Gerhard Stiegler: Hexen

Gerhard Stiegler
Hexen
Gerhard Stiegler
Hexen
ES GIBT SIE NICHT, also nicht wirklich,
so heisst es, wenn man das Gespräch auf
Hexen bringt. Bestenfalls werden Frauen so
genannt, die einem – so oder so – nicht ganz
geheuer scheinen.
Dieses So-oder-so will sagen, dass man
angezogen, wie abgestoßen sein mag.
Jedenfalls sind Begriffe wie Hexen, Hexerei
oder Hexenkunst mit erheblichen
Vorbehalten belegt, die von ängstlich
machend bis widerlich reichen … oder aber
mit Faszination einhergehen.
Zu bestimmten Zeiten genügte bereits ein
winziger Hinweis, oft nur das Wörtchen
HEXEREI, um Todesurteile zu fällen.
Das heißt, so rasch wie möglich wollte man
solch übles Geschmeiß loswerden.
Diese Wesen, die so viel mehr konnten, als
andere. In den Märchen der Kindheit waren
Hexen meist üble Wesen. Sie fingen Kinder
ein und waren, wie auch immer, umgehend zu
vernichten.
Neuerdings machen sich allerdings
Tendenzen breit, unter dem Hexenbegriff
auch Anderes, vielleicht Besseres zu
verstehen. Waren Hexen Mutationen zu
vielleicht verbesserten Menschen hin …?
Sollten sie eine Art Gegenentwurf zu den
Unfähigkeiten der Normalen sein …?
Hexen reizten. Hexer auch. Wobei die in der
Regel Zauberer hießen und es bei denen
dominanter zuging. Das Frauenfeindliche
spielte in den Hausmärchen oft eine Rolle.
Trotz der guten Feen, die ab und an
auftraten. Und auch in anderen Bereichen
war das so. Das mit dem Frauenfeindlichen.
Aber dies wären Geschichten für sich.
Artverwandte allerdings.
Doch zurück zu den Hexen. Zu den aktuellen.
Denn, entgegen aller landläufigen Realitäten,
google-getestet oder sonst wie geprüft,
was immer man über Hexen denken mag,
wie immer man in der Kindheit seine
Prägung erhielt, es gibt sie wirklich.
Sie leben heimlich, denn sie wissen von den
Gefahren. ABER SIE EXISTIEREN.
Und manchmal kann es geschehen, dass man
der einen oder der anderen begegnet.
EINE WAHRE GESCHICHTE
EINE EPISODE
AUS EINER WELT
DER UNSEREN SEHR NAHE
Gerhard Stiegler
Hexen
Es gab viel Zeit
Alle Zeit der Welt
Und es gab die Legenden
Copyright:
© 2016 Gerhard Stiegler
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7418-1181-4
Bruchstücke
Die Kinder, die mit vollen Mündern die giftigen Tollkirschen verzehrten, gingen verloren. Nicht dass sie starben. Zumindest konnte
das keiner behaupten, weil keiner es sah oder
miterlebte. Sie verschwanden spurlos. Aus
dem Vincenz-Krankenhaus, wo man sie eingeliefert hatte. Noch ehe festgestellt werden
konnte, wer sie seien, waren sie aus der Notaufnahme verschwunden. Und das ging
rasch. Von der Einlieferung bis zur Untersuchung durch den Notarzt vergingen in der
Regel nur wenige Minuten. Die Sanitäter
wussten lediglich zu berichten, dass sie ein
Anruf zu dem Gebüsch geführt habe, wo die
Kinder die Beeren in sich hineinstopften und
lachten. Sie lachten, das hielten die Männer
und die eine Frau, die sie angerufen hatte, für
das Bemerkenswerte dabei. Denn in deren
Annahme schmeckten die Beeren wohl eher
bitter. Was natürlich keiner wirklich getestet
hatte. Zum Auspumpen der Mägen sei es erst
9
gar nicht gekommen, sagte der Notarzt, das
Personal habe seine Anordnung abwarten
wollen, aber als er dann kam, waren die Kinder weg. Verschwunden. Wo auch immer
hingekommen. Wie schon berichtet. Ausfallerscheinungen, die bei Vergiftungen üblich
seien, habe keiner beobachtet. Ob er deshalb
wohl später erschienen sei, fragten die Polizisten, was der Arzt heftig bestritt. Es seien
nur Minuten vergangen, wie gesagt, und verstehen könne er die Angelegenheit ohnehin
nicht, weil die Beeren der Tollkirsche derart
giftig seien, dass längere Wege oder Fluchten
oder was sonst noch nach einem Verzehr eigentlich ausgeschlossen seien. Aber ob es
denn Tollkirschen waren? Das hätte man erst
mal untersuchen sollen. So die kühle Darstellung. Doch dazu sei es ja gar nicht erst gekommen. Nun gut. Die Kinder waren weg.
Und die routinegemäß informierte Polizei
suchte. Dies allerdings mit nachlassendem
Interesse. Denn kaum einer nahm die Angelegenheit sonderlich ernst. Vor allem wohl
auch deshalb nicht, weil niemand die Kinder
10
zu kennen oder zu vermissen schien. Und
auch die Sanitäter, die die Einlieferung vorgenommen hatten, wussten letztendlich keinen hilfreichen Beitrag zu leisten. So vergaßen alle mit der Zeit das Ereignis oder glaubten nicht mehr daran.
Menschen
tragen um sich eine Aura, sagte
der seltsame, auf seine Umgebung mystisch
und etwas unheimlich wirkende Fremde, der
zudem Professorales ausstrahlte, eine wabernde Wolke aus Erinnerungen, Vorbehalten, Sehnsüchten, Befürchtungen, Erwartungen, Enttäuschungen. Die Wolke wabert unentdeckt. Zumindest für die meisten. In entfernteren Träumen lässt sie manchmal ihre
fetzigen Strähnen fliegen. Aber es gibt Menschen, ob es denn Menschen wären, die haben die Fähigkeit, jenes Wabern zu erkennen
und damit umzugehen. Solche werden von
der Allgemeinheit für medial Begabte gehalten. Darüber hinaus, und allgemein gesehen,
was eine Allgemeinheit wohl in sich trägt,
bergen, ob ihrer Außerordentlichkeit, derarti11
ge Menschen erklärtermaßen überirdische
Kräfte, wie man das nennen mag. Magisch
werden die genannt, in besonderen Fällen
göttlich. Obwohl es von außen betrachtet
Menschen sind, die solche Fähigkeiten haben, Menschen, wie andere auch, doch eben
besondere. Deren eigene Aura ist gewaltig.
Und sie können sie beherrschen, sogar gestaltend einbringen. Und es gibt normale Sterbliche, sagte der Fremde, die imitieren solche
Kräfte, setzen sie für die eigenen Vorstellungen ein. Sie imitieren sie mit Maschinen, mit
elektronischen Denkapparaten und mit gekauften Besonderen. Denn einige der medial
Begabten, ich nenne sie nun ebenfalls so,
weil dies ein einfaches Wort ist, und weil
solche Menschen ja tatsächlich etwas spiegeln oder wiedergeben … einige verkaufen
sich. Und das ist ja wohl bekannt, wenn jemand, der bestimmte Möglichkeiten besitzt,
sich mit einer Macht verbündet, welche besonderen Einfluss zu nehmen imstande ist,
dass der dann Überzeugungen und auch anderes zu formen vermag. Es gibt Beobachter,
12
die behaupten, dass eine Macht, die aus den
geschilderten Fähigkeiten kommt, oft gar religiösen Charakters sei. Warum aber die Aura
gewöhnlicher Menschen für einige Besondere
sichtbar wird, oder, weiter gegriffen, auch
manipulierbar, und wieso eine solche Aura
überhaupt besteht, das gehört zu den Energiewundern der etwas komplizierteren Art,
sagte der Fremde. Biologische Elektrik oder
so. Teilchenphysik. Sie ist für die besonderen
Menschen, von denen ich rede, die das sehen
oder verarbeiten können, vielleicht ähnlich zu
erfahren, wie es bei anderen Individuen unterschiedliche Drogen tun. Als Auslöser und
Deutlichmacher nämlich, ähnlich Giften, Todeserfahrungen, Schocks, die das Gehirn
heimsuchen. Medial Begabte sind jedenfalls
Menschen, die das Andere erkennbar werden
lassen, für sich erkennbar, allein für sich.
Weil vielleicht deren Elektrik als eine Art
Reagenz wirkt. Die menschliche Aura jedenfalls bildet Energieauswürfe, Stromstöße diverser Art, zu vergleichen dem, was der
magnetische Schirm der Erde an den Polen
13
bewirkt, der von der Sonnenenergie zu buntesten Farben veranlasst wird. Eine Buntheit,
die jeder zu sehen vermag. Bei der menschlichen Aura aber geht es um Farben und um
neblige Formen, die allein in den Köpfen der
medial Begabten, der Besonderen, sichtbar
werden. Und dann auf verschiedene Weise
manipulierbar sind. Verbunden mit den geheimsten Kräften der Natur. Es gibt menschliche Denker, die mit Hilfe der Quanten und
Strings, die ihrer Meinung nach allüberall
alles durchdringen, für solche Qualitäten Erklärungen suchen. Die gewöhnlichen Menschen aber haben für die Außerordentlichen,
für diese medial Begabten, für die Besonderen, die ihnen dann und wann erkennbar werden, seit jeher unterschiedliche Namen gefunden. Sie nannten sie Propheten, Götter,
Teufel oder Hexen. Je nachdem. Sie beteten
sie an, hoben sie über die Grenzen des Eigenen hinaus, oder verfolgten und töteten sie.
Aber die Außergewöhnlichen waren auch
eine Hoffnung.
14
Die
Verzweiflung ist es, die mich erbeben
lässt, rief sie in wildestem Ton. Die Zerrissenheit darüber, dass diese Gesellschaft in
ihrem Handeln all den Idealen widerspricht,
die sie sich selbst erstellte und in langen Jahren zusammentrug. Die Verzweiflung darüber, den eigenen, den religiösen oder sonst
wie hochgestellten Zielen zuwider leben zu
sollen. Die Verzweiflung ist es, die es macht,
dass ich meinen Staat, also das, was ich meinen Staat nennen sollte, weil ich da lebe, wo
dieser es möchte, mein Staat, nicht meine
Heimat, die Verzweiflung ist es, dass ich ihn
nicht achten, nicht anerkennen kann, dass ich
ihn bekämpfe, diesen imaginären, diesen unfassbaren Staat, weil er mir falsch erscheint,
und weil er mir diese Verzweiflung bringt.
Darum, rief Anisa Kerim, die Friedfertige,
darum baue ich die Bombe und werfe sie hinein in die Heuchelei, mitten hinein. Und es
macht Freude, sie platzen zu sehen, die Fassaden, diese zur Schau gestellten Errungenschaften.
15
Die drei bekümmert wirkenden Mönche trafen sich erneut. Sie gehörten verschiedenen
Orden an, so dass derartige Treffen nicht nur
ungewöhnlich, sondern auch schwierig zu
organisieren waren. In Rom, vor geraumer
Zeit, war es einfacher gewesen. Danach, als
sie dann wieder im eigenen Priorat lebten und
nicht nur lange Reisen nötig wurden, sondern
auch gute Begründungen zu nennen waren,
mussten andere Wege gefunden werden. Es
half dabei die eigenartige und einzigartige
Verbindung über ihre Gedankenströme. Die
damit verbundenen gemeinsamen Erlebnisse,
die sie geheim halten mussten, waren fantastisch. Damals, Anno Domini 1321, fanden sie
zum ersten Mal zusammen, als sie während
dieser Studienreise nach Rom ihre Zugehörigkeit spürten. Und da sie hoch gebildet waren – alle drei arbeiteten in den Bibliotheken
ihrer Orden, kannten die offiziellen Schriften,
aber auch die geheimen und die verbotenen –
wuchsen aus ihren Begegnungen und Diskussionen unmittelbar, jedoch vor allem mental
16
verbunden, Überzeugungen und Sichten, die
sogar ihren Glauben bedrängten. Sie überwanden tapfer die Schrecken der Erkenntnis
und wurden sich einig, handeln zu sollen.
Lügen hindern am Fortschritt, postulierten
sie, aber sie hatten keine Ahnung, wie das
gehen sollte. Die lodernden Feuer der Scheiterhaufen, die päpstliche und die weltliche
Acht, Folter und andere Strafen drohten. Alle
gleich schlimm. Sie wussten, sie waren nur
Menschen. Sie trugen das Scheitern in sich.
Doch ihre Sympathie zueinander gab ihnen
Trost. Und Hoffen und Zuversicht bestanden
felsenfest, dass Gott in seiner Weisheit und
Güte eines Tages die Erkenntnis weitergäbe.
Sie waren unzertrennlich, Lisa, Gisa und Riza. Seit der frühesten Kindheit waren sie zusammen. Da gab es die anderen um sie herum. Aber die spielten keine Rolle. In ihrer
eigenen Welt waren sie unantastbar. Und später auch in der anderen. Und auch als sie älter
wurden blieben ihre Handlungen und Pläne
allein auf sich gerichtet. Nach innen wie nach
17
außen. Die ersten Erfahrungen mit Jungs, die
in den frühen Klassengemeinschaften der ersten Schuljahrgänge bei den Mitschülerinnen
mit kleinen Freundschaften begannen, die oft
auch die ersten harmlosen sexuellen Kontakte
beinhalteten, endeten bei ihnen in lachend
überlegenem Spott. Die Buben und später die
jungen Männer, die sich in die eine oder andere oder in alle drei der Mädel und später
jungen Frauen verknallten, zogen sich bald
zurück. In der Regel zutiefst verunsichert.
Zwischen eigener Neigung und unerklärbaren, wie gläsernen Wänden abgefangen und
abgewiesen. Und wer sich nicht abweisen
ließ, erfuhr nicht selten Schlimmeres. Hinzu
kam, und dies erklärte die dennoch ständige
Nachfrage, die drei waren von nahezu überirdischem Reiz. Niedlich in der Kindheit,
hübsch in der Jugend und strahlend schön in
den späteren Jahren. Venusfliegenfallen, kicherten sie, wenn sie sich gegenseitig informierten.
18
Nach außen blieben sie normale Kinder, Jugendliche, später Studenten. In Wirklichkeit
aber waren sie allen überlegen. Nur wussten
sie, dass es ihre Freiheit kostete, zeigten sie
diese Überlegenheit.
Sie hielten also ihre Fähigkeiten verborgen.
Bereits als sie zur Schule gingen. Sie waren
Kinder, die den normalen Kinderunsinn trieben, oder den nicht ganz so normalen. Sie
begannen an den Schulcomputern herumzutasten und bemerkten, wie viel besser ihre
Gehirne funktionierten. Sehr viel besser, als
diese Chips es konnten. Und ab und zu gaben
sie mit winzigen Zauberstücken dem Erstaunen der anderen ein wenig Raum. Aber immer standen dann auch die einfachen Lösungen bereit, die es ermöglichten, die aufblitzenden Qualitäten als normal auszuweisen.
Allein die Sache mit den schwarzen, diesen
stimulierenden Vogelbeeren hätte bedenklich
werden können.
19
Wie die
meisten verfügten die Frauen über
unterschiedliche Begabungen, wie das landläufig hieß. Sehr unterschiedliche sogar. Und
sie bemerkten, dass rasch andere hinzukamen. Sie verbanden ihre Qualitäten und wurden mächtig. Ihr Leben bestand symbiotisch
zueinander, und schon als sie ihre biologischen Eltern verließen, um die eigenen Wege
zu gehen, sehr früh also, fanden sie zueinander, wurden unzertrennlich und zu einer eigenen Einheit. Die Adoptivmutter, wie sie die
nannten, Anna hieß sie, die später ihre Mutter
wurde und sie deren Kinder, übernahm ihre
Erziehung, half, sie stark und unabhängig zu
machen, sah die besonderen Qualitäten der
Drei, förderte sie und zeigte, wer auch sie
war.
Bemerkenswert war ihre frühe Feststellung,
dass alle Menschen suchten. Bedrängendes
lag in mancher Suche. Es läge in der Natur,
erfuhren die Kinder, und sie wussten, dass es
20
hier nicht um verlegte Gegenstände ging,
wenn vom Suchen die Rede war. Nicht der
Haustürschlüssel war zu finden. Da drehte es
sich um Schlüssel zu komplizierteren Türen.
Sehnsüchte und Hoffnungen standen nicht
selten dahinter. Und sie lernten, dass ein jeder die zu suchenden Dinge seinem Wesen
nach anders definierte. Oft waren es utopische, weit entfernte Ziele. Oft eingeredete
oder von anderen suggerierte. Und oft auch
war die Suche von der Vorstellung inspiriert,
dem Großen und Ganzen zu dienen.
Der
Fremde aber postulierte, xapisaroxon
oifarel hydraoclos kaferaen … und es sollte
heißen, es gäbe drei Arten jener seltsamen
Wesen. Hierarchisch geordnet. Oben der
zweifelnde, nicht selten der verzweifelte
Gott, darunter Hexen, Zauberer, Magier der
unterschiedlichsten Prägung. Und weiter unten die Einfachen in bescheidener Art.
21
Auch wir, die Außergewöhnlichen sind
nur
Menschen, sagte Anna lachend. Und auch wir
suchen.
Die
Klugen und die Dummen, die Sanften
und die Brutalen, im Suchen sind sie alle
gleich, meinte sie. Manche suchen Frieden,
andere den Krieg. Viele reden vom Glück,
das sie suchen. Was noch das Undefinierbarste wäre, dachte doch jeder an etwas anderes
dabei. Einige suchen nach der Herkunft, andere wohin es wohl ginge. Vielleicht haben
auch die Amöben nach Lösungen gesucht,
scherzte Anna, und die Menschheit entstand.
Was aber, sagte sie, am Ende niemand ernsthaft annehmen möchte, weil es kaum etwas
Großartigeres als die Menschheit gibt …
Und es besteht das Drängen, dieses von der
Enge der menschlichen Zeit bestimmte Drängen, predigte Anna, die Mutter.
22
Einiges Erlebte wird zu Konserven verarbeitet, lautete ein anderer ihrer Lehrsätze, zu
Zeitkonserven, zu Aufzeichnungen, Büchern,
Berichten oder Legenden. Zu Lehrbüchern
oder zu Traktaten. Es kann zu Musik werden
oder zu Bildern. Zu guten oder zu schlechten
Erfahrungen. Oder zu tödlichen Ereignissen.
Ob es nun
Besonderheiten sind oder Zuge-
wachsenes, behauptete Anna, auch wir leben
in unseren Grenzen.
Nur wer wüsste schon, trotz aller Qualitäten,
ob nicht morgen oder übermorgen, früher
oder später, die Welt zugrunde ginge? Ausgelöscht vom Unvorhersehbaren oder von dem,
was in der Natur der Dinge lag? Vielleicht
auch vom menschlichen Zutun veranlasst? Es
träfe das spielende Kind gleichermaßen, wie
den grübelnden Wissenschaftler. Wer wüsste
das? Doch über allem wacht die Hoffnung.
