taz.die tageszeitung

Gesucht: Realistischer Sex
Alternativen zu den kommerziellen Klischee-Pornos im Netz ▶ Seite 13
AUSGABE BERLIN | NR. 11021 | 20. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DONNERSTAG, 19. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE
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Können diese Muskeln lügen?
DOPING Russland unter Verdacht: Kurz vor Olympia prüfen das IOC und die Welt-Anti-Doping-Agentur, ob das
russische Team systematisch mit verbotenen Mitteln fit gemacht wird. Moskau weist Vorwürfe zurück ▶ SEITE 3, 12
BERLIN Volksentscheid
für mehr Radwege und
Sicherheit: Jetzt kann‘s
losgehen. Initiator und
Staatssekretär im Streitgespräch ▶ SEITE 21–23
WOHNUNGSMARKT
Correctiv-Recherche:
Wie eine Berliner Firma
Mieter abzockt ▶ SEITE 5
JEMEN Friedensnobel-
preisträgerin Tawakkol
Karman über den Krieg
in ihrem Land ▶ SEITE 12
Fotos: imago, getty images
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Von dem österreichischen
­Grünen-Kandidaten Bellen
­lernen, heißt siegen l­ernen.
(Hoffentlich.)
Also: Jeder, der die taz nicht
leiden kann, aber die Junge
Freiheit vielleicht noch weniger
leiden kann, den bittet verboten, morgen zum Kiosk zu gehen, taz zu kaufen und
Lupenreiner Athlet: der russische Spitzensportler Wladimir Putin beim Schwimmtraining für Rio Foto: reuters
Eine Stimme mehr gegen FPÖ
ÖSTERREICH
Unabhängige Kandidatin Griss unterstützt bei Stichwahl Grünen
WIEN dpa/taz | Kurz vor der Prä-
sidentschaftswahl in Österreich
am Sonntag erhält der grüne
Kandidat Alexander Van der Bellen Wahlhilfe von der einstigen
unabhängigen Mitbewerberin
Irmgard Griss. Sie glaube, dass
der 72-jährige Wirtschaftsprofessor entscheidenden Kriterien wie Überparteilichkeit und
ein Auge zuzudrücken.
Weltoffenheit besser entspreche
als Norbert Hofer von der rechten FPÖ, sagte Griss am Mittwoch bei einem Auftritt mit
dem früheren Grünenchef. Sie
habe ihre Stimme (per Briefwahl) Van der Bellen gegeben.
Griss hatte mit fast 19 Prozent
in der ersten Runde nur knapp
die Stichwahl verpasst. Hofer ge-
wann die erste Runde mit 35 Prozent klar vor Van der Bellen mit
21 Prozent. Der Grüne wirbt für
sich selbst als kleineres Übel: „Jeder, der mich nicht leiden kann,
aber Hofer vielleicht noch weniger leiden kann, den bitte
ich, zur Wahl zu gehen und am
22. Mai ein Auge zuzudrücken.“
▶ Schwerpunkt SEITE 4
Erste Ampel an
RHEINLAND-PFALZ
SPD, FDP und Grüne wählen Dreyer
MAINZ afp/taz | Reibungsloser
Start für die erste Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz: Ministerpräsidentin Malu Dreyer
(SPD) ist am Mittwoch im Mainzer Landtag im ersten Wahlgang
und offenbar mit allen Stimmen der neuen Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen im Amt bestätigt worden.
Dreyer wertete ihre Wahl als
„Bestätigung, Ermutigung und
Verpflichtung“. Die SPD war bei
der Landtagswahl Mitte März
stärkste Kraft vor der CDU geworden. Die bisherige rot-grüne
Koalition verlor aber ihre Mehrheit, die AfD kam aus dem Stand
auf 12,6 Prozent.
