Gerhard Stiegler Hexen Gerhard Stiegler Hexen ES GIBT SIE NICHT, also nicht wirklich, so heisst es, wenn man das Gespräch auf Hexen bringt. Bestenfalls werden Frauen so genannt, die einem – so oder so – nicht ganz geheuer scheinen. Dieses So-oder-so will sagen, dass man angezogen, wie abgestoßen sein mag. Jedenfalls sind Begriffe wie Hexen, Hexerei oder Hexenkunst mit erheblichen Vorbehalten belegt, die von ängstlich machend bis widerlich reichen … oder aber mit Faszination einhergehen. Zu bestimmten Zeiten genügte bereits ein winziger Hinweis, oft nur das Wörtchen HEXEREI, um Todesurteile zu fällen. Das heißt, so rasch wie möglich wollte man solch übles Geschmeiß loswerden. Diese Wesen, die so viel mehr konnten, als andere. In den Märchen der Kindheit waren Hexen meist üble Wesen. Sie fingen Kinder ein und waren, wie auch immer, umgehend zu vernichten. Neuerdings machen sich allerdings Tendenzen breit, unter dem Hexenbegriff auch Anderes, vielleicht Besseres zu verstehen. Waren Hexen Mutationen zu vielleicht verbesserten Menschen hin …? Sollten sie eine Art Gegenentwurf zu den Unfähigkeiten der Normalen sein …? Hexen reizten. Hexer auch. Wobei die in der Regel Zauberer hießen und es bei denen dominanter zuging. Das Frauenfeindliche spielte in den Hausmärchen oft eine Rolle. Trotz der guten Feen, die ab und an auftraten. Und auch in anderen Bereichen war das so. Das mit dem Frauenfeindlichen. Aber dies wären Geschichten für sich. Artverwandte allerdings. Doch zurück zu den Hexen. Zu den aktuellen. Denn, entgegen aller landläufigen Realitäten, google-getestet oder sonst wie geprüft, was immer man über Hexen denken mag, wie immer man in der Kindheit seine Prägung erhielt, es gibt sie wirklich. Sie leben heimlich, denn sie wissen von den Gefahren. ABER SIE EXISTIEREN. Und manchmal kann es geschehen, dass man der einen oder der anderen begegnet. EINE WAHRE GESCHICHTE EINE EPISODE AUS EINER WELT DER UNSEREN SEHR NAHE Gerhard Stiegler Hexen Es gab viel Zeit Alle Zeit der Welt Und es gab die Legenden Copyright: © 2016 Gerhard Stiegler Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de ISBN 978-3-7418-1181-4 Bruchstücke Die Kinder, die mit vollen Mündern die giftigen Tollkirschen verzehrten, gingen verloren. Nicht dass sie starben. Zumindest konnte das keiner behaupten, weil keiner es sah oder miterlebte. Sie verschwanden spurlos. Aus dem Vincenz-Krankenhaus, wo man sie eingeliefert hatte. Noch ehe festgestellt werden konnte, wer sie seien, waren sie aus der Notaufnahme verschwunden. Und das ging rasch. Von der Einlieferung bis zur Untersuchung durch den Notarzt vergingen in der Regel nur wenige Minuten. Die Sanitäter wussten lediglich zu berichten, dass sie ein Anruf zu dem Gebüsch geführt habe, wo die Kinder die Beeren in sich hineinstopften und lachten. Sie lachten, das hielten die Männer und die eine Frau, die sie angerufen hatte, für das Bemerkenswerte dabei. Denn in deren Annahme schmeckten die Beeren wohl eher bitter. Was natürlich keiner wirklich getestet hatte. Zum Auspumpen der Mägen sei es erst 9 gar nicht gekommen, sagte der Notarzt, das Personal habe seine Anordnung abwarten wollen, aber als er dann kam, waren die Kinder weg. Verschwunden. Wo auch immer hingekommen. Wie schon berichtet. Ausfallerscheinungen, die bei Vergiftungen üblich seien, habe keiner beobachtet. Ob er deshalb wohl später erschienen sei, fragten die Polizisten, was der Arzt heftig bestritt. Es seien nur Minuten vergangen, wie gesagt, und verstehen könne er die Angelegenheit ohnehin nicht, weil die Beeren der Tollkirsche derart giftig seien, dass längere Wege oder Fluchten oder was sonst noch nach einem Verzehr eigentlich ausgeschlossen seien. Aber ob es denn Tollkirschen waren? Das hätte man erst mal untersuchen sollen. So die kühle Darstellung. Doch dazu sei es ja gar nicht erst gekommen. Nun gut. Die Kinder waren weg. Und die routinegemäß informierte Polizei suchte. Dies allerdings mit nachlassendem Interesse. Denn kaum einer nahm die Angelegenheit sonderlich ernst. Vor allem wohl auch deshalb nicht, weil niemand die Kinder 10 zu kennen oder zu vermissen schien. Und auch die Sanitäter, die die Einlieferung vorgenommen hatten, wussten letztendlich keinen hilfreichen Beitrag zu leisten. So vergaßen alle mit der Zeit das Ereignis oder glaubten nicht mehr daran. Menschen tragen um sich eine Aura, sagte der seltsame, auf seine Umgebung mystisch und etwas unheimlich wirkende Fremde, der zudem Professorales ausstrahlte, eine wabernde Wolke aus Erinnerungen, Vorbehalten, Sehnsüchten, Befürchtungen, Erwartungen, Enttäuschungen. Die Wolke wabert unentdeckt. Zumindest für die meisten. In entfernteren Träumen lässt sie manchmal ihre fetzigen Strähnen fliegen. Aber es gibt Menschen, ob es denn Menschen wären, die haben die Fähigkeit, jenes Wabern zu erkennen und damit umzugehen. Solche werden von der Allgemeinheit für medial Begabte gehalten. Darüber hinaus, und allgemein gesehen, was eine Allgemeinheit wohl in sich trägt, bergen, ob ihrer Außerordentlichkeit, derarti11 ge Menschen erklärtermaßen überirdische Kräfte, wie man das nennen mag. Magisch werden die genannt, in besonderen Fällen göttlich. Obwohl es von außen betrachtet Menschen sind, die solche Fähigkeiten haben, Menschen, wie andere auch, doch eben besondere. Deren eigene Aura ist gewaltig. Und sie können sie beherrschen, sogar gestaltend einbringen. Und es gibt normale Sterbliche, sagte der Fremde, die imitieren solche Kräfte, setzen sie für die eigenen Vorstellungen ein. Sie imitieren sie mit Maschinen, mit elektronischen Denkapparaten und mit gekauften Besonderen. Denn einige der medial Begabten, ich nenne sie nun ebenfalls so, weil dies ein einfaches Wort ist, und weil solche Menschen ja tatsächlich etwas spiegeln oder wiedergeben … einige verkaufen sich. Und das ist ja wohl bekannt, wenn jemand, der bestimmte Möglichkeiten besitzt, sich mit einer Macht verbündet, welche besonderen Einfluss zu nehmen imstande ist, dass der dann Überzeugungen und auch anderes zu formen vermag. Es gibt Beobachter, 12 die behaupten, dass eine Macht, die aus den geschilderten Fähigkeiten kommt, oft gar religiösen Charakters sei. Warum aber die Aura gewöhnlicher Menschen für einige Besondere sichtbar wird, oder, weiter gegriffen, auch manipulierbar, und wieso eine solche Aura überhaupt besteht, das gehört zu den Energiewundern der etwas komplizierteren Art, sagte der Fremde. Biologische Elektrik oder so. Teilchenphysik. Sie ist für die besonderen Menschen, von denen ich rede, die das sehen oder verarbeiten können, vielleicht ähnlich zu erfahren, wie es bei anderen Individuen unterschiedliche Drogen tun. Als Auslöser und Deutlichmacher nämlich, ähnlich Giften, Todeserfahrungen, Schocks, die das Gehirn heimsuchen. Medial Begabte sind jedenfalls Menschen, die das Andere erkennbar werden lassen, für sich erkennbar, allein für sich. Weil vielleicht deren Elektrik als eine Art Reagenz wirkt. Die menschliche Aura jedenfalls bildet Energieauswürfe, Stromstöße diverser Art, zu vergleichen dem, was der magnetische Schirm der Erde an den Polen 13 bewirkt, der von der Sonnenenergie zu buntesten Farben veranlasst wird. Eine Buntheit, die jeder zu sehen vermag. Bei der menschlichen Aura aber geht es um Farben und um neblige Formen, die allein in den Köpfen der medial Begabten, der Besonderen, sichtbar werden. Und dann auf verschiedene Weise manipulierbar sind. Verbunden mit den geheimsten Kräften der Natur. Es gibt menschliche Denker, die mit Hilfe der Quanten und Strings, die ihrer Meinung nach allüberall alles durchdringen, für solche Qualitäten Erklärungen suchen. Die gewöhnlichen Menschen aber haben für die Außerordentlichen, für diese medial Begabten, für die Besonderen, die ihnen dann und wann erkennbar werden, seit jeher unterschiedliche Namen gefunden. Sie nannten sie Propheten, Götter, Teufel oder Hexen. Je nachdem. Sie beteten sie an, hoben sie über die Grenzen des Eigenen hinaus, oder verfolgten und töteten sie. Aber die Außergewöhnlichen waren auch eine Hoffnung. 14 Die Verzweiflung ist es, die mich erbeben lässt, rief sie in wildestem Ton. Die Zerrissenheit darüber, dass diese Gesellschaft in ihrem Handeln all den Idealen widerspricht, die sie sich selbst erstellte und in langen Jahren zusammentrug. Die Verzweiflung darüber, den eigenen, den religiösen oder sonst wie hochgestellten Zielen zuwider leben zu sollen. Die Verzweiflung ist es, die es macht, dass ich meinen Staat, also das, was ich meinen Staat nennen sollte, weil ich da lebe, wo dieser es möchte, mein Staat, nicht meine Heimat, die Verzweiflung ist es, dass ich ihn nicht achten, nicht anerkennen kann, dass ich ihn bekämpfe, diesen imaginären, diesen unfassbaren Staat, weil er mir falsch erscheint, und weil er mir diese Verzweiflung bringt. Darum, rief Anisa Kerim, die Friedfertige, darum baue ich die Bombe und werfe sie hinein in die Heuchelei, mitten hinein. Und es macht Freude, sie platzen zu sehen, die Fassaden, diese zur Schau gestellten Errungenschaften. 15 Die drei bekümmert wirkenden Mönche trafen sich erneut. Sie gehörten verschiedenen Orden an, so dass derartige Treffen nicht nur ungewöhnlich, sondern auch schwierig zu organisieren waren. In Rom, vor geraumer Zeit, war es einfacher gewesen. Danach, als sie dann wieder im eigenen Priorat lebten und nicht nur lange Reisen nötig wurden, sondern auch gute Begründungen zu nennen waren, mussten andere Wege gefunden werden. Es half dabei die eigenartige und einzigartige Verbindung über ihre Gedankenströme. Die damit verbundenen gemeinsamen Erlebnisse, die sie geheim halten mussten, waren fantastisch. Damals, Anno Domini 1321, fanden sie zum ersten Mal zusammen, als sie während dieser Studienreise nach Rom ihre Zugehörigkeit spürten. Und da sie hoch gebildet waren – alle drei arbeiteten in den Bibliotheken ihrer Orden, kannten die offiziellen Schriften, aber auch die geheimen und die verbotenen – wuchsen aus ihren Begegnungen und Diskussionen unmittelbar, jedoch vor allem mental 16 verbunden, Überzeugungen und Sichten, die sogar ihren Glauben bedrängten. Sie überwanden tapfer die Schrecken der Erkenntnis und wurden sich einig, handeln zu sollen. Lügen hindern am Fortschritt, postulierten sie, aber sie hatten keine Ahnung, wie das gehen sollte. Die lodernden Feuer der Scheiterhaufen, die päpstliche und die weltliche Acht, Folter und andere Strafen drohten. Alle gleich schlimm. Sie wussten, sie waren nur Menschen. Sie trugen das Scheitern in sich. Doch ihre Sympathie zueinander gab ihnen Trost. Und Hoffen und Zuversicht bestanden felsenfest, dass Gott in seiner Weisheit und Güte eines Tages die Erkenntnis weitergäbe. Sie waren unzertrennlich, Lisa, Gisa und Riza. Seit der frühesten Kindheit waren sie zusammen. Da gab es die anderen um sie herum. Aber die spielten keine Rolle. In ihrer eigenen Welt waren sie unantastbar. Und später auch in der anderen. Und auch als sie älter wurden blieben ihre Handlungen und Pläne allein auf sich gerichtet. Nach innen wie nach 17 außen. Die ersten Erfahrungen mit Jungs, die in den frühen Klassengemeinschaften der ersten Schuljahrgänge bei den Mitschülerinnen mit kleinen Freundschaften begannen, die oft auch die ersten harmlosen sexuellen Kontakte beinhalteten, endeten bei ihnen in lachend überlegenem Spott. Die Buben und später die jungen Männer, die sich in die eine oder andere oder in alle drei der Mädel und später jungen Frauen verknallten, zogen sich bald zurück. In der Regel zutiefst verunsichert. Zwischen eigener Neigung und unerklärbaren, wie gläsernen Wänden abgefangen und abgewiesen. Und wer sich nicht abweisen ließ, erfuhr nicht selten Schlimmeres. Hinzu kam, und dies erklärte die dennoch ständige Nachfrage, die drei waren von nahezu überirdischem Reiz. Niedlich in der Kindheit, hübsch in der Jugend und strahlend schön in den späteren Jahren. Venusfliegenfallen, kicherten sie, wenn sie sich gegenseitig informierten. 18 Nach außen blieben sie normale Kinder, Jugendliche, später Studenten. In Wirklichkeit aber waren sie allen überlegen. Nur wussten sie, dass es ihre Freiheit kostete, zeigten sie diese Überlegenheit. Sie hielten also ihre Fähigkeiten verborgen. Bereits als sie zur Schule gingen. Sie waren Kinder, die den normalen Kinderunsinn trieben, oder den nicht ganz so normalen. Sie begannen an den Schulcomputern herumzutasten und bemerkten, wie viel besser ihre Gehirne funktionierten. Sehr viel besser, als diese Chips es konnten. Und ab und zu gaben sie mit winzigen Zauberstücken dem Erstaunen der anderen ein wenig Raum. Aber immer standen dann auch die einfachen Lösungen bereit, die es ermöglichten, die aufblitzenden Qualitäten als normal auszuweisen. Allein die Sache mit den schwarzen, diesen stimulierenden Vogelbeeren hätte bedenklich werden können. 19 Wie die meisten verfügten die Frauen über unterschiedliche Begabungen, wie das landläufig hieß. Sehr unterschiedliche sogar. Und sie bemerkten, dass rasch andere hinzukamen. Sie verbanden ihre Qualitäten und wurden mächtig. Ihr Leben bestand symbiotisch zueinander, und schon als sie ihre biologischen Eltern verließen, um die eigenen Wege zu gehen, sehr früh also, fanden sie zueinander, wurden unzertrennlich und zu einer eigenen Einheit. Die Adoptivmutter, wie sie die nannten, Anna hieß sie, die später ihre Mutter wurde und sie deren Kinder, übernahm ihre Erziehung, half, sie stark und unabhängig zu machen, sah die besonderen Qualitäten der Drei, förderte sie und zeigte, wer auch sie war. Bemerkenswert war ihre frühe Feststellung, dass alle Menschen suchten. Bedrängendes lag in mancher Suche. Es läge in der Natur, erfuhren die Kinder, und sie wussten, dass es 20 hier nicht um verlegte Gegenstände ging, wenn vom Suchen die Rede war. Nicht der Haustürschlüssel war zu finden. Da drehte es sich um Schlüssel zu komplizierteren Türen. Sehnsüchte und Hoffnungen standen nicht selten dahinter. Und sie lernten, dass ein jeder die zu suchenden Dinge seinem Wesen nach anders definierte. Oft waren es utopische, weit entfernte Ziele. Oft eingeredete oder von anderen suggerierte. Und oft auch war die Suche von der Vorstellung inspiriert, dem Großen und Ganzen zu dienen. Der Fremde aber postulierte, xapisaroxon oifarel hydraoclos kaferaen … und es sollte heißen, es gäbe drei Arten jener seltsamen Wesen. Hierarchisch geordnet. Oben der zweifelnde, nicht selten der verzweifelte Gott, darunter Hexen, Zauberer, Magier der unterschiedlichsten Prägung. Und weiter unten die Einfachen in bescheidener Art. 21 Auch wir, die Außergewöhnlichen sind nur Menschen, sagte Anna lachend. Und auch wir suchen. Die Klugen und die Dummen, die Sanften und die Brutalen, im Suchen sind sie alle gleich, meinte sie. Manche suchen Frieden, andere den Krieg. Viele reden vom Glück, das sie suchen. Was noch das Undefinierbarste wäre, dachte doch jeder an etwas anderes dabei. Einige suchen nach der Herkunft, andere wohin es wohl ginge. Vielleicht haben auch die Amöben nach Lösungen gesucht, scherzte Anna, und die Menschheit entstand. Was aber, sagte sie, am Ende niemand ernsthaft annehmen möchte, weil es kaum etwas Großartigeres als die Menschheit gibt … Und es besteht das Drängen, dieses von der Enge der menschlichen Zeit bestimmte Drängen, predigte Anna, die Mutter. 