Derart
erklangen ihre Stücke. Bruchstücke.
Lehrstücke. Und wir haben Spaß.
23
Lisa
Das
Mädchen tappte weiter. Immer voran.
Zu einem Ziel hin, dass es nicht kannte, aber
sehr genau spürte. Wenn jemand die Frage
gestellt hätte, wie weit eine Vierjährige zu
laufen in der Lage sei, wäre er bei Lisa ins
Staunen geraten. Vor drei Tagen hatte sie die
unfreundliche, kalte Wohnung verlassen, den
bösartigen Mann, der sich Vater nannte, die
keifende Frau, die ihre Mutter sein sollte. Sie
war in dem zum Frösteln bringenden Treppenhaus in den Aufzug gestiegen, wo sie gerade bis an die unteren Knöpfe reichte, geriet
in den kleinen Hof, wo die Autos parkten und
Schmutz in den Ecken lag und krabbelte in
eines der Fahrzeuge. Das war ein kleiner
Lastwagen. So einen hatte sie in dem einzigen Buch, das ihr zur Verfügung stand, kennengelernt. Ein Buch, welches sie, zerrissen
und schmuddelig, in einem vergammelten
und vergessenen Winkel der Küche fand. Sie
wusste, dass unter der abdeckenden Plane des
24
Wagens Dinge hin und her transportiert wurden. Also dachte sie, dass sie zu einem dieser
Hin oder Her kommen wolle, da es dort sicher besser sei, als hier in dem Haus bei diesen Leuten, die sie hasste. Obwohl sie nicht
genau wusste, was es eigentlich bedeutete,
jemanden zu hassen. Der Wagen fuhr los und
sie erlebte ein neues, ein spannendes Gefühl
des Weiterkommens. Nach einiger Zeit
schlief sie sogar ein wenig ein. Sie wurde
wach, als das Auto anhielt und sie Stimmen
hörte. Draußen, nicht sichtbar hinter der Plane, unter der sie sich versteckte, redeten welche. Die Stimmen entfernten sich. Dann war
Ruhe. Lisa guckte unter der Abdeckung hervor. Da sah sie Bäume, Büsche, ein kleines
Haus, andere Autos, die dort standen. Sie
kletterte aus ihrem Versteck, blieb unbemerkt, huschte zwischen die Büsche, die seltsame Blätter hatten, Büsche, von denen sie
nie gehört oder gesehen hatte und da sie bemerkte, dass die ein Schutz sein konnten, einer der zudem eine gute Ausstrahlung bot,
lief sie weiter und immer weiter, tief hinein
25
in den kleinen Wald, der sich vor ihr auftat.
Da gab es weiche, mit Moos gepolsterte Wege. Es lief sich gut hier. Die Bäume wurden
bald höher, mächtiger, aber auch freundlicher. Und die Büsche trugen Beeren. Beeren,
die sie nicht kannte, von denen sie aber umgehend wusste, dass sie ihr schmeckten. Ohne zu probieren wusste sie es. Irgendein Inneres, das sie noch nicht so gut kannte, riet ihr
zu diesem und jenem. Das ging schon seit
einiger Zeit so. Und jetzt riet es ihr, von den
Beeren zu essen, vom Wasser des kleinen
Bachs zu trinken und weiterzulaufen. Immer
nur weiterzulaufen. Einem Ziel entgegen, das
sie nicht kannte. Von dem sie aber wusste,
dass es da irgendwo lag und dass es gut sei,
es zu erreichen.
26
Riza
In demselben Wald, an einer anderen Stelle,
lief ein anderes kleines Mädchen. Man könnte sich Gedanken darüber machen, ob dies ein
Zufall sei oder ein seltsam lenkendes Geschick. Oder ob beides zusammenspiele.
Doch es wäre müßig, solch ein Denken. Das
Kind war müde. Die Jeans und der rote Pullover schienen nicht zu passen. Es waren Geschenke, die Riza in einem der Lager erhielt,
die sie durchlaufen musste. Ganz am Anfang
waren es die Eltern, die einen gewissen
Schutz boten. Als sie ihr armseliges Zuhause
verließen, wo die Mutter und der Vater die
drei Kinder in ein besseres Land bringen
wollten. Da war noch genug Hoffnung vorhanden. Sonst hätten sie wohl nie die Strapazen überstanden, die sofort, noch kaum dass
sie ihr Dorf verlassen hatten, auf sie warteten.
Trost gab die kleine Figur. Das war die Mutter eines Gottes, wie Riza wusste, die ihre
Mutter mit sich trug. Und immer, wenn sie
irgendwo anhielten, gezwungen oder aus
27
freiem Willen, stellte die Mutter sie auf, um
mit ihr zu reden. Der Vater redete meist mit
sich selbst und das klang härter und verzweifelter, als die Gespräche der Mutter mit dieser
Figur. Die Brüder redeten ganz anders. Sie
waren drei und vier Jahre älter, also Sieben
und Acht, trugen Stöcke, mit denen sie herumschossen, bum klatschbum riefen und da
hast du es, du Schwein, und solche Sachen.
Die anderen redeten von einem anderen Gott,
als die Mutter. Oder war es derselbe? Auch
der Vater kannte einen anderen Gott.
Manchmal stritten die Eltern. Aber auch deren Gespräche und Streitereien wurden auf
der Reise stiller, müder. Doch die Mutter sagte und auch der Vater, dort, in dem Land, wo
sie hingingen, das Alemania hieß, sei alles
besser. Gott wäre gnädig und hülfe ihnen
weiter. Riza kannte Gott nicht. Hatte ihn nie
gesehen. Dessen Mutter kannte sie. Das war
die kleine Figur in der Tasche der Mutter.
Aber ob die zu helfen imstande wäre, wusste
sie nicht. So recht vorstellen konnte sie sich
das nicht. Bei dem ersten Aufenthalt nach
28
ihrer Flucht von zuhause, gaben gewalttätige
Männer den Ton an. Die Leute, die mit ihnen
waren, und sie und die Familie, wurden hinund hergeschickt und schliefen in eisernen
Hütten. Es war kalt. Eigentlich war es immer
kalt. Nicht wie in der Heimat. Dort war es
warm. Oft auch heiß. Es herrschte manchmal
Dürre und das Wasser war knapp. Aber die
Kinder fühlten sich nicht so schlecht dabei.
Die Buben rannten mit ihren Holzgewehren
herum und die anderen Mädchen halfen beim
Stampfen der Maiskörner. Bis die Männer
mit den richtigen Gewehren kamen und sie
davonlaufen mussten. Schließlich, als sie in
dem stinkenden, rotrostigen Schiff über das
große Wasser fuhren, verlor sie die Eltern.
Riza wäre beinahe zu Tode gekommen, wo
sie aus dem untergehenden Schiff nach oben
getrieben wurde und in den Wellen hinauf
und hinunter schwappte, hätte nicht ein Mann
in einer fremden Uniform sie herausgefischt
und auf ein anderes Schiff gebracht. Dann
kam sie in eine neue Hütte. Zunächst dachte
Riza, sie sei nun in dem Land, das sie errei29
chen wollten. Es gab zu essen und sie erhielt
eine blaue Hose und einen schönen roten Pullover. Alles ein wenig zu groß, aber das
machte nichts. Doch als sich nichts änderte
und auch die Mutter, der Vater und die Brüder nicht kamen, um sie abzuholen, weil ja
nun alles ein wenig besser war, hatte sie eine
Ahnung, dass eben nichts besser geworden
sei. Nach längerer Zeit kam ein Mann und
nahm sie mit. Sie verstand nicht, was der sagte, sie verstand die Sprache von niemandem
hier. Aber sie besaß die Fähigkeit auch ohne
Sprache zu wissen, um was es ging. Das hatte
sie schon zuhause in ihrer Hütte gewusst.
Und der Schamane, der sie damals besuchte,
hatte die Mutter gefragt, ob er Riza wohl
ausbilden dürfe. Wobei Riza keine Ahnung
hatte, was es bedeuten solle, ausgebildet zu
werden. Aber die Mutter hatte zugestimmt
und schien sogar ein wenig stolz zu sein. Das
war nun anders. Ob der Schamane noch lebte,
wusste sie nicht. Auch ob ihre Eltern und die
Brüder noch lebten, aus dem untergehenden
Schiff heraus kamen, wusste sie nicht. Aber
30
sie hatte ihre Fähigkeiten. Das wusste sie.
Der Mann, der sie mitnahm, hatte keine gute
Ausstrahlung. Aber seine Befehle waren klar
und so stieg Riza in den kleinen, blauen Bus,
der sie nach irgendwohin brachte, wo sie
vielleicht hoffte, dass es besser werden könne. Mit ihr fuhren andere Frauen. Sie kannte
die nicht. Auch deren Sprache nicht. Alle
strahlten Angst aus. Eine der Frauen sagte,
sie, Riza, brauche keine Angst zu haben. Das
war eine Frau, die ihre Sprache, also die
Sprache der alten Heimat sprach. Du bist
klein, du kommst gut überall durch, sagte sie
und Riza dachte, dass sie recht haben könnte.
Aber sie spürte auch, dass die Frau, die das
sagte, selbst nicht so recht überzeugt war,
von dem, was sie sagte. Riza spürte jedoch
den Trost, der in den Worten lag. Bei einem
der Aufenthalte machte sie dann von ihrem
Kleinsein Gebrauch. Niemand durfte aussteigen, wenn sie irgendwo anhielten. Und wenn
eine ihre Notdurft verrichten musste, ging
einer der Männer mit. Es waren zwei, die das
Auto fuhren. Bei diesem Aufenthalt nun, wo
31
wieder keine von ihnen aussteigen durfte,
drückte Riza sich durch einen schmalen
Spalt nach vorne, wo sonst die Männer saßen,
die nun verschwunden waren. Sie öffnete die
Tür und huschte aus dem Führerhaus des Autos. Hier standen viele andere Fahrzeuge.
Leute liefen herum. Dort war ein sehr schönes Haus. Und weiter hinten begann ein
Wald, wie ihn Riza nicht kannte. Sie hatte da,
wo ihre Heimat war, Bäume kennengelernt.
Aber nicht solche, wie hier standen. Niemand
achtete auf sie. Zwischen den Autos hindurch, über feste Wege, dann über eine Wiese und durch einen Zaun aus Draht, gelangte
sie unter die Bäume. Nun lief sie bereits eine
ganze Weile durch das schöne und angenehm
kühle Blätterhaus. Das heißt, die Zeit, die
verging, bemerkte sie nicht. Es gab derart
viel zu entdecken, da spielten Zeitläufe keine
Rolle. Sie lernte den Wald kennen. Da gab es
Früchte an den Büschen, die süß und wohlschmeckend waren, später kam sie an eine
Quelle und konnte köstliches Wasser trinken.
Beinahe dachte sie, dass dies das Land ihrer
32
Wünsche sei, wohin sie vor langer Zeit aufgebrochen waren, wovon alle träumten, als
sie in der staubigen Hütte saßen. Eine kleine
Traurigkeit wohnte in ihr, wenn sie an die
Mutter dachte, die mit der Mutter dieses Gottes an diesem Ort hier sicher glücklich gewesen wäre. Oder an den Vater. Oder an die
kriegerischen Brüder. Aber es war eine ferne
Traurigkeit. Der Wald und das Momentane,
dazu die Spannung, was wohl noch käme,
räumten die schwereren Gedanken aus dem
Kopf. Sie wusste nicht, was das Leben bereit
hielt. Doch ob es schöne oder weniger schöne
Dinge wären, alles schien besser, als das Gewesene. Der Wald hatte Gutes zu versprechen. Das Laufen unter den fremden Bäumen
und die dabei entstehenden angenehmen Gedanken löschten alle die Angst und Hoffnungslosigkeit, die im Vergangenen nisteten,
beinahe völlig. Bis auf den Verlust der Familie. Der blieb und lugte ab und zu zwischen
den Bäumen hervor. Als Riza müde wurde,
entdeckte sie, wie auf ihren Wunsch erschienen, ein kleines Holzhaus. Es war ein Rast33
platz für Wanderer. Da gab es eine Bank und
einen Tisch, beinahe wie in der fernen verlorenen Heimat. Sie setzte sich. Dann legte sie
sich auf die Bank. In ihrem Schlaf erfuhr sie
zum ersten Mal nach langer Zeit glückliche
Träume. Sie sah lachende Menschen und ein
anderes, ein besonderes Kind, das in ihrem
Alter war, das zur Freundin wurde. Und ein
weiteres besonderes Kind kam hinzu. Sie waren nun zu Dritt. Und gemeinsam waren sie
froh und stark. Es war ein schöner Traum.
34
Gisa
Gisa
wusste nicht, was es bedeutete. Zu-
nächst nicht. Später schon. Ihre Eltern waren
unterwegs gewesen. Dann kam die Tante, die
Gisa nicht ausstehen konnte, besonders wenn
sie mit ihrer Hasenscharte näher rückte und
Gisa ihre klebrigen Küsse aufzwang. Und
andere waren mit dabei und einige Polizisten
auch und alle flüsterten, bis die Tante dann
auf einmal sehr laut redete und meinte, sie
habe weder Zeit noch Platz und das ginge
nicht, so dass Gisa nun wusste, dass es um sie
ging. Doch eigentlich ging es um ihre Eltern,
die mit dem Auto verunglückt und tot waren.
Aber nicht nur tot, sie waren verbrannt, so
dass keiner sie mehr erkennen konnte. Zunächst waren da gar keine schlimmen Gefühle in ihr, so dass sie sogar meinte, alles sei
nicht wahr, aber als man dann ihre Sachen
zusammensuchte, auf einen Haufen legte,
dabei beinahe den magischen Tim vergessen
hätte, der zu ihren engsten Beratern zählte,
35
besonders, wenn es um kritische Angelegenheiten ging, da wusste Gisa, dass die Nachricht vom Tod der Eltern nicht nur stimmte,
sondern dass sich auch ihr Leben verändern
würde. Dass die klebrige Tante nicht zu ihrer
neuen Heimat wurde, war noch ein Glück
dabei. Aber die hatte es ohnehin bloß auf einige der Wertsachen abgesehen, die übrig
blieben, so dass Gisa zudem klar wurde, dass
sie selbst zu den wertvolleren Dingen wohl
nicht zählte. So kam sie in dieses Kinderheim, das nett gelegen war. Unten gab es den
Blick ins Tal, mit den kleinen Häusern und
den Kühen, und oben begann der Wald, mit
seinem dichten, geheimnisvollen Blätterdach,
unter dem Gisa gerne saß, allein, das heißt
nur der Tim war dabei, und nachdachte und
feststellte, dass sie die anderen gar nicht
brauchte, um zufrieden zu sein. Außerdem
stellte sie fest, dass sie besondere Dinge
kannte und wusste, die es zu verbergen galt.
Denn das war sicher, den anderen konnte das
nicht gefallen. Sie erfuhr deren Gedanken,
ohne dass die was sagen mussten, wobei Gisa
36
zudem bemerkte, dass sich das, was sie innerlich erfuhr, von dem, was da laut geredet
wurde, oft unterschied. Alle behaupteten,
man solle nicht lügen, besonders der Kaplan
tat sich mit derartigen Regeln hervor, aber
alle logen unentwegt. Auch der Kaplan. Und
Gisa träumte. Da waren zwei Mädchen in
ihrem Alter. Die logen nicht und sie waren
ihre Freundinnen. Mit denen erfuhr sie eine
große Gemeinsamkeit. Erfolge und gute Gefühle bei vielerlei Unternehmungen machten
sie glücklich. Denn die beiden besaßen ebenfalls besondere Fähigkeiten. Und das machte
sie zu Dritt stark. Aber Gisa wusste auch,
dass dies Träume waren. Und wenn sie wieder wach war, blieben die Dinge des Alltags
zu meistern. Was ihr eigentlich recht gut gelang. Vor allem, weil Tim dabei war, der ihr
brauchbare Ratschläge gab. Und es war auch
Tim gewesen, der berichtete, die im Traum
benannten Freundinnen kämen nun tatsächlich näher.
37
Ziehkräfte
Der Forstmeister entdeckte Riza in der Hütte. Das kleine Mädchen schlief tief. Der
Mann informierte die Polizei. Dort wunderte
man sich nicht schlecht, denn es war bereits
die zweite Meldung zu offenbar verirrten
Kindern. Man rief das Fürsorgeamt zu Hilfe.
Daneben und vordringlich recherchierten die
Polizisten, wo kleine Mädchen vermisst wurden. Das geschah zuletzt bundesweit. Obwohl die beteiligten Beamten wussten, dass
so etwas nur selten Erfolge brachte. Die Listen über vermisste Leute lagen in der Verantwortung der Bundesländer. Und das war
nicht immer vom Besten. Zudem konnten die
Kinder von außen kommen, wie es hieß. Bei
dem Mädchen, das sich Riza nannte, war dieses ohnehin klar. Das Kind sprach kein Wort
Deutsch, schien zwar aufgeweckt und verständig zu sein, begriff wohl auch, was man
wissen wollte, war aber nicht in der Lage,
mehr Aufklärung zu vermitteln. Man tippte
auf Libyen, oder sogar Syrien, holte eine
38
Übersetzerin, und nun wurde klarer, woher
das Kind kam, was es erlebt haben musste
und dass die Angehörigen nicht mehr lebten.
Oder jedenfalls nicht zu ermitteln wären. Offenbar war die Familie geflüchtet. Sie kamen
tatsächlich aus Libyen und versuchten über
Tunesien und über das Mittelmeer Italien zu
erreichen. Ob das eine Flucht vor der Armut
war, oder ein politischer Hintergrund bestand
– was eigentlich gleichgültig wäre, aber ansonsten eine große Rolle spielte – war nicht
zu ergründen. Es gab in diesem Land Libyen,
im Verlaufe seiner langen und qualvollen Geschichte, viele unterschiedliche Strömungen.