▶ Inland SEITE 6
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KOMMENTAR VON SUSANNE KNAUL ZUM ISRAELISCHEN VERFAHREN GEGEN DAS ARMEEKRITISCHE BÜNDNIS „BREAKING THE SILENCE“
I
sraels Militärgerichte verfolgen die
schwarzen Schafe in den eigenen Reihen. Plünderer werden zur Verantwortung gezogen, und auch wer sich bei Vandalismus beobachten lässt oder gar bei
gezielter Körperverletzung an Unschuldigen, läuft Gefahr, anschließend dafür
büßen zu müssen. Nach jedem Krieg sind
es immer ein paar Soldaten, eine Handvoll, vielleicht mal ein Dutzend, die es
erwischt – ein Bruchteil derer, die einen
Prozess verdienten.
Die
Nichtregierungsorganisation
„Breaking the Silence“ (das Schweigen
brechen) deckt auf, was der Staat der zivilen Öffentlichkeit gern vorenthielte.
Vandalismus und Menschenrechtsver-
Was niemand wissen soll
letzungen sind in der israelischen Armee
keine Ausnahmen. Sie gehören zum Alltag in den besetzen Palästinensergebieten. Die Aktivisten von „Breaking the Silence“, allesamt Reservisten der Armee,
sind glaubwürdig, denn die Zeugen, die
die NGO befragt, belasten sich selbst. Sie
weigern sich, teilzuhaben an dem selbstherrlichen Mythos einer Armee, die sich
eine „Reinheit der Waffe“ zuschreibt. Sie
decken Missstände auf. Nur mit Soldaten
wie den Reservisten von „Breaking the Silence“ hat die Armee eine Chance, sich
von den schwarzen Schafen zu befreien.
Die meisten der Soldaten, die ihre Erlebnisse schildern, tun es anonym, weil
sie vielleicht die Verfolgung scheuen, si-
cher aber ihre Kameraden, die sie als Verräter beschimpfen könnten. Die Aussicht,
eines Tages als Quelle entlarvt zu werden,
kann allein schon ausreichen, um weitere Zeugen abzuschrecken. Nichts anderes scheint das Ziel derer zu sein, die
„Breaking the Silence“ nun vor Gericht zitieren. Wie jetzt bekannt wurde, will ein
israelisches Gericht die NGO zwingen,
ihre Quellen offenzulegen. Am Sonntag
Der Staat ist verunsichert:
Wer sich im Recht weiß,
muss Kritik nicht fürchten
soll es dazu eine entsprechende Anhörung geben.
Der Kampf des Staates gegen die Kritiker der Besatzung ist Signal für eine Verunsicherung. Wer sich im Recht weiß,
muss die Kritik nicht fürchten. Die NGO
der Reservisten sollte rechtlich denselben Schutz genießen wie Journalisten, die ihre Quellen selbst dann nicht
preisgeben müssen, wenn es der Verbrechensbekämpfung dient. „Breaking the
Silence“ leistet mit den Dokumentationen der Zeugenaussagen journalistische
Arbeit. Wenn die Regierung öffentliche
Kritik unterbindet, ist es um die Demokratie im Land nicht weit her.
▶ Der Tag SEITE 2
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
NACH RUF
NACH RICHTEN
BUN DESTAGSENTSCH LI ESSUNG ZU VÖLKERMORD
N IGERIA
Türkei kritisiert Armenien-Resolution
Erste entführte
Schülerin gerettet
ISTANBUL | Die Türkei hat die
Mit 90 verstorben: Der Historiker
Fritz Stern Foto: dpa
Der New Yorker
aus Breslau
B
ehaupte einer, Historiker seien in sich gekehrte
Schreibtischarbeiter. Fritz
Stern hat nicht nur Geschichte
geschrieben, er hat sie auch gemacht. Für das Land, das ihn
einst ausgetrieben hatte. „Gelegentlich ein bisschen mitwirken
zu können, war mir eine Freude
– nicht nur um Deutschland
willen“, so kommentierte er bescheiden seinen Anteil.
Geboren wurde Stern 1926 in
Breslau in einem jüdischstämmigen Elternhaus. Seine Eltern
ließen ihn taufen. Er war fünf
Jahre alt, da kamen die Nazis an
die Macht und überzogen auch
die Familie Stern mit ihren Diskriminierungen und Schikanen.