22 Einiges Erlebte wird zu Konserven verarbeitet, lautete ein anderer ihrer Lehrsätze, zu Zeitkonserven, zu Aufzeichnungen, Büchern, Berichten oder Legenden. Zu Lehrbüchern oder zu Traktaten. Es kann zu Musik werden oder zu Bildern. Zu guten oder zu schlechten Erfahrungen. Oder zu tödlichen Ereignissen. Ob es nun Besonderheiten sind oder Zuge- wachsenes, behauptete Anna, auch wir leben in unseren Grenzen. Nur wer wüsste schon, trotz aller Qualitäten, ob nicht morgen oder übermorgen, früher oder später, die Welt zugrunde ginge? Ausgelöscht vom Unvorhersehbaren oder von dem, was in der Natur der Dinge lag? Vielleicht auch vom menschlichen Zutun veranlasst? Es träfe das spielende Kind gleichermaßen, wie den grübelnden Wissenschaftler. Wer wüsste das? Doch über allem wacht die Hoffnung. Derart erklangen ihre Stücke. Bruchstücke. Lehrstücke. Und wir haben Spaß. 23 Lisa Das Mädchen tappte weiter. Immer voran. Zu einem Ziel hin, dass es nicht kannte, aber sehr genau spürte. Wenn jemand die Frage gestellt hätte, wie weit eine Vierjährige zu laufen in der Lage sei, wäre er bei Lisa ins Staunen geraten. Vor drei Tagen hatte sie die unfreundliche, kalte Wohnung verlassen, den bösartigen Mann, der sich Vater nannte, die keifende Frau, die ihre Mutter sein sollte. Sie war in dem zum Frösteln bringenden Treppenhaus in den Aufzug gestiegen, wo sie gerade bis an die unteren Knöpfe reichte, geriet in den kleinen Hof, wo die Autos parkten und Schmutz in den Ecken lag und krabbelte in eines der Fahrzeuge. Das war ein kleiner Lastwagen. So einen hatte sie in dem einzigen Buch, das ihr zur Verfügung stand, kennengelernt. Ein Buch, welches sie, zerrissen und schmuddelig, in einem vergammelten und vergessenen Winkel der Küche fand. Sie wusste, dass unter der abdeckenden Plane des 24 Wagens Dinge hin und her transportiert wurden. Also dachte sie, dass sie zu einem dieser Hin oder Her kommen wolle, da es dort sicher besser sei, als hier in dem Haus bei diesen Leuten, die sie hasste. Obwohl sie nicht genau wusste, was es eigentlich bedeutete, jemanden zu hassen. Der Wagen fuhr los und sie erlebte ein neues, ein spannendes Gefühl des Weiterkommens. Nach einiger Zeit schlief sie sogar ein wenig ein. Sie wurde wach, als das Auto anhielt und sie Stimmen hörte. Draußen, nicht sichtbar hinter der Plane, unter der sie sich versteckte, redeten welche. Die Stimmen entfernten sich. Dann war Ruhe. Lisa guckte unter der Abdeckung hervor. Da sah sie Bäume, Büsche, ein kleines Haus, andere Autos, die dort standen. Sie kletterte aus ihrem Versteck, blieb unbemerkt, huschte zwischen die Büsche, die seltsame Blätter hatten, Büsche, von denen sie nie gehört oder gesehen hatte und da sie bemerkte, dass die ein Schutz sein konnten, einer der zudem eine gute Ausstrahlung bot, lief sie weiter und immer weiter, tief hinein 25 in den kleinen Wald, der sich vor ihr auftat. Da gab es weiche, mit Moos gepolsterte Wege. Es lief sich gut hier. Die Bäume wurden bald höher, mächtiger, aber auch freundlicher. Und die Büsche trugen Beeren. Beeren, die sie nicht kannte, von denen sie aber umgehend wusste, dass sie ihr schmeckten. Ohne zu probieren wusste sie es. Irgendein Inneres, das sie noch nicht so gut kannte, riet ihr zu diesem und jenem. Das ging schon seit einiger Zeit so. Und jetzt riet es ihr, von den Beeren zu essen, vom Wasser des kleinen Bachs zu trinken und weiterzulaufen. Immer nur weiterzulaufen. Einem Ziel entgegen, das sie nicht kannte. Von dem sie aber wusste, dass es da irgendwo lag und dass es gut sei, es zu erreichen. 26 Riza In demselben Wald, an einer anderen Stelle, lief ein anderes kleines Mädchen. Man könnte sich Gedanken darüber machen, ob dies ein Zufall sei oder ein seltsam lenkendes Geschick. Oder ob beides zusammenspiele. Doch es wäre müßig, solch ein Denken. Das Kind war müde. Die Jeans und der rote Pullover schienen nicht zu passen. Es waren Geschenke, die Riza in einem der Lager erhielt, die sie durchlaufen musste. Ganz am Anfang waren es die Eltern, die einen gewissen Schutz boten. Als sie ihr armseliges Zuhause verließen, wo die Mutter und der Vater die drei Kinder in ein besseres Land bringen wollten. Da war noch genug Hoffnung vorhanden. Sonst hätten sie wohl nie die Strapazen überstanden, die sofort, noch kaum dass sie ihr Dorf verlassen hatten, auf sie warteten. Trost gab die kleine Figur. Das war die Mutter eines Gottes, wie Riza wusste, die ihre Mutter mit sich trug. Und immer, wenn sie irgendwo anhielten, gezwungen oder aus 27 freiem Willen, stellte die Mutter sie auf, um mit ihr zu reden. Der Vater redete meist mit sich selbst und das klang härter und verzweifelter, als die Gespräche der Mutter mit dieser Figur. Die Brüder redeten ganz anders. Sie waren drei und vier Jahre älter, also Sieben und Acht, trugen Stöcke, mit denen sie herumschossen, bum klatschbum riefen und da hast du es, du Schwein, und solche Sachen. Die anderen redeten von einem anderen Gott, als die Mutter. Oder war es derselbe? Auch der Vater kannte einen anderen Gott. Manchmal stritten die Eltern. Aber auch deren Gespräche und Streitereien wurden auf der Reise stiller, müder. Doch die Mutter sagte und auch der Vater, dort, in dem Land, wo sie hingingen, das Alemania hieß, sei alles besser. Gott wäre gnädig und hülfe ihnen weiter. Riza kannte Gott nicht. Hatte ihn nie gesehen. Dessen Mutter kannte sie. Das war die kleine Figur in der Tasche der Mutter. Aber ob die zu helfen imstande wäre, wusste sie nicht. So recht vorstellen konnte sie sich das nicht. Bei dem ersten Aufenthalt nach 28 ihrer Flucht von zuhause, gaben gewalttätige Männer den Ton an. Die Leute, die mit ihnen waren, und sie und die Familie, wurden hinund hergeschickt und schliefen in eisernen Hütten. Es war kalt. Eigentlich war es immer kalt. Nicht wie in der Heimat. Dort war es warm. Oft auch heiß. Es herrschte manchmal Dürre und das Wasser war knapp. Aber die Kinder fühlten sich nicht so schlecht dabei. Die Buben rannten mit ihren Holzgewehren herum und die anderen Mädchen halfen beim Stampfen der Maiskörner. Bis die Männer mit den richtigen Gewehren kamen und sie davonlaufen mussten. Schließlich, als sie in dem stinkenden, rotrostigen Schiff über das große Wasser fuhren, verlor sie die Eltern. Riza wäre beinahe zu Tode gekommen, wo sie aus dem untergehenden Schiff nach oben getrieben wurde und in den Wellen hinauf und hinunter schwappte, hätte nicht ein Mann in einer fremden Uniform sie herausgefischt und auf ein anderes Schiff gebracht. Dann kam sie in eine neue Hütte. Zunächst dachte Riza, sie sei nun in dem Land, das sie errei29 chen wollten. Es gab zu essen und sie erhielt eine blaue Hose und einen schönen roten Pullover. Alles ein wenig zu groß, aber das machte nichts. Doch als sich nichts änderte und auch die Mutter, der Vater und die Brüder nicht kamen, um sie abzuholen, weil ja nun alles ein wenig besser war, hatte sie eine Ahnung, dass eben nichts besser geworden sei. Nach längerer Zeit kam ein Mann und nahm sie mit. Sie verstand nicht, was der sagte, sie verstand die Sprache von niemandem hier. Aber sie besaß die Fähigkeit auch ohne Sprache zu wissen, um was es ging. Das hatte sie schon zuhause in ihrer Hütte gewusst. Und der Schamane, der sie damals besuchte, hatte die Mutter gefragt, ob er Riza wohl ausbilden dürfe. Wobei Riza keine Ahnung hatte, was es bedeuten solle, ausgebildet zu werden. Aber die Mutter hatte zugestimmt und schien sogar ein wenig stolz zu sein. Das war nun anders. Ob der Schamane noch lebte, wusste sie nicht. Auch ob ihre Eltern und die Brüder noch lebten, aus dem untergehenden Schiff heraus kamen, wusste sie nicht. Aber 30 sie hatte ihre Fähigkeiten. Das wusste sie. Der Mann, der sie mitnahm, hatte keine gute Ausstrahlung. Aber seine Befehle waren klar und so stieg Riza in den kleinen, blauen Bus, der sie nach irgendwohin brachte, wo sie vielleicht hoffte, dass es besser werden könne. Mit ihr fuhren andere Frauen. Sie kannte die nicht. Auch deren Sprache nicht. Alle strahlten Angst aus. Eine der Frauen sagte, sie, Riza, brauche keine Angst zu haben. Das war eine Frau, die ihre Sprache, also die Sprache der alten Heimat sprach. Du bist klein, du kommst gut überall durch, sagte sie und Riza dachte, dass sie recht haben könnte. Aber sie spürte auch, dass die Frau, die das sagte, selbst nicht so recht überzeugt war, von dem, was sie sagte. Riza spürte jedoch den Trost, der in den Worten lag. Bei einem der Aufenthalte machte sie dann von ihrem Kleinsein Gebrauch. Niemand durfte aussteigen, wenn sie irgendwo anhielten. Und wenn eine ihre Notdurft verrichten musste, ging einer der Männer mit. Es waren zwei, die das Auto fuhren. Bei diesem Aufenthalt nun, wo 31 wieder keine von ihnen aussteigen durfte, drückte Riza sich durch einen schmalen Spalt nach vorne, wo sonst die Männer saßen, die nun verschwunden waren. Sie öffnete die Tür und huschte aus dem Führerhaus des Autos. Hier standen viele andere Fahrzeuge. Leute liefen herum. Dort war ein sehr schönes Haus. Und weiter hinten begann ein Wald, wie ihn Riza nicht kannte. Sie hatte da, wo ihre Heimat war, Bäume kennengelernt. Aber nicht solche, wie hier standen. Niemand achtete auf sie. Zwischen den Autos hindurch, über feste Wege, dann über eine Wiese und durch einen Zaun aus Draht, gelangte sie unter die Bäume. Nun lief sie bereits eine ganze Weile durch das schöne und angenehm kühle Blätterhaus. Das heißt, die Zeit, die verging, bemerkte sie nicht. Es gab derart viel zu entdecken, da spielten Zeitläufe keine Rolle. Sie lernte den Wald kennen. Da gab es Früchte an den Büschen, die süß und wohlschmeckend waren, später kam sie an eine Quelle und konnte köstliches Wasser trinken. Beinahe dachte sie, dass dies das Land ihrer 32 Wünsche sei, wohin sie vor langer Zeit aufgebrochen waren, wovon alle träumten, als sie in der staubigen Hütte saßen. Eine kleine Traurigkeit wohnte in ihr, wenn sie an die Mutter dachte, die mit der Mutter dieses Gottes an diesem Ort hier sicher glücklich gewesen wäre. Oder an den Vater. Oder an die kriegerischen Brüder. Aber es war eine ferne Traurigkeit. Der Wald und das Momentane, dazu die Spannung, was wohl noch käme, räumten die schwereren Gedanken aus dem Kopf. Sie wusste nicht, was das Leben bereit hielt. Doch ob es schöne oder weniger schöne Dinge wären, alles schien besser, als das Gewesene. Der Wald hatte Gutes zu versprechen. Das Laufen unter den fremden Bäumen und die dabei entstehenden angenehmen Gedanken löschten alle die Angst und Hoffnungslosigkeit, die im Vergangenen nisteten, beinahe völlig. Bis auf den Verlust der Familie. Der blieb und lugte ab und zu zwischen den Bäumen hervor. Als Riza müde wurde, entdeckte sie, wie auf ihren Wunsch erschienen, ein kleines Holzhaus. Es war ein Rast33 platz für Wanderer. Da gab es eine Bank und einen Tisch, beinahe wie in der fernen verlorenen Heimat. Sie setzte sich. Dann legte sie sich auf die Bank. In ihrem Schlaf erfuhr sie zum ersten Mal nach langer Zeit glückliche Träume. Sie sah lachende Menschen und ein anderes, ein besonderes Kind, das in ihrem Alter war, das zur Freundin wurde. Und ein weiteres besonderes Kind kam hinzu. Sie waren nun zu Dritt. Und gemeinsam waren sie froh und stark. Es war ein schöner Traum. 34 Gisa Gisa wusste nicht, was es bedeutete. Zu- nächst nicht. Später schon. Ihre Eltern waren unterwegs gewesen. Dann kam die Tante, die Gisa nicht ausstehen konnte, besonders wenn sie mit ihrer Hasenscharte näher rückte und Gisa ihre klebrigen Küsse aufzwang. Und andere waren mit dabei und einige Polizisten auch und alle flüsterten, bis die Tante dann auf einmal sehr laut redete und meinte, sie habe weder Zeit noch Platz und das ginge nicht, so dass Gisa nun wusste, dass es um sie ging. Doch eigentlich ging es um ihre Eltern, die mit dem Auto verunglückt und tot waren. Aber nicht nur tot, sie waren verbrannt, so dass keiner sie mehr erkennen konnte. Zunächst waren da gar keine schlimmen Gefühle in ihr, so dass sie sogar meinte, alles sei nicht wahr, aber als man dann ihre Sachen zusammensuchte, auf einen Haufen legte, dabei beinahe den magischen Tim vergessen hätte, der zu ihren engsten Beratern zählte, 35 besonders, wenn es um kritische Angelegenheiten ging, da wusste Gisa, dass die Nachricht vom Tod der Eltern nicht nur stimmte, sondern dass sich auch ihr Leben verändern würde. Dass die klebrige Tante nicht zu ihrer neuen Heimat wurde, war noch ein Glück dabei. Aber die hatte es ohnehin bloß auf einige der Wertsachen abgesehen, die übrig blieben, so dass Gisa zudem klar wurde, dass sie selbst zu den wertvolleren Dingen wohl nicht zählte. So kam sie in dieses Kinderheim, das nett gelegen war. Unten gab es den Blick ins Tal, mit den kleinen Häusern und den Kühen, und oben begann der Wald, mit seinem dichten, geheimnisvollen Blätterdach, unter dem Gisa gerne saß, allein, das heißt nur der Tim war dabei, und nachdachte und feststellte, dass sie die anderen gar nicht brauchte, um zufrieden zu sein. Außerdem stellte sie fest, dass sie besondere Dinge kannte und wusste, die es zu verbergen galt. Denn das war sicher, den anderen konnte das nicht gefallen. Sie erfuhr deren Gedanken, ohne dass die was sagen mussten, wobei Gisa 36 zudem bemerkte, dass sich das, was sie innerlich erfuhr, von dem, was da laut geredet wurde, oft unterschied. Alle behaupteten, man solle nicht lügen, besonders der Kaplan tat sich mit derartigen Regeln hervor, aber alle logen unentwegt. Auch der Kaplan. Und Gisa träumte. Da waren zwei Mädchen in ihrem Alter. Die logen nicht und sie waren ihre Freundinnen. Mit denen erfuhr sie eine große Gemeinsamkeit. Erfolge und gute Gefühle bei vielerlei Unternehmungen machten sie glücklich. Denn die beiden besaßen ebenfalls besondere Fähigkeiten. Und das machte sie zu Dritt stark. Aber Gisa wusste auch, dass dies Träume waren. Und wenn sie wieder wach war, blieben die Dinge des Alltags zu meistern. Was ihr eigentlich recht gut gelang. Vor allem, weil Tim dabei war, der ihr brauchbare Ratschläge gab. Und es war auch Tim gewesen, der berichtete, die im Traum benannten Freundinnen kämen nun tatsächlich näher. 37 Ziehkräfte Der Forstmeister entdeckte Riza in der Hütte. Das kleine Mädchen schlief tief. Der Mann informierte die Polizei. Dort wunderte man sich nicht schlecht, denn es war bereits die zweite Meldung zu offenbar verirrten Kindern. Man rief das Fürsorgeamt zu Hilfe. Daneben und vordringlich recherchierten die Polizisten, wo kleine Mädchen vermisst wurden. Das geschah zuletzt bundesweit. Obwohl die beteiligten Beamten wussten, dass so etwas nur selten Erfolge brachte. Die Listen über vermisste Leute lagen in der Verantwortung der Bundesländer. Und das war nicht immer vom Besten. Zudem konnten die Kinder von außen kommen, wie es hieß. Bei dem Mädchen, das sich Riza nannte, war dieses ohnehin klar. Das Kind sprach kein Wort Deutsch, schien zwar aufgeweckt und verständig zu sein, begriff wohl auch, was man wissen wollte, war aber nicht in der Lage, mehr Aufklärung zu vermitteln. Man tippte auf Libyen, oder sogar Syrien, holte eine 38 Übersetzerin, und nun wurde klarer, woher das Kind kam, was es erlebt haben musste und dass die Angehörigen nicht mehr lebten. Oder jedenfalls nicht zu ermitteln wären. Offenbar war die Familie geflüchtet. Sie kamen tatsächlich aus Libyen und versuchten über Tunesien und über das Mittelmeer Italien zu erreichen. Ob das eine Flucht vor der Armut war, oder ein politischer Hintergrund bestand – was eigentlich gleichgültig wäre, aber ansonsten eine große Rolle spielte – war nicht zu ergründen. Es gab in diesem Land Libyen, im Verlaufe seiner langen und qualvollen Geschichte, viele unterschiedliche Strömungen. Man hörte von brutalen Auseinandersetzungen, die besonders mit den verschiedenen Religionen und den fanatischen Machtkämpfen religiöser Eiferer zu tun hatten. Aber auch mit Einmischungen anderer Interessen. Dort seien mehr Spione und Agenten unterwegs, sagte einer der Polizisten, als in sämtlichen James Bond Filmen zu zeigen wären. In zahlreichen anderen Ländern dieser Region, in nordafrikanischen oder in arabischen Län39 dern, vor allem im Irak und in Syrien, gab es Terror, Aufruhr und Gewalt. Kriege, in die sich andere einmischten, dort Profit und sonstiges suchten. Oder die gar von denen angezettelt wurden. Die Polizisten wussten, es waren die einfachen Menschen, die litten. Es waren immer die einfachen Menschen, die in Not kamen und flüchteten. Sie wussten auch, dass nicht alle in den sicheren Ländern aufgenommen wurden. Manche schirmten sich ab. Wollten nicht teilen. Nun gut, Polizisten hatten ihre Befehle. Was sie dachten, spielte hierbei keine Rolle. Und es war bekannt, dass sich in der aktuellen Kriminalitätsszene einiges spiegelte von dem, was in den fernen Ländern mit den geschundenen Menschen geschah. Es gab auch eine Menge krimineller Elemente, welche die Not der anderen ausnutzten. Besonders schlimm waren Fälle, wo Frauen und Kinder aus solch elender Herkunft abgefangen, versklavt, zur Prostitution oder zu anderen unsauberen Geschäften gepresst wurden. Aber es half der Kleinen nicht, dass man es vielleicht wusste, man 40 aber sonst nicht viel anfangen konnte mit ihr. So übernahm das Jugendamt die Verantwortung. Die gab das Mädchen in ein Heim ganz in der Nähe, das in einem Tal lag, wo unten die Kühe grasten und oben der Wald war, wo Gisa lebte und von den unbekannten Freundinnen träumte. Seltsame Anziehungskräfte bestanden. Die verborgenen Fähigkeiten, die in den Mädchen wirkten, waren es wahrscheinlich, die sie zueinander führten. Gleichsam magnetisch, wie von geheimen Kräften geleitet, zogen sie sich an und fanden zueinander. 