Man hörte von brutalen Auseinandersetzungen, die besonders mit den verschiedenen
Religionen und den fanatischen Machtkämpfen religiöser Eiferer zu tun hatten. Aber auch
mit Einmischungen anderer Interessen. Dort
seien mehr Spione und Agenten unterwegs,
sagte einer der Polizisten, als in sämtlichen
James Bond Filmen zu zeigen wären. In zahlreichen anderen Ländern dieser Region, in
nordafrikanischen oder in arabischen Län39
dern, vor allem im Irak und in Syrien, gab es
Terror, Aufruhr und Gewalt. Kriege, in die
sich andere einmischten, dort Profit und sonstiges suchten. Oder die gar von denen angezettelt wurden. Die Polizisten wussten, es
waren die einfachen Menschen, die litten. Es
waren immer die einfachen Menschen, die in
Not kamen und flüchteten. Sie wussten auch,
dass nicht alle in den sicheren Ländern aufgenommen wurden. Manche schirmten sich
ab. Wollten nicht teilen. Nun gut, Polizisten
hatten ihre Befehle. Was sie dachten, spielte
hierbei keine Rolle. Und es war bekannt, dass
sich in der aktuellen Kriminalitätsszene einiges spiegelte von dem, was in den fernen
Ländern mit den geschundenen Menschen
geschah. Es gab auch eine Menge krimineller
Elemente, welche die Not der anderen ausnutzten. Besonders schlimm waren Fälle, wo
Frauen und Kinder aus solch elender Herkunft abgefangen, versklavt, zur Prostitution
oder zu anderen unsauberen Geschäften gepresst wurden. Aber es half der Kleinen
nicht, dass man es vielleicht wusste, man
40
aber sonst nicht viel anfangen konnte mit ihr.
So übernahm das Jugendamt die Verantwortung. Die gab das Mädchen in ein Heim ganz
in der Nähe, das in einem Tal lag, wo unten
die Kühe grasten und oben der Wald war, wo
Gisa lebte und von den unbekannten Freundinnen träumte. Seltsame Anziehungskräfte
bestanden. Die verborgenen Fähigkeiten, die
in den Mädchen wirkten, waren es wahrscheinlich, die sie zueinander führten.
Gleichsam magnetisch, wie von geheimen
Kräften geleitet, zogen sie sich an und fanden
zueinander.
41
Drei zusammen
Ähnlich wie Riza erging es auch Lisa. Auch
sie landete zunächst bei der Polizei. Sie war
zwar in der Lage, einiges mehr zu ihrer Identifikation beizutragen. Aber woher sie kam
und warum sie in dem Wald war und wie das
zuhause zuging, das konnte sie nicht sagen.
Beziehungsweise sie wollte es nicht. Denn es
war ihr klar, wenn sie hier nähere Angaben
gemacht hätte, wäre sie umgehend zurückgeschafft worden. Dann war alles umsonst. So
kam, nach sämtlichen vergeblichen Polizeirecherchen, wo auch möglicherweise eine gewisse Steuerung eine Rolle spielte, auch sie
in dieses Heim. Und als die drei sich nun tatsächlich trafen, fernab ihrer Träume, jetzt
wirklich und real, da wurde ihnen klar, dass
dies ihrem Leben eine neue, eine wahrlich
schicksalhafte Wende gab. Und dass es eine
unverbrüchliche Freundschaft war, die sie
von nun an verband. Sie mussten über ihre
Fähigkeiten nicht groß reden. Sie wussten
voneinander. Wenn sie ihre Sinne öffneten,
42
war eine wie die andere. Es gab Unterschiede
in den Qualitäten. Das spürten sie. Aber das
erhöhte die Spannung, die anderen noch näher kennenzulernen. In ihrem Alter jetzt aber
waren die Besonderheiten fast identisch. Sie
verständigten sich rasch, dass sie dies geheim
halten wollten und auch, dass sie, alles in allem, zusammen eine bedeutende Energiemasse darstellten. Was ein Leben außerhalb des
geordneten Lebens der anderen nicht nur ermöglichte, sondern überaus interessant machte. Spannend und lebenswert. In Freundschaft
und Fröhlichkeit verbunden, zusammengehalten und geschützt von der gemeinsamen
Kraft, die man einzusetzen in der Lage war.
Subtil, aber auch wenn nötig direkter. Riza
lernte die Sprache, die alle sprachen. Was
einfach war. Denn das, was aus den Mündern
kam, wurde von ihr simultan in den Köpfen
gelesen. Alle wunderten sich, wie rasch sie
lernte. Bis auf die Freundinnen, die wussten
es. Die Drei entwickelten sich prächtig, wie
43
der Heimleiter fand, und als sie mit fünf Jahren bereits in die allgemeine Schule geschickt
wurden, die sich in der Nachbargemeinde
befand, dachte keiner großartig darüber nach.
Nun begannen die Mädchen ihre Entwicklung auch hier voranzubringen.
44
Der Wanderzirkus
Die Heimkinder besuchten einen Zirkus. Der
gastierte in der Nachbargemeinde, die hieß
Riegelheim. Ein seltsamer Name, wie die
Kinder meinten. Die Heimleitung machte
dies oft, Veranstaltungen besuchen. Konzerte, Kirmesvergnügungen, auch andere Ereignisse geselliger Art, was immer man für angemessen hielt … oder eben Zirkus. Das hieß
nun nicht, jeden Zirkus zu besuchen, der da
auftauchte. Aber derart häufig kamen Zirkusse ja sowieso nicht in das Kaff. Wanderzirkusse gab es kaum noch.
Öfter
machten die Kinder Ausflüge in ir-
gendwelche Heimatmuseen oder zu besonderen Ausstellungen hin. Auch die regelmäßigen Markttage wurden besucht. Derart sollten
sie an die Leute, an Sitten und Gebräuche,
also an das Leben außerhalb des Heims herangeführt werden. Solche Ausflüge waren
beliebt. Bei den Kindern, wie bei den Betreuern. Und die Nachricht, dass ein Zirkus
45
seine Zelte aufgeschlagen habe und man
dorthin wolle, löste einige Begeisterung aus.
Tagelang bereitete man in den verschiedenen
Gruppen den Besuch vor. Die Kleinen malten
Pferde und Löwen, die Größeren spielten sich
als Artisten auf oder waren Clowns. Lisa, Gisa und Riza freuten sich auch. Sie hörten den
Erzählungen der Erwachsenen zu, was das
sei, ein Zirkus, und wie das dort abging, und
sie stellten sich das Kribbeln im Magen vor,
wenn Menschen auf hohen Seilen balancierten oder über galoppierende Pferde sprangen.
Was sie nicht wussten, und keiner wusste es,
dass auch Zauberkunststücke geboten wurden.
Und nun
saßen sie da, mit hunderten ande-
ren Menschen zusammen, starrten auf den
gelben Belag der Manege und staunten. Es
war ein besonderer Zirkus, der mit geheimnisvollen Beleuchtungen und bezaubernder
Musik in den Bann zu ziehen suchte. Natürlich gab es auch Pferde und Löwen und drei
Elefanten und die Clowns sowieso. Aber Li46
sa, Gisa und Riza waren besonders eingefangen von eben diesem Anderen, diesem Zauberigen, das in der gesamten Atmosphäre lag.
Was eigentlich kein Wunder war.
Besonders
eine Frau faszinierte sie. Man
kündigte sie als die Königin der Magier an.
Und sie machte diesem Titel alle Ehre. Die
drei Mädchen folgten gespannt den zelebrierten Tricks. Aber waren das Tricks? Einige
der Zauberstückchen waren es, ganz klar. Das
konnten die Drei leicht erkennen. Vor allem,
wenn sie ihre Fähigkeiten nutzten, sahen sie
es. Aber da gab es auch anderes. Was ebenfalls nur sie erkannten. Blumen, welche die
Magierin, die sich Black-Rosanna nannte, aus
den Jackenumschlägen der Zuschauer holte,
waren Tricks. Ganz klar. Aber es war gut
gemacht. Illusionen, die alle verblüfften, die
Lisa, Gisa und Riza aber durchschauten.
Doch als die Frau Zettel aus den Taschen der
Zuschauer nahm, auf denen Botschaften
standen, die wieder andere verfasst hatten,
und sie diese Botschaften an eine Tafel
47
schrieb, bevor sie den Inhalt der Zettel kannte, dann war das etwas anderes. Und als sie
dann einen Igel, einen stacheligen unhandlichen Igel, in einen Hasen verwandelte, den
sie aus einem angeblich leeren Rohr zog, das
einer der Zuschauer zuvor getestet hatte, da
wurden die Drei noch aufmerksamer.
Sie waren jetzt um einiges mehr gepackt, als
es die Vorführung ohnehin schon fertigbrachte. Zudem stellten sie fest, dass ihre eigenen
Fähigkeiten, in den Gedanken anderer zu lesen, bei dieser Black-Rosanna blockiert
schienen. Aber das konnte auch daran liegen,
dass die Konzentration der Frau allzu stark
auf anderes gerichtet war. Es mochte sein,
dass einige ihrer Tricks darauf beruhten, die
Zuschauer insgesamt gedanklich zu beeinflussen. Die drei Mädchen spürten es. Wie
auch immer, dort, auf der halbdunklen quadratischen Bühne, die mitten in der Manege
aufgebaut war, geschah einiges, was die
Mädchen sowohl irritierte, als auch außerordentlich stark in den Bann zog. Und so be48
schlossen sie, der Frau nachzugehen. Das
hieß, sie wollten erforschen, was es mit der
auf sich hatte.
Wenn man besondere Fähigkeiten besaß und
davon wusste, wie es bei den Dreien der Fall
war, und wenn man sie auch einsetzte, dann
waren andere besondere Qualitäten, die man
bei jemandem entdeckte, nicht nur überraschend, sondern auch spannend. So erging es
den Mädchen. Und als beim Bühnenabschied
der Blick der Frau eindeutig zu ihnen führte
und ein winziges Lächeln auf dem dunklen
Gesicht deutlich mehr zu bedeuten schien, als
nur ein Bühnenlächeln, weil da ein Gedankenblitz mitkam, der den Dreien unter den
Schädel fuhr, da war es für sie klar, dass sie
der Black-Rosanna näherkommen mussten.
Diesem Vorhaben galt ab sofort alle Priorität.
Nichts anderes galt. Und noch während eine
jüngere Frau an einem Seil hing und ein maskierter Mann sie herumschleuderte, schlichen
sich Lisa, Gisa und Riza weg von ihren Plätzen und nach draußen. Der Weg lag wie eine
49
vorgezeichnete Spur vor ihren Augen. Sie
kamen an einen Wagen, der keiner der üblichen Zirkuswagen war. Es war ein Campingwagen, der wie ein Lastwagen selbständig gefahren werden konnte. Die Mädchen
kannten so etwas nicht. Das Gefährt verstärkte für sie die Faszination, die von der Magierin ohnehin ausging. Das seitliche Fenster
war erleuchtet. Es war ein freundliches Licht.
Eines das einlud. An der Tür glänzte eine
aufgemalte schwarze Rose. Das war wie ein
Zeichen, nicht groß, aber bedeutsam. Hinter
dem erleuchteten Fenster hing ein Pentagramm. Auch dies kannten die Kinder nicht.
Sie sahen darin einen Stern. Was es ja auch
war.
Ohne zu zögern drückte Riza auf die Klingel. Ein modernes Klingelzeichen ertönte,
eines, das sie von den Mediageräten kannten,
wenn man sich anmeldete. Die Tür öffnete
sich beinahe sofort. So als habe das Klingeln
sie unmittelbar geöffnet. Oder als habe man
sie erwartet. Was vielleicht ja der Fall war.
50
Die Black-Rosanna saß in einem Sessel, der
bequem wirkte. Sie winkte die Drei zum Sitzen auf eine Bank herbei, hatte Säfte und
kleine Gebäckstücke bereit und wirkte nun
noch jünger und sehr viel freundlicher. Und
vorbereitet wirkte sie. Das andere war mein
Bühnengesicht, sagte sie und lachte, nun seid
ihr hier, ich habe lange gesucht. Was für Lisa, Gisa und Riza keinesfalls eine riesige
Überraschung bedeutete. Seltsam eigentlich,
aber es war so. Sie saßen da, unterhielten
sich, berichteten von den Irrwegen und dem
Suchen zueinander, lauschten den Ausführungen der Frau, wussten nun, dass BlackRosanna ein Bühnenname war, dass sie in
Wahrheit Anna hieß und bemerkten nicht,
wie die Zeit verging. Sie hörten nicht, wie
man draußen aufgeregt hin und her lief, ihre
Namen rief, bemerkten auch nicht, als es
letztlich ruhiger wurde und waren am Ende
überzeugt, wie selten von etwas, dass sie bei
dieser Anna bleiben und mit ihr gehen wollten. Wohin auch immer.
51
Natürlich
lag auch eine Dankbarkeit in ih-
nen, dem Heim und den Leuten dort gegenüber, natürlich war es für Gisa nicht einfach,
den Tim zurückzulassen, der so oft gute Ratschläge gegeben hatte, nun aber ganz sicher
mit ihrem Schritt einverstanden gewesen wäre. Das glaubte sie fest. Denn das, was auf sie
zukam, war derart wichtig, derart zwingend,
dass es kein Zögern gab.
Die Aufregung, dass bei einem Zirkusbesuch
drei kleine Mädchen spurlos verschwunden
waren, bekamen sie nicht mit. Es hätte sie
auch nicht interessiert. Dass dabei der Heimleiter seine Stellung verlor, wäre vielleicht
noch geeignet gewesen, sie in Sorge zu bringen, aber auch das erfuhren sie nicht. Seltsam
war nur, dass die drei dabeisaßen, als ein Polizist mit Anna sprach. In deren Wagen war
das. Aber der Mann schien sie nicht wahrzunehmen. Er redete auch nicht lange herum.
Zwei Tage später fuhren sie davon. Die Vier
in diesem seltsamen Auto.
52
Weit im Süden des Landes besaß Anna ein
wunderschönes Haus. Es sah einem kleinen
Schloss ähnlich. Dorthin fuhren sie. Anna
meldete die Mädchen in der örtlichen Schule
an. Es gab keine Probleme, woher sie wohl
gekommen waren. Anna konnte das regeln.
Anna konnte vieles. Sie sagte den Dreien,
dass es nicht nur darum ginge, bei ihr zu lernen. Das täten sie ohnehin, und das täten sie
richtig. Und dass sie es ungestört könnten,
dass sie die Ruhe und die Möglichkeiten zur
wichtigen Reflexion fänden, sei besonders
wichtig. Hierfür sei ihr Haus das Gegebene.
Ihr werdet aber auch in der Schule lernen.
Das ist von Bedeutung. Ihr lernt vor allem die
Regeln der Menschen, das Wissen um die
Gemeinschaften, in denen Menschen leben
und das Wissen darum, mit was sich Menschen beschäftigen. Doch einiges kann ich
euch auch beibringen, sagte sie, und grinste
übers ganze Gesicht.
53
Lisa, Gisa und Riza wussten das. Sie waren
glücklich. Sie lernten Tag für Tag mehr dazu.
Draußen in der neuen Schule, bei den anderen und selbstverständlich bei Anna. Sie liebten und achteten die Magierin, die für sie nun
zur eigentlichen Mutter geworden war. Eine
Mutter, die verständig war, die behutsam den
Neigungen der Mädchen nachgab, die sie
stützte und hielt, und die selbst Fähigkeiten
zeigte, von denen die Kinder kaum geahnt
hatten. Im Zirkus trat sie nicht mehr auf. Das
sei ein Mittel der Suche gewesen, sagte sie.
Und nun, da sie die Drei gefunden habe, sei
alles anders. Und sie lachte, wenn sie solches
sagte, so dass die Kinder nicht genau wussten, wie ernst es ihr darum war. Nur geschah
alles derart selbstverständlich, was Anna tat
und berichtete, dass Zweifel niemals aufkamen. Doch wenn sie darüber redeten sagte
Anna auch, dass nichts im Leben endgültig
sei. Womit sie wohl ebenso recht hatte. Auch
das wussten Gisa, Lisa und Riza bereits.
54
Eine besondere Regel
Anna
hatte den Mädchen erklärt, dass sie
immerzu lernen müssten. An allen Orten dieser Welt, wo und wie auch immer sie mit
wichtigen Fragen in Berührung kämen. Mit
Fragen, die sie berührten. Was dabei wichtig
sei, erführen sie schon noch, antwortete Anna
auf die entsprechenden Einwände. Und um
die Erhaltung der alltäglichen Dinge, wie Essen, Kleidung oder was man so brauche,
müssten sie sich sowieso keine Gedanken
machen. Das sei vorhanden. Jedenfalls solange sie sich an die Regel hielten, sich nämlich
nie zu trennen. Und wenn es denn sein müsse, einmal getrennte Wege zu gehen, was ja
wohl immer möglich wäre, dann bliebe es
unabdingbar, im Inneren verbunden zu bleiben. Was eine strenge Regel sei, gab Anna
zu, eine Regel, deren Strenge sich erst im
Verlauf des Lebens zeige, denn als Kinder
bliebe es leicht, zusammen zu bleiben.
55
Wenn
das Leben irgendwann einmal mit
seinen unterschiedlichen Versuchungen käme, sagte Anna, wäre die Strenge der Regel
auch als eine nachhaltige Prüfung zu begreifen. Das Zusammenbleiben aber habe nur den
einen Grund, betonte Anna, die Stärke, die
jede von ihnen besaß, zu einer wirklichen
Stärke, zu einer Superstärke zu machen. Was
jedoch diese Superstärke sei, das müsse sich
entwickeln. Und wozu sie eine solche entwickeln sollten? Ihr werdet es herausfinden,
erklärte Anna. Dazu später mehr. Ihr werdet
in der Schule lernen, danach an den unterschiedlichen Hochschulen und Universitäten
studieren und immer auch in der Welt, die
euch umgibt. Und all dieses frei von den
Zwängen, die dadurch entstehen, dass Abhängigkeiten durch Verdingungen an andere
nötig wären, weil ihr beispielsweise Geld
verdienen und arbeiten müsstet.
56
Der
größte Feind solcher Großzügigkeit
aber, unterstrich Anna, das solltet ihr beachten, sitzt immer in euch selbst. Jetzt versteht
ihr das noch nicht so recht, weil die Bedürfnisse von Kindern klein sind. Wenn Bedürfnisse aber wachsen, kommen gerne Egoismen
hinzu. Das Gemeinschaftliche wird dann oft
in Frage gestellt. Später im Leben erscheinen
euch manche Bedürfnisse erstrebenswert, die
ihr jetzt noch gar nicht kennt. Die aber, wenn
sie an euch herantreten, immer die Gefahr in
sich tragen, euch auseinander zu treiben, das
Selbstsüchtige wachsen zu lassen. Auch weil
andere da draußen euch weiszumachen suchen, dass genau dies, das Egoistische nämlich, das Gleiche sei, wie das Individuelle,
und dass man es anstreben solle. Es sei die
wahre Freiheit, behaupten die.
Leider
verstehen zu viele in der Welt den
Begriff der Freiheit als ein Schlagwort, um
damit eigene Interessen durchzusetzen, sagte
57
Anna. Solche Leute erklären dann den anderen, Freiheit sei ein wichtiges Ideal. Was ja
auch stimmt. Aber deren Philosophie ist nicht
ethisch gestützt. Sie ist unmoralisch, weil sie
nur die eigene Freiheit sieht. Und das ist eine
interpretierte Freiheit, die darin besteht, andere zu beherrschen, zu raffen, Geld, Waren,
sogar ganze Länder sich einzuverleiben. Solche Menschheitsvertreter benutzen die Mitmenschen gern, indem sie Abhängigkeiten
schaffen. Davor schütze ich euch.
