Sozialrecht justament 3-2016

SOZIALRECHT JUSTAMENT
kompakt und aktuell – Rechtswissen für die existenzsichernde Sozialberatung Jg.4 / Nr.18
Mai 2016
Die geplante »kalte Ausweisung«
armer EU-BürgerInnen
Zum Referentenentwurf der Bundesregierung vom 28.4.2016: „Gesetz zur Regelung von
Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch“
Ausführliche Darstellung und rechtliche Kritik des Regierungsentwurfs ................ ab Seite 8
Die Problematik des Sozialleistungsausschlusses von EU-BürgerInnen – Thema vieler
Ausgaben von SOZIALRECHT JUSTAMENT ein Rückblick mit der Möglichkeit des
Runterladens ..........................................................................................................ab Seite 13
Meine Seminarunterlagen (gehaltener Seminare) der Jahre 2015/2016 finden Sie im
Internet (bitte jeweiligen Rechtsstand beachten)
http://www.sozialrecht-justament.de/neu-seminarunterlagen/
Aktuell
Zweitägiges SGB II Praxisseminar– das ABC des SGB II
A
B
C
vom ntrag … zum escheid … zur ausa (den rechtlichen Hintergründen des Ganzen)
am Di. + Mi., 26. und 27. Juli 2016 in Nürnberg
am Mo. + Di., 14. und 15. November in München
(Die Änderungen durch das „Rechtsvereinfachungsgesetz“ werden schon berücksichtigt)
Anfragen unter [email protected]
Siehe Seite 7
© Bernd Eckhardt (Text und Grafik; V.i.S.d.P.) – © Martina Beckhäuser (Farbe) www.sozialrecht-justament.de
Kontakt: [email protected]
SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
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Liebe Leserin, lieber Leser,
der SGB II - Ausschluss von EU-BürgerInnen, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten,
ist immer wieder Themenschwerpunkt des SOZIALRECHT JUSTAMENT gewesen (siehe ab Seite 14).
Die letzte Ausgabe setzte sich mit der vollkommen zerstrittenen Sozialgerichtsbarkeit auseinander.
Viele Sozialgerichte folgen im einstweiligen Rechtschutz nicht dem Bundessozialgericht und lehnen
Leistungen vollständig ab. Immerhin liegt nun auch eine Entscheidung in Bayern vor (Bayerisches
Landessozialgericht L 16 AS 221/16 B ER vom 25.04.2016). Der 16. Senat des LSG Bayern folgt zumindest im einstweiligen Rechtsschutz dem Bundessozialgericht in allen Punkten. Die Begründung ist
rechtssystematischer Natur: Aufgrund der höchstrichterlichen Entscheidung besteht die objektiv
begründete wahrscheinliche Aussicht, dass dem rechtlichen Begehren der Klagenden im Hauptsachverfahren letztinstanzlich Recht gegeben wird. Dieses wahrscheinliche Gewinnen der Klagenden erlaubt keine abweichende Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz:
Aufgabe des einstweiligen Rechtschutzes ist nicht die abschließende Auseinandersetzung mit
schwierigen und strittigen Rechtsfragen, sondern die vorläufige Regelung eines streitigen
Sachverhalts (hier im Sinne der Behebung einer gegenwärtigen Notlage) unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens. Vor allem dann,
wenn - wie vorliegend - bereits eine obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt, kann diese bei
der Frage, ob im einstweiligen Rechtsschutz ein Anordnungsanspruch anzunehmen ist, nicht
unberücksichtigt bleiben. Es kommt insoweit nicht darauf an, ob das für den Eilrechtsschutz
zuständige Gericht diese Auffassung teilt. Insoweit verkennt auch das LSG Rheinland-Pfalz
(Beschluss vom 11.02.2016, a.a.O.) die Bedeutung des einstweiligen Rechtschutzverfahrens.
(Bayerisches Landessozialgericht L 16 AS 221/16 B ER vom 25.04.2016)
Mittlerweile hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
weiterhin einen vollständigen Leistungsausschluss ermöglichen soll. Auf die grundrechtliche Argumentation des Bundessozialgerichts wird in der Begründung der geplanten Änderungen nicht eingegangen.
Die vorliegende achtzehnte Ausgabe des SOZIALRECHT JUSTAMENTs beschäftigt sich mit dem Referentenentwurf „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“.
Impressum:
v.i.S.d.P.: Bernd Eckhardt
Ludwig Feuerbach-Straße 75
90489 Nürnberg
[email protected]
[email protected]
www.sozialrecht-justament.de
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
Einführungsworkshop
Systemische Therapie mit der
„Inneren Familie“ - IFS
am 15. + 16. Oktober 2016
Nürnberg
in den Praxisräumen
Ludwig-Feuerbach-Str. 69
90489 Nürnberg
Ein Einführungsworkshop für Sozialpädagogen, BeraterInnen, TherapeutInnen
und Interessierte, die das IFS-Modell (Internal Family System) nach Prof. Dr.
Richard C. Schwartz kennenlernen möchten.
Das Thema „Innere (Persönlichkeits-) Teile“ ist seit langem Bestandteil
von Beratung und Therapie. Die Wirksamkeit des systemischen Arbeitens mit den inneren Anteilen ist für systemisch arbeitenden BeraterInnen und TherapeutInnen immer wieder faszinierend.