41 Drei zusammen Ähnlich wie Riza erging es auch Lisa. Auch sie landete zunächst bei der Polizei. Sie war zwar in der Lage, einiges mehr zu ihrer Identifikation beizutragen. Aber woher sie kam und warum sie in dem Wald war und wie das zuhause zuging, das konnte sie nicht sagen. Beziehungsweise sie wollte es nicht. Denn es war ihr klar, wenn sie hier nähere Angaben gemacht hätte, wäre sie umgehend zurückgeschafft worden. Dann war alles umsonst. So kam, nach sämtlichen vergeblichen Polizeirecherchen, wo auch möglicherweise eine gewisse Steuerung eine Rolle spielte, auch sie in dieses Heim. Und als die drei sich nun tatsächlich trafen, fernab ihrer Träume, jetzt wirklich und real, da wurde ihnen klar, dass dies ihrem Leben eine neue, eine wahrlich schicksalhafte Wende gab. Und dass es eine unverbrüchliche Freundschaft war, die sie von nun an verband. Sie mussten über ihre Fähigkeiten nicht groß reden. Sie wussten voneinander. Wenn sie ihre Sinne öffneten, 42 war eine wie die andere. Es gab Unterschiede in den Qualitäten. Das spürten sie. Aber das erhöhte die Spannung, die anderen noch näher kennenzulernen. In ihrem Alter jetzt aber waren die Besonderheiten fast identisch. Sie verständigten sich rasch, dass sie dies geheim halten wollten und auch, dass sie, alles in allem, zusammen eine bedeutende Energiemasse darstellten. Was ein Leben außerhalb des geordneten Lebens der anderen nicht nur ermöglichte, sondern überaus interessant machte. Spannend und lebenswert. In Freundschaft und Fröhlichkeit verbunden, zusammengehalten und geschützt von der gemeinsamen Kraft, die man einzusetzen in der Lage war. Subtil, aber auch wenn nötig direkter. Riza lernte die Sprache, die alle sprachen. Was einfach war. Denn das, was aus den Mündern kam, wurde von ihr simultan in den Köpfen gelesen. Alle wunderten sich, wie rasch sie lernte. Bis auf die Freundinnen, die wussten es. Die Drei entwickelten sich prächtig, wie 43 der Heimleiter fand, und als sie mit fünf Jahren bereits in die allgemeine Schule geschickt wurden, die sich in der Nachbargemeinde befand, dachte keiner großartig darüber nach. Nun begannen die Mädchen ihre Entwicklung auch hier voranzubringen. 44 Der Wanderzirkus Die Heimkinder besuchten einen Zirkus. Der gastierte in der Nachbargemeinde, die hieß Riegelheim. Ein seltsamer Name, wie die Kinder meinten. Die Heimleitung machte dies oft, Veranstaltungen besuchen. Konzerte, Kirmesvergnügungen, auch andere Ereignisse geselliger Art, was immer man für angemessen hielt … oder eben Zirkus. Das hieß nun nicht, jeden Zirkus zu besuchen, der da auftauchte. Aber derart häufig kamen Zirkusse ja sowieso nicht in das Kaff. Wanderzirkusse gab es kaum noch. Öfter machten die Kinder Ausflüge in ir- gendwelche Heimatmuseen oder zu besonderen Ausstellungen hin. Auch die regelmäßigen Markttage wurden besucht. Derart sollten sie an die Leute, an Sitten und Gebräuche, also an das Leben außerhalb des Heims herangeführt werden. Solche Ausflüge waren beliebt. Bei den Kindern, wie bei den Betreuern. Und die Nachricht, dass ein Zirkus 45 seine Zelte aufgeschlagen habe und man dorthin wolle, löste einige Begeisterung aus. Tagelang bereitete man in den verschiedenen Gruppen den Besuch vor. Die Kleinen malten Pferde und Löwen, die Größeren spielten sich als Artisten auf oder waren Clowns. Lisa, Gisa und Riza freuten sich auch. Sie hörten den Erzählungen der Erwachsenen zu, was das sei, ein Zirkus, und wie das dort abging, und sie stellten sich das Kribbeln im Magen vor, wenn Menschen auf hohen Seilen balancierten oder über galoppierende Pferde sprangen. Was sie nicht wussten, und keiner wusste es, dass auch Zauberkunststücke geboten wurden. Und nun saßen sie da, mit hunderten ande- ren Menschen zusammen, starrten auf den gelben Belag der Manege und staunten. Es war ein besonderer Zirkus, der mit geheimnisvollen Beleuchtungen und bezaubernder Musik in den Bann zu ziehen suchte. Natürlich gab es auch Pferde und Löwen und drei Elefanten und die Clowns sowieso. Aber Li46 sa, Gisa und Riza waren besonders eingefangen von eben diesem Anderen, diesem Zauberigen, das in der gesamten Atmosphäre lag. Was eigentlich kein Wunder war. Besonders eine Frau faszinierte sie. Man kündigte sie als die Königin der Magier an. Und sie machte diesem Titel alle Ehre. Die drei Mädchen folgten gespannt den zelebrierten Tricks. Aber waren das Tricks? Einige der Zauberstückchen waren es, ganz klar. Das konnten die Drei leicht erkennen. Vor allem, wenn sie ihre Fähigkeiten nutzten, sahen sie es. Aber da gab es auch anderes. Was ebenfalls nur sie erkannten. Blumen, welche die Magierin, die sich Black-Rosanna nannte, aus den Jackenumschlägen der Zuschauer holte, waren Tricks. Ganz klar. Aber es war gut gemacht. Illusionen, die alle verblüfften, die Lisa, Gisa und Riza aber durchschauten. Doch als die Frau Zettel aus den Taschen der Zuschauer nahm, auf denen Botschaften standen, die wieder andere verfasst hatten, und sie diese Botschaften an eine Tafel 47 schrieb, bevor sie den Inhalt der Zettel kannte, dann war das etwas anderes. Und als sie dann einen Igel, einen stacheligen unhandlichen Igel, in einen Hasen verwandelte, den sie aus einem angeblich leeren Rohr zog, das einer der Zuschauer zuvor getestet hatte, da wurden die Drei noch aufmerksamer. Sie waren jetzt um einiges mehr gepackt, als es die Vorführung ohnehin schon fertigbrachte. Zudem stellten sie fest, dass ihre eigenen Fähigkeiten, in den Gedanken anderer zu lesen, bei dieser Black-Rosanna blockiert schienen. Aber das konnte auch daran liegen, dass die Konzentration der Frau allzu stark auf anderes gerichtet war. Es mochte sein, dass einige ihrer Tricks darauf beruhten, die Zuschauer insgesamt gedanklich zu beeinflussen. Die drei Mädchen spürten es. Wie auch immer, dort, auf der halbdunklen quadratischen Bühne, die mitten in der Manege aufgebaut war, geschah einiges, was die Mädchen sowohl irritierte, als auch außerordentlich stark in den Bann zog. Und so be48 schlossen sie, der Frau nachzugehen. Das hieß, sie wollten erforschen, was es mit der auf sich hatte. Wenn man besondere Fähigkeiten besaß und davon wusste, wie es bei den Dreien der Fall war, und wenn man sie auch einsetzte, dann waren andere besondere Qualitäten, die man bei jemandem entdeckte, nicht nur überraschend, sondern auch spannend. So erging es den Mädchen. Und als beim Bühnenabschied der Blick der Frau eindeutig zu ihnen führte und ein winziges Lächeln auf dem dunklen Gesicht deutlich mehr zu bedeuten schien, als nur ein Bühnenlächeln, weil da ein Gedankenblitz mitkam, der den Dreien unter den Schädel fuhr, da war es für sie klar, dass sie der Black-Rosanna näherkommen mussten. Diesem Vorhaben galt ab sofort alle Priorität. Nichts anderes galt. Und noch während eine jüngere Frau an einem Seil hing und ein maskierter Mann sie herumschleuderte, schlichen sich Lisa, Gisa und Riza weg von ihren Plätzen und nach draußen. Der Weg lag wie eine 49 vorgezeichnete Spur vor ihren Augen. Sie kamen an einen Wagen, der keiner der üblichen Zirkuswagen war. Es war ein Campingwagen, der wie ein Lastwagen selbständig gefahren werden konnte. Die Mädchen kannten so etwas nicht. Das Gefährt verstärkte für sie die Faszination, die von der Magierin ohnehin ausging. Das seitliche Fenster war erleuchtet. Es war ein freundliches Licht. Eines das einlud. An der Tür glänzte eine aufgemalte schwarze Rose. Das war wie ein Zeichen, nicht groß, aber bedeutsam. Hinter dem erleuchteten Fenster hing ein Pentagramm. Auch dies kannten die Kinder nicht. Sie sahen darin einen Stern. Was es ja auch war. Ohne zu zögern drückte Riza auf die Klingel. Ein modernes Klingelzeichen ertönte, eines, das sie von den Mediageräten kannten, wenn man sich anmeldete. Die Tür öffnete sich beinahe sofort. So als habe das Klingeln sie unmittelbar geöffnet. Oder als habe man sie erwartet. Was vielleicht ja der Fall war. 50 Die Black-Rosanna saß in einem Sessel, der bequem wirkte. Sie winkte die Drei zum Sitzen auf eine Bank herbei, hatte Säfte und kleine Gebäckstücke bereit und wirkte nun noch jünger und sehr viel freundlicher. Und vorbereitet wirkte sie. Das andere war mein Bühnengesicht, sagte sie und lachte, nun seid ihr hier, ich habe lange gesucht. Was für Lisa, Gisa und Riza keinesfalls eine riesige Überraschung bedeutete. Seltsam eigentlich, aber es war so. Sie saßen da, unterhielten sich, berichteten von den Irrwegen und dem Suchen zueinander, lauschten den Ausführungen der Frau, wussten nun, dass BlackRosanna ein Bühnenname war, dass sie in Wahrheit Anna hieß und bemerkten nicht, wie die Zeit verging. Sie hörten nicht, wie man draußen aufgeregt hin und her lief, ihre Namen rief, bemerkten auch nicht, als es letztlich ruhiger wurde und waren am Ende überzeugt, wie selten von etwas, dass sie bei dieser Anna bleiben und mit ihr gehen wollten. Wohin auch immer. 51 Natürlich lag auch eine Dankbarkeit in ih- nen, dem Heim und den Leuten dort gegenüber, natürlich war es für Gisa nicht einfach, den Tim zurückzulassen, der so oft gute Ratschläge gegeben hatte, nun aber ganz sicher mit ihrem Schritt einverstanden gewesen wäre. Das glaubte sie fest. Denn das, was auf sie zukam, war derart wichtig, derart zwingend, dass es kein Zögern gab. Die Aufregung, dass bei einem Zirkusbesuch drei kleine Mädchen spurlos verschwunden waren, bekamen sie nicht mit. Es hätte sie auch nicht interessiert. Dass dabei der Heimleiter seine Stellung verlor, wäre vielleicht noch geeignet gewesen, sie in Sorge zu bringen, aber auch das erfuhren sie nicht. Seltsam war nur, dass die drei dabeisaßen, als ein Polizist mit Anna sprach. In deren Wagen war das. Aber der Mann schien sie nicht wahrzunehmen. Er redete auch nicht lange herum. Zwei Tage später fuhren sie davon. Die Vier in diesem seltsamen Auto. 52 Weit im Süden des Landes besaß Anna ein wunderschönes Haus. Es sah einem kleinen Schloss ähnlich. Dorthin fuhren sie. Anna meldete die Mädchen in der örtlichen Schule an. Es gab keine Probleme, woher sie wohl gekommen waren. Anna konnte das regeln. Anna konnte vieles. Sie sagte den Dreien, dass es nicht nur darum ginge, bei ihr zu lernen. Das täten sie ohnehin, und das täten sie richtig. Und dass sie es ungestört könnten, dass sie die Ruhe und die Möglichkeiten zur wichtigen Reflexion fänden, sei besonders wichtig. Hierfür sei ihr Haus das Gegebene. Ihr werdet aber auch in der Schule lernen. Das ist von Bedeutung. Ihr lernt vor allem die Regeln der Menschen, das Wissen um die Gemeinschaften, in denen Menschen leben und das Wissen darum, mit was sich Menschen beschäftigen. Doch einiges kann ich euch auch beibringen, sagte sie, und grinste übers ganze Gesicht. 53 Lisa, Gisa und Riza wussten das. Sie waren glücklich. Sie lernten Tag für Tag mehr dazu. Draußen in der neuen Schule, bei den anderen und selbstverständlich bei Anna. Sie liebten und achteten die Magierin, die für sie nun zur eigentlichen Mutter geworden war. Eine Mutter, die verständig war, die behutsam den Neigungen der Mädchen nachgab, die sie stützte und hielt, und die selbst Fähigkeiten zeigte, von denen die Kinder kaum geahnt hatten. Im Zirkus trat sie nicht mehr auf. Das sei ein Mittel der Suche gewesen, sagte sie. Und nun, da sie die Drei gefunden habe, sei alles anders. Und sie lachte, wenn sie solches sagte, so dass die Kinder nicht genau wussten, wie ernst es ihr darum war. Nur geschah alles derart selbstverständlich, was Anna tat und berichtete, dass Zweifel niemals aufkamen. Doch wenn sie darüber redeten sagte Anna auch, dass nichts im Leben endgültig sei. Womit sie wohl ebenso recht hatte. Auch das wussten Gisa, Lisa und Riza bereits. 54 Eine besondere Regel Anna hatte den Mädchen erklärt, dass sie immerzu lernen müssten. An allen Orten dieser Welt, wo und wie auch immer sie mit wichtigen Fragen in Berührung kämen. Mit Fragen, die sie berührten. Was dabei wichtig sei, erführen sie schon noch, antwortete Anna auf die entsprechenden Einwände. Und um die Erhaltung der alltäglichen Dinge, wie Essen, Kleidung oder was man so brauche, müssten sie sich sowieso keine Gedanken machen. Das sei vorhanden. Jedenfalls solange sie sich an die Regel hielten, sich nämlich nie zu trennen. Und wenn es denn sein müsse, einmal getrennte Wege zu gehen, was ja wohl immer möglich wäre, dann bliebe es unabdingbar, im Inneren verbunden zu bleiben. Was eine strenge Regel sei, gab Anna zu, eine Regel, deren Strenge sich erst im Verlauf des Lebens zeige, denn als Kinder bliebe es leicht, zusammen zu bleiben. 55 Wenn das Leben irgendwann einmal mit seinen unterschiedlichen Versuchungen käme, sagte Anna, wäre die Strenge der Regel auch als eine nachhaltige Prüfung zu begreifen. Das Zusammenbleiben aber habe nur den einen Grund, betonte Anna, die Stärke, die jede von ihnen besaß, zu einer wirklichen Stärke, zu einer Superstärke zu machen. Was jedoch diese Superstärke sei, das müsse sich entwickeln. Und wozu sie eine solche entwickeln sollten? Ihr werdet es herausfinden, erklärte Anna. Dazu später mehr. Ihr werdet in der Schule lernen, danach an den unterschiedlichen Hochschulen und Universitäten studieren und immer auch in der Welt, die euch umgibt. Und all dieses frei von den Zwängen, die dadurch entstehen, dass Abhängigkeiten durch Verdingungen an andere nötig wären, weil ihr beispielsweise Geld verdienen und arbeiten müsstet. 