1938 gelang die Emigration in
die USA. Seit 1947 war Fritz Stern
amerikanischer Staatsbürger.
Doch Deutschland ließ ihn
nicht los. Es sei „keine prinzipielle Entscheidung“ gewesen,
nicht in Deutschland zu leben,
sagte er später. Stern studierte
Geschichte an der New Yorker
Columbia-Universität und promovierte über den Nationalismus im 19. Jahrhundert. Gastprofessuren führten ihn später
nach Berlin, Mainz und Jena.
Besonders seine profunden
Kenntnisse zum 19. Jahrhundert
machten Stern zu einem der bedeutendsten Historiker.
Und er mischte sich ein: 1990
überzeugte er die britische Premierministerin Margaret Thatcher, dass von einem wiedervereinten Deutschland kein Gefahr
mehr ausginge. Eine „zweite
Chance“ nannte er das gemeinsame Deutschland. „Fünf
Deutschland und ein Leben“
lautet der Titel seiner Autobiografie, in der er daran erinnerte,
dass er das Land als Weimarer
Republik, zur NS-Zeit, geteilt in
BRD und DDR und wiedervereint miterlebt hatte.
Stern scheute keine Konflikte und keine Öffentlichkeit.
Hoch geehrt trat der New Yorker Breslauer gerne zusammen
mit deutschen Politikern auf.
Gespräche zwischen ihm und
Helmut Schmidt sowie Joschka
Fischer fanden in Buchdeckel
gepresst ein breites Publikum.
Fritz Stern, der große liberale Deutschland-Kenner, ist am
Mittwoch im Alter von 90 Jahren in New York gestorben. Die
Zukunft sah er zuletzt düster. Im
Januar äußerte er: „Ich glaube,
wir stehen vor einem Zeitalter
der Angst, der weit verbreiteten Angst, der von rechts aus
gesehen politisch ausgenutzten Angst.“ KLAUS HILLENBRAND
Der Tag
DON N ERSTAG, 19. MAI 2016
geplante Bundestagsentschließung zur Armenierfrage kritisiert. Den Vorwurf des Völkermords zu verbreiten, ohne dafür Beweise vorzulegen, komme
einer politischen Ausbeutung
des Themas gleich, sagte Präsidentensprecher Ibrahim Kalin
gestern. Der Bundestag will am
2. Juni über die Resolution abstimmen, in der die Massaker an
den Armeniern in der heutigen
Türkei im Ersten Weltkrieg als
Völkermord bezeichnet werden.
Kalin erinnerte an das Angebot der Türkei, die Vergangenheit zusammen mit Armenien
aufzuarbeiten. Bei der Vertreibung der Armenier aus Anatolien in den Jahren 1915 bis 1917
waren bis zu 1,5 Millionen Menschen gestorben. Armenien und
viele Historiker stufen die damaligen Verbrechen als Völkermord ein.
Die Türkei hatte in den letzten Jahren mit scharfer Kritik
auf die Anerkennung des Völkermords im Ausland reagiert. 2015
zog sie vorübergehend ihren
Botschafter aus dem Vatikanstaat ab, nachdem der Papst die
Massaker an den Armeniern als
ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. (afp)
LAGOS | Zwei Jahre nach der Ent-
führung von mehr als 200 Schülerinnen im nigerianischen Chibok ist eines der Mädchen gefunden worden. Ein Suchtrupp
aus Zivilisten habe sie im Sambisa-Wald aufgegriffen und zu
ihren Eltern gebracht, teilten
Sprecher der Opferfamilien
gestern mit. Die nun 19-Jährige
war eine von 219 Schülerinnen,
die seit April 2014 in der Hand
der Miliz Boko Haram sind. Offenbar war sie in der Gefangenschaft schwanger geworden.