Richard C. Schwartz hat mit der „Systemischen Therapie mit der inneren Familie (IFS)“ eine besondere Methode entwickelt, indem er die
systemische Sichtweise auf die Innenwelt übertrug und die Multiplizität unserer inneren Anteile als etwas Naturgegebenes respektierte,
statt sie als Störung zu sehen. Die Ausdehnung des systemischen Denkens und der Techniken aus der Familientherapie auf die intrapsychische Welt führte zu großen Fortschritten in der Behandlung von
Einzelpersonen, Familien und Gruppen.
Martina Beckhäuser
Die IFS-Methode ist geprägt von einem hohen Maß an Achtsamkeit.
Dipl.-Sozialpädagogin (FH)
Systemische FamilientheraDie präzise und wertschätzende Vorgehensweise ist ebenso struktupeutin (DGSF), IFS-Therapeutin
riert wie flexibel und geht voller Respekt für das Tempo und die Res(CSL), Ausbildung in Systemisourcen der KlientInnen vor. Die Arbeit mit IFS bringt auch für erfahrescher Supervision, Coaching,
ne TherapeutInnen ganz neue Aspekte.
Kommunikationstrainerin
Die IFS-Methode kann eine tiefe, nachhaltige Heilung bewirken. Sie
findet Anwendung bei Beziehungsstörungen und ist auch für die meisten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen und Traumafolgestörungen gut geeignet. Menschen aller Altersstufen
und aller Schichten finden leicht Zugang zu diesem einfachen, schlüssigen Modell. Mehr zu IFS unter
http://www.ifs-europe.net/ Die Seminarausschreibung finden Sie auf:
http://www.sozialpaedagogische-beratung.de/workshop%20ifs%2010-2016.pdf
Kontakt: [email protected]
[email protected]
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
SGB II
Praxisseminar– das ABC des SGB II
vom
Antrag…zum Bescheid…zur Causa
(den rechtlichen Hintergründen des Ganzen)
Di. + Mi., 26./27. Juli 2016, von 9.00 – 16.00 Uhr
Neu: Seminarraum „Ludwig-Feuerbach“, Ludwig-Feuerbach-Straße 69
90489 Nürnberg
Ausschreibung siehe: http://sozialrecht-justament.de/data/documents/AusschreibungPraxisseminar-26.-und-27.-Juli-2016-Nuernberg.pdf
Geplant in München und Frankfurt.
Anfragen bitte unter: [email protected]
SGB II-Praxisseminar – vom Antrag zum Bescheid
Das neukonzipierte SGB II-Praxisseminar vermittelt
in zwei Tagen wichtiges Beratungswissen für die
tägliche Sozialberatung. Die Fortbildung ist gerade
auch für BeraterInnen geeignet, die immer wieder
am Rand mit dem SGB II zu tun haben oder die
einen Einstieg suchen. Für die Sozialpädagogische
Familienhilfe, dem Allgemeinen Sozialdienst, aber
auch für viele Beratungsstellen, deren Fokus
schwerpunktmäßig auf eine andere Problematik
liegt, empfehle ich diese Fortbildung. Aber auch
langjährigen SozialberaterInnen bietet das Seminar
eine nützliche Auffrischung und manche neue
Erkenntnis, wie ich selbst beim Erarbeiten der
Fortbildung festgestellt habe.
Bottom-up – Top-down
Die Erschließung des SGB II kann unterschiedlich
erfolgen: historisch, systematisch, thematisch.
Meistens wird das SGB II dann „von oben“
erschlossen.
Mein Praxisseminar vereint die verschiedenen
Ansätze, legt aber besonderen Wert auf den Zugang „von unten“ – Bottom-up. Am Anfang steht
der Antrag. Daher werden wir im Seminar auch
Anträge mit Anlagen ganz praktisch ausfüllen.
[email protected]
Hierbei werden die Teilnehmenden von der virtuellen Familie K. begleitet, die dankbarerweise alle
ihre Sozialdaten offenlegt.
Warum muss was angegeben werden? Wie sind
die verschiedenen Fragen zu beantworten? Was ist
unklar?
Die Rechtsgründe (lat. Causa = Rechtsgrund), die
hinter der Beantwortung der Fragen stehen, werden ausführlich dargestellt.
Neben dem Antrag werfen wir einen Blick auf den
Bewilligungsbescheid. Wie wird aus dem Antrag
ein Bescheid? Welche Berechnungen werden
durchgeführt? Wie ist der Berechnungsbogen zu
verstehen? Was steht im Bescheid? Was steht im
„Kleingedruckten“?
Von Pflichten und Rechten
Ein weiterer wichtiger SGB II-Aspekt des Praxisseminars besteht in einer kurzen Darstellung der
Pflichten und Rechte Leistungsberechtigter. Nicht
nur MigrantInnen begehen oft unwissentlich
Pflichtverletzungen und setzen sich dann unnötigen Sanktionen oder Bußgeldverfahren aus. Andererseits wird vom Jobcenter oft großzügig über
rechtsstaatliches Verfahrensrecht hinweggegangen
und Rechte werden systematisch missachtet.
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
Die »kalte Ausweisung« armer EU-BürgerInnen – der Plan
Nahles soll Gesetz werden
Zum Referentenentwurf der Bundesregierung vom 28.4.2016: „Gesetz zur Regelung von
Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“
Ob Zufall oder nicht, immer, wenn es um die
Beschneidung sozialer Rechte geht, schreitet
die SPD voran. Aus nicht weniger als verfassungsrechtlichen Gründen hat das Bundessozialgericht den totalen Sozialleistungsausschluss von EU-BürgerInnen in aufsehenerregenden Entscheidungen am 3.12.2015 verneint1. Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts sind in der Sozialgerichtsbarkeit äußerst umstritten2.
