SOZIALRECHT JUSTAMENT kompakt und aktuell – Rechtswissen für die existenzsichernde Sozialberatung Jg.4 / Nr.18 Mai 2016 Die geplante »kalte Ausweisung« armer EU-BürgerInnen Zum Referentenentwurf der Bundesregierung vom 28.4.2016: „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ Ausführliche Darstellung und rechtliche Kritik des Regierungsentwurfs ................ ab Seite 8 Die Problematik des Sozialleistungsausschlusses von EU-BürgerInnen – Thema vieler Ausgaben von SOZIALRECHT JUSTAMENT ein Rückblick mit der Möglichkeit des Runterladens ..........................................................................................................ab Seite 13 Meine Seminarunterlagen (gehaltener Seminare) der Jahre 2015/2016 finden Sie im Internet (bitte jeweiligen Rechtsstand beachten) http://www.sozialrecht-justament.de/neu-seminarunterlagen/ Aktuell Zweitägiges SGB II Praxisseminar– das ABC des SGB II A B C vom ntrag … zum escheid … zur ausa (den rechtlichen Hintergründen des Ganzen) am Di. + Mi., 26. und 27. Juli 2016 in Nürnberg am Mo. + Di., 14. und 15. November in München (Die Änderungen durch das „Rechtsvereinfachungsgesetz“ werden schon berücksichtigt) Anfragen unter [email protected] Siehe Seite 7 © Bernd Eckhardt (Text und Grafik; V.i.S.d.P.) – © Martina Beckhäuser (Farbe) www.sozialrecht-justament.de Kontakt: [email protected] SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 2 Liebe Leserin, lieber Leser, der SGB II - Ausschluss von EU-BürgerInnen, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, ist immer wieder Themenschwerpunkt des SOZIALRECHT JUSTAMENT gewesen (siehe ab Seite 14). Die letzte Ausgabe setzte sich mit der vollkommen zerstrittenen Sozialgerichtsbarkeit auseinander. Viele Sozialgerichte folgen im einstweiligen Rechtschutz nicht dem Bundessozialgericht und lehnen Leistungen vollständig ab. Immerhin liegt nun auch eine Entscheidung in Bayern vor (Bayerisches Landessozialgericht L 16 AS 221/16 B ER vom 25.04.2016). Der 16. Senat des LSG Bayern folgt zumindest im einstweiligen Rechtsschutz dem Bundessozialgericht in allen Punkten. Die Begründung ist rechtssystematischer Natur: Aufgrund der höchstrichterlichen Entscheidung besteht die objektiv begründete wahrscheinliche Aussicht, dass dem rechtlichen Begehren der Klagenden im Hauptsachverfahren letztinstanzlich Recht gegeben wird. Dieses wahrscheinliche Gewinnen der Klagenden erlaubt keine abweichende Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz: Aufgabe des einstweiligen Rechtschutzes ist nicht die abschließende Auseinandersetzung mit schwierigen und strittigen Rechtsfragen, sondern die vorläufige Regelung eines streitigen Sachverhalts (hier im Sinne der Behebung einer gegenwärtigen Notlage) unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens. Vor allem dann, wenn - wie vorliegend - bereits eine obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt, kann diese bei der Frage, ob im einstweiligen Rechtsschutz ein Anordnungsanspruch anzunehmen ist, nicht unberücksichtigt bleiben. Es kommt insoweit nicht darauf an, ob das für den Eilrechtsschutz zuständige Gericht diese Auffassung teilt. Insoweit verkennt auch das LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 11.02.2016, a.a.O.) die Bedeutung des einstweiligen Rechtschutzverfahrens. (Bayerisches Landessozialgericht L 16 AS 221/16 B ER vom 25.04.2016) Mittlerweile hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Gesetzentwurf vorgelegt, der weiterhin einen vollständigen Leistungsausschluss ermöglichen soll. Auf die grundrechtliche Argumentation des Bundessozialgerichts wird in der Begründung der geplanten Änderungen nicht eingegangen. Die vorliegende achtzehnte Ausgabe des SOZIALRECHT JUSTAMENTs beschäftigt sich mit dem Referentenentwurf „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“. Impressum: v.i.S.d.P.: Bernd Eckhardt Ludwig Feuerbach-Straße 75 90489 Nürnberg [email protected] [email protected] www.sozialrecht-justament.de 3 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 Einführungsworkshop Systemische Therapie mit der „Inneren Familie“ - IFS am 15. + 16. Oktober 2016 Nürnberg in den Praxisräumen Ludwig-Feuerbach-Str. 69 90489 Nürnberg Ein Einführungsworkshop für Sozialpädagogen, BeraterInnen, TherapeutInnen und Interessierte, die das IFS-Modell (Internal Family System) nach Prof. Dr. Richard C. Schwartz kennenlernen möchten. Das Thema „Innere (Persönlichkeits-) Teile“ ist seit langem Bestandteil von Beratung und Therapie. Die Wirksamkeit des systemischen Arbeitens mit den inneren Anteilen ist für systemisch arbeitenden BeraterInnen und TherapeutInnen immer wieder faszinierend. Richard C. Schwartz hat mit der „Systemischen Therapie mit der inneren Familie (IFS)“ eine besondere Methode entwickelt, indem er die systemische Sichtweise auf die Innenwelt übertrug und die Multiplizität unserer inneren Anteile als etwas Naturgegebenes respektierte, statt sie als Störung zu sehen. Die Ausdehnung des systemischen Denkens und der Techniken aus der Familientherapie auf die intrapsychische Welt führte zu großen Fortschritten in der Behandlung von Einzelpersonen, Familien und Gruppen. Martina Beckhäuser Die IFS-Methode ist geprägt von einem hohen Maß an Achtsamkeit. Dipl.