Von den übrigen Mädchen fehlt
nach wie vor jede Spur. (afp)
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MANAGERGEHÄLTER
Volkswagen will
neue Regeln
WOLFSBURG | Nach heftiger Kri-
tik an Bonuszahlungen für die
Vorstände bei VW will der Konzern neue Regeln für die Managergehälter schaffen. „Das
derzeitige System braucht Veränderung“, schreibt VW-Finanzvorstand Frank Witter in einem
Brief an Investor Chris Hohn, der
VW zuletzt öffentlich Druck gemacht hatte. „Wir werden das
als Teil unserer Strategiediskussion adressieren“, erklärt Witter
in dem Brief, der mehreren Medien vorliegt. Die neue Strategie
2025 soll vor der Sommerpause
vorgestellt werden. (dpa)
Kritiker der Besatzung unter Feuer
ISRAEL Die Staatsanwaltschaft will die Gruppe „Breaking the Silence“ dazu zwingen, ihre Quellen unter den
Soldaten offenzulegen. Das aber, so die Befürchtung, wäre das Ende der Kritik an israelischen Militäraktionen
AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL
Auf einem Foto hockt ein Palästinenser mit verbundenen Augen und Händen auf dem Boden, auf einem anderen steht
ein Junge vor einem Soldaten
mit Gewehr im Anschlag. „So
sieht Besatzung aus“, steht auf
den Protestplakaten von israelischen Reservisten gegen Menschenrechtsverletzungen an der
Front. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) „Breaking the Silence“ (Das Schweigen brechen)
konfrontiert Israels Bevölkerung mit dem Alltag in den Palästinensergebieten. Nun will Israels Oberstaatsanwalt Avichai
Mandelblit den Besatzungskritikern einen Riegel vorschie-
ben. Ab kommenden Sonntag
wird „Breaking the Silence“ vor
Gericht zitiert. Die Gruppe soll
gezwungen werden, die Namen
der Soldaten offenzulegen, die
anonym Zeugnis über Menschenrechtsverletzungen ablegten.
„Es wäre unser Ende“, kommentiert Jehuda Shaul, Mitgründer und Sprecher von „Breaking
the Silence“, die bevorstehende
Anhörung. „In dem Moment, wo
ich den Namen unserer Zeugen
preisgebe, versiegt die Informationsquelle.“
Das offizielle Argument, die
Zeugen seien nötig, um die Soldaten zur Verantwortung zu ziehen, die Verbrechen begangen
haben, will Shaul nicht gelten
lassen. Das bevorstehende Verfahren sei schlicht ein Versuch,
„Breaking the Silence“ mundtot
zu machen. Seit Monaten sehen
sich die kritischen Reservisten
mit einer breit angelegten Verleumdungskampagne konfrontiert. „Breaking the Silence“
steht in der Schusslinie von Regierung und Siedlergruppen.
Konkret geht es um die Zeugenaussagen mehrerer Soldaten, die vor zwei Jahren an den
kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Hamas im Gazastreifen beteiligt waren. Die
Armee leitete rund 30 Untersuchungen ein, die zum Teil auf
die Dokumentation von „Breaking the Silence“ basieren. Nach
einem Bericht der Tageszeitung
Dokumente der Besatzung: Ausstellung von „Breaking the Silence“ in Zürich Foto: Michael Buholzer/afp
„Guten Morgen al-Bureij“
ZEUGE
Ha’aretz gehe es bei den Untersuchungen um „nicht besonders
schwerwiegende“ Vergehen, die
zudem keine höherrangigen Offiziere beträfen.
Der Sprecher von „Breaking
the Silence“ kritisiert, dass hier
„nur ein paar einfache Soldaten“ zur Verantwortung gezogen werden, während die „großen Fragen, warum es so viele
Tote, vor allem unter der Zivilbevölkerung in Gaza, gab, außen
vor bleiben“. Shaul findet es zudem seltsam, warum erst jetzt,
fast zwei Jahre nach dem Krieg,
das Beweismaterial eingefordert werde.