Letztendlich geht es um die Frage, ob das
grundrechtlich verbriefte Existenzminimum
auch dadurch sichergestellt ist, dass EUBürgerInnen auf die Rückreise und Leistungen ihres Heimatlandes verwiesen werden.
Die für das SGB II zuständigen Senate des
Bundessozialgerichts haben diese Rechtsauffassung verneint. Der Bundessozialrichter
Pablo Coseriu (1. Senat, Krankenversicherung)
hält sie zum Beispiel für „absurd“ und mit dem
Grundgesetz nicht vereinbar. Im nun vorliegenden Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird aber
genau diese Auffassung vertreten.3 Eine nähe1
vgl. SOZIALRECHT JUSTAMENT Nr. 15, Dezember 2015,
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/715_Sozialrecht-justament-7-2015_1.pdf).
2
vgl. SOZIALRECHT JUSTAMENT Nr. 17, März 2016,
http://sozialrechtjustament.de/data/documents/Sozialrecht-justament2-2016.pdf
3
Es kann nicht sein, dass jemand innerhalb der EU nur
umziehen muss, um volle Sozialleistungen eines
anderen Landes zu erwerben – obwohl es ein
leistungsfähiges Sozialsystem auch in seinem
Herkunftsland gibt“, Nahles
(http://www.welt.de/politik/deutschland/article15221
9655/Sozialhilfe-fuer-Auslaender-mit-Hochdruckbeschraenken.html). Tatsächlich verwendet Nahles die
Rhetorik der AFD: Die verfassungsrechtliche
[email protected]
re Begründung findet sich hierfür im Referentenentwurf nicht.
In Folgendem werde ich die geplanten gesetzlichen Änderungen vorstellen und diese im
Kontext der bisherigen Rechtspositionen
rechtlich einordnen. Anschließend gehe ich
auf die grundrechtlichen Fragestellungen ein
und den möglichen europarechtlichen Einwänden gegen den Referentenentwurf. Die
Auswirkungen für Angehörige der Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens werden am Schluss behandelt.
Was schon jetzt feststeht: Die Bundesregierung scheut konsequent den Weg, EUBürgerInnen ohne bestehendem Aufenthaltsrecht auszuweisen und notfalls abzuschieben.
Sie setzt auf die „kalte Ausweisung“, notfalls
mittels Aushungerns.
Argumentation des Bundessozialgerichts wird mit dem
populistischen Pseudoargument „es kann nicht sein“
weggewischt. Was „volle Sozialleistungen“ sind, bleibt
offen. Welche und in welcher Höhe? Tatsächlich geht
es hier um das Existenzminimum. Das „nur umziehen“
verschweigt, dass das Bundessozialgericht erst bei
einem verfestigten Aufenthalt einen Quasianspruch
auf Sozialhilfe in gesetzlicher Höhe zugesprochen hat.
Da Nahles das Wort „nur“ (hinreichende Bedingung)
anführt, ist das einfach gelogen. Weiterhin wird so
getan,
als
könnten
EU-Bürgerinnen
ohne
Freizügigkeitsrecht unbegrenzt in Deutschland leben.
Typisch bei einer solchen Argumentation ist, dass
Widersprüche
überhaupt
nicht
stören.
Ein
„leistungsfähiges Sozialsystem“ im Herkunftsland
müsste ja wohl auch das soziokulturelle
Existenzminimum sichern. Im Subtext erscheint das
Motiv der Zuwanderer: Sie wollen unsere
Sozialleistungen, obwohl sie die eigenen in Anspruch
nehmen könnten, da kann ja nur ein böser Wille
dahinter sein. Leider spricht alles dafür, dass die
Bundesministerin tatsächlich so denkt. Das Zitat
spiegelt genau das Niveau von Frau Nahles wieder.
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
Der Entwurf des BMAS sieht Änderungen im
SGB II und im SGB XII vor. Zuerst gehe ich auf
die Änderungen im SGB II ein, dann auf die
Änderungen im SGB XII
Erweiterung der Ausschlussgründe
von AusländerInnen im SGB II
Im SGB II wird der Ausschluss von Ausländerinnen und Ausländern erweitert. Schon bisher galt der Leistungsausschluss für die ersten
drei Monate des Aufenthalts und für AusländerInnen, die sich allein zur Arbeitsuche in
Deutschland aufhalten. Der dreimonatige Ausschluss bleibt erhalten. § 7 Absatz 1 Satz 2
definiert nun exakt den Personenkreis, der
vom Leistungsanspruch ausgenommen wird.
Demnach sind nicht nur AusländerInnen, die
sich allein mit dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, von SGB
II Leistungen ausgeschlossen:
„Ausgenommen sind
1. Ausländerinnen und Ausländer, die
weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund
des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU
freizügigkeitsberechtigt
sind, und ihre Familienangehörigen für
die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. Ausländerinnen
und
Ausländer,
a) denen kein Aufenthaltsrecht zusteht oder
b) deren Aufenthaltsrecht sich allein
aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt
oder
c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder
neben einem Aufenthaltsrecht nach
Buchstabe b) aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 ableiten, und ihre Familienangehörigen,
3. Leistungsberechtigte nach § 1 des
Asylbewerberleistungsgesetzes.“
Gleichzeitig sieht der Referentenentwurf einen neuen Leistungsanspruch vor, wenn sich
der Aufenthalt verfestigt hat. Das Bundessozialgericht hat in seinen Entscheidungen, die
[email protected]
durch das neue Gesetz korrigiert werden sollen, einen länger als 6 Monate andauernden
Aufenthalt als verfestigt angesehen. Ein verfestigter Aufenthalt, der einen Anspruch auf
Sozialleistungen auslösen kann, soll nach
dem Willen der Bundesregierung erst nach 5
Jahren Aufenthalt vorliegen. Im Referentenentwurf werden in § 7 Abs. 1 SGB II die neuen
Sätze 4 und 5 eingefügt.