-Sozialpädagogin (FH) Systemische FamilientheraDie präzise und wertschätzende Vorgehensweise ist ebenso struktupeutin (DGSF), IFS-Therapeutin riert wie flexibel und geht voller Respekt für das Tempo und die Res(CSL), Ausbildung in Systemisourcen der KlientInnen vor. Die Arbeit mit IFS bringt auch für erfahrescher Supervision, Coaching, ne TherapeutInnen ganz neue Aspekte. Kommunikationstrainerin Die IFS-Methode kann eine tiefe, nachhaltige Heilung bewirken. Sie findet Anwendung bei Beziehungsstörungen und ist auch für die meisten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen und Traumafolgestörungen gut geeignet. Menschen aller Altersstufen und aller Schichten finden leicht Zugang zu diesem einfachen, schlüssigen Modell. Mehr zu IFS unter http://www.ifs-europe.net/ Die Seminarausschreibung finden Sie auf: http://www.sozialpaedagogische-beratung.de/workshop%20ifs%2010-2016.pdf Kontakt: [email protected] [email protected] www.sozialrecht-justament.de 4 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 SGB II Praxisseminar– das ABC des SGB II vom Antrag…zum Bescheid…zur Causa (den rechtlichen Hintergründen des Ganzen) Di. + Mi., 26./27. Juli 2016, von 9.00 – 16.00 Uhr Neu: Seminarraum „Ludwig-Feuerbach“, Ludwig-Feuerbach-Straße 69 90489 Nürnberg Ausschreibung siehe: http://sozialrecht-justament.de/data/documents/AusschreibungPraxisseminar-26.-und-27.-Juli-2016-Nuernberg.pdf Geplant in München und Frankfurt. Anfragen bitte unter: [email protected] SGB II-Praxisseminar – vom Antrag zum Bescheid Das neukonzipierte SGB II-Praxisseminar vermittelt in zwei Tagen wichtiges Beratungswissen für die tägliche Sozialberatung. Die Fortbildung ist gerade auch für BeraterInnen geeignet, die immer wieder am Rand mit dem SGB II zu tun haben oder die einen Einstieg suchen. Für die Sozialpädagogische Familienhilfe, dem Allgemeinen Sozialdienst, aber auch für viele Beratungsstellen, deren Fokus schwerpunktmäßig auf eine andere Problematik liegt, empfehle ich diese Fortbildung. Aber auch langjährigen SozialberaterInnen bietet das Seminar eine nützliche Auffrischung und manche neue Erkenntnis, wie ich selbst beim Erarbeiten der Fortbildung festgestellt habe. Bottom-up – Top-down Die Erschließung des SGB II kann unterschiedlich erfolgen: historisch, systematisch, thematisch. Meistens wird das SGB II dann „von oben“ erschlossen. Mein Praxisseminar vereint die verschiedenen Ansätze, legt aber besonderen Wert auf den Zugang „von unten“ – Bottom-up. Am Anfang steht der Antrag. Daher werden wir im Seminar auch Anträge mit Anlagen ganz praktisch ausfüllen. [email protected] Hierbei werden die Teilnehmenden von der virtuellen Familie K. begleitet, die dankbarerweise alle ihre Sozialdaten offenlegt. Warum muss was angegeben werden? Wie sind die verschiedenen Fragen zu beantworten? Was ist unklar? Die Rechtsgründe (lat. Causa = Rechtsgrund), die hinter der Beantwortung der Fragen stehen, werden ausführlich dargestellt. Neben dem Antrag werfen wir einen Blick auf den Bewilligungsbescheid. Wie wird aus dem Antrag ein Bescheid? Welche Berechnungen werden durchgeführt? Wie ist der Berechnungsbogen zu verstehen? Was steht im Bescheid? Was steht im „Kleingedruckten“? Von Pflichten und Rechten Ein weiterer wichtiger SGB II-Aspekt des Praxisseminars besteht in einer kurzen Darstellung der Pflichten und Rechte Leistungsberechtigter. Nicht nur MigrantInnen begehen oft unwissentlich Pflichtverletzungen und setzen sich dann unnötigen Sanktionen oder Bußgeldverfahren aus. Andererseits wird vom Jobcenter oft großzügig über rechtsstaatliches Verfahrensrecht hinweggegangen und Rechte werden systematisch missachtet. www.sozialrecht-justament.de 5 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 Die »kalte Ausweisung« armer EU-BürgerInnen – der Plan Nahles soll Gesetz werden Zum Referentenentwurf der Bundesregierung vom 28.4.2016: „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ Ob Zufall oder nicht, immer, wenn es um die Beschneidung sozialer Rechte geht, schreitet die SPD voran. Aus nicht weniger als verfassungsrechtlichen Gründen hat das Bundessozialgericht den totalen Sozialleistungsausschluss von EU-BürgerInnen in aufsehenerregenden Entscheidungen am 3.12.2015 verneint1. Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts sind in der Sozialgerichtsbarkeit äußerst umstritten2. Letztendlich geht es um die Frage, ob das grundrechtlich verbriefte Existenzminimum auch dadurch sichergestellt ist, dass EUBürgerInnen auf die Rückreise und Leistungen ihres Heimatlandes verwiesen werden. Die für das SGB II zuständigen Senate des Bundessozialgerichts haben diese Rechtsauffassung verneint. Der Bundessozialrichter Pablo Coseriu (1. Senat, Krankenversicherung) hält sie zum Beispiel für „absurd“ und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Im nun vorliegenden Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird aber genau diese Auffassung vertreten.3 Eine nähe1 vgl. SOZIALRECHT JUSTAMENT Nr. 15, Dezember 2015, http://sozialrecht-justament.de/data/documents/715_Sozialrecht-justament-7-2015_1.pdf). 2 vgl. SOZIALRECHT JUSTAMENT Nr. 17, März 2016, http://sozialrechtjustament.de/data/documents/Sozialrecht-justament2-2016.pdf 3 Es kann nicht sein, dass jemand innerhalb der EU nur umziehen muss, um volle Sozialleistungen eines anderen Landes zu erwerben – obwohl es ein leistungsfähiges Sozialsystem auch in seinem Herkunftsland gibt“, Nahles (http://www.welt.de/politik/deutschland/article15221 9655/Sozialhilfe-fuer-Auslaender-mit-Hochdruckbeschraenken.html). Tatsächlich verwendet Nahles die Rhetorik der AFD: Die verfassungsrechtliche [email protected] re Begründung findet sich hierfür im Referentenentwurf nicht. In Folgendem werde ich die geplanten gesetzlichen Änderungen vorstellen und diese im Kontext der bisherigen Rechtspositionen rechtlich einordnen. Anschließend gehe ich auf die grundrechtlichen Fragestellungen ein und den möglichen europarechtlichen Einwänden gegen den Referentenentwurf. Die Auswirkungen für Angehörige der Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens werden am Schluss behandelt. Was schon jetzt feststeht: Die Bundesregierung scheut konsequent den Weg, EUBürgerInnen ohne bestehendem Aufenthaltsrecht auszuweisen und notfalls abzuschieben. Sie setzt auf die „kalte Ausweisung“, notfalls mittels Aushungerns. Argumentation des Bundessozialgerichts wird mit dem populistischen Pseudoargument „es kann nicht sein“ weggewischt. Was „volle Sozialleistungen“ sind, bleibt offen. Welche und in welcher Höhe? Tatsächlich geht es hier um das Existenzminimum. Das „nur umziehen“ verschweigt, dass das Bundessozialgericht erst bei einem verfestigten Aufenthalt einen Quasianspruch auf Sozialhilfe in gesetzlicher Höhe zugesprochen hat. Da Nahles das Wort „nur“ (hinreichende Bedingung) anführt, ist das einfach gelogen. Weiterhin wird so getan, als könnten EU-Bürgerinnen ohne Freizügigkeitsrecht unbegrenzt in Deutschland leben. Typisch bei einer solchen Argumentation ist, dass Widersprüche überhaupt nicht stören. Ein „leistungsfähiges Sozialsystem“ im Herkunftsland müsste ja wohl auch das soziokulturelle Existenzminimum sichern. Im Subtext erscheint das Motiv der Zuwanderer: Sie wollen unsere Sozialleistungen, obwohl sie die eigenen in Anspruch nehmen könnten, da kann ja nur ein böser Wille dahinter sein. Leider spricht alles dafür, dass die Bundesministerin tatsächlich so denkt. Das Zitat spiegelt genau das Niveau von Frau Nahles wieder. www.sozialrecht-justament.de 6 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 Der Entwurf des BMAS sieht Änderungen im SGB II und im SGB XII vor. Zuerst gehe ich auf die Änderungen im SGB II ein, dann auf die Änderungen im SGB XII Erweiterung der Ausschlussgründe von AusländerInnen im SGB II Im SGB II wird der Ausschluss von Ausländerinnen und Ausländern erweitert. Schon bisher galt der Leistungsausschluss für die ersten drei Monate des Aufenthalts und für AusländerInnen, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Der dreimonatige Ausschluss bleibt erhalten. § 7 Absatz 1 Satz 2 definiert nun exakt den Personenkreis, der vom Leistungsanspruch ausgenommen wird. Demnach sind nicht nur AusländerInnen, die sich allein mit dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, von SGB II Leistungen ausgeschlossen: „Ausgenommen sind 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, a) denen kein Aufenthaltsrecht zusteht oder b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b) aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 ableiten, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.