Was Stärke bedeutet, habt ihr kennengelernt.
Jede für sich. Und nicht immer bedeutete es
Gutes. Ihr habt auch gesehen, was meine
Stärke bewirken konnte. Dort im Zirkus, oder
in dem Wohnwagen. Die Welt ist ähnlich geartet, wie dieser Zirkus. Man kann sie manipulieren. Viele tun es. Manches erkennt man,
manches nicht. Doch wenn man Fähigkeiten
hat, besteht eine Verantwortung, sie im besten Sinne weiterzuentwickeln. Wozu man sie
hat, oder besser, wofür, das muss man lernen.
Darum geht es.
58
Zunächst
aber solltet ihr wissen, dass die
Bündelung, oder besser, die Zusammenführung eurer Kräfte nicht selbstverständlich
verläuft, sondern erarbeitet werden muss.
Dass ihr euch gefunden habt, dürft ihr als die
erste große Aufgabe verstehen. Ihr habt sie
gelöst, diese Aufgabe. Die hat euch keiner
gestellt. Alles lag bei euch selbst.
Nun schwieg Anna, schien über etwas nachzudenken, redete dann aber weiter. Ich vertrete die Auffassung, sagte sie, dass vieles,
wenn nicht alles, auf Zufällen beruht. Das
Erkennen und das glückliche Zusammenführen solcher Zufälle ist dann aber etwas anderes. Etwas überaus Glückhaftes. Als ein
Wunder gar zu verstehen. Ich habe viele Leben lang gesucht. Dann erkannte ich euch
und euer Zusammenwirken. Und das war
dann der Zufall, von dem ich sprach. Dort,
als ihr in dem Zirkus gesessen und meinen
Experimenten zugesehen habt, erkannte ich
euch.
59
Ja, es waren Experimente. Für meine Suche
angelegte Versuche. Versteht ihr? Ich suchte
den Zufall. Und das seid ihr gewesen. Nun
gut. Teilweise wenigstens. Ob ich damit recht
habe, wird sich zeigen. Jedenfalls habt ihr
Drei zueinandergefunden. Auf geheime, nur
euch zugängige Weise. Als eine weiteres
Wunder. Bitte, versteht es nicht falsch. Ich
denke, dass es nicht nur jede von euch ist, die
dieses Wunder darstellt, von dem ich rede,
dieses Zufallswunder, obwohl man es durchaus so sehen könnte. Ich denke, das größere
Wunder ist euer Zusammentreffen.
Meine
Aufgabe sehe ich darin, sagte Anna
weiter, diesen glücklichen Zufall zu festigen
– vielleicht auch zu nutzen. Wir werden sehen. Anna lächelte. Legt eure Hände aufeinander, sagte sie, und ihr werdet neue Dinge
sehen und spüren. Diese gebündelten Kräfte,
die somit spürbar, erfahrbar werden, müsst
ihr zu beherrschen suchen. Das ist die weitere
Aufgabe. Ihr kennt die technischen Rechner
60
in der Schule. Wenn ihr die Speicher dieser
Maschinen koppelt, entstehen neue Kapazitäten. So ähnlich werden die Bündelungen eurer Kräfte wirken. Zunächst erzielt ihr diese
Wirkung noch durch einen körperlichen Kontakt zueinander, später geht das über die unsichtbaren Gehirnströme. Es wird dauern, bis
ihr das beherrscht. Erst danach erhaltet ihr
weitere Aufgaben.
Derart redete Anna mit den Kindern. Es waren die ersten Kapitel einer Lehre, die außerhalb der anderen Lehren stattfand, welche
Lisa, Gisa und Riza in der Schule erfuhren
oder später an den Studienplätzen der Universitäten, oder sonst wo im Leben. Viele
Fragen fänden erst im Verlauf der Zeit ihre
Antworten, das wussten sie, das prägte Anna
ihnen ein. Ob sich die Fragen nach dem Wozu
auflösen würden, Fragen, die sie sich selbstverständlich stellten, wussten die Kinder
nicht. Zunächst zumindest lag dies im Dunkel. Auch die Fragen nach dem Warum waren
61
ein Rätsel. Weder ganz früh, als sie zusammengekommen waren, noch etliche Jahre
später, erfuhren sie mehr darüber. Anna sagte
dazu immer nur den einen hinhaltenden Satz,
den die Magierin jederzeit bereit hielt, es
wird sich zeigen. Ein Spruch, der die Rätsel
eher verhüllte.
62
Schulzeit
Die
neue Schule lag nicht weit entfernt in
einer mittleren Kleinstadt, wo jeder jeden zu
kennen schien. Was allerdings ein grundsätzliches Problem zu beleuchten schien. Weil
die Kinder über ihre besonderen Fähigkeiten
rasch feststellten, dass jeder eigentlich nur
sich selbst sah und das Wissen um die anderen, besonders um deren Schwächen, gerne
zum eigenen Fortkommen genutzt wurde.
Ähnlich wie Anna es gesagt hatte. Nicht derart gewalttätig oder allgemeingültig, wie Anna es bedeutete, aber ähnlich. Was vielfältigen Manipulationen die Türen öffnete. Manipulationen, die aber auch die Mädchen selbst
verwendeten. Was sie keinem sagten, natürlich nicht, nur Anna berichteten sie. Und die
ließ sie gewähren, unterstützte sie sogar, weil
es, wie sie es nannte, zur Ausbildung gehöre.
Aber wenn man bestimmte Instrumente verwendete, müsse die Übersicht vorhanden
bleiben, lautete ihre Mahnung. Das war
Annas Credo.
63
Doch es gab auch Rückschläge. Im Grunde
aber unterlag alles dem spielerischen Testen
von Grenzen, Ordnungen und Regeln, wie es
Kinder gerne tun. Nur in diesem Falle mit
besonderen Voraussetzungen. Im Grunde genommen gehörten hierzu auch die Manipulationen der Prüfungen, die von den Lehrern
gefordert wurden. Blitzschnell verbanden
sich Lisa, Gisa und Riza, legten die Hände
aufeinander, nur ganz kurz, und was die eine
nicht wusste, wusste die andere. So war es
ein Leichtes, alle Fragen zu beantworten.
Und als sie später in der Lage waren, die
Lehrer anzuzapfen, wurden solche Tests die
reine Zeitverschwendung. Anna aber sagte,
dass auch dies zur Ausbildung gehöre, sie
müssten es mitmachen, so wie die anderen,
und sie sollten sich darauf verständigen, auch
kleine Fehler in die Antworten einzubauen.
Denn eine Offenlegung ihrer Talente sei zu
diesem Zeitpunkt nicht gegeben. Wann aber
der Zeitpunkt gegeben sei, und ob er überhaupt käme, sagte sie nicht. Ihr werdet sehen,
sagte sie. Und das war es dann.
64
Mitschüler
In ihrer Klasse gab es den Wolf Zimmer. Das
war ein großer, starker Junge, der unumstritten das Sagen hatte. Um ihn scharten sich
vier andere, drei Jungs und ein Mädchen. Sie
bildeten eine Clique, und die vier Vasallen
himmelten den Wolf an. Das war normal, und
dass sie andauernd zusammenhingen, beziehungsweise, die vier an den Rockschößen
von Wolf, bildete kein Problem. Sie terrorisierten niemanden. Was hätte sein können,
betrachtete man andere Gruppen in anderen
Klassen. Ihr Notendurchschnitt war normal.
Alles war normal in dieser Klasse, die Lisa,
Gisa und Riza besuchten. Bis auf sie selbst.
Das aber hielten sie nach dem Rat von Anna
verschlossen. Später stellten sie fest, dass
dies ihre größte Leistung in diesen Jahren
war, sich allen gegenüber als normal auszuweisen. Wenn auch aus der Sicht der anderen
ihre enge Dreierbindung als eine Besonderheit gesehen wurde. Niemand vermochte, sie
65
zu trennen. Was geplant ohnehin keiner vorhatte. Kinder im Alter von neun Jahren, so alt
waren sie mittlerweile, gingen noch nicht mit
derartigen Dingen, wie das Trennen von
Freundschaften, zu Werke, um sich vielleicht
selbst zu präsentieren oder in etwas hineinzudrängen. Zumindest geschah so etwas, wenn
es denn geschah, nicht mit Absicht, also geplant. Kinder waren entweder intuitiv niederträchtig oder gutartig, oder sie waren naturgemäß so oder so. Zumindest in dieser
Schulklasse war das so.
Die Kontakte von Riza, Gisa und Lisa zueinander, die notwendig waren, um sich zu koordinieren, bedurften mittlerweile keiner körperlichen Berührung mehr. Das ging von
Kopf zu Kopf. Und die Kräfte, die unter der
Anleitung von Anna gesteigert, aber auch
kontrolliert wurden, waren jederzeit unbemerkt einzusetzen und zur Wirkung zu bringen.
66
Der Wolf
Zimmer begann sich für Riza zu
interessieren. Das bemerkten auch die anderen Schülerinnen und Schüler. Vor allem bemerkten es die drei Jungs aus der Clique um
den Wolf Zimmer, und natürlich bemerkte es
das Mädchen in der Gruppe. Die Jungen hießen Ronald, Tom und Felix. Das Mädchen
hieß Loni.
67
Annas besondere Lehre
„Ihr solltet euch zurückhalten“, sagte Anna.
Von Zeit zu Zeit unterrichtete sie die Kinder
auf ihre Weise.
„Es ist euch doch wohl klar“, sagte sie, „dass
ihr etwas Besonderes seid. Nicht im Äußeren,
sondern in dem was ihr spürt und verarbeitet
und in dem, was ihr zu tun in der Lage seid.“
Die Kinder nickten.
„Da muss es euch doch einleuchten, dass dieses Anderssein nicht nur Freude bringt. Wenn
es den anderen nämlich deutlich wird, was ihr
wirklich seid, kann dies Ablehnung bedeuten.
Oder sogar Feindschaft. Menschen sind so.
Sie bewundern besondere Fähigkeiten, manche bringt es gar zur Anbetung, aber im
Grunde genommen mögen sie es nicht. Sie
haben es nicht gern, wenn die Mitmenschen
allzu überlegen sind. Die Geschichte der
Menschheit belegt, dass solche Andersmenschen oft getötet oder verbannt oder zumin68
dest verspottet wurden. Viele dieser Andersmenschen, ich nenne sie so, tarnten sich. Das
war gut für sie. Allerdings schlecht für die
Entwicklung der Menschheit. Nur was hätte
es geholfen, wenn sie offen gewirkt hätten
und man sie umbringt, nur um sie möglicherweise später, wenn man die Fähigkeiten
endlich anerkannt hätte, zu feiern oder anzubeten.
Das ist die Lehre, man muss sich zurückhalten, wenn man sehr besondere Kräfte in sich
spürt. Das lässt die anderen zwar im Mittelmaß, aber es ist wie mit der Medizin, allzu
viel ist tödlich. Ihr mögt jetzt sagen, dass der
Fortschritt einer Spezies gerade davon abhängt, wie sehr sie den genialen Vertretern
ihrer Art Raum gibt. Und das stimmt auch.
Aber wenn die Schritte zu groß werden, wenn
die anderen überhaupt nicht mitkommen,
wenn von Zauberei und von Wundern geredet
wird, dann wird es gefährlich. Dann geraten
solche Ausnahmen in große Gefahr, weil
nämlich der Rest der anderen eine Gefahr für
69
sich zu entdecken glaubt. Weil deren Ordnung gestört scheint. Davor gilt es sich zu
hüten. Das müsst ihr beachten, das schützt
euer Leben, denn ihr seid besonders, das
wisst ihr. Und dass ihr zu dritt seid, ist ein
zusätzlicher Punkt, auf den zu achten ist.
Denn das bedeutet eine besondere Kräftebündelung. Und eine besondere Gefahr für
die anderen. Zumindest für die, die das so
sehen.
Eine
derartige Macht, denn das ist es ja
wohl, wird mit großer Wahrscheinlichkeit
von den bestehend Mächtigen bekämpft werden. Dies bedingt Verantwortung und Vorsicht für euch selbst. Ihr müsst verborgen
bleiben, wenn es um die Nutzung der besonderen Qualitäten geht. Also Aufpassen, bei
allem was ihr tut …
Ich sagte es öfter schon, dass ihr materielle
Dinge nicht zu beachten braucht. Ihr lernt
und entwickelt euch. Dazu findet ihr hier alles, was nötig ist. Bei Gelegenheit sage ich
70
mehr dazu. Heute geht es mir ausschließlich
um den überaus wichtigen Hinweis, jederzeit
vorsichtig zu sein.“
„Warum redest du so mit uns“, fragte Riza
verwundert, „wir tarnen uns doch gut.“
„Das tut ihr. Und ihr seid stark. Aber es gibt
vielleicht auch etwas, das ebenso stark sein
könnte. Was keinesfalls unterschätzt werden
darf. Da gibt es beispielsweise den Trieb der
Menschen, zueinander zu wollen, sich zu
mehren, gemeinsam Lust zu haben. Man
nennt es auch Liebe. Die Liebe ist ein schöner menschlicher Trieb. Aber er ist in der Lage, anderes rasch vergessen zu lassen. Er ist
oft egoistisch. Und da es nur selten so ist,
dass ein Mensch, der liebt, ebenso stark liebt
wie der andere, obwohl der andere das behauptet, kann darin Unglück liegen. An solcher Diskrepanz ist schon einiges passiert.“
„Wir können das gut erkennen“, meinte Lisa
grinsend, „wir sehen in die Gedanken.“
71
„Das könnt ihr wohl. Aber ich wiederhole,
die Liebe gehört zu den starken Empfindungen. Da ist es manchmal so, dass man vieles
weiß, aber dann doch einiges tut, was solchem Wissen widerspricht. Es ist ein Trieb,
ich sagte es. Auch ihr werdet nicht frei davon
sein.“
„Gut“, sagte Gisa, „wir verstehen, was du
meinst. Aber wenn wir uns allem verschließen, fallen wir doch erst recht auf.“
„Sehr gut“, rief Anna, „sehr gut, dieser Hinweis. Denn das solltet ihr keinesfalls. Ihr
müsst lernen, aufgeschlossen zu sein, bei vielem mitzumachen, was auch die anderen machen. Das nenne ich Tarnung. Es wird sogar
Spaß bedeuten, dies zu tun. Nur eure wahre
Identität muss geheim bleiben, sonst seid ihr
verloren. Dann kommen entweder die Menagerien dieser Welt, um euch auszustellen,
oder die Wissenschaft macht euch zu Labormäusen. Da weiß ich nicht, was schlechter
wäre. Also verbündet euch nur mit euch
selbst.
72
Der Wolf Zimmer ist einer, der dich erobern
möchte“, sagte sie zu Riza. „Das nennen die
Menschen so. Erobern heißt das. Keiner
weiß, wohin es führt. Sei auf der Hut.“
„Das werde ich sein“, beteuerte Riza. „Der ist
ganz nett, also optisch gesprochen, er ist angesehen bei den andern. Aber seine Gedanken kenne ich auch. Die sind nicht immer
sauber. Doch sie liegen da, wo alle anderen
sagen, dass es normal ist.“
„Dann ist es gut“, sagte Anna. „Ich werde
euch bald erzählen, wohin es führt, was ich
denke, was wir zu tun haben. Es ist eine lange Geschichte. Auch die, woher alles kam.
Das müsst ihr wissen.“
Die Drei rückten sich zurecht.
„Nein“, lachte Anna, „heute nicht. „Für heute
ist es genug. Demnächst sagte ich. Demnächst.“
73
„Ooch …“, riefen die Kinder, was sie ja noch
waren, Kinder, neunjährige Mädchen, aber in
den Köpfen weit fortgeschritten.
„Eines erkläre ich euch noch“, sagte Anna.
Sie
hob nun doch zu einem ihrer längeren
Vorträge an, welche die Kinder über sich ergehen ließen, die sie aber auch liebten. Über
die sie intensiv nachdachten und gemeinsam
diskutierten.
„Es ist die Sache von der Gewalt und von der
Macht“, sagte Anna. „Ihr habt unterschiedliche Menschen kennengelernt, die Gewalt
ausübten, weil sie die Macht dazu hatten.
Zumindest für eine Weile hatten sie die. Riza,
du weißt was ich meine. Das waren Menschen, die euch quälten. Bei dir waren es
Soldaten oder so genannte Rebellen. Im Kopf
kranke Menschen … bei Gisa und Lisa waren
es sogar die, die euch zu versorgen hatten,
lieblose Eltern oder Verwandte. Die Machtausübung unter Menschen ist üblich. In vielen Bereichen ist das sogar sinnvoll.
74
Jeder
Staat beispielsweise übt Macht aus.
Aber auch hier sind es natürlich die Menschen. Sie bilden ja den Staat. Doch es kann
geschehen, dass ein Staat wie zu einem
selbstdenkenden und selbsthandelnden Wesen wird. Er benutzt seine Menschen. Er
schützt sie, aber er benutzt sie auch. Er macht
Menschen zu Polizisten oder zu Soldaten, zu
Richtern oder zu Staatsanwälten. Derart versucht er zu umhegen, was er für schützenswert oder für angegriffen hält. Dabei ist immer die Grundlage, wie er sich selbst sieht.
Es ist wie bei jedem einzelnen auch. Das, was
einer für gut hält, wird gefestigt. In dem großen Gebilde, dem Staat, ist aber ausschlaggebend, ob dort beispielsweise genügend
Rechtsanwälte den Staatsanwälten gegenüberstehen. Und ob klug abwägende Richter
vorhanden sind. Ob es Parlamente gibt und
Gesetze, die der Gesamtheit und dem Zusammenleben nutzen. Die für Ausgleich sorgen. Wichtig bleibt immer, wer die Regeln
bestimmt. Manchmal sind es nur wenige, die
75
das festlegen, manchmal sind es mehr, oder
sogar das ganze Volk. Solche Grundlagen
bestimmen jedenfalls über Macht und Gewalt. Darüber rede ich. Und was im Staat geschieht, weil ich den als ein Beispiel nannte,
gilt in hohem Maße auch für euch. Gerade für
euch. Denn ihr seid besonders. Nur dass ihr
die Fragen um Gerechtigkeit, Macht und
Gewalt allein für euch entscheiden müsst.
Das ist eure Bedeutung. Eure Verantwortung.
Die Macht in dem Staat, den ich zum Muster
nahm, entspricht im besten Falle immer der
Ethik und der Moral aller Menschen, die in
dem Gebilde wimmeln und wabern, leben
und sterben, arbeiten, glücklich oder unglücklich sind. Dies ist immer ein Durchschnitt. Beim einzelnen Menschen muss dies
in dessen Innerem die Abwägung der Argumente und Vorstellungen sein.