„Abweichend von Satz 2 Nummer 2
erhalten Ausländerinnen und Ausländer
und ihre Familienangehörigen Leistungen
nach diesem Buch, wenn sie seit
mindestens
fünf
Jahren
ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist nach Satz 4
beginnt mit der wirksamen Anmeldung
beim zuständigen Einwohnermeldeamt.“
Die Frist ist mit der 5-Jahresfrist des Freizügigkeitsgesetzes/EU identisch, die erfüllt sein
muss, um ein Daueraufenthaltsrecht zu erlangen. Der Unterschied besteht darin: Im Freizügigkeitsrecht muss der 5-jährige Aufenthalt
rechtmäßig in dem Sinne sein, dass immer ein
tatsächliches Freizügigkeitsrecht vorgelegen
haben muss. Für das SGB II soll nun der gewöhnliche Aufenthalt entscheidend sein. Die
Frist des „gewöhnlichen Aufenthalts“ soll laut
Entwurf mit der wirksamen Meldebestätigung
beginnen. Offensichtlich ist den Verfassern
des Referentenentwurfs aufgegangen, dass
die Überprüfung, ob der Aufenthalt der letzten 5 Jahre im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes jederzeit aufgrund des Vorliegens eines
tatsächlichen Freizügigkeitsrechts rechtmäßig
war, einen immensen bürokratischen Aufwand erfordert.
Kommentar:
Die geplanten Änderungen im § 7 Abs. 1 SGB II
erweitern die Ausschlussgründe.
Wer über kein Aufenthaltsrecht (Freizügigkeitsrecht) verfügt, soll keine SGB IILeistungen erhalten können. Das ist nicht neu.
Dass EU-AusländerInnen, die über kein Freizügigkeitsrecht verfügen, weil sie nicht einmal
Arbeit suchen, „erst recht“ vom SGB II ausgeschlossen sind, hat das BSG schon am
3.12.2015 entschieden (B 4 AS 59/13 R).
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
Neu ist allerdings, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 der Verordnung
(EU) Nummer 492/2011 nicht als leistungsbegründendes Freizügigkeitsrecht angesehen
wird. Die Verordnung gilt unmittelbar. Der
entsprechende Artikel lautet:
Krankenversicherungsschutz in diesem
Staat verfügen“ (Melchior Wathelet in
seinen Schlussanträgen zur Rechtsache
Alimanovic C‑67/14)
Im Referentenentwurf heißt es wörtlich:
Die Kinder eines Staatsangehörigen eines
Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines
anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist
oder beschäftigt gewesen ist, können,
wenn sie im Hoheitsgebiet dieses
Mitgliedstaats wohnen, unter den
gleichen
Bedingungen
wie
die
Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats
am allgemeinen Unterricht sowie an der
Lehrlingsund
Berufsausbildung
teilnehmen.
„Die Regelung folgt der europäischen
Freizügigkeitsrichtlinie
2004/38/EG,
wonach nicht erwerbstätige Unionsbürger
unter bestimmten Voraussetzungen von
Leistungen ausgeschlossen werden dürfen.
Diese
Regelungen
der
Freizügigkeitsrichtlinie liefen ins Leere,
wenn sie nicht mehr erwerbstätige
Unionsbürger nicht mehr erfassten, sobald
diese
schulpflichtige
Kinder
haben“(Referentenentwurf Seite 8).
Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten
Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.
Dieser Auslegung kann, wie ich versuche
dazulegen, nicht gefolgt werden, wenn die
Freizügigkeitsrichtlinie
etwas
genauer
betrachtet wird.
Aus diesem Artikel folgt ein Aufenthaltsrecht
für Kinder von ehemaligen ArbeitnehmerInnen und deren Sorgeberechtigten. Dieses
Aufenthaltsrecht soll aber zukünftig nicht ausreichen, um einen SGB II-Anspruch auszulösen.
Der Referentenentwurf begründet die europarechtliche Möglichkeit des neuen Ausschlussgrunds mit dem Artikel 24 Absatz 2 der Freizügigkeitsrichtlinie. In diesem Artikel wird die
Möglichkeit geschaffen, Sozialhilfe nur an
ArbeitnehmerInnen und deren Familienangehörigen zu gewähren. Diese Möglichkeit würde unterminiert werden, wenn ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht schulpflichtiger Kinder zu
einem Leistungsanspruch führen würde, argumentiert die Bundesregierung. Der Generalanwalt Melchior Wathelet hat in seinen
Schlussanträgen in der Rechtssache Alimanovic allerdings ausdrücklich auf dieses
eigenständige Aufenthaltsrecht hingewiesen.
Dieses Freizügigkeitsrecht wird durch den
Bezug von Sozialleistungen nicht gefährdet.