“ Gleichzeitig sieht der Referentenentwurf einen neuen Leistungsanspruch vor, wenn sich der Aufenthalt verfestigt hat. Das Bundessozialgericht hat in seinen Entscheidungen, die [email protected] durch das neue Gesetz korrigiert werden sollen, einen länger als 6 Monate andauernden Aufenthalt als verfestigt angesehen. Ein verfestigter Aufenthalt, der einen Anspruch auf Sozialleistungen auslösen kann, soll nach dem Willen der Bundesregierung erst nach 5 Jahren Aufenthalt vorliegen. Im Referentenentwurf werden in § 7 Abs. 1 SGB II die neuen Sätze 4 und 5 eingefügt. „Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der wirksamen Anmeldung beim zuständigen Einwohnermeldeamt.“ Die Frist ist mit der 5-Jahresfrist des Freizügigkeitsgesetzes/EU identisch, die erfüllt sein muss, um ein Daueraufenthaltsrecht zu erlangen. Der Unterschied besteht darin: Im Freizügigkeitsrecht muss der 5-jährige Aufenthalt rechtmäßig in dem Sinne sein, dass immer ein tatsächliches Freizügigkeitsrecht vorgelegen haben muss. Für das SGB II soll nun der gewöhnliche Aufenthalt entscheidend sein. Die Frist des „gewöhnlichen Aufenthalts“ soll laut Entwurf mit der wirksamen Meldebestätigung beginnen. Offensichtlich ist den Verfassern des Referentenentwurfs aufgegangen, dass die Überprüfung, ob der Aufenthalt der letzten 5 Jahre im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes jederzeit aufgrund des Vorliegens eines tatsächlichen Freizügigkeitsrechts rechtmäßig war, einen immensen bürokratischen Aufwand erfordert. Kommentar: Die geplanten Änderungen im § 7 Abs. 1 SGB II erweitern die Ausschlussgründe. Wer über kein Aufenthaltsrecht (Freizügigkeitsrecht) verfügt, soll keine SGB IILeistungen erhalten können. Das ist nicht neu. Dass EU-AusländerInnen, die über kein Freizügigkeitsrecht verfügen, weil sie nicht einmal Arbeit suchen, „erst recht“ vom SGB II ausgeschlossen sind, hat das BSG schon am 3.12.2015 entschieden (B 4 AS 59/13 R). www.sozialrecht-justament.de 7 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 Neu ist allerdings, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 nicht als leistungsbegründendes Freizügigkeitsrecht angesehen wird. Die Verordnung gilt unmittelbar. Der entsprechende Artikel lautet: Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügen“ (Melchior Wathelet in seinen Schlussanträgen zur Rechtsache Alimanovic C‑67/14) Im Referentenentwurf heißt es wörtlich: Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlingsund Berufsausbildung teilnehmen. „Die Regelung folgt der europäischen Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG, wonach nicht erwerbstätige Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen von Leistungen ausgeschlossen werden dürfen. Diese Regelungen der Freizügigkeitsrichtlinie liefen ins Leere, wenn sie nicht mehr erwerbstätige Unionsbürger nicht mehr erfassten, sobald diese schulpflichtige Kinder haben“(Referentenentwurf Seite 8). Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen. Dieser Auslegung kann, wie ich versuche dazulegen, nicht gefolgt werden, wenn die Freizügigkeitsrichtlinie etwas genauer betrachtet wird. Aus diesem Artikel folgt ein Aufenthaltsrecht für Kinder von ehemaligen ArbeitnehmerInnen und deren Sorgeberechtigten. Dieses Aufenthaltsrecht soll aber zukünftig nicht ausreichen, um einen SGB II-Anspruch auszulösen. Der Referentenentwurf begründet die europarechtliche Möglichkeit des neuen Ausschlussgrunds mit dem Artikel 24 Absatz 2 der Freizügigkeitsrichtlinie. In diesem Artikel wird die Möglichkeit geschaffen, Sozialhilfe nur an ArbeitnehmerInnen und deren Familienangehörigen zu gewähren. Diese Möglichkeit würde unterminiert werden, wenn ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht schulpflichtiger Kinder zu einem Leistungsanspruch führen würde, argumentiert die Bundesregierung. Der Generalanwalt Melchior Wathelet hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Alimanovic allerdings ausdrücklich auf dieses eigenständige Aufenthaltsrecht hingewiesen. Dieses Freizügigkeitsrecht wird durch den Bezug von Sozialleistungen nicht gefährdet. Das Recht gilt für schulpflichtige Kinder und Kinder in Ausbildung „ohne dass dieses Recht davon abhängig ist, dass sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden [email protected] Europarechtliche Zweifel am Referentenentwurf Ob die geplante Neuregelung mit Europarecht vereinbar ist, kann durchaus bezweifelt werden. Bei der Interpretation der Artikel einer EU-Richtlinie kommt den Erwägungsgründen des Europäischen Parlaments und des Rats der Europäischen Union hohe Bedeutung zu. Die entsprechenden Erwägungsgründe in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG lauten: 10. Erwägungsgrund Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen. Eine