Arsentrioxid - Swiss Medical Forum

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Chemotherapiefreie Behandlung von akuten myeloischen Leukämien
Arsentrioxid
Andreas Holbro a , Jakob R. Passweg b
a
b
Hämatologie, Departement Innere Medizin, Universitätsspital Basel und Blutspendezentrum beider Basel, Schweizerisches Rotes Kreuz, Basel
Hämatologie, Departement Innere Medizin, Universitätsspital Basel
Hintergrund
Andreas Holbro
Die akute Promyelozytenleukämie
Arsen, ein chemisches Element, ist seit dem Altertum
Die akute Promyelozytenleukämie (APL) ist eine sel­
bekannt. Es kommt überall im Erdboden vor, meistens
tene Leukämieform (ca. 5% aller akuten myeloischen
in Verbindung mit anderen Mineralien. In der Antike
Leukämien, AML), die zur Gruppe der AML mit rekur­
wurden arsenhaltige Verbindungen als Fiebermittel
renten genetischen Anomalien gehört [2]. Sie zeichnet
und zur Therapie verschiedenster Krankheiten be­
sich durch eine charakteristische Morphologie (Abb. 1)
nutzt, sowohl in der westlichen Welt als auch in der tra­
und durch die genetische Translokation t(15;17) ent­
ditionellen chinesischen Medizin [1]. Seit dem Mittel­
sprechend der Genfusion PML­RARα (promyelocytic
alter wurden Arsenverbindungen in der Medizin und
leukemia-retinoic acid receptor α) aus. Die APL hat eine
als Pflanzenschutz angewendet. Auch heute wird es
gute Prognose, allerdings ist sie mit einer schweren
noch bei der Therapie der Schlafkrankheit eingesetzt
Gerinnungsstörung in Form einer diffusen intra­
(Melarsoprolol). Daneben findet Arsen in der Elektronik­
vaskulären Koagulopathie assoziiert [3, 4]. Letzteres
industrie Anwendung.
kann zu schweren und tödlichen Blutungen führen,
A
B
C
D
Abbildung 1: Akute Promyelozytenleukämie.
A, B: Peripheres Blutbild mit abnormen Promyelozyten (Blasten-Äquivalente), die charakterisiert sind durch einen bilobierten
(A) oder nierenförmigen (B) Zellkern und zahlreiche azurophile Granula (May-Grünwald-Giemsa-Färbung; 1000×).
C, D: Knochenmarksaspirat mit zahlreichen abnormen Promyelozyten und regelmässig Auer-Stäbchen (dünner Pfeil). Daneben
sogenannte Faggot-Zellen (dicker Pfeil), die zahlreiche Auerstäbchen enthalten (May-Grünwald-Giemsa-Färbung; 1000×).
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vor allem in den ersten Tagen nach Diagnosestellung
intermediärem Risiko (Gesamtleukozytenzahl bei Dia­
und bei Therapiebeginn. Es kommt zur Degranulierung
gnose <10 G/l) verglich [10]. Die Kombinationstherapie
der abnormalen Promyelozyten mit Verbrauch von
ATRA/ATO zeigte ein besseres Gesamt­ und leukämie­
Fibrinogen durch eine überschiessende Fibrinolyse ei­
freies Überleben und war der klassischen Kombination
nerseits; gleichzeitig kommt es zu einer Aktivierung
ATRA und Chemotherapie überlegen. Es gab weniger
hämatologische Toxizitäten und weniger Infektionen,
der Gerinnung.
jedoch mehr hepatische Nebenwirkungen. Auch be­
Bisherige Therapie
treffend Lebensqualität (insbesondere Fatigue) war die
Bereits in den siebziger Jahren konnte ein gutes Anspre­
ATRA/ATO­Kombination überlegen [11]. Weitere Studien
chen auf Chemotherapie gezeigt werden (Anthrazyk­
konnten dies bestätigen, so dass wahrscheinlich in Zu­
line und Cytarabin). Allerdings erlitten viele Patienten
kunft die Kombination ATRA/ATO die neue Standard­
ein Rezidiv, so dass lediglich 30–40% der Patienten
therapie bei APL­Patienten mit niedrig­ und intermedi­
längerfristig geheilt werden konnten. 1985 konnte das
ärem Risiko sein wird [12]. Dies ist bemerkenswert, weil
Gesamtüberleben mit der Einführung von Retinol­
so erstmals akute myeloische Leukämien ohne klas­
säure (all-trans retinoic acid, ATRA) in Kombination mit
sische Chemotherapie («chemotherapiefrei») geheilt
werden könnten. Für den Einsatz von ATO als Erstlini­
ATO induziert Apoptose und – wie ATRA – eine
Ausdifferenzierung der leukämischen Zellen.
enbehandlung braucht es in der Schweiz eine Kosten­
gutsprache der Krankenkasse, die dann gemäss Artikel
Chemotherapie deutlich verbessert werden. Unter ATRA
71a der Verordnung über die Krankenversicherung den
wurde eine terminale Differenzierung der abnormalen
therapeutischen Nutzen dieser Therapie beurteilen
Promyelozyten beobachtet, das heisst, der Differenzie­
muss. Insgesamt sind die Medikamenten kosten bei
rungsstopp konnte überwunden werden.