Menschen sind gut und böse. Das muss immer bedacht und überwacht werden, damit
sich die Extreme ausgleichen.“
76
Anna hielt kurz inne, überlegte, schien Gefallen gefunden zu haben an ihrer Lehrstunde. Machtfragen beschäftigten sie ihr Leben
lang.
„In der Regel“, fuhr sie fort, „bestimmen die
Menschen unmittelbar ja nur den Beginn ihres Staates“, setzte sie ihre halbphilosophischen Betrachtungen fort.
„Mit den kleinen Siedlungen fängt es irgendwann an. Später wuchert ein Staat wie
von selbst. Das zu kontrollieren und zu steuern hat auch mit der Macht einzelner zu tun.
Weil es zu Leitlinien werden kann. Zum Guten wie zum Bösen. Warum verhält sich bei
uns die Polizei anders, als in Diktaturen beispielsweise? Wo du Riza herkommst? Obwohl …“
Anna lächelte, hielt kurz inne.
„Aber auch das erfahrt ihr später. Jedenfalls
ist die Ausübung von Gewalt zur Durchsetzung bestimmter Ziele eine menschliche Eigenschaft. Sie ist uralt. Gleichgültig, was
77
man Gewalt nennen mag. Verteidigung nennen es die einen, Revolution oder Gegenwehr
die anderen. Wobei oft unterstellt wird, dass
die Aggressiven, also die Angreifer, immer
die Böswilligen wären. Aber alles sind Menschen. Jeder verteidigt seine Werte. Oder was
er dafür hält. Und ihr werdet feststellen, dass
auch die harmlos erscheinenden Formen der
Gewalt, die Überredung oder Beeinflussung,
wichtige Instrumente sind. Hinzu kommt,
dass der Missbrauch von Werten gang und
gäbe ist. Manche sagen, er gehöre zum Menschen dazu, wie Arme und Beine und alles
andere. Jeder, auch der Mörder, behauptet,
seine Werte seien gültig.“
Wiederhielt sie inne.
„Also, was denkt ihr, warum die lange Rede?
Nun, ich wollte sagen, wie wichtig es ist, die
Macht im eigenen Inneren zu kontrollieren,
zu überprüfen und zu bändigen – vor allem,
wenn man über besondere Kräfte verfügt,
über eine Macht also, die man nur alleine zu
bändigen und zu steuern imstande ist.
78
Macht kann sich verselbständigen. So rasch,
ihr glaubt es kaum. Ihr dürft eure Überlegenheit verwenden. Selbstverständlich dürft ihr
das. Aber ihr müsst verantwortlich umgehen
damit. Wenn die Grundeinstellung, an der wir
arbeiten, so ist, dass sie euch und eure Werte
trägt, dann dürft ihr sie einsetzen, eure
Macht. Oft wird dies unumgänglich sein. Und
dass es eine hohe Verantwortung ist, habt ihr
begriffen. Oder? Das war der Sinn meiner
Rede.“
Die Mädchen nickten. Derartige Vorträge
kannten sie. Manchmal hörten sie nur halb
zu. Aber sie liebten Anna und die Überzeugungskraft, die aus der Magierin strömte, war
stark. Sie gab ihren Lehren Resonanz.
Anna erhob sich. Die ganze Zeit über hatte
sie in dem uralten Stuhl gesessen, der gleichsam wie ihr Thron wirkte.
„Nun geht schon“, rief sie, „geht in den Garten. Geht spielen. Im Spiel findet ihr Ent79
spannung. Vielleicht findet ihr auch Anregungen fürs Leben.“
Sie lachte.
„Verwendet die Kraft, die in euch liegt. Verwendet sie spielerisch. Habt Spaß. Dann lernt
ihr spielend, sie zu beherrschen.“
Anna lachte anhaltend, liebevoll, freundlich.
Sie zog sich zurück, schien zufrieden zu sein.
Langes Reden gehörte zu ihrer Art. Langsam
stieg sie die Treppe hinauf, wo ihre Privaträume lagen.
„Zur Gewalt“, rief ihr Gisa im Hinauslaufen
hinterher und lachte ebenfalls, „gehört da
auch das Töten?“
„Natürlich“, sagte Anna. „Natürlich … das
auch.“
80
Schulwechsel
Mit elf Jahren kamen Gisa, Lisa und Riza in
eine andere Schule, an einem anderen Ort, da
sie nun das Gymnasium besuchten. In der
kleinen Stadt, in der sie lebten, gab es die zusammengelegten Bildungswege nicht. Es bestand hier noch die alte Aufteilung. Die meisten aus ihrer Klasse gingen zum Gymnasium.
Auch Wolf Zimmer, Ronald, Tom und Felix
wechselten zur neuen Schule. Nur Loni ging
zur Realschule. Sie wollte später zu einer
Lehre als Friseurin kommen. Ihre Eltern besaßen einen Friseursalon. Aber wenn sich die
Clique irgendwo traf, war sie immer noch
dabei, je nachdem wie es ihre Zeit zuließ.
Denn die Eltern setzten sie bereits im Geschäft mit ein. Wolf bemühte sich weiterhin
um Riza. Da die aber zurückhaltend blieb,
immer die Worte Annas im Ohr, waren die
Versuche des Jungen im Grunde genommen
erfolglos.
81
Nun
gut, sie waren ja immer noch Kinder.
Da blieben die allgemeinen Freundlichkeiten
von Riza derart, dass Wolf behaupten konnte,
sie sei seine Freundin. Was sie nicht war.
Zumindest hätte sie nie von einer Freundschaft gesprochen, wenn sie es lediglich gestattete, dass er manchmal ihre Schulmappe
trug. Außerdem blieben Lisa und Gisa immer
in Reichweite.
Die Jahre vergingen, und die kühle Freundschaft wurde von ihr immer noch und eher
mehr als kühl gesehen. Was Wolf allerdings
keinesfalls abschreckte. Im Gegenteil. Er
bemühte sich umso intensiver, je mehr Zeit
verging und je mehr auch sexuelle Überlegungen hinzukamen. Mit dreizehn Jahren hatten die Mädchen ihre Periode. Nahezu
gleichzeitig. Sie seien nun Frauen, sagte Anna, was aber an den ursprünglichen Abmachungen und Zielsetzungen überhaupt nichts
ändere. Nur müssten sie nun damit rechnen,
82
dass harmlose Freundschaften sich anders
gestalten könnten, da der Trieb, am Körper
von anderen sich und die eigene Lust zu erfahren, anstiege. Was offenbar bei Wolf der
Fall war.
Die harmlose und von Riza kühl genommene Freundschaft wurde mehr und mehr bedrängend. Sexuelle Kontakte standen noch
nicht unmittelbar im Vordergrund von Wolfs
Bemühungen, aber die Vorstufen dazu. Und
da Riza, Lisa und Gisa eine Menge mehr erfuhren, als je gesagt wurde, war ihnen klar,
um was es ging. Sie kannten die Gespräche
der Jungs untereinander und wussten lange
schon, dass es Rivalitäten und Wettkämpfe
gab, wer welches Mädchen knackte. Knacken
war ein spezieller Ausdruck bei denen.
Aber die Schulungen Annas halfen, über den
Dingen zu stehen. Wenn auch die Bestrebungen von Wolf spürbar wuchsen. Er drängte
sich bei jedweder Gelegenheit an ihre Seite,
gab vielerlei Liebenswürdigkeiten zum Bes83
ten und war unermüdlich im Erfinden von
Kontakten. Da er auch im Gymnasium, wie
früher in der Grundschule, ein Sportstar war,
ein guter Leichtathlet, ein hervorragender
Schwimmer, wurde er von den Mädchen der
Klasse, ja man kann sagen, der gesamten
Schule, angehimmelt. Und die Jungs bewunderten ihn ebenso, einige verehrten ihn geradezu. Er sah blendend aus und war auch in
den Lehrfächern mit ordentlichen Noten versehen. Kein Grund für Riza also, sich über
die Maßen zu zieren. Zumal sie selbst eine
Schönheit war. Auch dies unbestritten von
allen. Andere Jungs hatten ebenfalls immer
mal wieder Kontakte zu knüpfen versucht.
Aber dies als sinnlos aufgegeben. Zumal sie
annehmen mochten, dass Riza und Wolf verbunden seien. Gisa und Lisa waren ebenso
schön und bedrängend faszinierend. Aber
seltsamerweise blickten die Jungs mit einer
gewissen Scheu zu ihnen hin. Was damit zusammenhängen mochte, dass die Mädchen
bereits bei der geringsten Annäherung ihre
geheimen Abwehrschilde aufbauten. Ganz
84
nach Annas mahnenden Vorschriften. Riza
dachte zwar ähnlich, aber Wolf war eben
Wolf. Und ein wenig reizte sie das Spiel ja
auch. Ein Spiel, das sie allerdings in allen
Einzelheiten mit Gisa und Lisa besprach.
Und auch Anna war eingeweiht. Die aber
wusste ohnehin alles.
Als die Drei fünfzehn waren, kam Wolf direkter auf seine Wünsche zu sprechen. Riza
wusste Bescheid, kannte alle seine Gedanken,
war auch gewarnt genug, kannte die bestimmten Meisterschaftsregeln der Jungs in
Bezug auf das Knacken von Mädchen in allen Einzelheiten, wusste aber dann doch nicht
ganz genau, wohin es führen könnte.
Wolf
war im Grunde genommen ein guter
Junge, dachte Riza. Bis sie auch andere Gedanken auffing, die ebenso Gisa und Lisa
empfangen hatten. Das war ausgerechnet
dann geschehen, als sie siebzehn wurde. Sie
feierten zuhause bei Anna. Die Clique feierte.
Wolf, Ronald, Tom und Felix waren da.
85
Auch Loni kam. Die drei Mädchen hatten
eingeladen. In diesem Jahr wurden sie alle
Siebzehn. Der Tag der Feier lag auf dem Datum, dass sie für Rizas Geburtstag ausgewählt hatten. Anna wachte im Hintergrund
und sorgte dafür, dass der georderte Lieferdienst seine Köstlichkeiten ordentlich platzierte. Alle bewunderten das faszinierende
Zuhause der Drei. Wie ein Schloss, meinte
Tom, ein tolles Herrenhaus, sagte Wolf. In
dem aber die Frauen herrschen, betonte Lisa.
Sie tanzten und redeten durcheinander, es
war eine tolle Party, betonten alle. Bis Wolf
Riza nach einem atemberaubenden Tanz in
einen Nebenraum drückte und zu küssen versuchte. Nun ist ein Kuss grundsätzlich unter
Freunden nichts Gewaltiges. Das dachte auch
Riza. Aber die Gedanken von Wolf wollten
mehr. Also wehrte sie ihn ab. Bis dahin war
alles normal. Auch als sie sagte, dass sie so
etwas nicht wolle und ansonsten alles bliebe
wie zuvor, er aber keine weiteren Hoffnungen entwickeln solle, blieb die Angelegenheit
noch im Rahmen. Wolf zeigte sich überra86
schend nicht allzu sehr enttäuscht. Obwohl in
seinem Kopf Zorneswolken trieben. Vermischt mit ähnlichen Gedanken, als habe er
gerade ein Endspiel vermasselt. Aber sie gingen freundschaftlich verbunden zurück zu
den anderen und erst spät abends trennten
sich die Wege. Doch das Getuschel der Jungs
bekamen alle mit. Das heißt, Gisa, Lisa, Riza
und natürlich Anna erfuhren, was da rasch
und unter der Hand geflüstert wurde. Hast du
sie geknackt, war die Frage, und, was glaubt
ihr denn, noch nicht ganz, aber nahe dran und
sowieso bald, war die Antwort. Und das an
diesem geselligen, fröhlichen Geburtstag.
Die Meisterschaft lief also weiter. Unter solchen Aspekten unterlagen die Bemühungen
von Wolf Riza gegenüber einem nun noch
kritischeren Aufmerksamkeitsvermerk. Riza
stellte ihre Rolle innerlich um. Unter der Assistenz von Gisa, Lisa und Anna baute sie
den Schutzschirm stabiler. Die beobachtende,
87
eher forschende Seite der Angelegenheit
blieb jedoch erhalten. Denn nicht nur sie, alle
wollten wissen, was weiter käme. Und es geschah einiges.
88
Liebeswirren
Tom
verhielt sich seltsam. Für Gisa, Lisa
und Riza war rasch klar, um was es ging.
Niemand sonst kannte den Grund. Tom
wechselte von heiter bis traurig die Stimmung. Loni, die immer noch Kontakt hielt,
wenn auch seltener, fragte, ob er wohl verliebt sei. Tom verneinte das vehement. Er
widersprach derart heftig, dass geübte Psychologen sofort gewusst hätten, dass es eine
Lüge war. Aber weder geübte noch ungeübte
Psychologen wurden zu Rate gezogen. Nur
Gisa, Lisa und Riza erkannten, um was es
ging. Anna natürlich auch. Doch das wäre
nicht besonders zu erwähnen.
Tom war tatsächlich verliebt. In Wolf nämlich. Was er anderen gegenüber nie zugegeben hätte. Denn trotz aller Freiheiten, die es
gab, verpönt waren die schwulen Typen immer noch. Seit ihrer Jugend waren sie zusammen durch dick und dünn gegangen. Ihr
89
Verhältnis wurde allgemein als gute Freundschaft gesehen. Auch die beiden selbst redeten voneinander als vom besten Freund. Irgendwann im Verlauf der Pubertät aber wurde Tom klar, dass er auch anderes wollte, als
nur einfach mit Wolf zusammen zu sein.
Auch Wolf hatte es bemerkt. Selbstverständlich bemerkte er es. Anfangs schmeichelte es
ihm, dann aber hielt er es für angebracht,
Tom zu verdeutlichen, dass mit ihm intimere
Dinge nicht zu machen seien. Dieses sich
Abgrenzen, das Wolf vornahm, hing auch
damit zusammen, dass er annahm, auch andere könnten dahinter kommen. Und so etwas
wollte er seinem Ruf nicht zumuten. Natürlich machte dies Tom mehr als nur ein bisschen traurig. Doch es lag offenbar in mancher
menschlichen Natur, ein erstrebtes Ziel, und
sei es auch noch so irreal, und seien auch
sämtliche Umstände dagegen, umso verbissener anzugehen, je aussichtsloser die Angelegenheit schien. Da blieb doch immer noch
die Hoffnung, alles könne sich letztlich zum
Besseren wenden.
90
Tom
gehörte zu solchen Naturen. Was den
Abstand zu Wolf vergrößerte, denn der bemerkte mit Sorge, dass seine zunächst noch
zögerliche Abwehrhaltung keinesfalls das,
was er wollte, bewirkte, sondern eher Gegenteiliges. Es wäre zu befürchten, dachte er,
dass Tom vielleicht im verzweifelten Suchen
nach größerer Nähe alles öffentlich machte.
Dies hätte seinem Ruf keinesfalls gutgetan.
Bei aller Problematik blieb er allerdings weitestgehend unberührt von der Angelegenheit.
Er war eben ein cooler Typ. Das wussten alle.
Aber das hing vordringlich auch damit zusammen, dass er ein gleichgültiger Typ war.
Einer der selbstverliebt sogar eher einen umgebracht hätte, als nur den Hauch von einem
dunklen Beschlag auf seinem Spiegelbild zu
dulden.
Das
wussten die Frauen. Und Riza, deren
eigene kleine Eitelkeit sich gern im Licht des
angesehenen Klassenstars gesonnt hatte, was
91
sie grinsend zugab, sah die Entwicklungen
nun nicht mehr nur heiter und gelassen, sondern auch mit den forschenden Augen der
Wissenschaftlerin. Wie weit würde er gehen,
überlegte sie.
Gisa, Lisa und Riza dachten an Annas Lehren. Sie studierten die Situation. Anna interessierte die Forschungsarbeit weniger. Sie
lebte schon länger und hatte einige Erfahrungen hinter sich. Für Anna waren allein die
drei Mädchen interessant, die sie entdeckt
hatte, die einmalig waren und auf deren Entwicklung sich ihre ganze Sorgfalt richtete.
Wie Gisa, Lisa und Riza mit dem umgingen,
was sie durch ihre Besonderheiten zu erkennen vermochten, nur darauf kam es an.
Anna beabsichtigte, nach dem Abschluss des
Abenteuers mit Wolf und den anderen, einen
weiteren Lehrgang zu gestalten. Die Mädchen, die bald Frauen waren, sollten erfahren,
was sonst noch mit ihnen war. Über das hinaus, was sie bereits wussten. Denn da gab es
92
einiges. Aber noch hätte es Zeit. Wenn auch
für Anna klar wurde, dass es bald zu gewissen Zuspitzungen käme.
Die Bemühungen von Wolf, Riza gegenüber,
blieben unverändert intensiv, zumal das
scheinbare Nichtinteresse von Riza Wolf regelrecht anspornte. Verstärkend kamen die
Abgrenzungsmanöver gegenüber Tom hinzu.
Was im Grunde genommen das Gleiche darstellte, nur eben andersherum. Tom wiederum hielt unverändert an seiner Meinung fest,
mit entsprechender Ausdauer käme der gewünschte Erfolg doch noch zustande. So gab
es ein Gefühlsdreieck und ein intimes Kreiselspiel, das Riza zwar genoss, natürlich auch
die Freundinnen, das aber auch Risiken barg.
Die beiden Jungs spürten die
unterschiedli-
chen Spannungen zwischen sich als zunehmende Belastung, oder, was zumindest bei
Wolf der Fall war, als Belästigung. Hinzu
kamen die Vorbereitungen auf die Abiturprüfung, denn die Zeit war rasch dahingegangen
93
und der Abschluss stand mit den wichtigen
Tests vor der Tür.
Achtzehn
und neunzehn Jahre waren sie
mittlerweile alt, schöne junge Frauen und
stattliche junge Männer. Die Prüfungen bedeuteten für Lisa, Gisa und Riza nicht mehr
als einen Klacks. Und dies nicht nur weil sie
wussten, was anstand. Sie hatten viel gelernt.
Spielerisch und von ihren Kräften unterstützt.
Bei jeder von ihnen kamen zusätzliche, individuelle Talente hinzu. Lisa hatte ein unglaubliches Gefühl für Zahlen, mathematische Zusammenhänge und somit auch für die
Zusammenhänge logischer Abläufe. Gisa
kannte sämtliche philosophischen Denkansätze aus dem Inneren ihres Wissens und
Könnens heraus, gleichsam wie selbstverständlich. Und Riza verstand emotionale Zusammenhänge wie niemand sonst. Zudem
besaß sie medizinische Qualitäten, Talente,
die bereits irgendwo im fernen Afrika der
Schamane entdeckt hatte. Im Zusammenwirken der drei Frauen ergaben sich somit große
94
Möglichkeiten. Die waren von Anna entdeckt
und zur Grundlage weiterer Schulungen genutzt worden.