Für die Reservisten passt die
bevorstehende
Gerichtsverhandlung zu der sich seit ein
paar Monaten zuspitzenden
Hexenjagd auf Regierungskritiker. In einem via Internet verbreiteten Video aus dem Studio
rechtsreligiöser Siedler werden
führende Mitglieder von vier
NGOs, darunter „Breaking the
die Menschenrechts„Ausländische Agen- Silence“,
organisation B’tselem und das
ten“ und „TerrorisÖffentliche Komitee gegen Folter, als „ausländische Agenten“
ten-Kollaborateure“
und
„Terroristen-KollaboraKRITIK AUS SIEDLERKREISEN
teure“ bezeichnet. Die Aktivisten sind seit Kurzem zur Offenlegung ihrer Spendeneinnahmen verpflichtet, wenn sie von
ausländischen Regierungsinstitutionen kommen. „Breaking
the Silence“ darf zudem nicht
mehr Vorträge vor Schulklassen halten.
Shaul berichtet von „Dutzenden Drohanrufen“, die die
Reservisten und sogar ihre Familienangehörigen erreichten.
Die Großeltern von Juli Novak,
Direktorin der NGO, habe Anrufe bekommen wie „Ihre Enkelin hatte einen Unfall, sie ist
tot“. Zigtausende US-Dollar habe
man ausgegeben, um sich gegen
Angriffe zur Wehr zu setzen. „Es
gab Soldaten, die uns gegenüber
gezielt Falschaussagen gemacht
haben, um uns später eine Klage
anzuhängen“, sagt Shaul. In einem Fall habe ein Zeuge „gezielt Staatsgeheimnisse ausgeplaudert“.
Gilad Ach, Chef der Siedlerorganisation „Ad kan“, gab in
einem Fernsehinterview jüngst
offen zu: „Wir haben Dutzende
unserer Aktivisten under
cover in linke Organisationen eingeschleust.“
THEMA
DES
TAGES
Knapp ein Jahr nach dem Gazakrieg 2014 veröffentlichte „Breaking the Silence“ die Aussagen von insgesamt 235 Soldaten
DEIR AL-BALAH | „In der ersten
Nacht (der Operation) zogen
wir in einen Ort mit dem Namen
Juhar al-Dik, eine Art Vorort. Wir
feuerten in alle Richtungen, als
wir in einen Obstgarten kamen.
Obstgärten sind gewöhnlich
sehr gefährlich für die Armee.
Es ist schwer, sich dort zu verteidigen. Wir schossen auf jedes
verdächtige Ziel, auf Bäume und
Häuserdächer. Ab und zu feuerten wir Granaten ab – ich selbst
habe zwei, vielleicht drei Grana-
ten auf Häuser geschossen, die
etwas höher als wir selbst in
einer Entfernung von 500 bis
1.000 Metern lagen.
Nach unserer ersten Nacht in
Juhar al-Dik, es war 7 oder 8 Uhr
morgens und es gab nichts zu
tun, legten sich die Leute (Soldaten) hin und dösten. Alle Fahrzeuge standen in einem Kreis,
nachdem wir das Wohnviertel
in der Nacht besetzt hatten. Es
war ruhig, ohne jede Gefahr,
als plötzlich jemand über das
Walki-Talki rief: „Alle Panzer in
einer Reihe und in Feuerposition Richtung al-Burej aufstellen, wir leiten ein Gefecht ein.“
Ein „Gefecht“ bedeutet, dass
alle auf einmal schießen. Ich
fragte meinen Kommandanten: „Worauf schießen wir?“ Er
antwortete: „Such dir aus, was
du willst.“ Über das Walki-Talki
orderte der Kommandant: „Wir
führen ein ̦Guten Morgen alBureij‘ aus“, so war es wörtlich.
Im Grunde ging es darum, die
Nachbarschaft zu wecken, um
den Leuten zu zeigen, dass die
̦Israelische Verteidigungsarmee hier ist‘ und um Abschreckung. Ich erinnere mich, dass
alle Panzer in einer Reihe standen, wir selbst auch. Ich habe
das Geschütz bedient und zielte
auf ein großes Gebäude im Zentrum des Viertels. Dann fragte
ich meinen Kommandanten:
„Okay, wo soll ich das Gebäude
treffen?“ Wir entschieden unter uns. – „Okay, wenn du et-
was nach rechts zielen willst,
dann etwas nach links, ein bisschen Richtung Fenster und dann
auf das Erdgeschoss, dann lass
uns das so machen.“ Anschließend zählte der Kommandant über das Walki-Talki rückwärts: „3, 2, 1, Feuer.“ Wir feuerten die Granaten willkürlich
ab, jeder nach eigener Wahl. Niemand hatte auf uns geschossen – weder vorher noch nachher oder während der Aktion.