der Kombination ATRA/ATO höher als im Vergleich zu
ATRA/Chemotherapie, obwohl die gesamten Behand­
lungskosten noch besser untersucht werden sollten
Arsentrioxid als Monotherapie
oder in Kombination
[13]. Insbesondere dürfen nicht nur die Medikamen­
tenkosten in die Behandlungskosten einfliessen; auch
Dies führte zu einer Suche nach weiteren differenzie­
Ausgaben, die durch eine aplasierende Chemotherapie,
rungsinduzierenden Substanzen. In den 90er Jahren
inhärente Mukositis und Infektionen, weitere Organ­
wurde Arsentrioxid (As2O3; ATO) als Monotherapie er­
toxizitäten und durch längere oder zusätzliche Hospi­
folgreich zur Behandlung von refraktärer und rezidi­
talisationen entstehen, müssen bedacht werden [14].
vierter APL eingesetzt, initial in China [5]. Diese positiven
Für Hochrisikopatienten (Gesamtleukozytenzahl bei
Resultate konnten in grösseren Studien weltweit bestä­
Diagnose >10 G/l) ist die zusätzliche Gabe von Anthra­
tigt werden. Zur Kombinationstherapie ATRA/ATO
kam es, nachdem man im Mausmodell und in APL­
Zelllinien zeigen konnte, dass dadurch die leuk­
Für Hochrisikopatienten ist die zusätzliche Gabe
von Anthrazyklinen weiterhin indiziert.
ämischen Stammzellen eradiziert werden konnten [6].
zyklinen weiterhin indiziert [15, 16]. Jedoch ist anzu­
ATO baut das Onkoprotein ab, das aus dem Fusions­
merken, dass in der kürzlich publizierten britischen
transkript PML­RARα entsteht. Es induziert Apoptose
AML17­Studie, wo auch 57 Hochrisiko­APL­Patienten
und – wie ATRA – eine Ausdifferenzierung der leuk­
eingeschlossen wurden, die ATRA/ATO­Kombinations­
ämischen Zellen [6–8].
therapie sehr wirksam war [17]. Aufgrund der geringen
Bahnbrechend war auch hier eine chinesische Studie,
Datenlage zur Behandlung von Hochrisikopatienten
die 2004 publiziert wurde [9]. Die synergistische Wir­
ist aktuell eine europäische Kollaborationsstudie ge­
kung von ATRA und ATO konnte anschliessend in meh­
plant [18].
reren weiteren Studien gezeigt werden. Dies führte zur
Arsentrioxid wird intravenös appliziert, wobei es –
Zulassung von ATO zur Behandlung der refraktären
je nach Protokoll – unterschiedliche Dosierungen und
oder rezidivierten APL durch die FDA (Food and Drug
Dosierintervalle gibt. Folgende häufige Nebenwir­
Administration), EMA (European Medicines Agency) und
kungen können auftreten: Knochenmarkdepression,
später auch durch die Swissmedic. Arsentrioxid (As2O3)
Infektionen, Stoffwechsel­ und Elektrolytstörungen,
ist in der Schweiz als Trisenox® registriert.
Schwindel, Parästhesien, Verlängerung des QT­Inter­
2013 publizierten Lo Coco et al. im New England Journal
valls, Hepatopathie, gastrointestinale Nebenwirkun­
of Medicine eine grössere, randomisierte, prospektive
gen, Hauterscheinungen [19]. Zusätzlich kann unter
Studie, die ATRA/ATO mit ATRA und Chemotherapie
ATRA und ATO das für die APL typische Differenzie­
(Anthrazyklinen) bei APL­Patienten mit niedrig­ und
rungssyndrom auftreten, charakterisiert durch Fieber,
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Gewichtszunahme, Ödeme, Dyspnoe, pulmonale Infil­
trate, Perikard­ und Pleuraergüsse. Dies muss man früh­
zeitig erkennen und behandeln [20].
Ausblick
Ob in Zukunft das intravenöse ATO durch eine orale
Formulierung ersetzt werden kann, bleibt noch offen.
Orales Arsen als Arsentetrasulfid (As4S4) wurde in
China bereits eingesetzt und war – verglichen mit dem
intravenösen ATO – nicht unterlegen [21].
Zusammengefasst bleibt die APL eine seltene Krank­
heit. Die Behandlung der APL zeigt jedoch eindrücklich
die Fortschritte der modernen Medizin. ATO ist in der
Therapie der APL eine attraktive Alternative zur klassi­
schen Chemotherapie. Seine Rolle in der Behandlung
von Hochrisikopatienten, älteren Patienten und in der
Erhaltungstherapie muss noch besser untersucht wer­
den.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
Korrespondenz:
PD Dr. Andreas Holbro
Klinik für Hämatologie
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
CH­4031 Basel
andreas.holbro[at]usb.ch
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