Aber immer noch hatte sie den Dreien nicht
ihre tieferen Gedanken offengelegt. Von denen sie immer wieder sprach. Die sie aber
nach wie vor verschlossen hielt. Den Fragen
hierzu, die mit dem wachsenden Alter der
Mädchen drängender wurden – Mädchen, die
nunmehr junge Frauen waren – und mit den
ebenfalls gewachsenen Kenntnissen der Drei,
was bestimmte Fragen intensivierte, begegnete sie mit dem lachend gegebenen Versprechen, es dauere nicht mehr lange und auch
Geduld könne man üben.
Daneben lief jener circulus vitiosus der Leidenschaften. Und da nach und nach bekannt
wurde, was nach dem Abitur käme, was
Trennungen wahrscheinlich machte, umso
höher stieg der Druck im Kessel der menschlichen Leidenschaft. Ausgenommen in Rizas
95
Gefühlswelt. Obwohl sie mitten im Chaos
stand, blieb sie die Chefin im Labor. Dort,
wo die interessantesten Reaktionen zu testen
waren. Ronald und Felix hatten sich weitestgehend zurückgezogen, sie lernten und konzentrierten sich auf den Abschluss. Loni blieb
nun völlig fern. Die Clique löste sich auf. Die
Hauptakteure des Dramas aber blieben. Zwischen ihnen kulminierten die Ereignisse.
Wolf machte den Anfang.
96
Prüfungen
Für den folgenden Tag standen die schriftlichen Prüfungen in Mathematik an. Wolf hatte
keine Angst davor. Er dachte gut vorbereitet
zu sein. Und da bisher so vieles in seinem
Leben angenehm verlaufen war, hatte er ohnehin den Gedanken entwickelt, nichts könne
ihm geschehen, da alle und alles, und vor allem ein glückliches Schicksal, auf seiner Seite stünden. Und auch kritische Situationen, in
die er durchaus kommen könne, was er
selbstverständlich nicht ausschloss, wären, so
dachte er, für viele um ihn ein sofortiger Anlass, ihm beizustehen. Da er ja bei allen derart beliebt war. Eine trügerische Selbstüberschätzung, dachte Riza.
Jedenfalls schien für Wolf jetzt, mit den anstehenden Prüfungen und den danach sich
auftuenden neuen Wegen, der Zeitpunkt gekommen, wo er das letzte noch verschlossene
Tor zu öffnen gedachte. Jenes, das ausführlichen Sex mit Riza bedeutete.
97
Anna hatte gewarnt.
Doch Riza war sicher,
die Sache steuern zu können. Was gewissermaßen ebenfalls einer kleinen Selbstüberschätzung nahe kam. Wiewohl ihre Qualitäten hierzu eher Anlass gaben, als die Eitelkeiten von Wolf.
Am
Nachmittag vor dem Prüfungstermin
trafen sich die beiden im Park. Es war wie ein
Zufall. Obwohl es keiner war. Riza saß gerne
dort in einer etwas abgelegenen Ecke auf einer Bank, weil es nur wenige Menschen da
gab, und dementsprechend die Ablenkung
durch umherirrende Gedanken seltener war.
Natürlich konnten die Drei sich und ihre Gedanken abschirmen. Dennoch rutschte, wenn
sie unter Leuten waren, leicht der eine oder
andere Fetzen von irgendjemandem in den
Kopf, ein Splitter, der vielleicht interessant
war, so dass man ihm nachging. Was jedenfalls von den eigenen Gedanken ablenkte und
eine Konzentration, wollte man sie haben,
störte. Hier, in der Ecke des Parks, konnte
Riza entspannen. Wolf aber hatte lange schon
98
die Angewohnheit entwickelt, Riza hinterher
zu schnüffeln. Er kannte die Ecke. So war der
Zufall ihres Treffens von ihm nur inszeniert,
was Riza selbstverständlich durchschaute.
Aber sie sagte nichts. Wolf setzte sich neben
sie.
„Riza! Süße! Das ist ja wunderbar, dass ich
dich treffe“, rief er, übertrieben überrascht
klingend, „ich wollte hier lernen. Da ist es
schön ruhig“, log er sich die Begründung zurecht.
„Ja“, sagte sie, „das wollte ich auch. Jetzt ist
es wohl aus mit der Ruhe“, grinste sie. Sie
provozierte bewusst.
„Entspannung vor der Prüfung kann auch
gemeinsam stattfinden“, behauptete Wolf.
„Gemeinsame Meditationen?“ Sie spottete.
„So ähnlich.“ Wolf grinste unverschämt.
„Bist du vorbereitet auf morgen“, versuchte
sie abzulenken.
99
„Glänzend“, log Wolf, „es fehlt nur was an
Entspannung der besonderen Art.“
„Ach ja? Was meinst du“, fragte Riza und
wusste die Antwort.
„Lass uns doch endlich mal zur Sache kommen.“
Wolf dachte offenbar, dass er die Angelegenheit sachlich angehen sollte. Riza spürte allerdings irgendwo in Wolfs Kopf eine Entschlossenheit geistern, die nicht ungefährlich
war.
„Zur Sache“, spottete sie, „welche Sache
meinst du? Die Angelegenheit mit dem Sex
hatten wir diskutiert. Ich will das nicht. Das
sollte klar sein.“
„Ich aber möchte das, Riza. Wir verstehen
uns doch gut. Oder nicht. Was ist dabei? Sex
ist gesund?“
100
Wolf zog unverblümt seine überheblichen
Register. Er lächelte sein schönstes Lächeln.
Das war gut eingeübt. Es wirkte beinahe immer.
„Nix ist dabei. Ich will‘s nur nicht.“
„Hast du’s schon mal probiert?“
„Das brauch ich nicht. Mein Kopf sagt das.“
„Quatsch.“
„Wenn du meinst.“
„Du willst es auch.“
„Ach? Das weißt du?“
„Das weiß ich.“
„Und woher?“
„Was?“
„Woher weißt du das, was du da behauptest?“
„Weil’s klar ist.“
„Ja dann.“
101
Riza spottete, aber Wolf sah ihre letzte Bemerkung offenbar als ein Einverständnis. Er
saß neben ihr auf der Bank. Die war alt, bemoost, an der Lehne fehlte ein Stück. Das
verfaulte Holz hatte irgendeinem Druck nicht
standgehalten. Er legte den Arm um sie. Als
sie abwehrte, wurde die Umklammerung fester. Wahrscheinlich glaubte er wirklich, dass
ihre Abwehr eine Art Spiel sei. Zum Liebesspiel gehöre. Mit beiden Händen drückte sie
gegen seine Brust. Wollte ihn zurückhalten.
Immer noch hatte sie vor, die Attacke friedlich zu lösen. Er sah sein Bedrängen natürlich
nicht als eine Attacke. Für ihn war es sozusagen die Einforderung eines Rechts, das er
sich über die Jahre erworben hatte. Er warf
Riza um. Sie lag der Länge nach auf der
Bank. Das ging flott. Und überraschend. Die
Versuche, sie zu küssen, hatte er aufgegeben.
Jetzt ging es nur noch um das eine. Als er
anfing, die Hose zu öffnen, war der Spaß für
Riza zu Ende. Obwohl es schon lange kein
Spaß mehr war. Sie setzte ihre Kräfte ein.
102
Wie
von einer Starkstromleitung berührt
fuhr er zurück. Die Bank krachte. Eine weitere morsche Bohle brach aus der Lehne. Und
auch die Sitzfläche gab nach. Einen Moment
lang spürte Wolf, wie er halb über dem Geschehen hing, von einer unsichtbaren Kraft
hochgehoben. Dort unten war die Bank, da
saß Riza mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern. Ihr Gesicht war starr und
fremd. So sah er sie noch nie. Wolfs Kopf,
der zwischen den eingeübten Überheblichkeiten und dem unfassbaren Neuen zerrissen
wurde, konnte den realen Ereignissen nicht
mehr folgen. Wie im Wahnsinn quollen die
Augen hervor, rotunterlaufen, die feinen
Äderchen platzten. Er vermochte nichts mehr
zu erkennen. Sein Wille zerbrach. Das Gehirn
verdampfte. Der starke Wolf Zimmer brach
in sich zusammen. Schrumpfte, wie ausgesogen. Gleich einer leeren Ballonhülle fiel er
herunter. Riza ließ ihn auf der Bank liegen.
103
Peinliche Befragungen
Tom wurde verhört. Tränenüberströmt saß er
in dem kahlen Raum. Die Beamten, eine Frau
und ein Mann, schienen unberührt. Sie erfüllten ihre Aufgabe. Die Mathematikprüfung
war um eine Woche verschoben worden. Es
brächte die Abläufe durcheinander klagte die
Rektorin, aber der Anlass gebot dann doch
ein wenig Abstand. Tom hatte Wolf gefunden. Wie immer war er ihm hinterher gekommen. Die Angelegenheit mit Riza konnte
er nicht erkennen. Er kam zu spät. Riza musste nicht eingreifen.
Nachdem er Wolf
mit dem Fahrrad gefolgt
war, brachte Tom das Vehikel zunächst nach
Hause. Seine Wohnung lag am Rande des
Parks, ungefähr eine Viertelstunde entfernt.
Er sagte wahrheitsgemäß, dass er Wolf zu
Fuß folgen wollte, um ihn zu treffen. Er
wüsste, dass der dort seine Laufrunden drehte. Dabei wollte er ihn quasi abfangen, weil
104
er mit ihm reden wollte, sagte er. Und da habe er ihn gefunden. Auf dieser Bank. Tot.
Und seltsam verrenkt. Was er denn hatte bereden wollen, fragten die Beamten, worauf er
ins Schwimmen kam, Unsicherheit zeigte,
und seine Behauptung, eigentlich sei es
nichts Wichtiges gewesen, die Prüfung und
so, nahmen die Polizisten mit gespannter Ungläubigkeit entgegen. Dazwischen brach er
immer wieder in Tränen aus, so dass jedem
Beobachter klar sein musste, dass es nicht
allein das Auffinden des toten Freundes sein
konnte, was bei Tom wirkte. Hatten Sie denn
ein besonderes Verhältnis zu ihrem Freund,
fragte denn auch unverblümt die Beamtin, die
federführend den Fall bearbeitete. Was erneute Tränenströme hervorrief und der Kriminalistin klar machte, dass an dieser Stelle weiter
zu bohren sei.
Aber dem Ziel, Aufklärung zu den näheren
Umständen des Todes von Wolf Zimmer zu
erfahren, kam sie keinesfalls näher. Die Gerichtsobduktion hatte zur Todesursache ledig105
lich feststellen können, dass ein intensiv roter
Fleck in der Herzgegend annehmen ließ, ein
Elektroschocker oder etwas Ähnliches könne
einen Herzstillstand verursacht haben. Was
vielleicht auch die seltsamen Verkrümmungen verursacht habe, infolgedessen sogar die
Bank zu Bruch gekommen sei. Sehr stark sei
die ohnehin nicht mehr gewesen, vermerkte
einer der Beamten. Ob er denn einen Elektroschocker besitze, wollte die Kriminalistin
wissen, und der ungläubige Ausdruck, mit
dem Tom dies verneinte, ließ die Polizisten
an seiner Schuld zweifeln. Obwohl sie eigentlich dann doch wieder annahmen, dass er
irgendwie schuldig sei. War er doch der einzige, der in Verbindung zu dieser maroden
Bank und zu dem Tatort zu bringen war.
Wobei zu berücksichtigen blieb, dass er es
war, der die Polizei rief. Vielmehr nicht die
Polizei, sondern den Notarztdienst. Was wiederum darauf hinweisen könnte, meinte einer
der Beamten, dass es vielleicht dann doch ein
106
Unfall war. Sollte die Bank vielleicht von
selbst zerbrochen sein, giftete die leitende
Beamtin. Und dass der Tote dabei vor
Schreck das Zeitliche segnete? Ein Unfall
war das nicht, schloss sie diese Seite der
Vermutungen aus. Wobei ihr die anderen Polizisten Recht gaben. Und was wäre das mit
dem Fleck auf der Brust und dem Elektroschocker? Eine Handlung im Affekt möglicherweise, sagte ein Beamter. Von diesem
Jungen oder von jemand anderem. Vielleicht
haben sie mit dem Gerät experimentiert,
meinte ein weiterer. Wenn die zwei was miteinander hatten, dann könnten seltsame
Spielchen aus dem Ruder gelaufen sein. Mit
dem Elektroschocker, fragte der Beamte und
grinste. Seien Sie bitte ernsthaft, tadelte die
Kriminalistin. Doch an den Anzeichen einer
bewusst eingesetzten Gewalt gab es letztlich
nicht zu rütteln. Irgendeiner Gewalt. Das
musste kein Elektroschocker gewesen sein.
Zu finden war allerdings nichts. Keine
Mordwaffe. Wenn es denn Mord war, meinte
107
ein anderer. Seltsam war, dass die Gerichtsmedizin einen erheblichen Flüssigkeitsverlust
bei dem Toten feststellte. Was vielleicht dem
Prüfungsstress zuzuordnen wäre. Der Leichnam wirkte eigenartig ausgetrocknet. Ob dies
aber von einem Elektroschocker erzeugt werden könnte, bezweifelten alle. Zumal ein solches Instrument nicht gefunden wurde. Was
aller Theorie hierzu letztlich den Garaus
machte. Die Angelegenheit war verworren
und die ständige Heulerei des Jungen nervte.
Am Schluss blieb den Beamten nichts anderes übrig, als Tom laufen zu lassen. Der
wohnte bei seinen Eltern, die einen guten Ruf
besaßen. Eine Flucht wurde ausgeschlossen
und der Haftrichter war nicht zu überzeugen
gewesen. Zu dünn, sagte er und wollte stichhaltige Beweise. Was den Beamten klar war,
aber woher nehmen? Weder ein Mordgerät
noch ein Mörder waren beizubringen. Wenn
es denn Mord war …
108
Irgendwie
war die Sache unheimlich. Was
blieb, waren Verhöre, beziehungsweise Befragungen. Jeder in der Klasse hatte seine
eigene Meinung und Darstellung zum Thema.
Dass Tom in Wolf irgendwie verknallt gewesen sei, berichteten viele. Aber mehr war da
nicht zu sagen. Die Freundin von Wolf war
offenbar Riza gewesen, fanden die Polizisten
heraus. Aber auch Riza trug nichts bei, was
hätte helfen können. Selbstverständlich nicht.
Die Beamten – vor allem die Kommissarin
tat sich hervor – ahnten nichts von dem Vergnügen, das ihre hilflosen Fragen bereitete.
Sie wunderten sich vielleicht darüber, dass
die junge Frau derart gefasst wirkte. Im Gegensatz zu Tom. Aber so fest war die Beziehung wohl auch nicht gewesen, berichteten
andere, vor allem Lisa und Gisa sagten dies.
109
Tom
hingegen schwor jederzeit Stein und
Bein, es sei eine lediglich platonische
Freundschaft gewesen, die ihn mit Wolf verband. Der Gegenbeweis war nicht zu erbringen. Und eigentlich hatten solche Gefühle
auch nichts zu sagen. Es sei denn, es sei Eifersucht im Spiel gewesen. Mit solchen Gefühlen war schon mancher Kriminalfall verbunden, behauptete die Kommissarin, die
nach wie vor von Toms Unschuld nicht völlig
zu überzeugen war. Auch dessen Eltern
mochte sie nicht.
Die
Angelegenheit blieb jedenfalls verwor-
ren. Man suchte und rätselte. Es kamen auch
andere Todesfälle in die Betrachtung, die bis
dahin ungelöst in den Akten standen. Bis es
zu jenem unerwarteten Ereignis kam, das vor
allem die Kriminalistin in ihrer Auffassung
bestärkte und die Polizei veranlasste, den Fall
zu den Akten zu legen.
110
Resultate
Die Prüfungen waren wieder aufgenommen
worden. Auch Tom machte mit. Doch den
meisten war klar, dass da wohl nichts Gutes
für ihn herauskäme. Auch er wusste das. Er
machte mit, weil seine Eltern es wollten und
weil es ohnehin gleichgültig war, was nun
geschähe. Unmittelbar nach solch einschneidenden Ereignissen steht der Kopf woanders,
sagte Anna, als sie zuhause darüber redeten.
Der Junge ist zu bedauern, aber wer weiß was
gekommen wäre, hätte Riza nicht den
Schlussstrich gezogen. Dieser Wolf war ein
Egoist, stellte Anna fest. Und Menschen dieser Prägung haben die Neigung, über Leichen
zu gehen. Dass er nun selbst zu einer wurde,
sei vor den anstehenden generellen Fragen zu
bedauern, aber prinzipiell irrelevant. So sagte
es Anna.
111
Was dies allerdings für Fragen seien, die da
anstünden, die genereller Natur seien, das
käme erst noch. Gisa, Lisa und Riza sollten
erst mal alle Prüfungen bestehen, dann käme
das Weitere und Geduld sei auch eine Tugend. Nun gut, die Prüfungen waren für die
Drei kein Problem. Da gab es nichts, was unlösbar blieb. Und die Bekanntschaften aus
der Schule, auch aus der Clique, wären ohnehin rasch verweht. Gleich dem Sand, mit dem
am Ufer unter Wind und Wellen die Burgen
und Schlösser der Kindheit zerfielen.
Da machte es keinen Unterschied, dass kurz
vor den mündlichen Prüfungen eine neue
sensationelle Meldung die Runde machte,
welche zumindest einige der Polizisten in
ihrer vorgefassten Meinung bestätigte. Besonders die leitende Kommissarin nickte befriedigt, als sie es erfuhr. Das bekannte Lauffeuer der Informationen eilte durch die kleine
Stadt, wobei Gisa, Lisa und Riza, natürlich
auch Anna, längst wussten, um was es ging.
112
Tom wurde auf den Gleisen des Bahnüberganges, jenseits der Kleingärten, tot aufgefunden. Das heißt, die Reste von ihm. Er war
abscheulich zerschmettert. Der Sieben Uhr
Vormittagszug der Regionalbahn Süd hatte
ihn zermalmt. Und da eine Art Abschiedsbrief vorlag, war die Selbsttötung für die Polizeibeamten erwiesen. Eine Begründung
aber, für diese und auch für die andere Tat,
fand man in dem Brief nicht. Und eigentlich
war es ja auch nur ein Zettel, der auf Toms
Schreibtisch lag. Da waren Abschiedsworte
notiert, irgendwie in der Form eines sich
nicht reimenden Gedichts. Und eine diffuse
Bitte um Vergebung. Die Eltern widersprachen heftig den Vermutungen, dass es ein
Selbstmord gewesen sei. Ihr Sohn habe häufig Notizen gemacht, erklärten sie, und irgendwelche skurrilen Gedanken notiert. Dieser Zettel habe keine Bedeutung. Es müsse
etwas anderes dahinter stecken. Möglicherweise gäbe es einen Mörder oder mehrere,
die verantwortlich seien, und letztlich sei ja
113
auch der Tod von Wolf Zimmer noch immer
nicht aufgeklärt.