56 Der größte Feind solcher Großzügigkeit aber, unterstrich Anna, das solltet ihr beachten, sitzt immer in euch selbst. Jetzt versteht ihr das noch nicht so recht, weil die Bedürfnisse von Kindern klein sind. Wenn Bedürfnisse aber wachsen, kommen gerne Egoismen hinzu. Das Gemeinschaftliche wird dann oft in Frage gestellt. Später im Leben erscheinen euch manche Bedürfnisse erstrebenswert, die ihr jetzt noch gar nicht kennt. Die aber, wenn sie an euch herantreten, immer die Gefahr in sich tragen, euch auseinander zu treiben, das Selbstsüchtige wachsen zu lassen. Auch weil andere da draußen euch weiszumachen suchen, dass genau dies, das Egoistische nämlich, das Gleiche sei, wie das Individuelle, und dass man es anstreben solle. Es sei die wahre Freiheit, behaupten die. Leider verstehen zu viele in der Welt den Begriff der Freiheit als ein Schlagwort, um damit eigene Interessen durchzusetzen, sagte 57 Anna. Solche Leute erklären dann den anderen, Freiheit sei ein wichtiges Ideal. Was ja auch stimmt. Aber deren Philosophie ist nicht ethisch gestützt. Sie ist unmoralisch, weil sie nur die eigene Freiheit sieht. Und das ist eine interpretierte Freiheit, die darin besteht, andere zu beherrschen, zu raffen, Geld, Waren, sogar ganze Länder sich einzuverleiben. Solche Menschheitsvertreter benutzen die Mitmenschen gern, indem sie Abhängigkeiten schaffen. Davor schütze ich euch. Was Stärke bedeutet, habt ihr kennengelernt. Jede für sich. Und nicht immer bedeutete es Gutes. Ihr habt auch gesehen, was meine Stärke bewirken konnte. Dort im Zirkus, oder in dem Wohnwagen. Die Welt ist ähnlich geartet, wie dieser Zirkus. Man kann sie manipulieren. Viele tun es. Manches erkennt man, manches nicht. Doch wenn man Fähigkeiten hat, besteht eine Verantwortung, sie im besten Sinne weiterzuentwickeln. Wozu man sie hat, oder besser, wofür, das muss man lernen. Darum geht es. 58 Zunächst aber solltet ihr wissen, dass die Bündelung, oder besser, die Zusammenführung eurer Kräfte nicht selbstverständlich verläuft, sondern erarbeitet werden muss. Dass ihr euch gefunden habt, dürft ihr als die erste große Aufgabe verstehen. Ihr habt sie gelöst, diese Aufgabe. Die hat euch keiner gestellt. Alles lag bei euch selbst. Nun schwieg Anna, schien über etwas nachzudenken, redete dann aber weiter. Ich vertrete die Auffassung, sagte sie, dass vieles, wenn nicht alles, auf Zufällen beruht. Das Erkennen und das glückliche Zusammenführen solcher Zufälle ist dann aber etwas anderes. Etwas überaus Glückhaftes. Als ein Wunder gar zu verstehen. Ich habe viele Leben lang gesucht. Dann erkannte ich euch und euer Zusammenwirken. Und das war dann der Zufall, von dem ich sprach. Dort, als ihr in dem Zirkus gesessen und meinen Experimenten zugesehen habt, erkannte ich euch. 59 Ja, es waren Experimente. Für meine Suche angelegte Versuche. Versteht ihr? Ich suchte den Zufall. Und das seid ihr gewesen. Nun gut. Teilweise wenigstens. Ob ich damit recht habe, wird sich zeigen. Jedenfalls habt ihr Drei zueinandergefunden. Auf geheime, nur euch zugängige Weise. Als eine weiteres Wunder. Bitte, versteht es nicht falsch. Ich denke, dass es nicht nur jede von euch ist, die dieses Wunder darstellt, von dem ich rede, dieses Zufallswunder, obwohl man es durchaus so sehen könnte. Ich denke, das größere Wunder ist euer Zusammentreffen. Meine Aufgabe sehe ich darin, sagte Anna weiter, diesen glücklichen Zufall zu festigen – vielleicht auch zu nutzen. Wir werden sehen. Anna lächelte. Legt eure Hände aufeinander, sagte sie, und ihr werdet neue Dinge sehen und spüren. Diese gebündelten Kräfte, die somit spürbar, erfahrbar werden, müsst ihr zu beherrschen suchen. Das ist die weitere Aufgabe. Ihr kennt die technischen Rechner 60 in der Schule. Wenn ihr die Speicher dieser Maschinen koppelt, entstehen neue Kapazitäten. So ähnlich werden die Bündelungen eurer Kräfte wirken. Zunächst erzielt ihr diese Wirkung noch durch einen körperlichen Kontakt zueinander, später geht das über die unsichtbaren Gehirnströme. Es wird dauern, bis ihr das beherrscht. Erst danach erhaltet ihr weitere Aufgaben. Derart redete Anna mit den Kindern. Es waren die ersten Kapitel einer Lehre, die außerhalb der anderen Lehren stattfand, welche Lisa, Gisa und Riza in der Schule erfuhren oder später an den Studienplätzen der Universitäten, oder sonst wo im Leben. Viele Fragen fänden erst im Verlauf der Zeit ihre Antworten, das wussten sie, das prägte Anna ihnen ein. Ob sich die Fragen nach dem Wozu auflösen würden, Fragen, die sie sich selbstverständlich stellten, wussten die Kinder nicht. Zunächst zumindest lag dies im Dunkel. Auch die Fragen nach dem Warum waren 61 ein Rätsel. Weder ganz früh, als sie zusammengekommen waren, noch etliche Jahre später, erfuhren sie mehr darüber. Anna sagte dazu immer nur den einen hinhaltenden Satz, den die Magierin jederzeit bereit hielt, es wird sich zeigen. Ein Spruch, der die Rätsel eher verhüllte. 62 Schulzeit Die neue Schule lag nicht weit entfernt in einer mittleren Kleinstadt, wo jeder jeden zu kennen schien. Was allerdings ein grundsätzliches Problem zu beleuchten schien. Weil die Kinder über ihre besonderen Fähigkeiten rasch feststellten, dass jeder eigentlich nur sich selbst sah und das Wissen um die anderen, besonders um deren Schwächen, gerne zum eigenen Fortkommen genutzt wurde. Ähnlich wie Anna es gesagt hatte. Nicht derart gewalttätig oder allgemeingültig, wie Anna es bedeutete, aber ähnlich. Was vielfältigen Manipulationen die Türen öffnete. Manipulationen, die aber auch die Mädchen selbst verwendeten. Was sie keinem sagten, natürlich nicht, nur Anna berichteten sie. Und die ließ sie gewähren, unterstützte sie sogar, weil es, wie sie es nannte, zur Ausbildung gehöre. Aber wenn man bestimmte Instrumente verwendete, müsse die Übersicht vorhanden bleiben, lautete ihre Mahnung. Das war Annas Credo. 63 Doch es gab auch Rückschläge. Im Grunde aber unterlag alles dem spielerischen Testen von Grenzen, Ordnungen und Regeln, wie es Kinder gerne tun. Nur in diesem Falle mit besonderen Voraussetzungen. Im Grunde genommen gehörten hierzu auch die Manipulationen der Prüfungen, die von den Lehrern gefordert wurden. Blitzschnell verbanden sich Lisa, Gisa und Riza, legten die Hände aufeinander, nur ganz kurz, und was die eine nicht wusste, wusste die andere. So war es ein Leichtes, alle Fragen zu beantworten. Und als sie später in der Lage waren, die Lehrer anzuzapfen, wurden solche Tests die reine Zeitverschwendung. Anna aber sagte, dass auch dies zur Ausbildung gehöre, sie müssten es mitmachen, so wie die anderen, und sie sollten sich darauf verständigen, auch kleine Fehler in die Antworten einzubauen. Denn eine Offenlegung ihrer Talente sei zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben. Wann aber der Zeitpunkt gegeben sei, und ob er überhaupt käme, sagte sie nicht. Ihr werdet sehen, sagte sie. Und das war es dann. 64 Mitschüler In ihrer Klasse gab es den Wolf Zimmer. Das war ein großer, starker Junge, der unumstritten das Sagen hatte. Um ihn scharten sich vier andere, drei Jungs und ein Mädchen. Sie bildeten eine Clique, und die vier Vasallen himmelten den Wolf an. Das war normal, und dass sie andauernd zusammenhingen, beziehungsweise, die vier an den Rockschößen von Wolf, bildete kein Problem. Sie terrorisierten niemanden. Was hätte sein können, betrachtete man andere Gruppen in anderen Klassen. Ihr Notendurchschnitt war normal. Alles war normal in dieser Klasse, die Lisa, Gisa und Riza besuchten. Bis auf sie selbst. Das aber hielten sie nach dem Rat von Anna verschlossen. Später stellten sie fest, dass dies ihre größte Leistung in diesen Jahren war, sich allen gegenüber als normal auszuweisen. Wenn auch aus der Sicht der anderen ihre enge Dreierbindung als eine Besonderheit gesehen wurde. Niemand vermochte, sie 65 zu trennen. Was geplant ohnehin keiner vorhatte. Kinder im Alter von neun Jahren, so alt waren sie mittlerweile, gingen noch nicht mit derartigen Dingen, wie das Trennen von Freundschaften, zu Werke, um sich vielleicht selbst zu präsentieren oder in etwas hineinzudrängen. Zumindest geschah so etwas, wenn es denn geschah, nicht mit Absicht, also geplant. Kinder waren entweder intuitiv niederträchtig oder gutartig, oder sie waren naturgemäß so oder so. Zumindest in dieser Schulklasse war das so. Die Kontakte von Riza, Gisa und Lisa zueinander, die notwendig waren, um sich zu koordinieren, bedurften mittlerweile keiner körperlichen Berührung mehr. Das ging von Kopf zu Kopf. Und die Kräfte, die unter der Anleitung von Anna gesteigert, aber auch kontrolliert wurden, waren jederzeit unbemerkt einzusetzen und zur Wirkung zu bringen. 66 Der Wolf Zimmer begann sich für Riza zu interessieren. Das bemerkten auch die anderen Schülerinnen und Schüler. Vor allem bemerkten es die drei Jungs aus der Clique um den Wolf Zimmer, und natürlich bemerkte es das Mädchen in der Gruppe. Die Jungen hießen Ronald, Tom und Felix. Das Mädchen hieß Loni. 67 Annas besondere Lehre „Ihr solltet euch zurückhalten“, sagte Anna. Von Zeit zu Zeit unterrichtete sie die Kinder auf ihre Weise. „Es ist euch doch wohl klar“, sagte sie, „dass ihr etwas Besonderes seid. Nicht im Äußeren, sondern in dem was ihr spürt und verarbeitet und in dem, was ihr zu tun in der Lage seid.“ Die Kinder nickten. „Da muss es euch doch einleuchten, dass dieses Anderssein nicht nur Freude bringt. Wenn es den anderen nämlich deutlich wird, was ihr wirklich seid, kann dies Ablehnung bedeuten. Oder sogar Feindschaft. Menschen sind so. Sie bewundern besondere Fähigkeiten, manche bringt es gar zur Anbetung, aber im Grunde genommen mögen sie es nicht. Sie haben es nicht gern, wenn die Mitmenschen allzu überlegen sind. Die Geschichte der Menschheit belegt, dass solche Andersmenschen oft getötet oder verbannt oder zumin68 dest verspottet wurden. Viele dieser Andersmenschen, ich nenne sie so, tarnten sich. Das war gut für sie. Allerdings schlecht für die Entwicklung der Menschheit. Nur was hätte es geholfen, wenn sie offen gewirkt hätten und man sie umbringt, nur um sie möglicherweise später, wenn man die Fähigkeiten endlich anerkannt hätte, zu feiern oder anzubeten. Das ist die Lehre, man muss sich zurückhalten, wenn man sehr besondere Kräfte in sich spürt. Das lässt die anderen zwar im Mittelmaß, aber es ist wie mit der Medizin, allzu viel ist tödlich. Ihr mögt jetzt sagen, dass der Fortschritt einer Spezies gerade davon abhängt, wie sehr sie den genialen Vertretern ihrer Art Raum gibt. Und das stimmt auch. Aber wenn die Schritte zu groß werden, wenn die anderen überhaupt nicht mitkommen, wenn von Zauberei und von Wundern geredet wird, dann wird es gefährlich. Dann geraten solche Ausnahmen in große Gefahr, weil nämlich der Rest der anderen eine Gefahr für 69 sich zu entdecken glaubt. Weil deren Ordnung gestört scheint. Davor gilt es sich zu hüten. Das müsst ihr beachten, das schützt euer Leben, denn ihr seid besonders, das wisst ihr. Und dass ihr zu dritt seid, ist ein zusätzlicher Punkt, auf den zu achten ist. Denn das bedeutet eine besondere Kräftebündelung. Und eine besondere Gefahr für die anderen. Zumindest für die, die das so sehen. Eine derartige Macht, denn das ist es ja wohl, wird mit großer Wahrscheinlichkeit von den bestehend Mächtigen bekämpft werden. Dies bedingt Verantwortung und Vorsicht für euch selbst. Ihr müsst verborgen bleiben, wenn es um die Nutzung der besonderen Qualitäten geht. Also Aufpassen, bei allem was ihr tut … Ich sagte es öfter schon, dass ihr materielle Dinge nicht zu beachten braucht. Ihr lernt und entwickelt euch. Dazu findet ihr hier alles, was nötig ist. Bei Gelegenheit sage ich 70 mehr dazu. Heute geht es mir ausschließlich um den überaus wichtigen Hinweis, jederzeit vorsichtig zu sein.“ „Warum redest du so mit uns“, fragte Riza verwundert, „wir tarnen uns doch gut.“ „Das tut ihr. Und ihr seid stark. Aber es gibt vielleicht auch etwas, das ebenso stark sein könnte. Was keinesfalls unterschätzt werden darf. Da gibt es beispielsweise den Trieb der Menschen, zueinander zu wollen, sich zu mehren, gemeinsam Lust zu haben. Man nennt es auch Liebe. Die Liebe ist ein schöner menschlicher Trieb. Aber er ist in der Lage, anderes rasch vergessen zu lassen. Er ist oft egoistisch. Und da es nur selten so ist, dass ein Mensch, der liebt, ebenso stark liebt wie der andere, obwohl der andere das behauptet, kann darin Unglück liegen. An solcher Diskrepanz ist schon einiges passiert.“ „Wir können das gut erkennen“, meinte Lisa grinsend, „wir sehen in die Gedanken.“ 71 „Das könnt ihr wohl. Aber ich wiederhole, die Liebe gehört zu den starken Empfindungen. Da ist es manchmal so, dass man vieles weiß, aber dann doch einiges tut, was solchem Wissen widerspricht. Es ist ein Trieb, ich sagte es. Auch ihr werdet nicht frei davon sein.“ „Gut“, sagte Gisa, „wir verstehen, was du meinst. Aber wenn wir uns allem verschließen, fallen wir doch erst recht auf.“ „Sehr gut“, rief Anna, „sehr gut, dieser Hinweis. Denn das solltet ihr keinesfalls. Ihr müsst lernen, aufgeschlossen zu sein, bei vielem mitzumachen, was auch die anderen machen. Das nenne ich Tarnung. Es wird sogar Spaß bedeuten, dies zu tun. Nur eure wahre Identität muss geheim bleiben, sonst seid ihr verloren. Dann kommen entweder die Menagerien dieser Welt, um euch auszustellen, oder die Wissenschaft macht euch zu Labormäusen. Da weiß ich nicht, was schlechter wäre. Also verbündet euch nur mit euch selbst. 72 Der Wolf Zimmer ist einer, der dich erobern möchte“, sagte sie zu Riza. „Das nennen die Menschen so. Erobern heißt das. Keiner weiß, wohin es führt. Sei auf der Hut.“ „Das werde ich sein“, beteuerte Riza. „Der ist ganz nett, also optisch gesprochen, er ist angesehen bei den andern. Aber seine Gedanken kenne ich auch. Die sind nicht immer sauber. Doch sie liegen da, wo alle anderen sagen, dass es normal ist.“ „Dann ist es gut“, sagte Anna. „Ich werde euch bald erzählen, wohin es führt, was ich denke, was wir zu tun haben. Es ist eine lange Geschichte. Auch die, woher alles kam. Das müsst ihr wissen.“ Die Drei rückten sich zurecht. „Nein“, lachte Anna, „heute nicht. „Für heute ist es genug. Demnächst sagte ich. Demnächst.“ 73 „Ooch …“, riefen die Kinder, was sie ja noch waren, Kinder, neunjährige Mädchen, aber in den Köpfen weit fortgeschritten. „Eines erkläre ich euch noch“, sagte Anna. Sie hob nun doch zu einem ihrer längeren Vorträge an, welche die Kinder über sich ergehen ließen, die sie aber auch liebten. Über die sie intensiv nachdachten und gemeinsam diskutierten. „Es ist die Sache von der Gewalt und von der Macht“, sagte Anna. „Ihr habt unterschiedliche Menschen kennengelernt, die Gewalt ausübten, weil sie die Macht dazu hatten. Zumindest für eine Weile hatten sie die. Riza, du weißt was ich meine. Das waren Menschen, die euch quälten. Bei dir waren es Soldaten oder so genannte Rebellen. Im Kopf kranke Menschen … bei Gisa und Lisa waren es sogar die, die euch zu versorgen hatten, lieblose Eltern oder Verwandte. Die Machtausübung unter Menschen ist üblich. In vielen Bereichen ist das sogar sinnvoll. 74 Jeder Staat beispielsweise übt Macht aus. Aber auch hier sind es natürlich die Menschen. Sie bilden ja den Staat. Doch es kann geschehen, dass ein Staat wie zu einem selbstdenkenden und selbsthandelnden Wesen wird. Er benutzt seine Menschen. Er schützt sie, aber er benutzt sie auch. Er macht Menschen zu Polizisten oder zu Soldaten, zu Richtern oder zu Staatsanwälten. Derart versucht er zu umhegen, was er für schützenswert oder für angegriffen hält. Dabei ist immer die Grundlage, wie er sich selbst sieht. Es ist wie bei jedem einzelnen auch. Das, was einer für gut hält, wird gefestigt. In dem großen Gebilde, dem Staat, ist aber ausschlaggebend, ob dort beispielsweise genügend Rechtsanwälte den Staatsanwälten gegenüberstehen. Und ob klug abwägende Richter vorhanden sind. Ob es Parlamente gibt und Gesetze, die der Gesamtheit und dem Zusammenleben nutzen. Die für Ausgleich sorgen. Wichtig bleibt immer, wer die Regeln bestimmt. Manchmal sind es nur wenige, die 75 das festlegen, manchmal sind es mehr, oder sogar das ganze Volk. Solche Grundlagen bestimmen jedenfalls über Macht und Gewalt. Darüber rede ich. Und was im Staat geschieht, weil ich den als ein Beispiel nannte, gilt in hohem Maße auch für euch. Gerade für euch. Denn ihr seid besonders. Nur dass ihr die Fragen um Gerechtigkeit, Macht und Gewalt allein für euch entscheiden müsst. Das ist eure Bedeutung. Eure Verantwortung. Die Macht in dem Staat, den ich zum Muster nahm, entspricht im besten Falle immer der Ethik und der Moral aller Menschen, die in dem Gebilde wimmeln und wabern, leben und sterben, arbeiten, glücklich oder unglücklich sind. Dies ist immer ein Durchschnitt. Beim einzelnen Menschen muss dies in dessen Innerem die Abwägung der Argumente und Vorstellungen sein. Menschen sind gut und böse. Das muss immer bedacht und überwacht werden, damit sich die Extreme ausgleichen.