EIN PANZERSCHÜTZE (GEKÜRZT)
Schwerpunkt
Olympische Spiele
DON N ERSTAG, 19. MAI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Russland soll systematisch Doping seiner Athlet*Innen verschleiert
haben. Jetzt droht der kollektive Ausschluss von Rio 2016
Ein Land in der Staatssportkrise
DOPING Der deutsche Labormitarbeiter in Sotschi 2014, Mario Thevis, ist fassungslos über das Ausmaß des angeblichen Betrugs
VON MARKUS VÖLKER
BERLIN taz | Mario Thevis weiß
nicht genau, wie er seinen Unmut in Worte fassen soll. Er
überlegt eine Weile. Dann sagt
er: „Man ist schon etwas hinters
Licht geführt worden.“ Thevis
war während der Olympischen
Winterspiele 2014 im Dopinglabor von Sotschi beschäftigt. Er
gehörte zu einem Team von 18
ausländischen Experten, die zusammen mit 60 russischen Kollegen Hunderte Dopingproben
untersucht haben. „Das sichert
die gewünschte Transparenz“,
sagte er seinerzeit im Interview
mit dieser Zeitung.
Thevis hat sich wohl geirrt. Er
arbeitete damals zehn Stunden
am Tag. Doch in der Nacht passierten offenbar merkwürdige
Dinge. Darin verstrickt war der
Chef des Labors, der Russe Gregori Rodschenkow. Der hat nun
behauptet, während der Winterspiele im großen Stil manipuliert zu haben. Er soll der Kopf
eines Masterplans zur systematischen Dopingvertuschung gewesen sein. Laut Rodschenkow
waren 15 der 33 russischen Medaillengewinner gedopt. Unabhängige Beweise gibt es dafür
allerdings nicht. Rodschenkow
hat sich vor einigen Monaten in
die USA abgesetzt und der New
York Times vom staatlich verordneten Doping in Sotschi berichtet. Jetzt ermittelt das US-amerikanische Justizministerium wegen möglicher Verschwörung
und Betrugs.
Die Frage ist nun, ob eine Nation mit so einer Unkultur im
Antidopingkampf an den Olympischen Sommerspielen in Rio
de Janeiro teilnehmen kann. Der
Chef des Internationalen Olympischen Komitee (IOC), Thomas
Bach, ist zumindest skeptisch.
Der Frankfurter Allgemeine
Zeitung sagte er am Mittwoch:
„Sollte es Hinweise auf ein organisiertes und flächendeckendes
Dopingsystem geben, das weitere Sportarten betrifft, müsste
das IOC die schwierige Entscheidung zwischen kollektiver Verantwortung und individueller
Gerechtigkeit treffen.“ Das Verfahren gegen die Sportgroßmacht ist noch in der Schwebe.
Die Manipulationen im Labor von Sotschi sollen von langer Hand geplant gewesen sein.
Urinproben wurden in nächtlichen Aktionen ausgetauscht, ei-
MOSKAU taz | Wütend und
gleichzeitig zerknirscht und gesprächsbereit reagiert das offizielle Russland auf die jüngste
Erklärung des Präsidenten des
Internationalen Olympischen
Komitees, Thomas Bach. Der
hatte angekündigt, das IOC
werde möglicherweise die gesamte russische Mannschaft
von der Teilnahme an den diesjährigen Olympischen Spielen
in Brasilien ausschließen, sollten sich die Dopingvorwürfe
des früheren Leiters des Moskauer Antidopinglabors, Gregori Rodschenkow, bestätigen
(siehe oben).