Dennoch
blieb allgemein die Meinung be-
stehen, dass dies weder ein Unfall, noch eine
neue Mordtat gewesen sei. Man einigte sich
sozusagen mehrheitlich auf Prüfungsstress
und die labile Seelenlage des Jungen. Also
Selbstmord. Einige der Polizisten allerdings
dachten anders. Vor allem die Kommissarin.
Sie glaubte an die Schuld des Jungen Timo
am Tod des Wolf Zimmer und dass er es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Obwohl
weder das eine noch das andere zu beweisen
war.
Riza,
Gisa und Lisa, zusammen mit Anna,
aber wussten es besser. Beide Tode seien unvermeidbar gewesen, erläuterte Anna. Das sei
nun mal so.
114
Die Ermittlungsakte über den Tod von Wolf
Zimmer kam jedenfalls kurze Zeit nach dem
Abgang von Tom, der auf den Geleisen der
Regionalbahn Süd sein Ende fand, ins Archiv.
115
Weitere Regeln
„Es ist an der Zeit, dass ihr weitere wichtige
Dinge erfahrt.“
Anna und die jungen Frauen saßen in der
Bibliothek ihres Hauses. Es sah aus, als sei es
ein beschauliches Kaffekränzchen, was da
ablief. Aber es war mehr. Sehr viel mehr, was
dahinter stand.
„Du bist so feierlich“, lächelte Gisa, „wissen
wir nicht schon das Wesentliche?“
„Ihr wisst, was ihr bis heute wissen konntet“,
erwiderte Anna und lächelte ebenfalls. „Und
wissen durftet“, fügte sie an.
„Die Prüfungen waren ein Klax“, vermerkte
Lisa.
„Das, was ihr nun erfahrt, hat mit den Prüfungen zum Abitur nicht das Geringste zu
tun.“
116
„Du sagtest immer, diese Prüfungen seien
wichtig.“
„Das sind sie auch. Aber es gibt Prüfungen
und Erkenntnisse, die liegen weit darüber.
Das Abitur testet das Wissen, das gewöhnliche Menschen benötigen, um im normalen
Leben zu bestehen. Oder zumindest einigermaßen die Voraussetzungen hierfür zu erhalten. Es ist dieses Leben, welches sich für die
Menschen, so wie sie sind, mit all ihren
Techniken und all ihrem so genannten Fortschritt, ergibt. Für euch bestehen andere Kriterien. Ihr wisst es noch nicht insgesamt. Ihr
wisst vieles noch nicht.“
„Wir blicken in die Köpfe. Auch du hast immer gesagt, dass wir das tun sollen. Derart
wissen wir auch über die verborgenen Dinge.
Du hast gesagt, dass damit alles offen liegt.“
Riza sah verunsichert aus.
„Das ist auch so. Dies betrifft die normalen
117
Abläufe. Also die normalen Menschen. Und
somit die normalen Dinge. Aber was wäre
normal? Ich bin jedenfalls nicht in diesem
Sinne normal“, grinste Anna. „Und ihr wohl
auch nicht. Aber, seht ihr, meine Erfahrungen
reichen über all dies noch wesentlich weiter
hinaus. Weiter als eure. Und in meinen Gedanken konntet ihr nur finden, was ich bereit
war, euch finden zu lassen.“
Sie lachte. Rückte sich zurecht. Schien die
Überraschung bei den drei jungen Frauen zu
genießen.
„Das wusstet ihr nicht? Ihr wisst viel, sehr
viel, aber längst nicht alles. Heute füge ich
einige weiteren Bausteine zu eurem Leben
hinzu. Es wird ein Leben sein, das noch außergewöhnlicher sein wird, noch seltsamer,
als es bisher gewesen ist, als ihr vielleicht
angenommen habt, dass es so oder so käme.
An die ersten Schritte konntet ihr euch gewöhnen. Nun aber geht es ein Stück weiter.“
118
„Du machst es spannend“, sagte Gisa und
grinste, „aber wir sind, denke ich, erfahren
genug, um weitere Seltsamkeiten zu ertragen.“ Sie lachte.
„Nun gut“, lächelte auch Anna, „fangen wir
an. Ich rede erst mal über mich. Damit ihr das
weitere verstehen könnt. Zunächst aber das
Formale. Ich habe euch an der Universität in
der Hauptstadt eintragen lassen. Die Immatrikulation für Gisa erfolgte für die philosophische Fakultät, für Lisa sind die mathematischen Bereiche gedacht und Riza wird Soziologie und Medizin belegen. Es entspricht
euren speziellen Hingaben. Den Austausch
untereinander werdet ihr vornehmen wie bisher. Hinzu kommt meine Aufforderung, möglichst viele andere Vorlesungen aller Richtungen zu besuchen. Ebenfalls im Austausch
zueinander.
Dieser
Ausrichtung, die ich euch gebe, lie-
gen zwei Überlegungen zugrunde. Ich betone
allerdings“, schob sie ein, „dass es nicht
leicht sein wird, das, was da auf euch zu119
kommt. Aber hinter den Planungen, den
Schulbesuchen und nunmehr den Studiengängen steht ein bestimmtes Ziel. Wie hinter
vielen Dingen, was Menschen so tun. Eures
ist allerdings ein spezielles. Das Ziel erläutere ich später. Zunächst einmal die Grundsätze, von denen ich sprach. Wenn man es genau
betrachtet, sind es sogar drei.“
Anna goss sorgfältig Kaffee aus der großen
silbernen Kanne nach. Die drei jungen Frauen dachten, dass dies ein Zeremoniell sei,
was Anna zelebrierte, ein zauberiges Ritual.
Was es wohl auch war.
„Ja“, bestätigte Anna, „so ist es“, und die drei
jungen Frauen stellten fest, dass ihre Abschirmungen bei Anna versagten, wie so oft
stellten sie es fest.
„Ihr seht das richtig“, sagte Anna, „es ist ein
Ritual, eine Einführung in Bereiche, von denen ihr dachtet, dass ihr bereits alles wisst.
Aber es ist in Wahrheit so, dass ihr bisher nur
120
am Rande erfahren habt, was es wirklich ist,
um das es geht.“
Sie trank einen winzigen Schluck aus der
winzig kleinen Tasse, ließ sich Zeit. Machte
es spannend.
„Ein kleiner technischer Vermerk noch“,
schien sie erneut die tatsächliche Botschaft
nach hinten zu schieben, „ihr werdet nicht in
Berlin leben. Die Reise von dort nach hierher
ist nicht allzu weit. Ein Zimmer genügt in
Berlin. Das dient nicht der Sparsamkeit, es
soll verhindern, dass ihr dort allzu bekannt
werdet. Es hängt mit der ersten Regel zusammen. Die lautet, niemand darf euch zu
nahe kommen. Innerlich nahe. Versteht ihr?
Ich sagte es immer wieder. Und so auch jetzt.
Versteht ihr das? Ich meine, versteht ihr es
wirklich? Versteht ihr das Warum?“
Anna lehnte sich leicht zurück. Sie schien zu
überlegen. Redete dann aber weiter.
„Nein, ihr versteht es nicht. Und das ist kein
Wunder. Es ist normal für euer Leben, dass
121
ihr es noch nicht versteht. Ihr haltet euch für
stark genug, den Gefahren, die ihr durchaus
seht, die ihr bereits erfahren habt, zu widerstehen. Ihr denkt, ihr habt alles im Griff. Das
stimmt sogar. Im Prinzip stimmt es. Aber eines habt ihr nicht im Griff, weil ihr es noch
nicht wisst. Nicht wissen könnt. Es betrifft
die Zeit. Später werdet ihr es verstehen. Also,
ich fasse zusammen. Regel eins, das ist klar.
Ihr dürft alles machen, mit allen Menschen
zusammenkommen, Liebe spielen oder haben, wie ihr es wollt, ab und zu jemanden
umbringen, wenn es sein muss, aber ihr
müsst euch bedeckt halten. Ihr dürft niemanden einbinden in das, was ihr seid oder wisst.
Darüber sprachen wir schon oft. Somit – und
nahezu zwangsläufig – kämen wir zu Regel
zwei. Ihr dürft euch niemals mit irgendeinem
Menschen auf Dauer verbinden. Auch darum
bleibt euer Wohnort hier.“
Wieder nippte sie an dem Kaffee. Die drei
jungen Frauen waren verblüfft. Ganz so überrascht aber zeigten sie sich nicht. Sie dachten
122
an das Abenteuer von Riza und glaubten, darauf ziele Anna ab. Aber sie wunderten sich
dann doch. Denn sie waren der Meinung,
dass sie sich alle recht gut verhalten hätten.
„Das ist es nicht“, unterbrach Anna ihre Gedanken, „jedenfalls nicht ganz. Also, das wäre diese Regel zwei. Vielleicht sollte ich es
zeitlich benennen. Mehr als zehn Jahre sollte
keine Verbindung zu einem anderen Menschen halten. Weil dann die Gewöhnung käme. Und wenn hieraus längere Verbindungen
entstünden, wäre die Problematik groß.“
„Das sollten wir einhalten können“, lachte
Lisa. „Aber warum?“
„Es wird nicht ganz so einfach“, sagte Anna.
„Ich erkläre es etwas später. Dann versteht
ihr es.“
„Später“, grinste Riza, „gut, gut, das kennen
wir.“
„Und die dritte Regel?“
123
„Das ist eigentlich keine besondere Regel, es
beschreibt eine Selbstverständlichkeit. Es
heisst, Lernen, Forschen, Suchen und …
Warten.“
„Warten? Schon wieder? Auf was?“
„Auf die Gegebenheiten.“
„Nun gut“, grinste Gisa, „warten können
wir.“
„Und wozu suchen? Wir können alles erfahren, was man braucht“, rief Riza.
„Das könnt ihr. Aber es geht um ein bestimmtes Suchen. Ich werde es erklären.
Auch ich bin eine Suchende … zum Glück
fand ich euch … nach langer Zeit fand ich
euch. Ich sah es als meine Aufgabe an, euch
zu suchen und zu finden.“
„Eine Aufgabe“, fragte Lisa. „Wer gab die?“
„Das ist eine dumme Frage“, sagte Anna.
Aber sie wirkte verunsichert, war sich wohl
selbst nicht ganz im Klaren. Sie wollte offen124
sichtlich nicht auf die Frage eingehen. Antwortete dann aber doch.
„Keiner gab diese Aufgabe“, sagte sie knapp.
„Ich stellte sie mir selbst. Aber zurück zu
euch. Oder zu uns. Wenn ihr drei oder vier
Jahre dieses Studium, zu dem ich euch angemeldet habe, ernsthaft betreibt, wenn ihr euch
bedeckt haltet, keine festen Bindungen eingeht, wenn ihr die Suche nach Wissen zum
einen und nach diesem anderen, auf das ich
noch zu sprechen komme, konzentriert angeht – selbst wenn ihr nichts findet, wo es
nötig wäre, weitere Befassungen vorzunehmen – werden wir in einer Art Praktikum unterwegs sein. Wir zu viert. Doch auch hiervon später.“
„Was suchen wir? Was suchst du?“
„Das ist die richtige Frage, die wichtige.
Doch wartet. Was hinter allem steht und was
schlussendlich euer Lebensziel sein wird –
oder zumindest ein bestimmender Teil hiervon – versteht ihr am besten, wenn ihr einer
125
Geschichte lauscht, die ich euch zu erzählen
habe. Aber ihr müsst euch darüber hinaus
einprägen, es wird überhaupt nichts je einfach sein. Im Gegenteil. Was euch erwartet
wird schwer werden. Sehr schwer. Trotz aller
Leichtigkeit bisher. Momentan glaubt ihr,
alles im Griff zu haben. Das täuscht. Ihr werdet es verstehen, wenn ihr die für eure Ohren
nahezu unbegreifliche Geschichte gehört
habt, die ich euch erzähle.
Darüber hinaus, es werden harte Prüfungen
zu erwarten sein. Härter als das Abitur“, sagte Anna, „härter als die Sache mit dem Wolf
Zimmer. Ihr werdet euch vielleicht sogar
trennen. Eine gewisse Zeit jedenfalls. Dann
aber immer wieder zusammenfinden. Obwohl
ihr derart eng verbunden seid, kann es sein,
dass ihr euch werdet trennen müssen.“
„Das kann ich nicht glauben“, rief Gisa und
die beiden anderen riefen es auch.
126
„Nun gut. Es wird keine Trennung auf ewig
sein“, sagte Anna ruhig, „das hatte ich doch
gesagt. Auf ewig ist nichts. Obwohl …“
Sie lächelte und eine gewisse Verlorenheit
teilte sich mit.
„Doch ganz genau kann ich das nicht sehen“,
sagte sie, „es ist eine diffuse Ahnung. Aber
letztlich spielt es keine Rolle“, sagte sie dann
energisch. „Wir werden zusammenhalten.
Das ist das Wichtige bei allem.“
Die drei jungen Frauen waren irritiert. Sie
liebten Anna wie eine Mutter. Und eigentlich
war sie es ja auch. Sie war ihre Mutter geworden. Aber derart hatten sie noch nie miteinander geredet. Doch die kleine Betrübtheit
währte nur kurz. Die Bücher um sie herum,
die scheinbar ernster als sonst herabgeschaut
hatten, kehrten wieder zu ihrer differenzierten
Neutralität zurück. Schier unendliches Wissen war da versammelt. Ein Wissen, das weit
127
über das Stichwortwissen von Suchmaschinen hinausging. Viel davon hatten die drei
Frauen für sich ermittelt, sich angeeignet.
Und dennoch schien es, als käme nun erst das
Entscheidende, das wirklich Wichtige und
Neue auf sie zu. Etwas, wovon die Bücher
nichts wussten?
„Es war vor einigen tausend Jahren“, begann
Anna ihre Geschichte, und eine neue unbekannte Stimmung zog in die Bibliothek und
in die Köpfe der drei jungen Frauen ein. Die
Bücher rückten erneut etwas weiter zurück,
das Aktuelle schien zu verwischen, wurde
gleichsam nebensächlich, geriet in einen wie
nebelhaften Zustand. Aus dem Greifbaren
entrückten die Anwesenden immerzu rascher,
um weit in die von Anna beschriebene Vergangenheit zu geraten.
128
Annas Geschichte
„Ich hatte lange studiert“, sagte Anna. „Nicht
an Universitäten, nicht an Forschungsstätten,
wie ihr es tut. Ich suchte im Leben. Später,
sehr viel später, studierte ich euch. Ihr hört
richtig, ich studierte euch. Längere Zeit nun
schon. Seit wann kennen wir uns? Es sind
etwa fünfzehn Jahre her. Seit dem Zirkus
damals. Und ich fand euch drei zusammen.
Nun seid ihr erwachsen. Nach normalen Gesichtspunkten seid ihr erwachsen.“
Anna lehnte sich zurück. Ihr Blick schien
nach irgendwohin zu entgleiten. Gisa, Lisa
und Riza empfanden eine prickelnde Anspannung.
„Aber was sind schon fünfzehn Jahre“, setzte
Anna fort. „Habt ihr euch nicht gewundert,
wie wenig ich mich verändert habe in dieser
Zeit? Solange wir uns kennen? Aber gut. Der
Reihe nach, sonst versteht ihr es nicht.“
129
Nun erst wurde den dreien bewusst. Anna
hatte recht. Es war ihnen nicht aufgefallen.
Die Frau, die wie ihre Mutter war, ja eher
mehr als das, sie war nicht gealtert. Sie hielten es nicht für bemerkenswert. Immer wenn
man nahe bei jemandem ist, sieht man die
kleinen Veränderungen nicht, die das Leben
einem mitgibt. Erst wenn man sich nach längerer Zeit einmal wiedersieht, kann man die
Zeit, die vergangen ist, erkennen. Das war
bislang kein Thema. Aber war das nicht
normal? Und was wollte Anna sagen?
„Ihr seid zu rasch mit euren Gedanken“, lächelte Anna, die offenbar stets in Kontakt
geblieben war. Ohne dass die Frauen etwas
bemerkt hätten.
„Also der Reihe nach. Zuerst steht die Frage,
woher wir kommen. Wer wir sind.“
Und nun begann sie mit ihrer Geschichte, die
unwahrscheinlich klang, aber die reine
Wahrheit war, denn Anna hatte noch nie den
130
Dreien eine Unwahrheit gesagt. Das wussten
sie.
„Es muss vor einigen hunderttausend Jahren
gewesen sein, als alles begann“, sagte Anna.
„Und wenn man genau hinsieht, waren es
vielleicht noch mehr Jahre. Eine der Nachrichten, die ich bekam, berichtete von einer
Million oder sogar von zwei Millionen Jahren. Das war dann der Beginn jener Zeit, die
man heute die Steinzeit nennt. Da gab es
noch keine Menschen. Zumindest noch keine,
wie man sie später kannte. Und es gab auch
noch nichts zu zählen. Das begannen die
Menschen erst später.
Die
Vorgeschichte des Lebens erdachten
sich Wissenschaftler, unter Zugrundelegung
gewisser Erkenntnisse, Ausgrabungen und
Schlussfolgerungen. Aber das wisst ihr ja.
Mit der Entstehung eines fortgeschrittenen
Bewusstseins machten sich die ersten Menschen erst vor etwa hunderttausend Jahren
bemerkbar. Vielleicht ein paar Jahre mehr
131
zurück oder einige Jahre weiter nach vorn.
Auch hierzu sagen die Lehren nichts Konkretes. Erst mit den Höhlenzeichnungen vor
dreißig- oder vierzigtausend Jahren und den
Analysen dazu unterstellte man eine beginnende Geistigkeit. Womit ich jenes Nachdenken meine, das sich mit dem Menschen
selbst, mit der Welt und mit dem Warum beschäftigte. Man unterstellte das, wie gesagt.
Zu wissen glaubte man erst, als die Aufzeichnungen deutlicher wurden. Später kamen Berichte aus anderen Kontinenten dazu.
Da erwiesen sich einige Entwicklungen sogar
als deutlich älter. Australien beispielsweise
zeigte das. Aber auch hier blieben die Interpretationen den späteren Köpfen und Anschauungen vorbehalten.
Das
galt auch seit jenen Ereignissen, wo
man über Steine, Pergamente, Papyrus und
Papier den scheinbar aussagefähigen Aufschreibungen der Damaligen folgen zu können glaubte. Was nicht immer stimmte. Was
ich wiederum genau weiß.
132
Und wenn ihr euch fragt, was sicher der Fall
sein wird, woher ich das weiß, wenn ich von
genau spreche, woher ich die Grundlagen
habe, zu dem, was ich da sage, gerade wenn
ich von derart lang Zurückliegendem rede,
dann solltet ihr wissen, dass es zum großen
Teil direkte Überlieferungen waren, Berichte,
die von Mund zu Mund gingen, die hier die
entscheidende Rolle spielten – und immer
noch spielen.“
Anna lächelte, genoss offenbar die Spannung.