“ 76 Anna hielt kurz inne, überlegte, schien Gefallen gefunden zu haben an ihrer Lehrstunde. Machtfragen beschäftigten sie ihr Leben lang. „In der Regel“, fuhr sie fort, „bestimmen die Menschen unmittelbar ja nur den Beginn ihres Staates“, setzte sie ihre halbphilosophischen Betrachtungen fort. „Mit den kleinen Siedlungen fängt es irgendwann an. Später wuchert ein Staat wie von selbst. Das zu kontrollieren und zu steuern hat auch mit der Macht einzelner zu tun. Weil es zu Leitlinien werden kann. Zum Guten wie zum Bösen. Warum verhält sich bei uns die Polizei anders, als in Diktaturen beispielsweise? Wo du Riza herkommst? Obwohl …“ Anna lächelte, hielt kurz inne. „Aber auch das erfahrt ihr später. Jedenfalls ist die Ausübung von Gewalt zur Durchsetzung bestimmter Ziele eine menschliche Eigenschaft. Sie ist uralt. Gleichgültig, was 77 man Gewalt nennen mag. Verteidigung nennen es die einen, Revolution oder Gegenwehr die anderen. Wobei oft unterstellt wird, dass die Aggressiven, also die Angreifer, immer die Böswilligen wären. Aber alles sind Menschen. Jeder verteidigt seine Werte. Oder was er dafür hält. Und ihr werdet feststellen, dass auch die harmlos erscheinenden Formen der Gewalt, die Überredung oder Beeinflussung, wichtige Instrumente sind. Hinzu kommt, dass der Missbrauch von Werten gang und gäbe ist. Manche sagen, er gehöre zum Menschen dazu, wie Arme und Beine und alles andere. Jeder, auch der Mörder, behauptet, seine Werte seien gültig.“ Wiederhielt sie inne. „Also, was denkt ihr, warum die lange Rede? Nun, ich wollte sagen, wie wichtig es ist, die Macht im eigenen Inneren zu kontrollieren, zu überprüfen und zu bändigen – vor allem, wenn man über besondere Kräfte verfügt, über eine Macht also, die man nur alleine zu bändigen und zu steuern imstande ist. 78 Macht kann sich verselbständigen. So rasch, ihr glaubt es kaum. Ihr dürft eure Überlegenheit verwenden. Selbstverständlich dürft ihr das. Aber ihr müsst verantwortlich umgehen damit. Wenn die Grundeinstellung, an der wir arbeiten, so ist, dass sie euch und eure Werte trägt, dann dürft ihr sie einsetzen, eure Macht. Oft wird dies unumgänglich sein. Und dass es eine hohe Verantwortung ist, habt ihr begriffen. Oder? Das war der Sinn meiner Rede.“ Die Mädchen nickten. Derartige Vorträge kannten sie. Manchmal hörten sie nur halb zu. Aber sie liebten Anna und die Überzeugungskraft, die aus der Magierin strömte, war stark. Sie gab ihren Lehren Resonanz. Anna erhob sich. Die ganze Zeit über hatte sie in dem uralten Stuhl gesessen, der gleichsam wie ihr Thron wirkte. „Nun geht schon“, rief sie, „geht in den Garten. Geht spielen. Im Spiel findet ihr Ent79 spannung. Vielleicht findet ihr auch Anregungen fürs Leben.“ Sie lachte. „Verwendet die Kraft, die in euch liegt. Verwendet sie spielerisch. Habt Spaß. Dann lernt ihr spielend, sie zu beherrschen.“ Anna lachte anhaltend, liebevoll, freundlich. Sie zog sich zurück, schien zufrieden zu sein. Langes Reden gehörte zu ihrer Art. Langsam stieg sie die Treppe hinauf, wo ihre Privaträume lagen. „Zur Gewalt“, rief ihr Gisa im Hinauslaufen hinterher und lachte ebenfalls, „gehört da auch das Töten?“ „Natürlich“, sagte Anna. „Natürlich … das auch.“ 80 Schulwechsel Mit elf Jahren kamen Gisa, Lisa und Riza in eine andere Schule, an einem anderen Ort, da sie nun das Gymnasium besuchten. In der kleinen Stadt, in der sie lebten, gab es die zusammengelegten Bildungswege nicht. Es bestand hier noch die alte Aufteilung. Die meisten aus ihrer Klasse gingen zum Gymnasium. Auch Wolf Zimmer, Ronald, Tom und Felix wechselten zur neuen Schule. Nur Loni ging zur Realschule. Sie wollte später zu einer Lehre als Friseurin kommen. Ihre Eltern besaßen einen Friseursalon. Aber wenn sich die Clique irgendwo traf, war sie immer noch dabei, je nachdem wie es ihre Zeit zuließ. Denn die Eltern setzten sie bereits im Geschäft mit ein. Wolf bemühte sich weiterhin um Riza. Da die aber zurückhaltend blieb, immer die Worte Annas im Ohr, waren die Versuche des Jungen im Grunde genommen erfolglos. 81 Nun gut, sie waren ja immer noch Kinder. Da blieben die allgemeinen Freundlichkeiten von Riza derart, dass Wolf behaupten konnte, sie sei seine Freundin. Was sie nicht war. Zumindest hätte sie nie von einer Freundschaft gesprochen, wenn sie es lediglich gestattete, dass er manchmal ihre Schulmappe trug. Außerdem blieben Lisa und Gisa immer in Reichweite. Die Jahre vergingen, und die kühle Freundschaft wurde von ihr immer noch und eher mehr als kühl gesehen. Was Wolf allerdings keinesfalls abschreckte. Im Gegenteil. Er bemühte sich umso intensiver, je mehr Zeit verging und je mehr auch sexuelle Überlegungen hinzukamen. Mit dreizehn Jahren hatten die Mädchen ihre Periode. Nahezu gleichzeitig. Sie seien nun Frauen, sagte Anna, was aber an den ursprünglichen Abmachungen und Zielsetzungen überhaupt nichts ändere. Nur müssten sie nun damit rechnen, 82 dass harmlose Freundschaften sich anders gestalten könnten, da der Trieb, am Körper von anderen sich und die eigene Lust zu erfahren, anstiege. Was offenbar bei Wolf der Fall war. Die harmlose und von Riza kühl genommene Freundschaft wurde mehr und mehr bedrängend. Sexuelle Kontakte standen noch nicht unmittelbar im Vordergrund von Wolfs Bemühungen, aber die Vorstufen dazu. Und da Riza, Lisa und Gisa eine Menge mehr erfuhren, als je gesagt wurde, war ihnen klar, um was es ging. Sie kannten die Gespräche der Jungs untereinander und wussten lange schon, dass es Rivalitäten und Wettkämpfe gab, wer welches Mädchen knackte. Knacken war ein spezieller Ausdruck bei denen. Aber die Schulungen Annas halfen, über den Dingen zu stehen. Wenn auch die Bestrebungen von Wolf spürbar wuchsen. Er drängte sich bei jedweder Gelegenheit an ihre Seite, gab vielerlei Liebenswürdigkeiten zum Bes83 ten und war unermüdlich im Erfinden von Kontakten. Da er auch im Gymnasium, wie früher in der Grundschule, ein Sportstar war, ein guter Leichtathlet, ein hervorragender Schwimmer, wurde er von den Mädchen der Klasse, ja man kann sagen, der gesamten Schule, angehimmelt. Und die Jungs bewunderten ihn ebenso, einige verehrten ihn geradezu. Er sah blendend aus und war auch in den Lehrfächern mit ordentlichen Noten versehen. Kein Grund für Riza also, sich über die Maßen zu zieren. Zumal sie selbst eine Schönheit war. Auch dies unbestritten von allen. Andere Jungs hatten ebenfalls immer mal wieder Kontakte zu knüpfen versucht. Aber dies als sinnlos aufgegeben. Zumal sie annehmen mochten, dass Riza und Wolf verbunden seien. Gisa und Lisa waren ebenso schön und bedrängend faszinierend. Aber seltsamerweise blickten die Jungs mit einer gewissen Scheu zu ihnen hin. Was damit zusammenhängen mochte, dass die Mädchen bereits bei der geringsten Annäherung ihre geheimen Abwehrschilde aufbauten. Ganz 84 nach Annas mahnenden Vorschriften. Riza dachte zwar ähnlich, aber Wolf war eben Wolf. Und ein wenig reizte sie das Spiel ja auch. Ein Spiel, das sie allerdings in allen Einzelheiten mit Gisa und Lisa besprach. Und auch Anna war eingeweiht. Die aber wusste ohnehin alles. Als die Drei fünfzehn waren, kam Wolf direkter auf seine Wünsche zu sprechen. Riza wusste Bescheid, kannte alle seine Gedanken, war auch gewarnt genug, kannte die bestimmten Meisterschaftsregeln der Jungs in Bezug auf das Knacken von Mädchen in allen Einzelheiten, wusste aber dann doch nicht ganz genau, wohin es führen könnte. Wolf war im Grunde genommen ein guter Junge, dachte Riza. Bis sie auch andere Gedanken auffing, die ebenso Gisa und Lisa empfangen hatten. Das war ausgerechnet dann geschehen, als sie siebzehn wurde. Sie feierten zuhause bei Anna. Die Clique feierte. Wolf, Ronald, Tom und Felix waren da. 85 Auch Loni kam. Die drei Mädchen hatten eingeladen. In diesem Jahr wurden sie alle Siebzehn. Der Tag der Feier lag auf dem Datum, dass sie für Rizas Geburtstag ausgewählt hatten. Anna wachte im Hintergrund und sorgte dafür, dass der georderte Lieferdienst seine Köstlichkeiten ordentlich platzierte. Alle bewunderten das faszinierende Zuhause der Drei. Wie ein Schloss, meinte Tom, ein tolles Herrenhaus, sagte Wolf. In dem aber die Frauen herrschen, betonte Lisa. Sie tanzten und redeten durcheinander, es war eine tolle Party, betonten alle. Bis Wolf Riza nach einem atemberaubenden Tanz in einen Nebenraum drückte und zu küssen versuchte. Nun ist ein Kuss grundsätzlich unter Freunden nichts Gewaltiges. Das dachte auch Riza. Aber die Gedanken von Wolf wollten mehr. Also wehrte sie ihn ab. Bis dahin war alles normal. Auch als sie sagte, dass sie so etwas nicht wolle und ansonsten alles bliebe wie zuvor, er aber keine weiteren Hoffnungen entwickeln solle, blieb die Angelegenheit noch im Rahmen. Wolf zeigte sich überra86 schend nicht allzu sehr enttäuscht. Obwohl in seinem Kopf Zorneswolken trieben. Vermischt mit ähnlichen Gedanken, als habe er gerade ein Endspiel vermasselt. Aber sie gingen freundschaftlich verbunden zurück zu den anderen und erst spät abends trennten sich die Wege. Doch das Getuschel der Jungs bekamen alle mit. Das heißt, Gisa, Lisa, Riza und natürlich Anna erfuhren, was da rasch und unter der Hand geflüstert wurde. Hast du sie geknackt, war die Frage, und, was glaubt ihr denn, noch nicht ganz, aber nahe dran und sowieso bald, war die Antwort. Und das an diesem geselligen, fröhlichen Geburtstag. Die Meisterschaft lief also weiter. Unter solchen Aspekten unterlagen die Bemühungen von Wolf Riza gegenüber einem nun noch kritischeren Aufmerksamkeitsvermerk. Riza stellte ihre Rolle innerlich um. Unter der Assistenz von Gisa, Lisa und Anna baute sie den Schutzschirm stabiler. Die beobachtende, 87 eher forschende Seite der Angelegenheit blieb jedoch erhalten. Denn nicht nur sie, alle wollten wissen, was weiter käme. Und es geschah einiges. 88 Liebeswirren Tom verhielt sich seltsam. Für Gisa, Lisa und Riza war rasch klar, um was es ging. Niemand sonst kannte den Grund. Tom wechselte von heiter bis traurig die Stimmung. Loni, die immer noch Kontakt hielt, wenn auch seltener, fragte, ob er wohl verliebt sei. Tom verneinte das vehement. Er widersprach derart heftig, dass geübte Psychologen sofort gewusst hätten, dass es eine Lüge war. Aber weder geübte noch ungeübte Psychologen wurden zu Rate gezogen. Nur Gisa, Lisa und Riza erkannten, um was es ging. Anna natürlich auch. Doch das wäre nicht besonders zu erwähnen. Tom war tatsächlich verliebt. In Wolf nämlich. Was er anderen gegenüber nie zugegeben hätte. Denn trotz aller Freiheiten, die es gab, verpönt waren die schwulen Typen immer noch. Seit ihrer Jugend waren sie zusammen durch dick und dünn gegangen. Ihr 89 Verhältnis wurde allgemein als gute Freundschaft gesehen. Auch die beiden selbst redeten voneinander als vom besten Freund. Irgendwann im Verlauf der Pubertät aber wurde Tom klar, dass er auch anderes wollte, als nur einfach mit Wolf zusammen zu sein. Auch Wolf hatte es bemerkt. Selbstverständlich bemerkte er es. Anfangs schmeichelte es ihm, dann aber hielt er es für angebracht, Tom zu verdeutlichen, dass mit ihm intimere Dinge nicht zu machen seien. Dieses sich Abgrenzen, das Wolf vornahm, hing auch damit zusammen, dass er annahm, auch andere könnten dahinter kommen. Und so etwas wollte er seinem Ruf nicht zumuten. Natürlich machte dies Tom mehr als nur ein bisschen traurig. Doch es lag offenbar in mancher menschlichen Natur, ein erstrebtes Ziel, und sei es auch noch so irreal, und seien auch sämtliche Umstände dagegen, umso verbissener anzugehen, je aussichtsloser die Angelegenheit schien. Da blieb doch immer noch die Hoffnung, alles könne sich letztlich zum Besseren wenden. 90 Tom gehörte zu solchen Naturen. Was den Abstand zu Wolf vergrößerte, denn der bemerkte mit Sorge, dass seine zunächst noch zögerliche Abwehrhaltung keinesfalls das, was er wollte, bewirkte, sondern eher Gegenteiliges. Es wäre zu befürchten, dachte er, dass Tom vielleicht im verzweifelten Suchen nach größerer Nähe alles öffentlich machte. Dies hätte seinem Ruf keinesfalls gutgetan. Bei aller Problematik blieb er allerdings weitestgehend unberührt von der Angelegenheit. Er war eben ein cooler Typ. Das wussten alle. Aber das hing vordringlich auch damit zusammen, dass er ein gleichgültiger Typ war. Einer der selbstverliebt sogar eher einen umgebracht hätte, als nur den Hauch von einem dunklen Beschlag auf seinem Spiegelbild zu dulden. Das wussten die Frauen. Und Riza, deren eigene kleine Eitelkeit sich gern im Licht des angesehenen Klassenstars gesonnt hatte, was 91 sie grinsend zugab, sah die Entwicklungen nun nicht mehr nur heiter und gelassen, sondern auch mit den forschenden Augen der Wissenschaftlerin. Wie weit würde er gehen, überlegte sie. Gisa, Lisa und Riza dachten an Annas Lehren. Sie studierten die Situation. Anna interessierte die Forschungsarbeit weniger. Sie lebte schon länger und hatte einige Erfahrungen hinter sich. Für Anna waren allein die drei Mädchen interessant, die sie entdeckt hatte, die einmalig waren und auf deren Entwicklung sich ihre ganze Sorgfalt richtete. Wie Gisa, Lisa und Riza mit dem umgingen, was sie durch ihre Besonderheiten zu erkennen vermochten, nur darauf kam es an. Anna beabsichtigte, nach dem Abschluss des Abenteuers mit Wolf und den anderen, einen weiteren Lehrgang zu gestalten. Die Mädchen, die bald Frauen waren, sollten erfahren, was sonst noch mit ihnen war. Über das hinaus, was sie bereits wussten. Denn da gab es 92 einiges. Aber noch hätte es Zeit. Wenn auch für Anna klar wurde, dass es bald zu gewissen Zuspitzungen käme. Die Bemühungen von Wolf, Riza gegenüber, blieben unverändert intensiv, zumal das scheinbare Nichtinteresse von Riza Wolf regelrecht anspornte. Verstärkend kamen die Abgrenzungsmanöver gegenüber Tom hinzu. Was im Grunde genommen das Gleiche darstellte, nur eben andersherum. Tom wiederum hielt unverändert an seiner Meinung fest, mit entsprechender Ausdauer käme der gewünschte Erfolg doch noch zustande. So gab es ein Gefühlsdreieck und ein intimes Kreiselspiel, das Riza zwar genoss, natürlich auch die Freundinnen, das aber auch Risiken barg. Die beiden Jungs spürten die unterschiedli- chen Spannungen zwischen sich als zunehmende Belastung, oder, was zumindest bei Wolf der Fall war, als Belästigung. Hinzu kamen die Vorbereitungen auf die Abiturprüfung, denn die Zeit war rasch dahingegangen 93 und der Abschluss stand mit den wichtigen Tests vor der Tür. Achtzehn und neunzehn Jahre waren sie mittlerweile alt, schöne junge Frauen und stattliche junge Männer. Die Prüfungen bedeuteten für Lisa, Gisa und Riza nicht mehr als einen Klacks. Und dies nicht nur weil sie wussten, was anstand. Sie hatten viel gelernt. Spielerisch und von ihren Kräften unterstützt. Bei jeder von ihnen kamen zusätzliche, individuelle Talente hinzu. Lisa hatte ein unglaubliches Gefühl für Zahlen, mathematische Zusammenhänge und somit auch für die Zusammenhänge logischer Abläufe. Gisa kannte sämtliche philosophischen Denkansätze aus dem Inneren ihres Wissens und Könnens heraus, gleichsam wie selbstverständlich. Und Riza verstand emotionale Zusammenhänge wie niemand sonst. Zudem besaß sie medizinische Qualitäten, Talente, die bereits irgendwo im fernen Afrika der Schamane entdeckt hatte. Im Zusammenwirken der drei Frauen ergaben sich somit große 94 Möglichkeiten. Die waren von Anna entdeckt und zur Grundlage weiterer Schulungen genutzt worden. Aber immer noch hatte sie den Dreien nicht ihre tieferen Gedanken offengelegt. Von denen sie immer wieder sprach. Die sie aber nach wie vor verschlossen hielt. Den Fragen hierzu, die mit dem wachsenden Alter der Mädchen drängender wurden – Mädchen, die nunmehr junge Frauen waren – und mit den ebenfalls gewachsenen Kenntnissen der Drei, was bestimmte Fragen intensivierte, begegnete sie mit dem lachend gegebenen Versprechen, es dauere nicht mehr lange und auch Geduld könne man üben. Daneben lief jener circulus vitiosus der Leidenschaften. Und da nach und nach bekannt wurde, was nach dem Abitur käme, was Trennungen wahrscheinlich machte, umso höher stieg der Druck im Kessel der menschlichen Leidenschaft. Ausgenommen in Rizas 95 Gefühlswelt. Obwohl sie mitten im Chaos stand, blieb sie die Chefin im Labor. Dort, wo die interessantesten Reaktionen zu testen waren. Ronald und Felix hatten sich weitestgehend zurückgezogen, sie lernten und konzentrierten sich auf den Abschluss. Loni blieb nun völlig fern. Die Clique löste sich auf. Die Hauptakteure des Dramas aber blieben. Zwischen ihnen kulminierten die Ereignisse. Wolf machte den Anfang. 