Wohnqualität auch gleichzeitig weniger
Autoverkehr voraussetzt.
STICH INS WESPENNEST
Damit bewies der Stadtrat erstmals viel
Mut, denn die Romanshornerstrasse führt
durch das «Dorf in der Stadt», wenn man
Kurzrickenbach so bezeichnen darf, wo
der Autoverkehr noch immer hoch im
Kurs steht. Die Zunahme des Verkehrsvolumens zwischen dem Ziilkreisel am
Stadtrand und dem Kreisel beim Blauen
Haus in Richtung Stadtzentrum von
12 000 auf 16 000 Autos ist mehr als nur
ein Indiz dafür, dass viele Kurzrickenbacher auch für Kurzstrecken nicht allzu
gerne auf ihr Auto verzichten. Kein Wunder, sprach Zülle von einem Wespennest,
ENTSCHLEUNIGUNG GEPLANT
Noch viel mutiger scheint der Weg, auf
dem der Stadtrat dies bewerkstelligen
möchte. Mit einer Verengung der Strassenbreite auf 6,2 Meter, Mehrzweckstreifen und dafür keine Leitlinien, Verkehrsinseln, Haltestellen auf der
Fahrbahn und einer 30er-Zone im alten
Dorfkern soll der Verkehr entschleunigt
werden. Breitere Trottoirs, Rabatten
und Bäume sollen die Strasse gemütlicher und grüner erscheinen lassen. Der
Veloverkehr wird aufgewertet, weil von
den Autolenkern erwartet wird, dass sie
ihr Tempo anpassen und rücksichtsvoller überholen. Das alles bedeutet für
die Stadt Kreuzlingen einen Paradigmenwechsel für eine Hauptstrasse und wirft
viele Fragen bei der Bevölkerung auf.
Doch der Weg scheint für den Stadtrat
nicht nur mutig, sondern auch ermutigend, denn das Projekt entspricht den
neuesten Standards einer modernen
Stadt und dürfte deshalb wegweisend
sein. Erstaunlich viel Mut zeigt dabei
auch der Kanton. Jedenfalls dürfte die
erste 30er-Zone auf einer Kantonsstrasse
auch andernorts Begehrlichkeiten wecken und das dogmatische Temporegime
des Kantons infrage stellen. Die Romanshornerstrasse kann durchaus als
Präzedenzfall betrachtet werden.
Doch ohne Mut kein Risiko. Es wird
kein leichtes Spiel, die Bevölkerung für
das Vorhaben zu gewinnen. Der Stadtrat
stellt sich fairerweise dieser Herausforderung. Dabei hätte er es sich leicht machen, die Kosten für die Umgestaltung
splitten und sich einer Abstimmung entziehen können. Der Abstimmungskampf
bietet dafür die Chance, die Bevölkerung
von den Vorteilen einer modernen urbanen Mobilität zu überzeugen und sich
neu auszurichten. Ein Erfolg würde
nicht nur on Kreuzlingen ein neues Zeitalter einläuten, sondern wahrscheinlich
im ganzen Kanton.
Eddie Kessler
FOTOS: PRO VELO THURGAU
als er die Pläne an einer Informationsveranstaltung der Öffentlichkeit präsentierte.
Doch wer die Dominanz des Autoverkehrs brechen will, stellt sich naturgemäss
gegen den Mainstream.