„In meinem Falle – oder in unserem – war es
jedenfalls so“, fuhr sie fort. „Jedoch bis ganz
zu den Anfängen reichen solche mündlichen
Botschaften selbstverständlich nicht. Aber
alles werdet ihr erst dann völlig verstehen,
wenn ich fertig bin mit meiner Geschichte.“
Sie holte tief Luft.
„Ihr habt gelernt, in der Schule und nun auf
der Uni, dass es Ereignisse gab, die man nur
deshalb kannte, weil sie irgendjemand ir133
gendwo niedergeschrieben oder aufgemalt
hatte … oder aber weiterberichtete … von
Mund zu Mund eben. Soweit so gut. Meist
aber war es so, dass immer erst viel später,
also eine Zeitlang nach den eigentlichen Ereignissen, diejenigen auftraten, die, zum Teil
mit literarischem Blendwerk versehen, die
alten Geschichten neu geschrieben oder jedenfalls zeitgemäß interpretiert hatten. Und
ganz am Schluss erst, das ist noch nicht so
lange her, vielleicht sind es erst drei- oder
vierhundert Jahre, da kamen die, die sich
Forscher nannten. Man grub in der Erde, entdeckte Höhlen mit Aufzeichnungen, interpretierte sie, man sah aus Flugzeugen herunter
auf Strukturen in der Erdoberfläche, die man
aus der Nähe zunächst nicht sehen konnte,
dann aber erforschte. Die man nun zu messen
und zu beurteilen sich anschickte.“
Anna nahm die kleine Tasse mit spitzen Fingern und trank. Es war sehr still in dem Bücherzimmer.
134
„Und“, fuhr sie fort, „ihr bemerkt es, da ist
immer wieder dieses Wort beurteilen dabei.
Man entwickelte Thesen, Vorstellungen, Gedankenbilder, in die man das Gefundene einpasste. Was somit als bewiesen galt. Das ist
normal. Es geht gar nicht anders. Und das
meiste, was man derart analysierte, war wohl
richtig erkannt und eingeordnet. Doch erstens
waren das, was man fand, oft nur die rudimentären Reste der großen Ereignisse, und
zweitens sind solche Blicke nur sehr kurz in
die vergangene Zeit möglich. Das wisst ihr.
Die
frühen Schlachten, von denen man
wusste, die Begegnungen der Völker, die
Kriege – meist waren es Kriege – dies alles
hinterließ Spuren, die eindrücklich genug waren, so dass man sie heute noch finden konnte. Die aber nicht weiter als höchstens vieroder fünftausend Jahre zurückreichen. Das ist
für die Menschen eine lange Zeit, für die Geschichte der Welt aber nur ein Wimpernschlag.“
135
Wieder hielt sie kurz inne. Lächelte, sah die
drei Frauen an. Prüfte die Wirkung ihrer
Worte.
„Ich will sagen“, fuhr sie fort, „die Menschheit tappt im Dunkel, was die erste Zeit, wie
ich das nenne, betrifft. Und die kleineren
Dinge, zu denen auch die Gräber zählen, obwohl gerade die besonders wichtige Ereignisse im Menschsein beschreiben, oder die
Wohnsiedlungen unserer Vorfahren, die können über Ausgrabungen nur sehr kurz zurückblickend berichten. Viele der ganz alten
Ereignisse sind noch nicht mal mehr auszugraben. Sie sind verschwunden, weg, getilgt
aus jedwedem Beweisbaren.“
Es herrschte eine fast erdrückende Anspannung in dem Raum. Die drei Frauen und auch
Anna waren magisch eingesponnen in ein
dichtes mentales Netz.
„Also, ich meine, beweisbar nach den Maßstäben der herrschenden Wissenschaft“,
sprach Anna weiter. „Zu den neueren Er136
kenntnissen führten dann noch die Sagen und
Legenden. Die gehören zu den nahesten Zeiterfahrungen. Sie wurden aber auch erst ab
einem bestimmten Bewusstwerden der Menschen gesammelt. Und auch sie verschleiern
oft mehr, als sie sagen. Dies alles ist euch
bekannt.“
Anna sah die Drei der Reihe nach an. Spürte
der Wirkung ihrer Worte nach.
„Wir stellen also fest“, redete sie weiter und
schien zufrieden mit der Reaktion der Töchter, „dass an die Wiege der Menschheit, die,
so sagt man, im heutigen Afrika lag, so ganz
exakt keine erkennbare Forschung heranreicht. Die meisten Geschichten von dort sind
ausgedacht, erfunden, geschlussfolgert. Nur
grobe Linien lassen erkennen, dass die Menschen von Afrika aus die Welt besiedelten.
Wahrscheinlich sogar mehrere Male hintereinander. Im Verlauf von hunderttausenden
von Jahren. Oder vielleicht mehr …?
137
Oder
gab es zuvor dann doch schon etwas
anderes …? Aber lassen wir das. Warum erzähle ich das? Was soll der weite Weg zurück? Was hat das mit uns zu tun? Oder mit
euch? Sehr viel nämlich …
Also
gut. Ich komme zu den Dingen, die
hauptsächlich uns betreffen. Ich komme zu
den mündlichen Überlieferungen. Die sind
zwar auch meinungsbehaftet, aber dann doch
auch authentisch. Weil …“
Anna schwieg erneut eine winzige Weile,
wirkte nachdenklich. So, als habe sie gerade
erst neue Erkenntnisse gefunden.
„Jedenfalls sind es die jüngeren übermittelten
Nachrichten aus der Vergangenheit, über die
ich rede“, fuhr sie fort, „wobei ich an die Zeit
bis etwa fünftausend Jahre zurück denke.
Was euch überraschen wird, wenn ich da von
authentisch rede. Oder von jünger …
138
Und dabei sollte auch klar sein, dass solch
eine Art Berichterstattung damit zusammenhängt, wie lange man eine Lebenszeit rechnet, während derer man von Mund zu Mund
vermitteln kann. Dahin lenke ich eure Gedanken.“
Anna richtete sich auf. Im Verlauf ihrer Erzählung war sie tiefer in den Sessel, in ihren
Thron, gesunken. Nun schien sie gleichsam
wacher geworden, reckte sich hoch.
„Vor etwa vier- oder fünftausend Jahren also
begann etwas – oder vielleicht auch schon
früher, was ich nicht genau zu sagen weiß –
das mündlich weitergegeben wurde, was keine Wissenschaft erfuhr, was die Beteiligten
verschlossen hielten, weil am Anfang der
Weitergabe immer die Botschaft stand, es
müsse geheim bleiben, was man da erfuhr.
Vor allem, wie man es erfuhr. Aber die Begründung war jedem klar, denn es wurden
hiermit, und dies unmittelbar den eigentlichen Erkenntnissen verbunden, ganz beson139
dere Menschen mit ganz besonderen Eigenschaften beschrieben.“
Anna wirkte ernst.
„Diese Besonderheiten hätte diese Menschen
entweder zu Sehenswürdigkeiten gemacht
oder zu Ausgestoßenen, zu Schädlingen gar,
die man schleunigst zu isolieren oder zu vernichten hätte. Ihr versteht, was ich sagen will,
wir redeten darüber schon lange, denn auch
ihr seid besonders. Was ihr verborgen und
somit geschützt hieltet …“
Anna schwieg. Niemand sagte etwas, niemand fragte.
„Einige der besonderen Menschen – insgesamt gab es wahrscheinlich mehr von ihnen,
als anzunehmen war – konnten in der Vergangenheit ihre Fähigkeiten zu außergewöhnlichen Leistungen verwenden. Wahrscheinlich wurden nur wenige von ihnen bekannt.
Möglicherweise waren auch Machtüberschreitungen zu notieren. Etliche hatte man
140
vernichtet … Jedenfalls war gerade dies für
die Betroffenen ein Argument, bestimmte
Talente nicht an die große Glocke zu hängen,
wie es der Volksmund sagt …
Darum richtete ich diese Mahnung als erstes
an euch. Und wiederholt tue ich das. Wir reden schon seit Anfang unseres Zusammenseins darüber. Es ist die wichtigste Regel, die
ihr beachten müsst, ehe ihr weiter nachdenkt,
was aus euch werden könnte. Denn ich berichte von unserer Art.
Doch
das, was ich als ein Ziel vorgeben
möchte, auch verbunden mit der Frage, ob
wir denn wirklich eine besondere Art, also
eine bestimmte Rasse darstellen, was in etwa
das Resümee aus meinen Worten sein könnte,
kommt später. Allerdings keine weiteren
fünfzehn Jahre später“, lächelte Anna, „eher
schon morgen.“
Gisa, Lisa und Riza hockten wie gebannt.
Was war das, was Anna vorhatte? Dass ihre
141
Fähigkeiten besondere waren, wussten sie.
Sie hatten es verschlossen gehalten, durchaus
aber auch Vorteile daraus gezogen. Es waren
kleine Vorteile gewesen. Aber auch das wäre
relativ. Nun schien es, als stünde mehr hinter
allem. Was wollte Anna sagen? Es schien den
Dreien, als redete sie um den heißen Brei
herum, wie das hieß.
„Als es begann“, fing Anna scheinbar wieder
von vorne an, „als irgendwo in irgendeiner
Höhle oder sonst wo ein erster Mensch bemerkte, dass er anders war, als die anderen,
als er es versteckte, da er den Zorn fürchtete,
den seine Besonderheit bei den Anführern
auslösen könnte, als er davonlief, oder als er
vielleicht andere entdeckte, die waren wie er,
als er sich zusammentat mit denen, in eine
eigene Höhle zog, und als diese neuen Menschen, wie ich sie nennen möchte, sich fortpflanzten, mehr wurden, wenn auch nicht allzu viele, da muss es gewesen sein, dass unsere besondere Art erkennbar wurde. Bekannt
142
in der Geschichte der Menschen. Ich meine
bekannt für uns Heutigen, die wir Besondere
sind. Es beschreibt gewissermaßen die evolutionäre Theorie unserer Wesensart.“
Anna holte tief Luft.
„Aber es gibt auch andere Überlegungen.
Davon gleich mehr. Die besonderen Menschen der alten Vergangenheit vermochten es
jedenfalls, sich ohne Worte zu verständigen.
Und sie verfügten über eine Menge noch anderer Fähigkeiten. Aber das kennt ihr ja …
Aber
wie nun diese Menschen entstanden
sind oder woher sie kamen, liegt in den Bereichen der Spekulation. Es bestehen mehrere
Theorien. Zum einen könnten es Mutationen
gewesen sein, plötzliche Veränderungen, die
sie aus den anderen hervorkommen ließen.
Ich sagte es eben. Evolutionäre Erscheinungen also. Eine andere These lautet, dass sie
eine gesonderte Entwicklung wären, eine Parallelentwicklung, die von irgendwoher zugekommen sei. Diese Überlegung geht sogar
143
davon aus, sie hätten als separate und besondere Menschen schon bedeutend früher als
die anderen existiert. Von Millionen Jahren
ist da die Rede. Und als sie irgendwann untergingen, durch unbekannte Vorgänge vernichtet, oder dass sie sich selbst minimierten,
oder ähnlich wie andere Wesen der Erde vernichtet wurden, blieben nur Einzelne erhalten, die sich unter die anderen mischten um
unerkannt weiter zu existieren …
Es sind Theorien, wie gesagt. Jedenfalls gab
es offenbar Menschen unserer Art unter den
Steinzeitmenschen, unter den Menschen der
Eisen- oder Bronzezeit, unter den modernen
Menschen, bis heute gibt es sie, wie ihr wisst.
Sie haben sich eingepasst. Wir haben uns
eingepasst.“
Anna sah die drei Frauen an. Die waren beeindruckt, schienen aber auch verunsichert zu
sein. Wohin führte das, was Anna vorhatte?
144
„Durch die Jahrtausende überlebte also eine
kleine, besondere Menschenart“, setzte sie
ihre bemerkenswerte Geschichte fort, „versteckte ihre wahren Qualitäten und gab lediglich von Mund zu Mund die wichtigsten Dinge und Erfahrungen weiter …
Doch
wenn ich quasi von Gruppen rede“,
sagte Anna, „stimmt das natürlich auch nicht.
Es waren eigentlich immer nur Einzelne.
Verstreut unter den anderen. Einsame auch.
Aber – und dies wäre dann ein Bestandteil
der erstgenannten Theorie – als die Besonderen zu Beginn ihres Auftritts in der Welt
standen, als sie in Höhlen oder einfachen
Hütten, vielleicht auch in anderen, möglicherweise städteähnlichen Bauten und Niederlassungen zusammen blieben, da hatten
sie – vielleicht – dann doch Gemeinschaften
gebildet. Vielleicht … irgendwann mal.“
Anna schüttelte leicht den Kopf, fuhr aber
fort.
145
„Ich sagte ja, dass es Vermutungen sind. Solche Gedanken reichen zurück bis in die Anfänge, das heißt, in meinem Bericht bis tief in
die Steinzeit hinein, wozu wir aber keinesfalls Genaueres wissen, von woher lediglich
sozusagen pauschal die Geschichte der
Menschheit rührt. Auch unsere Geschichte.“
Sie schwieg einen weiteren Moment lang,
ließ ihre Worte einwirken.
„Wobei – auch das sagte ich schon – das Besondere an den besonderen Menschen war,
sie schrieben nichts auf, sie berichteten nur
mündlich. Was anfangs mit bestimmten Zauber-Ritualen, später mit einer bewussten und
logischen Geheimhaltung verbunden war. Es
war wohl schon immer so, sie lebten nebeneinander her, die Anderen und die Besonderen. Vielleicht wussten einige der Gewöhnlichen, dass es Besondere gab, oder sie wussten es nicht …
146
Teilweise
waren die Besonderen wahr-
scheinlich aufgenommen worden, integriert
also. Oder sie wurden in ihrer Überlegenheit
nicht erkannt. Eben weil sie sich tarnten.
Nicht erkannt als eine vor Unendlichkeiten
untergegangene Rasse … oder als Vereinzelte … oder als Mutationen … mit einem
Schicksal versehen, möglicherweise, ähnlich
dem Niedergang der Saurier durch Meteoriten, wo heute nur noch Vögel und Krokodile
übrig sind. Ich jedenfalls nenne sie unsere
Vorfahren.“
Anna sah auf und in die Runde. Nachdenklich und etwas zögernd.
„Vielleicht gab es ja wirklich keine besondere Kultur und wir sickerten vereinzelt aus der
Evolutionsgeschichte der anderen …“, sagte
sie leise.
Wieder hielt sie inne. Die drei Frauen bemerkten, dass sie sich um einen bestimmten
Punkt drehte und wendete. Es gab Wiederholungen. Unsicherheiten waren zu spüren.
147
„Doch wie auch immer es wäre“, redete sie
dann fester und entschlossener weiter, „keiner weiß es wirklich …
Was
zu allen Theorien allerdings passt“,
setzte sie fort, „das ist die Tatsache, dass nur
wenige von uns geblieben sind. Es war möglicherweise so, dass die Kinder der besonderen Menschen nicht immer die Qualitäten der
Eltern erbten und sich somit ihre Fähigkeiten,
verliefen.
Oder
dass die Besonderen eben nicht zusammen fanden, um sich untereinander fortzupflanzen … oder dass Besondere ihre Kinder weggaben …
Aber
offenbar hielten dann doch einige
durch, um es mal so zu sagen. Sonst gäbe es
uns ja nicht.
148
Wir
alle sind als Kinder groß geworden.
Auch ich war ein Kind. Ihr habt als Kinder
eure Eltern gekannt. Aber waren das eure Eltern? Jedenfalls habt ihr sie verlassen. Verlassen müssen. Woher wir kommen? Ich
meine jetzt aktuell, nicht abstammungsmäßig.
Wir wissen es nicht. Ich weiß es nicht. Ich
vermute nur, dass die, die wir als unsere Eltern sahen, es nicht waren. Möglicherweise
spielten andere Besondere eine Rolle. Vielleicht sind wir bei Leiheltern gewesen. Es
kann sein, Riza, dass dieser Schamane, von
dem du sprachst, damit zu tun hatte, wo du
unterkamst. Keiner weiß es. Es gehört zu den
Rätseln, die wir wahrscheinlich nie lösen
werden. Nur unsere jetzige Zusammenkunft,
ich meine uns vier, war gewollt. Wenn auch
mit starken Zufallselementen versehen, die
ebenfalls keiner zu deuten vermag.
Doch
zurück in die Vergangenheit. Ich
sprach über unsere Vorfahren. Oder die möglichen Vorfahren. Und über das Heutige. Und
149
darüber, wie viele Besondere vielleicht noch
bestehen. Oder wie wenige …
Sehr spät erst, wenn auch noch etliche tausend Jahre vor uns, begannen Einzelne unserer Art zu forschen, nachzudenken und zu
suchen. Sich zu suchen. Den Ursprung zu suchen. Ähnlich wie es die Anderen tun. Diese
Suche und eine speziellere, über die ihr noch
erfahren werdet, gehört offenbar zu unseren
inneren Vorgaben. Aber das ahntet ihr vielleicht schon. Doch ich sagte ja, dass ich zu
den spezielleren Dingen, später, morgen vielleicht, Näheres beibringe.“
Anna lächelte.
„Jedenfalls fanden in kleineren Gruppen immer wieder mal gewöhnliche oder normale
Menschen, manchmal auch halbnormale, mit
Außerordentlichen zusammen. Lebten und
arbeiteten miteinander. Menschen, die Bescheid wussten. Oder die dachten, dass sie
Bescheid wüssten …
150
Und ich gebe eine andere Vermutung dazu.
Dies alles, was ich euch berichte, sowohl die
Thesen, als auch die tatsächlichen Ereignisse,
hätten vielleicht zu dem Ziel beitragen können, die Menschheit insgesamt zu verbessern.
Als ein sozusagen positives Evolutionsresultat. Wenigstens was die Talente betrifft, über
die wir verfügen. Was dann also normal wäre, weil Evolutionen nun mal so sind. Doch
so lief es nicht. Denn die Krux ist die …
Unsere
Qualitäten sind nämlich keine Ver-
besserungen, mit denen die Menschheit alles
in allem vorankäme, weil eine Besonderheit,
die ihr besitzt, die alle von uns besitzen, über
die ihr aber noch nichts wisst, dem entgegensteht. Eine Besonderheit, die erst bekannt und
bewusst wird, wenn man länger beobachtet.
Und diese Besonderheit war es, die die Evolution, wenn es denn eine war, ausbremste.“
Erneut machte Anna eine Pause. Die drei
jungen Frauen hielten es für eine Kunstpause.
151
Ende der Leseprobe von:
Hexen
Gerhard Stiegler
Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das
komplette Buch können Sie bestellen unter:
http://epub.li/1W2wPuU