Das Recht gilt für schulpflichtige Kinder und
Kinder in Ausbildung
„ohne dass dieses Recht davon abhängig
ist, dass sie über ausreichende
Existenzmittel und einen umfassenden
[email protected]
Europarechtliche Zweifel am Referentenentwurf
Ob die geplante Neuregelung mit Europarecht
vereinbar ist, kann durchaus bezweifelt werden. Bei der Interpretation der Artikel einer
EU-Richtlinie kommt den Erwägungsgründen
des Europäischen Parlaments und des Rats der
Europäischen Union hohe Bedeutung zu. Die
entsprechenden Erwägungsgründe in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG lauten:
10. Erwägungsgrund
Allerdings sollten Personen, die ihr
Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres
ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen
des
Aufnahmemitgliedstaats
nicht
unangemessen in Anspruch nehmen.
Daher sollte das Aufenthaltsrecht von
Unionsbürgern
und
ihren
Familienangehörigen für eine Dauer von
über
drei
Monaten
bestimmten
Bedingungen unterliegen.
Eine solche Bedingung beinhaltet Artikel 10
der Verordnung (EU) Nummer 492/2011. Die
europarechtliche Regulierung des Sozialhilfebezugs erfolgt konsequent über das Aufenthaltsrecht. Das Aufenthaltsrecht wird beschnitten, um einen möglichen unangemes-
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
senen Sozialhilfebezug zu regulieren. Allerdings gibt es eine Ausnahme. Hier wird geregelt, wann es ein Aufenthaltsrecht ohne Sozialhilfeleistungsanspruch geben kann:
21. Erwägungsgrund
Allerdings sollte es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben, zu
bestimmen, ob er anderen Personen als
Arbeitnehmern oder Selbstständigen,
Personen, die diesen Status beibehalten,
und ihren Familienangehörigen Sozialhilfe
während der ersten drei Monate des
Aufenthalts
oder
im
Falle
von
Arbeitssuchenden für einen längeren
Zeitraum gewährt oder vor Erwerb des
Rechts
auf
Daueraufenthalt
Unterhaltsbeihilfen für die Zwecke des
Studiums, einschließlich einer Berufsausbildung, gewährt.
Nur im Fall von Arbeitsuchenden wird die
Möglichkeit der Einschränkung des Sozialhilfebezugs trotz vorhandenem Freizügigkeitsrecht über die drei Monate hinaus eröffnet.
Nur bei der Rückausnahme vom Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten ist der
Arbeitnehmerstatus von besonderer Bedeutung.
Der Sozialhilfeleistungsausschluss von SchülerInnen beschneidet das bestehende Aufenthaltsrecht nach der Verordnung 492/2011.
Eine solche Beschneidung ist – nach dem Erwägungsgrund - nur bei allein Arbeitssuchenden europarechtlich möglich. Nur sie
werden genannt.
Zum Anspruch nach fünfjährigen Aufenthalt
Nach fünfjährigem Aufenthalt erhielten EUBürgerInnen nach dem bis zum 6.12.2014
geltenden Freizügigkeitsgesetz/EU das Daueraufenthaltsrecht. Damit war auch der inländergleiche Sozialhilfeleistungsanspruch verbunden. Nach der Neufassung des Freizügigkeitsgesetz/EU und den neugefassten Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum FreizügG/EU muss der Aufenthalt durchgehend
rechtmäßig sein. Das Jobcenter müsste im
Zweifelsfall die Ausländerbehörde in einem
Auskunftsbegehren anfragen, ob der Aufent-
[email protected]
halt immer rechtmäßig gewesen ist. De facto
kehrt das Sozialrecht damit wieder zum Freizügigkeitsgesetz/EU alter Fassung zurück. Die
Schlagzeile „EU-Bürger sollen erst nach 5 Jahren Hartz IV bekommen“ suggeriert eine Änderung, die es gar nicht gibt.
Änderungen im SGB XII: Überbrückungshilfe und einmalige Hilfe nur
zur Heimreise
Um die Änderungen des SGB XII zu verstehen,
ist es sinnvoll nochmals die Argumentationsschritte des Bundessozialgerichts nachzugehen. Das ist zwar etwas langwierig, aber nur
so werden die Zielrichtung und die rechtlichen
Schwachstellen (von den politischen soll hier
abgesehen werden) der geplanten Änderungen deutlich.
Die Argumentation des Bundessozialgerichts zum Sozialhilfeanspruch in Einzelschritten:
1. Arbeitssuchende neu zugewanderte EUBürgerInnen erhalten keine SGB IILeistungen, da der Ausschluss europarechtlich nicht zu beanstanden ist.
Hier muss das BSG der verbindlichen Entscheidung des EuGH folgen.
2. Arbeitsuchende neu zugewanderte EUBürgerInnen können aber – trotz vorhandener Erwerbsfähigkeit – SGB XIILeistungen erhalten.
In § 21 Abs. 1 S. 1 SGB XII heißt es, aber:
„Personen, die nach dem Zweiten Buch als
Erwerbsfähige oder als Angehörige dem
Grunde nach leistungsberechtigt sind, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“.
Vollkommen überraschend entwickelt das
BSG die Rechtsmeinung, dass der SGB XIIAusschluss nicht für erwerbsfähige Personen gelte, die aus dem SGB II ausgeschlossen sind. Diese seien dem Grunde nach
gerade nicht SGB II-leistungsberechtigt.