96 Prüfungen Für den folgenden Tag standen die schriftlichen Prüfungen in Mathematik an. Wolf hatte keine Angst davor. Er dachte gut vorbereitet zu sein. Und da bisher so vieles in seinem Leben angenehm verlaufen war, hatte er ohnehin den Gedanken entwickelt, nichts könne ihm geschehen, da alle und alles, und vor allem ein glückliches Schicksal, auf seiner Seite stünden. Und auch kritische Situationen, in die er durchaus kommen könne, was er selbstverständlich nicht ausschloss, wären, so dachte er, für viele um ihn ein sofortiger Anlass, ihm beizustehen. Da er ja bei allen derart beliebt war. Eine trügerische Selbstüberschätzung, dachte Riza. Jedenfalls schien für Wolf jetzt, mit den anstehenden Prüfungen und den danach sich auftuenden neuen Wegen, der Zeitpunkt gekommen, wo er das letzte noch verschlossene Tor zu öffnen gedachte. Jenes, das ausführlichen Sex mit Riza bedeutete. 97 Anna hatte gewarnt. Doch Riza war sicher, die Sache steuern zu können. Was gewissermaßen ebenfalls einer kleinen Selbstüberschätzung nahe kam. Wiewohl ihre Qualitäten hierzu eher Anlass gaben, als die Eitelkeiten von Wolf. Am Nachmittag vor dem Prüfungstermin trafen sich die beiden im Park. Es war wie ein Zufall. Obwohl es keiner war. Riza saß gerne dort in einer etwas abgelegenen Ecke auf einer Bank, weil es nur wenige Menschen da gab, und dementsprechend die Ablenkung durch umherirrende Gedanken seltener war. Natürlich konnten die Drei sich und ihre Gedanken abschirmen. Dennoch rutschte, wenn sie unter Leuten waren, leicht der eine oder andere Fetzen von irgendjemandem in den Kopf, ein Splitter, der vielleicht interessant war, so dass man ihm nachging. Was jedenfalls von den eigenen Gedanken ablenkte und eine Konzentration, wollte man sie haben, störte. Hier, in der Ecke des Parks, konnte Riza entspannen. Wolf aber hatte lange schon 98 die Angewohnheit entwickelt, Riza hinterher zu schnüffeln. Er kannte die Ecke. So war der Zufall ihres Treffens von ihm nur inszeniert, was Riza selbstverständlich durchschaute. Aber sie sagte nichts. Wolf setzte sich neben sie. „Riza! Süße! Das ist ja wunderbar, dass ich dich treffe“, rief er, übertrieben überrascht klingend, „ich wollte hier lernen. Da ist es schön ruhig“, log er sich die Begründung zurecht. „Ja“, sagte sie, „das wollte ich auch. Jetzt ist es wohl aus mit der Ruhe“, grinste sie. Sie provozierte bewusst. „Entspannung vor der Prüfung kann auch gemeinsam stattfinden“, behauptete Wolf. „Gemeinsame Meditationen?“ Sie spottete. „So ähnlich.“ Wolf grinste unverschämt. „Bist du vorbereitet auf morgen“, versuchte sie abzulenken. 99 „Glänzend“, log Wolf, „es fehlt nur was an Entspannung der besonderen Art.“ „Ach ja? Was meinst du“, fragte Riza und wusste die Antwort. „Lass uns doch endlich mal zur Sache kommen.“ Wolf dachte offenbar, dass er die Angelegenheit sachlich angehen sollte. Riza spürte allerdings irgendwo in Wolfs Kopf eine Entschlossenheit geistern, die nicht ungefährlich war. „Zur Sache“, spottete sie, „welche Sache meinst du? Die Angelegenheit mit dem Sex hatten wir diskutiert. Ich will das nicht. Das sollte klar sein.“ „Ich aber möchte das, Riza. Wir verstehen uns doch gut. Oder nicht. Was ist dabei? Sex ist gesund?“ 100 Wolf zog unverblümt seine überheblichen Register. Er lächelte sein schönstes Lächeln. Das war gut eingeübt. Es wirkte beinahe immer. „Nix ist dabei. Ich will‘s nur nicht.“ „Hast du’s schon mal probiert?“ „Das brauch ich nicht. Mein Kopf sagt das.“ „Quatsch.“ „Wenn du meinst.“ „Du willst es auch.“ „Ach? Das weißt du?“ „Das weiß ich.“ „Und woher?“ „Was?“ „Woher weißt du das, was du da behauptest?“ „Weil’s klar ist.“ „Ja dann.“ 101 Riza spottete, aber Wolf sah ihre letzte Bemerkung offenbar als ein Einverständnis. Er saß neben ihr auf der Bank. Die war alt, bemoost, an der Lehne fehlte ein Stück. Das verfaulte Holz hatte irgendeinem Druck nicht standgehalten. Er legte den Arm um sie. Als sie abwehrte, wurde die Umklammerung fester. Wahrscheinlich glaubte er wirklich, dass ihre Abwehr eine Art Spiel sei. Zum Liebesspiel gehöre. Mit beiden Händen drückte sie gegen seine Brust. Wollte ihn zurückhalten. Immer noch hatte sie vor, die Attacke friedlich zu lösen. Er sah sein Bedrängen natürlich nicht als eine Attacke. Für ihn war es sozusagen die Einforderung eines Rechts, das er sich über die Jahre erworben hatte. Er warf Riza um. Sie lag der Länge nach auf der Bank. Das ging flott. Und überraschend. Die Versuche, sie zu küssen, hatte er aufgegeben. Jetzt ging es nur noch um das eine. Als er anfing, die Hose zu öffnen, war der Spaß für Riza zu Ende. Obwohl es schon lange kein Spaß mehr war. Sie setzte ihre Kräfte ein. 102 Wie von einer Starkstromleitung berührt fuhr er zurück. Die Bank krachte. Eine weitere morsche Bohle brach aus der Lehne. Und auch die Sitzfläche gab nach. Einen Moment lang spürte Wolf, wie er halb über dem Geschehen hing, von einer unsichtbaren Kraft hochgehoben. Dort unten war die Bank, da saß Riza mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern. Ihr Gesicht war starr und fremd. So sah er sie noch nie. Wolfs Kopf, der zwischen den eingeübten Überheblichkeiten und dem unfassbaren Neuen zerrissen wurde, konnte den realen Ereignissen nicht mehr folgen. Wie im Wahnsinn quollen die Augen hervor, rotunterlaufen, die feinen Äderchen platzten. Er vermochte nichts mehr zu erkennen. Sein Wille zerbrach. Das Gehirn verdampfte. Der starke Wolf Zimmer brach in sich zusammen. Schrumpfte, wie ausgesogen. Gleich einer leeren Ballonhülle fiel er herunter. Riza ließ ihn auf der Bank liegen. 103 Peinliche Befragungen Tom wurde verhört. Tränenüberströmt saß er in dem kahlen Raum. Die Beamten, eine Frau und ein Mann, schienen unberührt. Sie erfüllten ihre Aufgabe. Die Mathematikprüfung war um eine Woche verschoben worden. Es brächte die Abläufe durcheinander klagte die Rektorin, aber der Anlass gebot dann doch ein wenig Abstand. Tom hatte Wolf gefunden. Wie immer war er ihm hinterher gekommen. Die Angelegenheit mit Riza konnte er nicht erkennen. Er kam zu spät. Riza musste nicht eingreifen. Nachdem er Wolf mit dem Fahrrad gefolgt war, brachte Tom das Vehikel zunächst nach Hause. Seine Wohnung lag am Rande des Parks, ungefähr eine Viertelstunde entfernt. Er sagte wahrheitsgemäß, dass er Wolf zu Fuß folgen wollte, um ihn zu treffen. Er wüsste, dass der dort seine Laufrunden drehte. Dabei wollte er ihn quasi abfangen, weil 104 er mit ihm reden wollte, sagte er. Und da habe er ihn gefunden. Auf dieser Bank. Tot. Und seltsam verrenkt. Was er denn hatte bereden wollen, fragten die Beamten, worauf er ins Schwimmen kam, Unsicherheit zeigte, und seine Behauptung, eigentlich sei es nichts Wichtiges gewesen, die Prüfung und so, nahmen die Polizisten mit gespannter Ungläubigkeit entgegen. Dazwischen brach er immer wieder in Tränen aus, so dass jedem Beobachter klar sein musste, dass es nicht allein das Auffinden des toten Freundes sein konnte, was bei Tom wirkte. Hatten Sie denn ein besonderes Verhältnis zu ihrem Freund, fragte denn auch unverblümt die Beamtin, die federführend den Fall bearbeitete. Was erneute Tränenströme hervorrief und der Kriminalistin klar machte, dass an dieser Stelle weiter zu bohren sei. Aber dem Ziel, Aufklärung zu den näheren Umständen des Todes von Wolf Zimmer zu erfahren, kam sie keinesfalls näher. Die Gerichtsobduktion hatte zur Todesursache ledig105 lich feststellen können, dass ein intensiv roter Fleck in der Herzgegend annehmen ließ, ein Elektroschocker oder etwas Ähnliches könne einen Herzstillstand verursacht haben. Was vielleicht auch die seltsamen Verkrümmungen verursacht habe, infolgedessen sogar die Bank zu Bruch gekommen sei. Sehr stark sei die ohnehin nicht mehr gewesen, vermerkte einer der Beamten. Ob er denn einen Elektroschocker besitze, wollte die Kriminalistin wissen, und der ungläubige Ausdruck, mit dem Tom dies verneinte, ließ die Polizisten an seiner Schuld zweifeln. Obwohl sie eigentlich dann doch wieder annahmen, dass er irgendwie schuldig sei. War er doch der einzige, der in Verbindung zu dieser maroden Bank und zu dem Tatort zu bringen war. Wobei zu berücksichtigen blieb, dass er es war, der die Polizei rief. Vielmehr nicht die Polizei, sondern den Notarztdienst. Was wiederum darauf hinweisen könnte, meinte einer der Beamten, dass es vielleicht dann doch ein 106 Unfall war. Sollte die Bank vielleicht von selbst zerbrochen sein, giftete die leitende Beamtin. Und dass der Tote dabei vor Schreck das Zeitliche segnete? Ein Unfall war das nicht, schloss sie diese Seite der Vermutungen aus. Wobei ihr die anderen Polizisten Recht gaben. Und was wäre das mit dem Fleck auf der Brust und dem Elektroschocker? Eine Handlung im Affekt möglicherweise, sagte ein Beamter. Von diesem Jungen oder von jemand anderem. Vielleicht haben sie mit dem Gerät experimentiert, meinte ein weiterer. Wenn die zwei was miteinander hatten, dann könnten seltsame Spielchen aus dem Ruder gelaufen sein. Mit dem Elektroschocker, fragte der Beamte und grinste. Seien Sie bitte ernsthaft, tadelte die Kriminalistin. Doch an den Anzeichen einer bewusst eingesetzten Gewalt gab es letztlich nicht zu rütteln. Irgendeiner Gewalt. Das musste kein Elektroschocker gewesen sein. Zu finden war allerdings nichts. Keine Mordwaffe. Wenn es denn Mord war, meinte 107 ein anderer. Seltsam war, dass die Gerichtsmedizin einen erheblichen Flüssigkeitsverlust bei dem Toten feststellte. Was vielleicht dem Prüfungsstress zuzuordnen wäre. Der Leichnam wirkte eigenartig ausgetrocknet. Ob dies aber von einem Elektroschocker erzeugt werden könnte, bezweifelten alle. Zumal ein solches Instrument nicht gefunden wurde. Was aller Theorie hierzu letztlich den Garaus machte. Die Angelegenheit war verworren und die ständige Heulerei des Jungen nervte. Am Schluss blieb den Beamten nichts anderes übrig, als Tom laufen zu lassen. Der wohnte bei seinen Eltern, die einen guten Ruf besaßen. Eine Flucht wurde ausgeschlossen und der Haftrichter war nicht zu überzeugen gewesen. Zu dünn, sagte er und wollte stichhaltige Beweise. Was den Beamten klar war, aber woher nehmen? Weder ein Mordgerät noch ein Mörder waren beizubringen. Wenn es denn Mord war … 108 Irgendwie war die Sache unheimlich. Was blieb, waren Verhöre, beziehungsweise Befragungen. Jeder in der Klasse hatte seine eigene Meinung und Darstellung zum Thema. Dass Tom in Wolf irgendwie verknallt gewesen sei, berichteten viele. Aber mehr war da nicht zu sagen. Die Freundin von Wolf war offenbar Riza gewesen, fanden die Polizisten heraus. Aber auch Riza trug nichts bei, was hätte helfen können. Selbstverständlich nicht. Die Beamten – vor allem die Kommissarin tat sich hervor – ahnten nichts von dem Vergnügen, das ihre hilflosen Fragen bereitete. Sie wunderten sich vielleicht darüber, dass die junge Frau derart gefasst wirkte. Im Gegensatz zu Tom. Aber so fest war die Beziehung wohl auch nicht gewesen, berichteten andere, vor allem Lisa und Gisa sagten dies. 109 Tom hingegen schwor jederzeit Stein und Bein, es sei eine lediglich platonische Freundschaft gewesen, die ihn mit Wolf verband. Der Gegenbeweis war nicht zu erbringen. Und eigentlich hatten solche Gefühle auch nichts zu sagen. Es sei denn, es sei Eifersucht im Spiel gewesen. Mit solchen Gefühlen war schon mancher Kriminalfall verbunden, behauptete die Kommissarin, die nach wie vor von Toms Unschuld nicht völlig zu überzeugen war. Auch dessen Eltern mochte sie nicht. Die Angelegenheit blieb jedenfalls verwor- ren. Man suchte und rätselte. Es kamen auch andere Todesfälle in die Betrachtung, die bis dahin ungelöst in den Akten standen. Bis es zu jenem unerwarteten Ereignis kam, das vor allem die Kriminalistin in ihrer Auffassung bestärkte und die Polizei veranlasste, den Fall zu den Akten zu legen. 110 Resultate Die Prüfungen waren wieder aufgenommen worden. Auch Tom machte mit. Doch den meisten war klar, dass da wohl nichts Gutes für ihn herauskäme. Auch er wusste das. Er machte mit, weil seine Eltern es wollten und weil es ohnehin gleichgültig war, was nun geschähe. Unmittelbar nach solch einschneidenden Ereignissen steht der Kopf woanders, sagte Anna, als sie zuhause darüber redeten. Der Junge ist zu bedauern, aber wer weiß was gekommen wäre, hätte Riza nicht den Schlussstrich gezogen. Dieser Wolf war ein Egoist, stellte Anna fest. Und Menschen dieser Prägung haben die Neigung, über Leichen zu gehen. Dass er nun selbst zu einer wurde, sei vor den anstehenden generellen Fragen zu bedauern, aber prinzipiell irrelevant. So sagte es Anna. 111 Was dies allerdings für Fragen seien, die da anstünden, die genereller Natur seien, das käme erst noch. Gisa, Lisa und Riza sollten erst mal alle Prüfungen bestehen, dann käme das Weitere und Geduld sei auch eine Tugend. Nun gut, die Prüfungen waren für die Drei kein Problem. Da gab es nichts, was unlösbar blieb. Und die Bekanntschaften aus der Schule, auch aus der Clique, wären ohnehin rasch verweht. Gleich dem Sand, mit dem am Ufer unter Wind und Wellen die Burgen und Schlösser der Kindheit zerfielen. Da machte es keinen Unterschied, dass kurz vor den mündlichen Prüfungen eine neue sensationelle Meldung die Runde machte, welche zumindest einige der Polizisten in ihrer vorgefassten Meinung bestätigte. Besonders die leitende Kommissarin nickte befriedigt, als sie es erfuhr. Das bekannte Lauffeuer der Informationen eilte durch die kleine Stadt, wobei Gisa, Lisa und Riza, natürlich auch Anna, längst wussten, um was es ging. 112 Tom wurde auf den Gleisen des Bahnüberganges, jenseits der Kleingärten, tot aufgefunden. Das heißt, die Reste von ihm. Er war abscheulich zerschmettert. Der Sieben Uhr Vormittagszug der Regionalbahn Süd hatte ihn zermalmt. Und da eine Art Abschiedsbrief vorlag, war die Selbsttötung für die Polizeibeamten erwiesen. Eine Begründung aber, für diese und auch für die andere Tat, fand man in dem Brief nicht. Und eigentlich war es ja auch nur ein Zettel, der auf Toms Schreibtisch lag. Da waren Abschiedsworte notiert, irgendwie in der Form eines sich nicht reimenden Gedichts. Und eine diffuse Bitte um Vergebung. Die Eltern widersprachen heftig den Vermutungen, dass es ein Selbstmord gewesen sei. Ihr Sohn habe häufig Notizen gemacht, erklärten sie, und irgendwelche skurrilen Gedanken notiert. Dieser Zettel habe keine Bedeutung. Es müsse etwas anderes dahinter stecken. Möglicherweise gäbe es einen Mörder oder mehrere, die verantwortlich seien, und letztlich sei ja 113 auch der Tod von Wolf Zimmer noch immer nicht aufgeklärt. Dennoch blieb allgemein die Meinung be- stehen, dass dies weder ein Unfall, noch eine neue Mordtat gewesen sei. Man einigte sich sozusagen mehrheitlich auf Prüfungsstress und die labile Seelenlage des Jungen. Also Selbstmord. Einige der Polizisten allerdings dachten anders. Vor allem die Kommissarin. Sie glaubte an die Schuld des Jungen Timo am Tod des Wolf Zimmer und dass er es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Obwohl weder das eine noch das andere zu beweisen war. Riza, Gisa und Lisa, zusammen mit Anna, aber wussten es besser. Beide Tode seien unvermeidbar gewesen, erläuterte Anna. Das sei nun mal so. 114 Die Ermittlungsakte über den Tod von Wolf Zimmer kam jedenfalls kurze Zeit nach dem Abgang von Tom, der auf den Geleisen der Regionalbahn Süd sein Ende fand, ins Archiv. 