solche Bedingung beinhaltet Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011. Die europarechtliche Regulierung des Sozialhilfebezugs erfolgt konsequent über das Aufenthaltsrecht. Das Aufenthaltsrecht wird beschnitten, um einen möglichen unangemes- www.sozialrecht-justament.de 8 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 senen Sozialhilfebezug zu regulieren. Allerdings gibt es eine Ausnahme. Hier wird geregelt, wann es ein Aufenthaltsrecht ohne Sozialhilfeleistungsanspruch geben kann: 21. Erwägungsgrund Allerdings sollte es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben, zu bestimmen, ob er anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, die diesen Status beibehalten, und ihren Familienangehörigen Sozialhilfe während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder im Falle von Arbeitssuchenden für einen längeren Zeitraum gewährt oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Unterhaltsbeihilfen für die Zwecke des Studiums, einschließlich einer Berufsausbildung, gewährt. Nur im Fall von Arbeitsuchenden wird die Möglichkeit der Einschränkung des Sozialhilfebezugs trotz vorhandenem Freizügigkeitsrecht über die drei Monate hinaus eröffnet. Nur bei der Rückausnahme vom Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten ist der Arbeitnehmerstatus von besonderer Bedeutung. Der Sozialhilfeleistungsausschluss von SchülerInnen beschneidet das bestehende Aufenthaltsrecht nach der Verordnung 492/2011. Eine solche Beschneidung ist – nach dem Erwägungsgrund - nur bei allein Arbeitssuchenden europarechtlich möglich. Nur sie werden genannt. Zum Anspruch nach fünfjährigen Aufenthalt Nach fünfjährigem Aufenthalt erhielten EUBürgerInnen nach dem bis zum 6.12.2014 geltenden Freizügigkeitsgesetz/EU das Daueraufenthaltsrecht. Damit war auch der inländergleiche Sozialhilfeleistungsanspruch verbunden. Nach der Neufassung des Freizügigkeitsgesetz/EU und den neugefassten Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum FreizügG/EU muss der Aufenthalt durchgehend rechtmäßig sein. Das Jobcenter müsste im Zweifelsfall die Ausländerbehörde in einem Auskunftsbegehren anfragen, ob der Aufent- [email protected] halt immer rechtmäßig gewesen ist. De facto kehrt das Sozialrecht damit wieder zum Freizügigkeitsgesetz/EU alter Fassung zurück. Die Schlagzeile „EU-Bürger sollen erst nach 5 Jahren Hartz IV bekommen“ suggeriert eine Änderung, die es gar nicht gibt. Änderungen im SGB XII: Überbrückungshilfe und einmalige Hilfe nur zur Heimreise Um die Änderungen des SGB XII zu verstehen, ist es sinnvoll nochmals die Argumentationsschritte des Bundessozialgerichts nachzugehen. Das ist zwar etwas langwierig, aber nur so werden die Zielrichtung und die rechtlichen Schwachstellen (von den politischen soll hier abgesehen werden) der geplanten Änderungen deutlich. Die Argumentation des Bundessozialgerichts zum Sozialhilfeanspruch in Einzelschritten: 1. Arbeitssuchende neu zugewanderte EUBürgerInnen erhalten keine SGB IILeistungen, da der Ausschluss europarechtlich nicht zu beanstanden ist. Hier muss das BSG der verbindlichen Entscheidung des EuGH folgen. 2. Arbeitsuchende neu zugewanderte EUBürgerInnen können aber – trotz vorhandener Erwerbsfähigkeit – SGB XIILeistungen erhalten. In § 21 Abs. 1 S. 1 SGB XII heißt es, aber: „Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“. Vollkommen überraschend entwickelt das BSG die Rechtsmeinung, dass der SGB XIIAusschluss nicht für erwerbsfähige Personen gelte, die aus dem SGB II ausgeschlossen sind. Diese seien dem Grunde nach gerade nicht SGB II-leistungsberechtigt. 3. Auf SGB XII-Leistungen besteht kein Rechtsanspruch. Der Rechtsanspruch ist www.sozialrecht-justament.de 9 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 aufgrund von § 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen: „Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.“ 4. Leistungen können aber im Rahmen des Ermessens nach § 23 Abs.1 S.3 SGB XII erbracht werden: „Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist.“ Somit scheint ein SGB XII-Anspruch nur auf wenige Ausnahmefälle begrenzt zu sein. Dies war schon bisher Meinung vieler Sozialgerichte. Allerdings stand im Fokus, dass die Sozialhilfe nur zur Überbrückung der Zeit bis zur Ausreise bzw. Ausweisung das Lebessnotwendige sichern sollte. 5. Und hier folgt die 2. Überraschung des BSG: Bei verfestigtem Aufenthalt ist das Ermessen auf Null reduziert. Sozialhilfe muss in gesetzlicher Höhe erbracht werden. In der Regel gilt der Aufenthalt laut BSG nach 6 Monaten als verfestigt. 