3. Auf SGB XII-Leistungen besteht kein
Rechtsanspruch. Der Rechtsanspruch ist
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
aufgrund von § 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen:
„Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.“
4. Leistungen können aber im Rahmen des
Ermessens nach § 23 Abs.1 S.3 SGB XII erbracht werden:
„Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet
werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist.“
Somit scheint ein SGB XII-Anspruch nur
auf wenige Ausnahmefälle begrenzt zu
sein. Dies war schon bisher Meinung vieler
Sozialgerichte. Allerdings stand im Fokus,
dass die Sozialhilfe nur zur Überbrückung
der Zeit bis zur Ausreise bzw. Ausweisung
das Lebessnotwendige sichern sollte.
5. Und hier folgt die 2. Überraschung des
BSG:
Bei verfestigtem Aufenthalt ist das Ermessen auf Null reduziert. Sozialhilfe
muss in gesetzlicher Höhe erbracht werden. In der Regel gilt der Aufenthalt laut
BSG nach 6 Monaten als verfestigt.
6. Bei nicht verfestigtem Aufenthalt ist Sozialhilfe als Ermessensleistung je nach den
Umständen des Einzelfalls zu gewähren,
wenn ansonsten das Existenzminimum
nicht gesichert ist.
Die Reaktion des BMAS auf die Argumentation des Bundessozialgerichts: Änderungen im SGB XII
Im Referentenentwurf wird nicht der § 21 SGB
XII geändert, auch nicht klarstellend.
Das erstaunt zunächst. Die von vielen Sozialgerichten bestrittene Möglichkeit, dass vom
SGB II ausgeschlossene AusländerInnen trotz
Erwerbsfähigkeit in den Rechtskreis des SGB
XII wechseln können, wird offensichtlich von
der Bundesregierung geteilt. Daher konzentrieren sich die geplanten Änderungen auf § 23
SGB XII. In diesem Paragrafen werden die Leistungsansprüche von AusländerInnen geregelt.
[email protected]
Aber auch § 23 Abs. 1 Satz 3, der Sozialleistungen im Rahmen des Ermessens ermöglicht,
soll nicht geändert werden.
Allerdings wird § 23 Abs. 3 neu gefasst und ein
Abs. 3a angefügt. § 23 Abs. 3 Absatz soll nun
folgendermaßen lauten:
„(3) Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach
Absatz 1
oder nach dem Vierten Kapitel, wenn
1. sie weder in der Bundesrepublik
Deutschland Arbeitnehmer oder
Selbständige noch aufgrund des § 2
Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU
freizügigkeitsberechtigt
sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. ihnen kein Aufenthaltsrecht zusteht oder sich ihr Aufenthaltsrecht
allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
3. sie ihr Aufenthaltsrecht allein oder
neben einem Aufenthaltsrecht nach
Nummer 2 aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011
ableiten oder
4. sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu
erlangen.
Satz 1 Nummer 1 und 3 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der
Bundesrepublik Deutschland aufhalten.
Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden einmalig innerhalb von zwei Jahren
bis zur Ausreise, längstens für einen Zeitraum von vier Wochen, nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis
zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3.
Hierüber und über die Möglichkeit der Leistungen nach Absatz 3a sind die Leistungsberechtigten zu unterrichten.
Die Überbrückungsleistungen nach Satz 3
umfassen
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
1. Leistungen zur Deckung der Bedarfe
für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege,
2. Leistungen zur Deckung der Bedarfe
für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Absatz 4 und § 30 Absatz 7,
3. die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln
sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und
4. Leistungen nach § 50 Nummer 1 bis 3.
Soweit im Einzelfall besondere Umstände
dies erfordern, werden den Leistungsberechtigten andere Leistungen im Sinne
von Absatz 1 gewährt; ebenso sind im
Einzelfall Leistungen über einen Zeitraum
von vier Wochen hinaus zu erbringen,
soweit dies aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt ist. Abweichend von
Satz 1 Nummer 2 und 3 erhalten Ausländer
und ihre Familienangehörigen Leistungen
nach Absatz 1 Satz 1 und 2, wenn sie sich
seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten. Die Frist nach Satz 6 beginnt mit
der wirksamen Anmeldung beim zuständigen Einwohnermeldeamt.“
Einordnung der geplanten Änderungen
im § 23 Abs. 3 SGB XII
Die Ausschlussgründe im SGB XII sollen analog
zu den geplanten Änderungen im SGB II erweitert werden. Damit wird aber nicht das vom
Bundessozialgericht aufgeworfene grundrechtliche Problem des unverfügbaren Rechts
auf die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens durch den deutschen Staat gelöst.
EU-BürgerInnen, die sich in Deutschland aufhalten, genießen die Schutzrechte des Grundgesetzes solange sie sich hier aufhalten.
Der Referentenentwurf sieht nun spezielle
Leistungen
für
ausgeschlossene
EU-
[email protected]
10
BürgerInnen vor. Es soll Überbrückungsleistungen in Höhe eines unabweisbaren Bedarfs
für einen Monat geben. Betroffene sollen
darüber unterrichtet werden. In nicht näher
bezeichneten Einzelfällen können die Leistungen auch länger als vier Wochen gewährt
werden oder über das Minimum erweitert
werden. Welche Umstände einen solchen
Einzelfall schaffen, bleibt unklar. Unschwer ist
zu erkennen, dass das BMAS versucht, hiermit
verfassungsrechtliche Bedenken zu begegnen.
Ein Versuch, der kaum gelingen dürfte, wie ich
weiter unten zeigen werde.