115 Weitere Regeln „Es ist an der Zeit, dass ihr weitere wichtige Dinge erfahrt.“ Anna und die jungen Frauen saßen in der Bibliothek ihres Hauses. Es sah aus, als sei es ein beschauliches Kaffekränzchen, was da ablief. Aber es war mehr. Sehr viel mehr, was dahinter stand. „Du bist so feierlich“, lächelte Gisa, „wissen wir nicht schon das Wesentliche?“ „Ihr wisst, was ihr bis heute wissen konntet“, erwiderte Anna und lächelte ebenfalls. „Und wissen durftet“, fügte sie an. „Die Prüfungen waren ein Klax“, vermerkte Lisa. „Das, was ihr nun erfahrt, hat mit den Prüfungen zum Abitur nicht das Geringste zu tun.“ 116 „Du sagtest immer, diese Prüfungen seien wichtig.“ „Das sind sie auch. Aber es gibt Prüfungen und Erkenntnisse, die liegen weit darüber. Das Abitur testet das Wissen, das gewöhnliche Menschen benötigen, um im normalen Leben zu bestehen. Oder zumindest einigermaßen die Voraussetzungen hierfür zu erhalten. Es ist dieses Leben, welches sich für die Menschen, so wie sie sind, mit all ihren Techniken und all ihrem so genannten Fortschritt, ergibt. Für euch bestehen andere Kriterien. Ihr wisst es noch nicht insgesamt. Ihr wisst vieles noch nicht.“ „Wir blicken in die Köpfe. Auch du hast immer gesagt, dass wir das tun sollen. Derart wissen wir auch über die verborgenen Dinge. Du hast gesagt, dass damit alles offen liegt.“ Riza sah verunsichert aus. „Das ist auch so. Dies betrifft die normalen 117 Abläufe. Also die normalen Menschen. Und somit die normalen Dinge. Aber was wäre normal? Ich bin jedenfalls nicht in diesem Sinne normal“, grinste Anna. „Und ihr wohl auch nicht. Aber, seht ihr, meine Erfahrungen reichen über all dies noch wesentlich weiter hinaus. Weiter als eure. Und in meinen Gedanken konntet ihr nur finden, was ich bereit war, euch finden zu lassen.“ Sie lachte. Rückte sich zurecht. Schien die Überraschung bei den drei jungen Frauen zu genießen. „Das wusstet ihr nicht? Ihr wisst viel, sehr viel, aber längst nicht alles. Heute füge ich einige weiteren Bausteine zu eurem Leben hinzu. Es wird ein Leben sein, das noch außergewöhnlicher sein wird, noch seltsamer, als es bisher gewesen ist, als ihr vielleicht angenommen habt, dass es so oder so käme. An die ersten Schritte konntet ihr euch gewöhnen. Nun aber geht es ein Stück weiter.“ 118 „Du machst es spannend“, sagte Gisa und grinste, „aber wir sind, denke ich, erfahren genug, um weitere Seltsamkeiten zu ertragen.“ Sie lachte. „Nun gut“, lächelte auch Anna, „fangen wir an. Ich rede erst mal über mich. Damit ihr das weitere verstehen könnt. Zunächst aber das Formale. Ich habe euch an der Universität in der Hauptstadt eintragen lassen. Die Immatrikulation für Gisa erfolgte für die philosophische Fakultät, für Lisa sind die mathematischen Bereiche gedacht und Riza wird Soziologie und Medizin belegen. Es entspricht euren speziellen Hingaben. Den Austausch untereinander werdet ihr vornehmen wie bisher. Hinzu kommt meine Aufforderung, möglichst viele andere Vorlesungen aller Richtungen zu besuchen. Ebenfalls im Austausch zueinander. Dieser Ausrichtung, die ich euch gebe, lie- gen zwei Überlegungen zugrunde. Ich betone allerdings“, schob sie ein, „dass es nicht leicht sein wird, das, was da auf euch zu119 kommt. Aber hinter den Planungen, den Schulbesuchen und nunmehr den Studiengängen steht ein bestimmtes Ziel. Wie hinter vielen Dingen, was Menschen so tun. Eures ist allerdings ein spezielles. Das Ziel erläutere ich später. Zunächst einmal die Grundsätze, von denen ich sprach. Wenn man es genau betrachtet, sind es sogar drei.“ Anna goss sorgfältig Kaffee aus der großen silbernen Kanne nach. Die drei jungen Frauen dachten, dass dies ein Zeremoniell sei, was Anna zelebrierte, ein zauberiges Ritual. Was es wohl auch war. „Ja“, bestätigte Anna, „so ist es“, und die drei jungen Frauen stellten fest, dass ihre Abschirmungen bei Anna versagten, wie so oft stellten sie es fest. „Ihr seht das richtig“, sagte Anna, „es ist ein Ritual, eine Einführung in Bereiche, von denen ihr dachtet, dass ihr bereits alles wisst. Aber es ist in Wahrheit so, dass ihr bisher nur 120 am Rande erfahren habt, was es wirklich ist, um das es geht.“ Sie trank einen winzigen Schluck aus der winzig kleinen Tasse, ließ sich Zeit. Machte es spannend. „Ein kleiner technischer Vermerk noch“, schien sie erneut die tatsächliche Botschaft nach hinten zu schieben, „ihr werdet nicht in Berlin leben. Die Reise von dort nach hierher ist nicht allzu weit. Ein Zimmer genügt in Berlin. Das dient nicht der Sparsamkeit, es soll verhindern, dass ihr dort allzu bekannt werdet. Es hängt mit der ersten Regel zusammen. Die lautet, niemand darf euch zu nahe kommen. Innerlich nahe. Versteht ihr? Ich sagte es immer wieder. Und so auch jetzt. Versteht ihr das? Ich meine, versteht ihr es wirklich? Versteht ihr das Warum?“ Anna lehnte sich leicht zurück. Sie schien zu überlegen. Redete dann aber weiter. „Nein, ihr versteht es nicht. Und das ist kein Wunder. Es ist normal für euer Leben, dass 121 ihr es noch nicht versteht. Ihr haltet euch für stark genug, den Gefahren, die ihr durchaus seht, die ihr bereits erfahren habt, zu widerstehen. Ihr denkt, ihr habt alles im Griff. Das stimmt sogar. Im Prinzip stimmt es. Aber eines habt ihr nicht im Griff, weil ihr es noch nicht wisst. Nicht wissen könnt. Es betrifft die Zeit. Später werdet ihr es verstehen. Also, ich fasse zusammen. Regel eins, das ist klar. Ihr dürft alles machen, mit allen Menschen zusammenkommen, Liebe spielen oder haben, wie ihr es wollt, ab und zu jemanden umbringen, wenn es sein muss, aber ihr müsst euch bedeckt halten. Ihr dürft niemanden einbinden in das, was ihr seid oder wisst. Darüber sprachen wir schon oft. Somit – und nahezu zwangsläufig – kämen wir zu Regel zwei. Ihr dürft euch niemals mit irgendeinem Menschen auf Dauer verbinden. Auch darum bleibt euer Wohnort hier.“ Wieder nippte sie an dem Kaffee. Die drei jungen Frauen waren verblüfft. Ganz so überrascht aber zeigten sie sich nicht. Sie dachten 122 an das Abenteuer von Riza und glaubten, darauf ziele Anna ab. Aber sie wunderten sich dann doch. Denn sie waren der Meinung, dass sie sich alle recht gut verhalten hätten. „Das ist es nicht“, unterbrach Anna ihre Gedanken, „jedenfalls nicht ganz. Also, das wäre diese Regel zwei. Vielleicht sollte ich es zeitlich benennen. Mehr als zehn Jahre sollte keine Verbindung zu einem anderen Menschen halten. Weil dann die Gewöhnung käme. Und wenn hieraus längere Verbindungen entstünden, wäre die Problematik groß.“ „Das sollten wir einhalten können“, lachte Lisa. „Aber warum?“ „Es wird nicht ganz so einfach“, sagte Anna. „Ich erkläre es etwas später. Dann versteht ihr es.“ „Später“, grinste Riza, „gut, gut, das kennen wir.“ „Und die dritte Regel?“ 123 „Das ist eigentlich keine besondere Regel, es beschreibt eine Selbstverständlichkeit. Es heisst, Lernen, Forschen, Suchen und … Warten.“ „Warten? Schon wieder? Auf was?“ „Auf die Gegebenheiten.“ „Nun gut“, grinste Gisa, „warten können wir.“ „Und wozu suchen? Wir können alles erfahren, was man braucht“, rief Riza. „Das könnt ihr. Aber es geht um ein bestimmtes Suchen. Ich werde es erklären. Auch ich bin eine Suchende … zum Glück fand ich euch … nach langer Zeit fand ich euch. Ich sah es als meine Aufgabe an, euch zu suchen und zu finden.“ „Eine Aufgabe“, fragte Lisa. „Wer gab die?“ „Das ist eine dumme Frage“, sagte Anna. Aber sie wirkte verunsichert, war sich wohl selbst nicht ganz im Klaren. Sie wollte offen124 sichtlich nicht auf die Frage eingehen. Antwortete dann aber doch. „Keiner gab diese Aufgabe“, sagte sie knapp. „Ich stellte sie mir selbst. Aber zurück zu euch. Oder zu uns. Wenn ihr drei oder vier Jahre dieses Studium, zu dem ich euch angemeldet habe, ernsthaft betreibt, wenn ihr euch bedeckt haltet, keine festen Bindungen eingeht, wenn ihr die Suche nach Wissen zum einen und nach diesem anderen, auf das ich noch zu sprechen komme, konzentriert angeht – selbst wenn ihr nichts findet, wo es nötig wäre, weitere Befassungen vorzunehmen – werden wir in einer Art Praktikum unterwegs sein. Wir zu viert. Doch auch hiervon später.“ „Was suchen wir? Was suchst du?“ „Das ist die richtige Frage, die wichtige. Doch wartet. Was hinter allem steht und was schlussendlich euer Lebensziel sein wird – oder zumindest ein bestimmender Teil hiervon – versteht ihr am besten, wenn ihr einer 125 Geschichte lauscht, die ich euch zu erzählen habe. Aber ihr müsst euch darüber hinaus einprägen, es wird überhaupt nichts je einfach sein. Im Gegenteil. Was euch erwartet wird schwer werden. Sehr schwer. Trotz aller Leichtigkeit bisher. Momentan glaubt ihr, alles im Griff zu haben. Das täuscht. Ihr werdet es verstehen, wenn ihr die für eure Ohren nahezu unbegreifliche Geschichte gehört habt, die ich euch erzähle. Darüber hinaus, es werden harte Prüfungen zu erwarten sein. Härter als das Abitur“, sagte Anna, „härter als die Sache mit dem Wolf Zimmer. Ihr werdet euch vielleicht sogar trennen. Eine gewisse Zeit jedenfalls. Dann aber immer wieder zusammenfinden. Obwohl ihr derart eng verbunden seid, kann es sein, dass ihr euch werdet trennen müssen.“ „Das kann ich nicht glauben“, rief Gisa und die beiden anderen riefen es auch. 126 „Nun gut. Es wird keine Trennung auf ewig sein“, sagte Anna ruhig, „das hatte ich doch gesagt. Auf ewig ist nichts. Obwohl …“ Sie lächelte und eine gewisse Verlorenheit teilte sich mit. „Doch ganz genau kann ich das nicht sehen“, sagte sie, „es ist eine diffuse Ahnung. Aber letztlich spielt es keine Rolle“, sagte sie dann energisch. „Wir werden zusammenhalten. Das ist das Wichtige bei allem.“ Die drei jungen Frauen waren irritiert. Sie liebten Anna wie eine Mutter. Und eigentlich war sie es ja auch. Sie war ihre Mutter geworden. Aber derart hatten sie noch nie miteinander geredet. Doch die kleine Betrübtheit währte nur kurz. Die Bücher um sie herum, die scheinbar ernster als sonst herabgeschaut hatten, kehrten wieder zu ihrer differenzierten Neutralität zurück. Schier unendliches Wissen war da versammelt. Ein Wissen, das weit 127 über das Stichwortwissen von Suchmaschinen hinausging. Viel davon hatten die drei Frauen für sich ermittelt, sich angeeignet. Und dennoch schien es, als käme nun erst das Entscheidende, das wirklich Wichtige und Neue auf sie zu. Etwas, wovon die Bücher nichts wussten? „Es war vor einigen tausend Jahren“, begann Anna ihre Geschichte, und eine neue unbekannte Stimmung zog in die Bibliothek und in die Köpfe der drei jungen Frauen ein. Die Bücher rückten erneut etwas weiter zurück, das Aktuelle schien zu verwischen, wurde gleichsam nebensächlich, geriet in einen wie nebelhaften Zustand. Aus dem Greifbaren entrückten die Anwesenden immerzu rascher, um weit in die von Anna beschriebene Vergangenheit zu geraten. 128 Annas Geschichte „Ich hatte lange studiert“, sagte Anna. „Nicht an Universitäten, nicht an Forschungsstätten, wie ihr es tut. Ich suchte im Leben. Später, sehr viel später, studierte ich euch. Ihr hört richtig, ich studierte euch. Längere Zeit nun schon. Seit wann kennen wir uns? Es sind etwa fünfzehn Jahre her. Seit dem Zirkus damals. Und ich fand euch drei zusammen. Nun seid ihr erwachsen. Nach normalen Gesichtspunkten seid ihr erwachsen.“ Anna lehnte sich zurück. Ihr Blick schien nach irgendwohin zu entgleiten. Gisa, Lisa und Riza empfanden eine prickelnde Anspannung. „Aber was sind schon fünfzehn Jahre“, setzte Anna fort. „Habt ihr euch nicht gewundert, wie wenig ich mich verändert habe in dieser Zeit? Solange wir uns kennen? Aber gut. Der Reihe nach, sonst versteht ihr es nicht.“ 129 Nun erst wurde den dreien bewusst. Anna hatte recht. Es war ihnen nicht aufgefallen. Die Frau, die wie ihre Mutter war, ja eher mehr als das, sie war nicht gealtert. Sie hielten es nicht für bemerkenswert. Immer wenn man nahe bei jemandem ist, sieht man die kleinen Veränderungen nicht, die das Leben einem mitgibt. Erst wenn man sich nach längerer Zeit einmal wiedersieht, kann man die Zeit, die vergangen ist, erkennen. Das war bislang kein Thema. Aber war das nicht normal? Und was wollte Anna sagen? „Ihr seid zu rasch mit euren Gedanken“, lächelte Anna, die offenbar stets in Kontakt geblieben war. Ohne dass die Frauen etwas bemerkt hätten. „Also der Reihe nach. Zuerst steht die Frage, woher wir kommen. Wer wir sind.“ Und nun begann sie mit ihrer Geschichte, die unwahrscheinlich klang, aber die reine Wahrheit war, denn Anna hatte noch nie den 130 Dreien eine Unwahrheit gesagt. Das wussten sie. „Es muss vor einigen hunderttausend Jahren gewesen sein, als alles begann“, sagte Anna. „Und wenn man genau hinsieht, waren es vielleicht noch mehr Jahre. Eine der Nachrichten, die ich bekam, berichtete von einer Million oder sogar von zwei Millionen Jahren. Das war dann der Beginn jener Zeit, die man heute die Steinzeit nennt. Da gab es noch keine Menschen. Zumindest noch keine, wie man sie später kannte. Und es gab auch noch nichts zu zählen. Das begannen die Menschen erst später. Die Vorgeschichte des Lebens erdachten sich Wissenschaftler, unter Zugrundelegung gewisser Erkenntnisse, Ausgrabungen und Schlussfolgerungen. Aber das wisst ihr ja. Mit der Entstehung eines fortgeschrittenen Bewusstseins machten sich die ersten Menschen erst vor etwa hunderttausend Jahren bemerkbar. Vielleicht ein paar Jahre mehr 131 zurück oder einige Jahre weiter nach vorn. Auch hierzu sagen die Lehren nichts Konkretes. Erst mit den Höhlenzeichnungen vor dreißig- oder vierzigtausend Jahren und den Analysen dazu unterstellte man eine beginnende Geistigkeit. Womit ich jenes Nachdenken meine, das sich mit dem Menschen selbst, mit der Welt und mit dem Warum beschäftigte. Man unterstellte das, wie gesagt. Zu wissen glaubte man erst, als die Aufzeichnungen deutlicher wurden. Später kamen Berichte aus anderen Kontinenten dazu. Da erwiesen sich einige Entwicklungen sogar als deutlich älter. Australien beispielsweise zeigte das. Aber auch hier blieben die Interpretationen den späteren Köpfen und Anschauungen vorbehalten. Das galt auch seit jenen Ereignissen, wo man über Steine, Pergamente, Papyrus und Papier den scheinbar aussagefähigen Aufschreibungen der Damaligen folgen zu können glaubte. Was nicht immer stimmte. Was ich wiederum genau weiß. 132 Und wenn ihr euch fragt, was sicher der Fall sein wird, woher ich das weiß, wenn ich von genau spreche, woher ich die Grundlagen habe, zu dem, was ich da sage, gerade wenn ich von derart lang Zurückliegendem rede, dann solltet ihr wissen, dass es zum großen Teil direkte Überlieferungen waren, Berichte, die von Mund zu Mund gingen, die hier die entscheidende Rolle spielten – und immer noch spielen.“ Anna lächelte, genoss offenbar die Spannung. „In meinem Falle – oder in unserem – war es jedenfalls so“, fuhr sie fort. „Jedoch bis ganz zu den Anfängen reichen solche mündlichen Botschaften selbstverständlich nicht. Aber alles werdet ihr erst dann völlig verstehen, wenn ich fertig bin mit meiner Geschichte.