6. Bei nicht verfestigtem Aufenthalt ist Sozialhilfe als Ermessensleistung je nach den Umständen des Einzelfalls zu gewähren, wenn ansonsten das Existenzminimum nicht gesichert ist. Die Reaktion des BMAS auf die Argumentation des Bundessozialgerichts: Änderungen im SGB XII Im Referentenentwurf wird nicht der § 21 SGB XII geändert, auch nicht klarstellend. Das erstaunt zunächst. Die von vielen Sozialgerichten bestrittene Möglichkeit, dass vom SGB II ausgeschlossene AusländerInnen trotz Erwerbsfähigkeit in den Rechtskreis des SGB XII wechseln können, wird offensichtlich von der Bundesregierung geteilt. Daher konzentrieren sich die geplanten Änderungen auf § 23 SGB XII. In diesem Paragrafen werden die Leistungsansprüche von AusländerInnen geregelt. [email protected] Aber auch § 23 Abs. 1 Satz 3, der Sozialleistungen im Rahmen des Ermessens ermöglicht, soll nicht geändert werden. Allerdings wird § 23 Abs. 3 neu gefasst und ein Abs. 3a angefügt. § 23 Abs. 3 Absatz soll nun folgendermaßen lauten: „(3) Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Absatz 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn 1. sie weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. ihnen kein Aufenthaltsrecht zusteht oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, 3. sie ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Nummer 2 aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 ableiten oder 4. sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen. Satz 1 Nummer 1 und 3 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden einmalig innerhalb von zwei Jahren bis zur Ausreise, längstens für einen Zeitraum von vier Wochen, nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Hierüber und über die Möglichkeit der Leistungen nach Absatz 3a sind die Leistungsberechtigten zu unterrichten. Die Überbrückungsleistungen nach Satz 3 umfassen www.sozialrecht-justament.de SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 1. Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, 2. Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Absatz 4 und § 30 Absatz 7, 3. die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und 4. Leistungen nach § 50 Nummer 1 bis 3. Soweit im Einzelfall besondere Umstände dies erfordern, werden den Leistungsberechtigten andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind im Einzelfall Leistungen über einen Zeitraum von vier Wochen hinaus zu erbringen, soweit dies aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt ist. Abweichend von Satz 1 Nummer 2 und 3 erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach Absatz 1 Satz 1 und 2, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten. Die Frist nach Satz 6 beginnt mit der wirksamen Anmeldung beim zuständigen Einwohnermeldeamt.“ Einordnung der geplanten Änderungen im § 23 Abs. 3 SGB XII Die Ausschlussgründe im SGB XII sollen analog zu den geplanten Änderungen im SGB II erweitert werden. Damit wird aber nicht das vom Bundessozialgericht aufgeworfene grundrechtliche Problem des unverfügbaren Rechts auf die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens durch den deutschen Staat gelöst. EU-BürgerInnen, die sich in Deutschland aufhalten, genießen die Schutzrechte des Grundgesetzes solange sie sich hier aufhalten. Der Referentenentwurf sieht nun spezielle Leistungen für ausgeschlossene EU- [email protected] 10 BürgerInnen vor. Es soll Überbrückungsleistungen in Höhe eines unabweisbaren Bedarfs für einen Monat geben. Betroffene sollen darüber unterrichtet werden. In nicht näher bezeichneten Einzelfällen können die Leistungen auch länger als vier Wochen gewährt werden oder über das Minimum erweitert werden. Welche Umstände einen solchen Einzelfall schaffen, bleibt unklar. Unschwer ist zu erkennen, dass das BMAS versucht, hiermit verfassungsrechtliche Bedenken zu begegnen. Ein Versuch, der kaum gelingen dürfte, wie ich weiter unten zeigen werde. Die Regelung, dass es solche Überbrückungsleistungen nur einmal innerhalb von zwei Jahren geben soll, zeigt das schon fast plumpe Bemühen ausländerrechtliches Wunschdenken sozialrechtlich durchzusetzen. Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, wie engstirnig hier gedacht wird: Angenommen ein neuzugewanderter EU-Bürger verliert innerhalb eines Jahres seine Arbeit und die Arbeitsagentur stellt fest, dass der EU-Bürger die Gründe für seine Arbeitslosigkeit zu vertreten habe. Nun nimmt er die Überbrückungshilfe für einen Monat in Anspruch, reist aber nicht aus (was er ja ausländerrechtlich auch nicht tun muss), sondern beginnt anschließend wieder mit einer Arbeit. Beim nächsten Verlust des Arbeitnehmerstatus innerhalb kurzer Zeit will der Betroffene vielleicht ausreisen. Jetzt gibt es dann aber kein Überbrückungsdarlehen. Im Gesetzentwurf bleibt vieles unklar: Wie soll denn überhaupt die rechtliche Verbindung zwischen der Rückreise und der Sozialleistung bis zur Rückreise stattfinden? Der Sozialleistungsanspruch kann kaum von einem wirksamen Verzicht auf die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts abhängig gemacht werden. Rückreisekosten im SGB XII: der geplante § 23 Abs. 3a SGB XII Schon bisher konnte der Sozialhilfeträger Leistungen für die Rückreise gewähren. Diese werden aber nun in einem eigenen Absatz präzise gefasst und mit einer etwas merkwürdig anmutenden Einschränkung versehen: „(3a) Neben den Überbrückungsleistungen nach Absatz 3 werden auf Antrag auch die angemessenen Kosten der Rückreise übernommen. Satz 1 gilt entsprechend, soweit www.sozialrecht-justament.de SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 die Personen allein durch die angemessenen Kosten der Rückreise die in Absatz 3 Satz 4 Nummer 1 und 2 genannten Bedarfe nicht aus eigenen Mitteln oder mit Hilfe Dritter decken können. Die Leistung ist als Darlehen zu erbringen.“ Die Leistungen zur Rückreise werden als Darlehen erbracht. Offenbar sollen Betroffene dadurch abgeschreckt werden, wieder einzureisen. Vielleicht wird auch der Missbrauch unterstellt, jemand könnte sich über die neu gesetzliche Regelung immer die Heimfahrt finanzieren lassen. Bedeutung der geplanten Änderungen für Angehörige der EFA-Staaten Die geplanten Neuregelungen betreffen (noch) nicht die Angehörigen der Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens. Prinzipiell scheint die Bundesregierung der Rechtsauffassung beizupflichten, dass vom SGB II ausgeschlossene Arbeitsuchende Leistungen des SGB XII erhalten können. Bezüglich des Sozialhilfeanspruchs sind die BürgerInnen der EFA-Staaten mit InländerInnen gleichgestellt. Der Anspruch der Gleichstellung liegt allerdings nur vor, wenn der Aufenthalt rechtmäßig ist. Rechtlich strittig ist, ob die Rechtmäßigkeit nur dann vorliegt, wenn ein tatsächliches Aufenthaltsrecht vorliegt oder ob es ausreicht, dass dieses Recht noch nicht durch Verwaltungsakt entzogen worden ist. Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil vom 19.10.2010 (B 14 AS 23/10 R) für Leistungsansprüche aufgrund des Europäischen Fürsorgeabkommens festgestellt: 1. Voraussetzung ist lediglich, dass sie sich erlaubt in Deutschland aufhalten 2. Erlaubt halten sich EU-BürgerInnen auf, solange ihnen das Freizügigkeitsrecht nicht per Verwaltungsakt entzogen worden ist 3. Der gängigen Rechtsauffassung, dass das EFA in Fällen nicht anzuwenden sei, in denen AusländerInnen nach Deutschland ziehen, um Sozialhilfe zu erhalten, folgt zumindest das Bundessozialgericht nicht. [email protected] 11 Gerade bezüglich der Ablehnung eines Anspruchs mit dem Argument, jemand sei eingereist, um Sozialhilfe zu erhalten, argumentiert das BSG im Falle der Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens: Es überzeugt nicht, eine - etwa § 23 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB XII vergleichbare - Regelung in das SGB II "hineinzulesen", wobei eine auf diese Weise vorgenommene Geltungserweiterung (Analogie) insbesondere auch vor dem Hintergrund des § 31 SGB I bedenklich erscheint. Im Übrigen dürfte die praktische Bedeutung eines solchen Anspruchsverlustes gering sein, weil das BVerwG jedenfalls im Rahmen der Vorgängernorm (§ 120 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 BSHG in der Fassung vom 24.5.1983, BGBl I 613) einen finalen Zusammenhang im Sinne einer "prägenden Bedeutung" zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe(BVerwG Urteil vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - FEVS 43, 113 ff) verlangt hat. Schließlich hat auch die zu Art 1 EFA teilweise vertretene Ansicht, einen Aufenthalt zeitlich vor dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu fordern (siehe oben), in dem Abkommen selbst keinen Ausdruck gefunden. Denn Art 1 EFA stellt allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ab, nicht aber auf eine bestimmte zeitliche Abfolge. Ob die Bundesregierung die Privilegierung der Angehörigen der EFA-Staaten in Kauf nimmt oder versucht, aus dem ganzen Abkommen auszusteigen, ist eine offene Frage. Grundrechtlich und europarechtlich höchst fragwürdig – politisch fatal Ich folge der Meinung des BSG, dass das grundrechtlich garantierte Existenzminimum immer für alle Menschen, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes befinden, sichergestellt werden muss. Dagegen verstößt der Referentenentwurf. Ausweisungen und Abschiebungen sind grundrechtlich dagegen