Die Regelung, dass es solche Überbrückungsleistungen nur einmal innerhalb von zwei Jahren geben soll, zeigt das schon fast plumpe
Bemühen ausländerrechtliches Wunschdenken sozialrechtlich durchzusetzen. Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, wie engstirnig hier gedacht wird: Angenommen ein neuzugewanderter EU-Bürger verliert innerhalb
eines Jahres seine Arbeit und die Arbeitsagentur stellt fest, dass der EU-Bürger die Gründe
für seine Arbeitslosigkeit zu vertreten habe.
Nun nimmt er die Überbrückungshilfe für einen Monat in Anspruch, reist aber nicht aus
(was er ja ausländerrechtlich auch nicht tun
muss), sondern beginnt anschließend wieder
mit einer Arbeit. Beim nächsten Verlust des
Arbeitnehmerstatus innerhalb kurzer Zeit will
der Betroffene vielleicht ausreisen. Jetzt gibt
es dann aber kein Überbrückungsdarlehen. Im
Gesetzentwurf bleibt vieles unklar: Wie soll
denn überhaupt die rechtliche Verbindung
zwischen der Rückreise und der Sozialleistung
bis zur Rückreise stattfinden? Der Sozialleistungsanspruch kann kaum von einem wirksamen Verzicht auf die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts abhängig gemacht werden.
Rückreisekosten im SGB XII: der geplante
§ 23 Abs. 3a SGB XII
Schon bisher konnte der Sozialhilfeträger Leistungen für die Rückreise gewähren. Diese
werden aber nun in einem eigenen Absatz
präzise gefasst und mit einer etwas merkwürdig anmutenden Einschränkung versehen:
„(3a) Neben den Überbrückungsleistungen
nach Absatz 3 werden auf Antrag auch die
angemessenen Kosten der Rückreise übernommen. Satz 1 gilt entsprechend, soweit
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
die Personen allein durch die angemessenen Kosten der Rückreise die in Absatz 3
Satz 4 Nummer 1 und 2 genannten Bedarfe
nicht aus eigenen Mitteln oder mit Hilfe
Dritter decken können. Die Leistung ist als
Darlehen zu erbringen.“
Die Leistungen zur Rückreise werden als Darlehen erbracht. Offenbar sollen Betroffene
dadurch abgeschreckt werden, wieder einzureisen. Vielleicht wird auch der Missbrauch
unterstellt, jemand könnte sich über die neu
gesetzliche Regelung immer die Heimfahrt
finanzieren lassen.
Bedeutung der geplanten Änderungen für Angehörige der EFA-Staaten
Die geplanten Neuregelungen betreffen
(noch) nicht die Angehörigen der Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens. Prinzipiell scheint die Bundesregierung der Rechtsauffassung beizupflichten,
dass vom SGB II ausgeschlossene Arbeitsuchende Leistungen des SGB XII erhalten können. Bezüglich des Sozialhilfeanspruchs sind
die BürgerInnen der EFA-Staaten mit InländerInnen gleichgestellt.
Der Anspruch der Gleichstellung liegt allerdings nur vor, wenn der Aufenthalt rechtmäßig ist. Rechtlich strittig ist, ob die Rechtmäßigkeit nur dann vorliegt, wenn ein tatsächliches Aufenthaltsrecht vorliegt oder ob es ausreicht, dass dieses Recht noch nicht durch
Verwaltungsakt entzogen worden ist.
Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil
vom 19.10.2010 (B 14 AS 23/10 R) für Leistungsansprüche aufgrund des Europäischen
Fürsorgeabkommens festgestellt:
1. Voraussetzung ist lediglich, dass sie sich
erlaubt in Deutschland aufhalten
2. Erlaubt halten sich EU-BürgerInnen auf,
solange ihnen das Freizügigkeitsrecht
nicht per Verwaltungsakt entzogen worden ist
3. Der gängigen Rechtsauffassung, dass das
EFA in Fällen nicht anzuwenden sei, in denen AusländerInnen nach Deutschland
ziehen, um Sozialhilfe zu erhalten, folgt
zumindest das Bundessozialgericht nicht.
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Gerade bezüglich der Ablehnung eines Anspruchs mit dem Argument, jemand sei eingereist, um Sozialhilfe zu erhalten, argumentiert
das BSG im Falle der Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens:
Es überzeugt nicht, eine - etwa § 23 Abs 3
Satz 1 Alt 1 SGB XII vergleichbare - Regelung in das SGB II "hineinzulesen", wobei
eine auf diese Weise vorgenommene Geltungserweiterung (Analogie) insbesondere
auch vor dem Hintergrund des § 31 SGB I
bedenklich erscheint. Im Übrigen dürfte die
praktische Bedeutung eines solchen Anspruchsverlustes gering sein, weil das
BVerwG jedenfalls im Rahmen der Vorgängernorm (§ 120 Abs 1 Satz 1 Halbs 1
BSHG in der Fassung vom 24.5.1983, BGBl I
613) einen finalen Zusammenhang im Sinne einer "prägenden Bedeutung" zwischen
dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe(BVerwG Urteil vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - FEVS 43,
113 ff) verlangt hat. Schließlich hat auch
die zu Art 1 EFA teilweise vertretene Ansicht, einen Aufenthalt zeitlich vor dem
Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu fordern
(siehe oben), in dem Abkommen selbst
keinen Ausdruck gefunden. Denn Art 1
EFA stellt allein auf die Rechtmäßigkeit
des Aufenthalts ab, nicht aber auf eine
bestimmte zeitliche Abfolge.