“ Sie holte tief Luft. „Ihr habt gelernt, in der Schule und nun auf der Uni, dass es Ereignisse gab, die man nur deshalb kannte, weil sie irgendjemand ir133 gendwo niedergeschrieben oder aufgemalt hatte … oder aber weiterberichtete … von Mund zu Mund eben. Soweit so gut. Meist aber war es so, dass immer erst viel später, also eine Zeitlang nach den eigentlichen Ereignissen, diejenigen auftraten, die, zum Teil mit literarischem Blendwerk versehen, die alten Geschichten neu geschrieben oder jedenfalls zeitgemäß interpretiert hatten. Und ganz am Schluss erst, das ist noch nicht so lange her, vielleicht sind es erst drei- oder vierhundert Jahre, da kamen die, die sich Forscher nannten. Man grub in der Erde, entdeckte Höhlen mit Aufzeichnungen, interpretierte sie, man sah aus Flugzeugen herunter auf Strukturen in der Erdoberfläche, die man aus der Nähe zunächst nicht sehen konnte, dann aber erforschte. Die man nun zu messen und zu beurteilen sich anschickte.“ Anna nahm die kleine Tasse mit spitzen Fingern und trank. Es war sehr still in dem Bücherzimmer. 134 „Und“, fuhr sie fort, „ihr bemerkt es, da ist immer wieder dieses Wort beurteilen dabei. Man entwickelte Thesen, Vorstellungen, Gedankenbilder, in die man das Gefundene einpasste. Was somit als bewiesen galt. Das ist normal. Es geht gar nicht anders. Und das meiste, was man derart analysierte, war wohl richtig erkannt und eingeordnet. Doch erstens waren das, was man fand, oft nur die rudimentären Reste der großen Ereignisse, und zweitens sind solche Blicke nur sehr kurz in die vergangene Zeit möglich. Das wisst ihr. Die frühen Schlachten, von denen man wusste, die Begegnungen der Völker, die Kriege – meist waren es Kriege – dies alles hinterließ Spuren, die eindrücklich genug waren, so dass man sie heute noch finden konnte. Die aber nicht weiter als höchstens vieroder fünftausend Jahre zurückreichen. Das ist für die Menschen eine lange Zeit, für die Geschichte der Welt aber nur ein Wimpernschlag.“ 135 Wieder hielt sie kurz inne. Lächelte, sah die drei Frauen an. Prüfte die Wirkung ihrer Worte. „Ich will sagen“, fuhr sie fort, „die Menschheit tappt im Dunkel, was die erste Zeit, wie ich das nenne, betrifft. Und die kleineren Dinge, zu denen auch die Gräber zählen, obwohl gerade die besonders wichtige Ereignisse im Menschsein beschreiben, oder die Wohnsiedlungen unserer Vorfahren, die können über Ausgrabungen nur sehr kurz zurückblickend berichten. Viele der ganz alten Ereignisse sind noch nicht mal mehr auszugraben. Sie sind verschwunden, weg, getilgt aus jedwedem Beweisbaren.“ Es herrschte eine fast erdrückende Anspannung in dem Raum. Die drei Frauen und auch Anna waren magisch eingesponnen in ein dichtes mentales Netz. „Also, ich meine, beweisbar nach den Maßstäben der herrschenden Wissenschaft“, sprach Anna weiter. „Zu den neueren Er136 kenntnissen führten dann noch die Sagen und Legenden. Die gehören zu den nahesten Zeiterfahrungen. Sie wurden aber auch erst ab einem bestimmten Bewusstwerden der Menschen gesammelt. Und auch sie verschleiern oft mehr, als sie sagen. Dies alles ist euch bekannt.“ Anna sah die Drei der Reihe nach an. Spürte der Wirkung ihrer Worte nach. „Wir stellen also fest“, redete sie weiter und schien zufrieden mit der Reaktion der Töchter, „dass an die Wiege der Menschheit, die, so sagt man, im heutigen Afrika lag, so ganz exakt keine erkennbare Forschung heranreicht. Die meisten Geschichten von dort sind ausgedacht, erfunden, geschlussfolgert. Nur grobe Linien lassen erkennen, dass die Menschen von Afrika aus die Welt besiedelten. Wahrscheinlich sogar mehrere Male hintereinander. Im Verlauf von hunderttausenden von Jahren. Oder vielleicht mehr …? 137 Oder gab es zuvor dann doch schon etwas anderes …? Aber lassen wir das. Warum erzähle ich das? Was soll der weite Weg zurück? Was hat das mit uns zu tun? Oder mit euch? Sehr viel nämlich … Also gut. Ich komme zu den Dingen, die hauptsächlich uns betreffen. Ich komme zu den mündlichen Überlieferungen. Die sind zwar auch meinungsbehaftet, aber dann doch auch authentisch. Weil …“ Anna schwieg erneut eine winzige Weile, wirkte nachdenklich. So, als habe sie gerade erst neue Erkenntnisse gefunden. „Jedenfalls sind es die jüngeren übermittelten Nachrichten aus der Vergangenheit, über die ich rede“, fuhr sie fort, „wobei ich an die Zeit bis etwa fünftausend Jahre zurück denke. Was euch überraschen wird, wenn ich da von authentisch rede. Oder von jünger … 138 Und dabei sollte auch klar sein, dass solch eine Art Berichterstattung damit zusammenhängt, wie lange man eine Lebenszeit rechnet, während derer man von Mund zu Mund vermitteln kann. Dahin lenke ich eure Gedanken.“ Anna richtete sich auf. Im Verlauf ihrer Erzählung war sie tiefer in den Sessel, in ihren Thron, gesunken. Nun schien sie gleichsam wacher geworden, reckte sich hoch. „Vor etwa vier- oder fünftausend Jahren also begann etwas – oder vielleicht auch schon früher, was ich nicht genau zu sagen weiß – das mündlich weitergegeben wurde, was keine Wissenschaft erfuhr, was die Beteiligten verschlossen hielten, weil am Anfang der Weitergabe immer die Botschaft stand, es müsse geheim bleiben, was man da erfuhr. Vor allem, wie man es erfuhr. Aber die Begründung war jedem klar, denn es wurden hiermit, und dies unmittelbar den eigentlichen Erkenntnissen verbunden, ganz beson139 dere Menschen mit ganz besonderen Eigenschaften beschrieben.“ Anna wirkte ernst. „Diese Besonderheiten hätte diese Menschen entweder zu Sehenswürdigkeiten gemacht oder zu Ausgestoßenen, zu Schädlingen gar, die man schleunigst zu isolieren oder zu vernichten hätte. Ihr versteht, was ich sagen will, wir redeten darüber schon lange, denn auch ihr seid besonders. Was ihr verborgen und somit geschützt hieltet …“ Anna schwieg. Niemand sagte etwas, niemand fragte. „Einige der besonderen Menschen – insgesamt gab es wahrscheinlich mehr von ihnen, als anzunehmen war – konnten in der Vergangenheit ihre Fähigkeiten zu außergewöhnlichen Leistungen verwenden. Wahrscheinlich wurden nur wenige von ihnen bekannt. Möglicherweise waren auch Machtüberschreitungen zu notieren. Etliche hatte man 140 vernichtet … Jedenfalls war gerade dies für die Betroffenen ein Argument, bestimmte Talente nicht an die große Glocke zu hängen, wie es der Volksmund sagt … Darum richtete ich diese Mahnung als erstes an euch. Und wiederholt tue ich das. Wir reden schon seit Anfang unseres Zusammenseins darüber. Es ist die wichtigste Regel, die ihr beachten müsst, ehe ihr weiter nachdenkt, was aus euch werden könnte. Denn ich berichte von unserer Art. Doch das, was ich als ein Ziel vorgeben möchte, auch verbunden mit der Frage, ob wir denn wirklich eine besondere Art, also eine bestimmte Rasse darstellen, was in etwa das Resümee aus meinen Worten sein könnte, kommt später. Allerdings keine weiteren fünfzehn Jahre später“, lächelte Anna, „eher schon morgen.“ Gisa, Lisa und Riza hockten wie gebannt. Was war das, was Anna vorhatte? Dass ihre 141 Fähigkeiten besondere waren, wussten sie. Sie hatten es verschlossen gehalten, durchaus aber auch Vorteile daraus gezogen. Es waren kleine Vorteile gewesen. Aber auch das wäre relativ. Nun schien es, als stünde mehr hinter allem. Was wollte Anna sagen? Es schien den Dreien, als redete sie um den heißen Brei herum, wie das hieß. „Als es begann“, fing Anna scheinbar wieder von vorne an, „als irgendwo in irgendeiner Höhle oder sonst wo ein erster Mensch bemerkte, dass er anders war, als die anderen, als er es versteckte, da er den Zorn fürchtete, den seine Besonderheit bei den Anführern auslösen könnte, als er davonlief, oder als er vielleicht andere entdeckte, die waren wie er, als er sich zusammentat mit denen, in eine eigene Höhle zog, und als diese neuen Menschen, wie ich sie nennen möchte, sich fortpflanzten, mehr wurden, wenn auch nicht allzu viele, da muss es gewesen sein, dass unsere besondere Art erkennbar wurde. Bekannt 142 in der Geschichte der Menschen. Ich meine bekannt für uns Heutigen, die wir Besondere sind. Es beschreibt gewissermaßen die evolutionäre Theorie unserer Wesensart.“ Anna holte tief Luft. „Aber es gibt auch andere Überlegungen. Davon gleich mehr. Die besonderen Menschen der alten Vergangenheit vermochten es jedenfalls, sich ohne Worte zu verständigen. Und sie verfügten über eine Menge noch anderer Fähigkeiten. Aber das kennt ihr ja … Aber wie nun diese Menschen entstanden sind oder woher sie kamen, liegt in den Bereichen der Spekulation. Es bestehen mehrere Theorien. Zum einen könnten es Mutationen gewesen sein, plötzliche Veränderungen, die sie aus den anderen hervorkommen ließen. Ich sagte es eben. Evolutionäre Erscheinungen also. Eine andere These lautet, dass sie eine gesonderte Entwicklung wären, eine Parallelentwicklung, die von irgendwoher zugekommen sei. Diese Überlegung geht sogar 143 davon aus, sie hätten als separate und besondere Menschen schon bedeutend früher als die anderen existiert. Von Millionen Jahren ist da die Rede. Und als sie irgendwann untergingen, durch unbekannte Vorgänge vernichtet, oder dass sie sich selbst minimierten, oder ähnlich wie andere Wesen der Erde vernichtet wurden, blieben nur Einzelne erhalten, die sich unter die anderen mischten um unerkannt weiter zu existieren … Es sind Theorien, wie gesagt. Jedenfalls gab es offenbar Menschen unserer Art unter den Steinzeitmenschen, unter den Menschen der Eisen- oder Bronzezeit, unter den modernen Menschen, bis heute gibt es sie, wie ihr wisst. Sie haben sich eingepasst. Wir haben uns eingepasst.“ Anna sah die drei Frauen an. Die waren beeindruckt, schienen aber auch verunsichert zu sein. Wohin führte das, was Anna vorhatte? 144 „Durch die Jahrtausende überlebte also eine kleine, besondere Menschenart“, setzte sie ihre bemerkenswerte Geschichte fort, „versteckte ihre wahren Qualitäten und gab lediglich von Mund zu Mund die wichtigsten Dinge und Erfahrungen weiter … Doch wenn ich quasi von Gruppen rede“, sagte Anna, „stimmt das natürlich auch nicht. Es waren eigentlich immer nur Einzelne. Verstreut unter den anderen. Einsame auch. Aber – und dies wäre dann ein Bestandteil der erstgenannten Theorie – als die Besonderen zu Beginn ihres Auftritts in der Welt standen, als sie in Höhlen oder einfachen Hütten, vielleicht auch in anderen, möglicherweise städteähnlichen Bauten und Niederlassungen zusammen blieben, da hatten sie – vielleicht – dann doch Gemeinschaften gebildet. Vielleicht … irgendwann mal.“ Anna schüttelte leicht den Kopf, fuhr aber fort. 145 „Ich sagte ja, dass es Vermutungen sind. Solche Gedanken reichen zurück bis in die Anfänge, das heißt, in meinem Bericht bis tief in die Steinzeit hinein, wozu wir aber keinesfalls Genaueres wissen, von woher lediglich sozusagen pauschal die Geschichte der Menschheit rührt. Auch unsere Geschichte.“ Sie schwieg einen weiteren Moment lang, ließ ihre Worte einwirken. „Wobei – auch das sagte ich schon – das Besondere an den besonderen Menschen war, sie schrieben nichts auf, sie berichteten nur mündlich. Was anfangs mit bestimmten Zauber-Ritualen, später mit einer bewussten und logischen Geheimhaltung verbunden war. Es war wohl schon immer so, sie lebten nebeneinander her, die Anderen und die Besonderen. Vielleicht wussten einige der Gewöhnlichen, dass es Besondere gab, oder sie wussten es nicht … 146 Teilweise waren die Besonderen wahr- scheinlich aufgenommen worden, integriert also. Oder sie wurden in ihrer Überlegenheit nicht erkannt. Eben weil sie sich tarnten. Nicht erkannt als eine vor Unendlichkeiten untergegangene Rasse … oder als Vereinzelte … oder als Mutationen … mit einem Schicksal versehen, möglicherweise, ähnlich dem Niedergang der Saurier durch Meteoriten, wo heute nur noch Vögel und Krokodile übrig sind. Ich jedenfalls nenne sie unsere Vorfahren.“ Anna sah auf und in die Runde. Nachdenklich und etwas zögernd. „Vielleicht gab es ja wirklich keine besondere Kultur und wir sickerten vereinzelt aus der Evolutionsgeschichte der anderen …“, sagte sie leise. Wieder hielt sie inne. Die drei Frauen bemerkten, dass sie sich um einen bestimmten Punkt drehte und wendete. Es gab Wiederholungen. Unsicherheiten waren zu spüren. 147 „Doch wie auch immer es wäre“, redete sie dann fester und entschlossener weiter, „keiner weiß es wirklich … Was zu allen Theorien allerdings passt“, setzte sie fort, „das ist die Tatsache, dass nur wenige von uns geblieben sind. Es war möglicherweise so, dass die Kinder der besonderen Menschen nicht immer die Qualitäten der Eltern erbten und sich somit ihre Fähigkeiten, verliefen. Oder dass die Besonderen eben nicht zusammen fanden, um sich untereinander fortzupflanzen … oder dass Besondere ihre Kinder weggaben … Aber offenbar hielten dann doch einige durch, um es mal so zu sagen. Sonst gäbe es uns ja nicht. 148 Wir alle sind als Kinder groß geworden. Auch ich war ein Kind. Ihr habt als Kinder eure Eltern gekannt. Aber waren das eure Eltern? Jedenfalls habt ihr sie verlassen. Verlassen müssen. Woher wir kommen? Ich meine jetzt aktuell, nicht abstammungsmäßig. Wir wissen es nicht. Ich weiß es nicht. Ich vermute nur, dass die, die wir als unsere Eltern sahen, es nicht waren. Möglicherweise spielten andere Besondere eine Rolle. Vielleicht sind wir bei Leiheltern gewesen. Es kann sein, Riza, dass dieser Schamane, von dem du sprachst, damit zu tun hatte, wo du unterkamst. Keiner weiß es. Es gehört zu den Rätseln, die wir wahrscheinlich nie lösen werden. Nur unsere jetzige Zusammenkunft, ich meine uns vier, war gewollt. Wenn auch mit starken Zufallselementen versehen, die ebenfalls keiner zu deuten vermag. Doch zurück in die Vergangenheit. Ich sprach über unsere Vorfahren. Oder die möglichen Vorfahren. Und über das Heutige. Und 149 darüber, wie viele Besondere vielleicht noch bestehen. Oder wie wenige … Sehr spät erst, wenn auch noch etliche tausend Jahre vor uns, begannen Einzelne unserer Art zu forschen, nachzudenken und zu suchen. Sich zu suchen. Den Ursprung zu suchen. Ähnlich wie es die Anderen tun. Diese Suche und eine speziellere, über die ihr noch erfahren werdet, gehört offenbar zu unseren inneren Vorgaben. Aber das ahntet ihr vielleicht schon. Doch ich sagte ja, dass ich zu den spezielleren Dingen, später, morgen vielleicht, Näheres beibringe.“ Anna lächelte. „Jedenfalls fanden in kleineren Gruppen immer wieder mal gewöhnliche oder normale Menschen, manchmal auch halbnormale, mit Außerordentlichen zusammen. Lebten und arbeiteten miteinander. Menschen, die Bescheid wussten. Oder die dachten, dass sie Bescheid wüssten … 150 Und ich gebe eine andere Vermutung dazu. Dies alles, was ich euch berichte, sowohl die Thesen, als auch die tatsächlichen Ereignisse, hätten vielleicht zu dem Ziel beitragen können, die Menschheit insgesamt zu verbessern. Als ein sozusagen positives Evolutionsresultat. Wenigstens was die Talente betrifft, über die wir verfügen. Was dann also normal wäre, weil Evolutionen nun mal so sind. Doch so lief es nicht. Denn die Krux ist die … Unsere Qualitäten sind nämlich keine Ver- besserungen, mit denen die Menschheit alles in allem vorankäme, weil eine Besonderheit, die ihr besitzt, die alle von uns besitzen, über die ihr aber noch nichts wisst, dem entgegensteht. Eine Besonderheit, die erst bekannt und bewusst wird, wenn man länger beobachtet. Und diese Besonderheit war es, die die Evolution, wenn es denn eine war, ausbremste.“ Erneut machte Anna eine Pause. Die drei jungen Frauen hielten es für eine Kunstpause. 151 Ende der Leseprobe von: Hexen Gerhard Stiegler Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1W2wPuU
© Copyright 2025 ExpyDoc