vertretbar, wenn keine grundrechtlichen Gründe (Gefahr für Leib und Leben) dagegen sprechen. Das ist die einzige grundrechtliche Relativierung, die der Faktizität des Nationalstaats geschuldet ist. www.sozialrecht-justament.de 12 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 Im Klartext: Das Grundgesetz verbietet es nicht, Menschen abzuschieben, wenn diesen nach der Abschiebung nicht mehr das in Deutschland geltende soziokulturelle Existenzminimum zur Verfügung steht, solange keine Gefahr für „Leib und Leben“ besteht. Aber: Solange die Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes leben, gilt dieses für sie. Hierin mag man zu Recht einen Wertungswiderspruch sehen, der sich aber nicht auflösen lässt. Aufgrund des weitgehenden Freizügigkeitsrechts versucht nun das Bundesministerium für Arbeit, die Ausweisung sozialrechtlich zu betreiben. Dabei ist die Bundesregierung schon einmal auf den Kopf gefallen, als es um die zu niedrigen Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes ging. „Prof. Dr. Kirchhoff, an den Prozessvertreter der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung vom 18.7.2012: »Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die schon, kann es doch wohl nicht sein«.“ (Zitat aus der Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins zum aktuellen Referentenentwurf). Spätestens, wenn Betroffene trotz staatlicher Drohgebärden nicht ausreisen, tritt der besondere Umstand ein, dass sie weiterhin Leistungen benötigen, solange sie keine Arbeit finden. Auch weitere Leistungen sind dann möglich. So gesehen wäre eine grundrechtskonforme Auslegung wieder möglich, der dann wieder andere Gerichte widersprechen. Bernd Eckhardt, Mai 2016 Fortbildungsskript zum Runterladen Zum aktuellen Rechtsstand (vor den geplanten Änderungen) verweise ich auf meine Fortbildung Recht prekär. Die Fortbildung behandelt auch das Freizügigkeitsgesetz/EU und bleibt daher in weiten Teilen auch nach dem Inkraftreten der Gesetzesänderungen aktuell. Klicken Sie auf den Link zum Herunterladen. Europarechtlich ist die Ausschlussmöglichkeit von Sozialhilfe auf die ersten drei Monate und der ggf. längeren Zeit der Arbeitssuche beschränkt. Auch wenn überhaupt kein Aufenthaltszweck vorliegt, ist der Ausschluss möglich. Unklar ist, wie der Fall zu beurteilen ist, wenn ein Aufenthaltsrecht tatsächlich besteht, das nicht von der Deckung des Lebensunterhalts abhängig ist. Politisch ist das Bei-Seite-Wischen grundrechtlicher Einwände, die sich auf Art. 1 des Grundgesetzes beziehen, fatal. Es zeigt unmissverständlich, was manchen PolitikerInnen die Grundrechte Wert sind. … oder haben die ReferentInnen der Ministerin ein Ei gelegt Im Entwurf heißt es: „Soweit im Einzelfall besondere Umstände dies erfordern, werden den Leistungsberechtigten andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind im Einzelfall Leistungen über einen Zeitraum von vier Wochen hinaus zu erbringen, soweit dies aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt ist.“ [email protected] http://sozialrechtjustament.de/data/documents/RECHTprekaer.pdf www.sozialrecht-justament.de 13 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 Sozialleistungsansprüche von EU-BürgerInnen häufiges Thema im SOZIALRECHT JUSTAMENT Nach wie vor sind viele Ausführungen z.B. zum gewöhnlichen Aufenthalt oder der sicherheitsrechtlichen Pflicht zur Unterbringung unfreiwillig obdachloser EU-BürgerInnen gültig. Die Hefte zum Runterladen finden Sie auf www.sozialrecht-justament.de. Sie können aber auch auf die Links unterhalb der Hefte klicken. http://sozialrecht-justament.de/data/documents/2-2013Sozialrechtjustament-2-2013.pdf http://sozialrecht-justament.de/data/documents/4-2013-Sozialrecht- [email protected] http://sozialrecht-justament.de/data/documents/3-2013Sozialrecht-justament-3-2013.pdf http://sozialrecht-justament.de/data/documents/3-14- www.sozialrecht-justament.de 14 SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 justament-4-2013.pdf Sozialrecht-justament-3-2014.pdf http://sozialrecht-justament.de/data/documents/4-14-Sozialrechtjustament-4-2014.pdf http://sozialrechtjustament.de/data/documents/Sozialrecht-justament-12015.pdf http://sozialrecht-justament.de/data/documents/Sozialrecht-justament5-2015.pdf http://sozialrecht-justament.de/data/documents/715_Sozialrecht-justament-7-2015_1.pd f [email protected] www.sozialrecht-justament.de SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016 15 http://sozialrecht-justament.de/data/documents/Sozialrecht-justament2-2016.pdf [email protected] www.sozialrecht-justament.de
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