Ob die Bundesregierung die Privilegierung der
Angehörigen der EFA-Staaten in Kauf nimmt
oder versucht, aus dem ganzen Abkommen
auszusteigen, ist eine offene Frage.
Grundrechtlich und europarechtlich
höchst fragwürdig – politisch fatal
Ich folge der Meinung des BSG, dass das
grundrechtlich garantierte Existenzminimum
immer für alle Menschen, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes befinden,
sichergestellt werden muss. Dagegen verstößt
der Referentenentwurf. Ausweisungen und
Abschiebungen sind grundrechtlich dagegen
vertretbar, wenn keine grundrechtlichen
Gründe (Gefahr für Leib und Leben) dagegen
sprechen. Das ist die einzige grundrechtliche
Relativierung, die der Faktizität des Nationalstaats geschuldet ist.
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
Im Klartext: Das Grundgesetz verbietet es
nicht, Menschen abzuschieben, wenn diesen
nach der Abschiebung nicht mehr das in
Deutschland geltende soziokulturelle Existenzminimum zur Verfügung steht, solange
keine Gefahr für „Leib und Leben“ besteht.
Aber: Solange die Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes leben, gilt dieses für
sie.
Hierin mag man zu Recht einen Wertungswiderspruch sehen, der sich aber nicht auflösen
lässt. Aufgrund des weitgehenden Freizügigkeitsrechts versucht nun das Bundesministerium für Arbeit, die Ausweisung sozialrechtlich
zu betreiben. Dabei ist die Bundesregierung
schon einmal auf den Kopf gefallen, als es um
die zu niedrigen Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes ging. „Prof. Dr. Kirchhoff, an
den Prozessvertreter der Bundesregierung in
der mündlichen Verhandlung vom 18.7.2012:
»Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die schon, kann es doch wohl nicht sein«.“
(Zitat aus der Stellungnahme des Deutschen
Anwaltvereins zum aktuellen Referentenentwurf).
Spätestens, wenn Betroffene trotz staatlicher
Drohgebärden nicht ausreisen, tritt der besondere Umstand ein, dass sie weiterhin Leistungen benötigen, solange sie keine Arbeit
finden. Auch weitere Leistungen sind dann
möglich. So gesehen wäre eine grundrechtskonforme Auslegung wieder möglich, der
dann wieder andere Gerichte widersprechen.
Bernd Eckhardt, Mai 2016
Fortbildungsskript zum Runterladen
Zum aktuellen Rechtsstand (vor den geplanten
Änderungen) verweise ich auf meine Fortbildung Recht prekär. Die Fortbildung behandelt
auch das Freizügigkeitsgesetz/EU und bleibt
daher in weiten Teilen auch nach dem
Inkraftreten der Gesetzesänderungen aktuell.
Klicken Sie auf den Link zum Herunterladen.
Europarechtlich ist die Ausschlussmöglichkeit
von Sozialhilfe auf die ersten drei Monate und
der ggf. längeren Zeit der Arbeitssuche beschränkt. Auch wenn überhaupt kein Aufenthaltszweck vorliegt, ist der Ausschluss möglich. Unklar ist, wie der Fall zu beurteilen ist,
wenn ein Aufenthaltsrecht tatsächlich besteht,
das nicht von der Deckung des Lebensunterhalts abhängig ist.
Politisch ist das Bei-Seite-Wischen grundrechtlicher Einwände, die sich auf Art. 1 des Grundgesetzes beziehen, fatal. Es zeigt unmissverständlich, was manchen PolitikerInnen die
Grundrechte Wert sind.
… oder haben die ReferentInnen der Ministerin ein Ei gelegt
Im Entwurf heißt es: „Soweit im Einzelfall besondere Umstände dies erfordern, werden den
Leistungsberechtigten andere Leistungen im
Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind im
Einzelfall Leistungen über einen Zeitraum von
vier Wochen hinaus zu erbringen, soweit dies
aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt
ist.“
[email protected]
http://sozialrechtjustament.de/data/documents/RECHTprekaer.pdf
www.sozialrecht-justament.de
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SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
Sozialleistungsansprüche von EU-BürgerInnen häufiges Thema im
SOZIALRECHT JUSTAMENT
Nach wie vor sind viele Ausführungen z.B. zum gewöhnlichen Aufenthalt oder der sicherheitsrechtlichen Pflicht zur Unterbringung unfreiwillig obdachloser EU-BürgerInnen gültig. Die Hefte zum
Runterladen finden Sie auf www.sozialrecht-justament.de. Sie können aber auch auf die Links
unterhalb der Hefte klicken.
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/2-2013Sozialrechtjustament-2-2013.pdf
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/4-2013-Sozialrecht-
[email protected]
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/3-2013Sozialrecht-justament-3-2013.pdf
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/3-14-
www.sozialrecht-justament.de
14
SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
justament-4-2013.pdf
Sozialrecht-justament-3-2014.pdf
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/4-14-Sozialrechtjustament-4-2014.pdf
http://sozialrechtjustament.de/data/documents/Sozialrecht-justament-12015.pdf
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/Sozialrecht-justament5-2015.pdf
http://sozialrecht-justament.de/data/documents/715_Sozialrecht-justament-7-2015_1.pd f
[email protected]
www.sozialrecht-justament.de
SOZIALRECHT JUSTAMENT 3/2016
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http://sozialrecht-justament.de/data/documents/Sozialrecht-justament2-2016.pdf
[email protected]
www.sozialrecht-justament.de