Dmitri Peskow, Pressesprecher von Wladimir Putin, reagierte sofort, bezeichnete die
Äußerungen von Rodschenkow
ganz im Stil des Kalten Krieges
als „Verleumdung eines Über-
Sie müssen vielleicht zu Hause bleiben: russische Athlet*Innen für Rio 2016. Die Turner Nemov und Khorkina, Volleyballcoach Alekno und Eiskunstläfuerin Navka (v. l.) Foto: Yuri Kochetkov/dpa
gentlich fälschungssichere Siegel gebrochen. Sauberer Urin
wurde in Fläschchen gefüllt und
neu etikettiert. Die Proben sollen durch ein Loch in der Wand
in einen als Abstellkammer deklarierten Raum weitergereicht
worden sein. Dort sei es zu den
Tricksereien gekommen, so Rodschenkow. Bereits im Herbst
2013 habe der russische Geheimdienst FSB begonnen, seinem Labor Besuche abzustatten,
um sich über die Behälter von
Dopingproben und deren Verschlüsse zu informieren.
„Überwachung war nicht unsere Aufgabe“, sagt Thevis heute,
„wir waren in erster Linie eingeladen, um die russischen Kollegen bei der Durchführung komplexer Analyseverfahren zu unterstützen.“ Es habe nicht jeder
Winkel ausgeleuchtet werden
können, jedenfalls nicht von ih-
nen, den Gästen im Labor von
Sotschi. Thevis ist Biochemiker,
kein Kriminalbeamter, außerdem war für ihn unvorstellbar,
dass Kollegen, die ja wie er Wissenschaftler sind, so perfide betrügen könnten. „Wenn der Urin
in der versiegelten Flasche war,
ist man bisher nicht davon ausgegangen, dass anschließende
Manipulationen
vergleichsweise schnell und einfach möglich sind. ohne sichtbare Spuren
zu hinterlassen“, sagt Thevis.
Jetzt müsse man jeden einzelnen Schritt in der Dopinganalytik hinterfragen. „Die Systematik des Betrugs, die hier beschrieben wurde, wäre schon
besonders.“ Aber es geht ja nicht
nur um diesen mutmaßlichen
Betrug von Sotschi. Der russische Sport steht seit vielen Monaten wegen diverser Dopingvergehen heftig unter Beschuss.
Das Märchen vom
gestohlenen Sieg
In Russland will man die DopingVorwürfe prüfen. Gegen eine Kollektivstrafe wehrt
man sich jedoch. Schlimmer sei das mit dem ESC
VERSCHWÖRUNG
läufers“, denen man nun wirklich keinen Glauben schenken
könne. Doch am gestrigen Mittwoch klangen die Statements
russischer Regierungsvertreter
wesentlich kleinlauter.
Russlands Sportminister Witali Mutko, der noch tags zuvor
die Vorwürfe „absurd“ genannt
hatte, gab sich gesprächsbereit. Das russische Sportministerium sei zu einer Zusammen-
arbeit mit der Welt-Antidopingagentur Wada bereit, teilte er der
Agentur in einem Schreiben mit.
Offensichtlich scheint es dem
Sportministerium nur noch darum zu gehen, das Worst-CaseSzenario eines kollektiven Ausschlusses zu verhindern. Jeder
Beteiligte müsse persönlich für
sein Verhalten geradestehen
und notfalls für dieses auch zur
Verantwortung gezogen werden,
Am Anfang der russischen
Staatssportkrise stand eine Enthüllungsdoku der ARD über Doping in der russischen Leichtathletikszene. Die Internationale Antidopingagentur Wada
ermittelte daraufhin. Als Konsequenz entzog die Wada dem
Moskauer Antidopinglabor im
Vorjahr die Zulassung. In dem
Wada-Bericht hatte Rodschenkow zugegeben, 1.417 Dopingproben russischer Sportler beseitigt zu haben. Er trat zurück
– und flüchtete in die USA, vielleicht auch, um dem Schicksal von Kollegen zu entgehen.
Der frühere Geschäftsführer
der russischen Antidoping­
behörde Rusada, Nikita Kamajew, starb überraschend im Alter
von nur 52 Jahren. Anfang Februar wurde der frühere RusadaFunktionär Wjatscheslaw Sinew
tot aufgefunden.
so Mutko. Es könne jedoch nicht
sein, dass Sportler, die sich ehrlich und gewissenhaft seit langer Zeit auf die Spiele vorbereitet hätten, nun in Kollektivverantwortung genommen werden.
In Anspielung an ein Zitat
Präsident Putins, der 2000
tschetschenischen Terroristen
gedroht hatte, sie an jedem beliebigen Ort zu vernichten, sie
sogar auf dem Abort „nass zu
machen“, schreibt das Internetportal gazeta.ru vor dem Hintergrund des Dopingskandals,
nun solle Russland auf dem
Klo nass gemacht werden – mit
Urin­proben.
„Überlegen, warum sie uns
fürchten und hassen“
Insgesamt wird die drohende
Sperrung der russischen Sportler bei der nächsten Olympiade
Russland scheint derzeit das
Epizentrum des Sportbetrugs zu
sein, aber im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele in Rio de
Janeiro häufen sich die Skandale
weltweit. Bei nochmaligen Tests
von Dopingproben, die bei den
Sommerspielen von Peking genommen worden waren, sind 31
Sportler aus zwölf Nationen erwischt worden, wie am Dienstag bekannt wurde. „Mehrere
Schockwellen scheinen derzeit
den Sport gleichzeitig zu treffen“, beobachtet Mario Thevis,
„das ist sicherlich nicht zuträglich für die Glaubwürdigkeit des
Sports. Um ehrlich zu sein, so
etwas habe ich in meiner Laufbahn noch nicht erlebt.“
Und dann ist da noch die Läufernation Kenia, die wegen zahlreicher Dopingverfehlungen in
der Kritik steht. Dutzende Sportler, darunter auch die dreimalige Siegerin des Boston-Marathons, Rito Jeptoo, wurden gesperrt. Kenia muss wegen des
mangelhaften Kampfes gegen
Doping das Olympia-Aus befürchten. Es könnten sehr spezielle olympische Leichtathletikwettkämpfe werden.
Mario Thevis wird in Rio
wieder nach Anabolika oder
Epo in den Körpersäften der
Sportler suchen. Der Dopingforscher hofft, dass dieses Labor keine „Abstellkammer“ hat.
Meinung + Diskussion SEITE 12
zwar in der Gesellschaft diskutiert, doch weitaus weniger emotional als der ukrainische Sieg
bei dem Gesangwettbewerb ESC.
„Viele Freunde haben wir nicht
in der Welt. Die Stimmung ist gegen uns. Das hat man beim ESC
gemerkt. Doch während man
uns den Sieg beim ESC gestohlen hat, glaube ich, dass hier am
Dopingverdacht ziemlich viel
Wahrheit an den Vorwürfen ist.
Vielleicht sollten wir uns auch
mal überlegen, warum sie uns
fürchten und hassen,“ meint Vitalij, ein Kellner im Café „Schokoladniza“.
Eine Rentnerin, die an der
U-Bahn-Station „Prospekt Vernadskogo“ auf ihren Bus wartet, schimpft auf das IOC. Die
Drohung, Russland von den
Olympischen Spielen zu sperren, sei ein weiterer Angriff auf
Russland. „Beim ESC hatten die
meisten Zuschauer für den russischen Kandidaten gestimmt.
Und trotzdem hat die Ukrainerin gewonnen. Nun wollen
sie uns auch unsere Siege nehmen, bevor wir überhaupt antreten können.“
Sergei, der als Wissenschaftler an der Moskauer Universität
MGU zu den Ursachen von Erdbeben forscht, glaubt, dass hier
wieder mal mit zweierlei Maß
gemessen werde. „Das mit dem
Doping ist so eine sehr undurchsichtige Sache. Wenn man kein
Dopingspezialist ist, kann man
die ganze Problematik auch
nicht verstehen. Wahrscheinlich ist an den Vorwürfen etwas
dran. Aber ich glaube nicht, dass
wir die Einzigen sind, die ihren
Siegen mit Doping nachgeholfen haben.“ BERNHARD CLASEN
Die Proben sollen
durch ein Loch in der
Wand in eine angebliche Abstellkammer
gereicht worden sein