Drohpotential gegen Russland

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
21./22. Mai 2016, Nr. 117
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n XYZ
Gläubigerstaaten und fügsame Arbeiterklasse. Lenin 1916 über Geldkapital und
soziale Bestechung. Klassiker
Kalte Füße. Ein Handelsblatt-Autor schreibt
Klartext zu US-Geopolitik und neuem Rüstungswettlauf. Von Arnold Schölzel
Bedrohtes Menschheitserbe. Ein Besuch
im antiken Hasankeyf in der Türkei.
Von Florence Hervé
Zukunft der Literatur, Zukunft des Realismus. Ein Essay aus Anlass einer Tagung in
Berlin. Von Enno Stahl
D
ie FDP hat mit HansDietrich Genscher und
Guido Westerwelle im
März zwei hochrangige
Mitglieder und ehemalige Funktionsträger verloren. Wie schwer
wiegt dies für Ihre Partei?
Es war ein ganz großer Verlust. HansDietrich Genscher war der bedeutendste
liberale Politiker der letzten Jahrzehnte.
Und Guido Westerwelle hat die FDP sehr
geprägt. Da wiegt die Trauer noch immer
schwer, aber wir sind als Partei nicht geschwächt.
Wie bewerten Sie den aktuellen
Zustand der FDP? Gehen Sie davon
aus, dass die Liberalen den Wiedereinzug in den Bundestag bei den
Wahlen im Herbst 2017 schaffen
können?
Die FDP ist jetzt auf einem guten Weg.
Wir sind besser aufgestellt, als dies noch
bei der Bundestagswahl 2013 der Fall war.
Auch 2014 stand noch mehr die Sinnfrage
im Raum. Jetzt haben wir jedoch wieder Fuß gefasst. Wir haben einige Wahlerfolge erzielt und stellen mit SPD und
Bündnis 90/Die Grünen in einer »Ampelkoalition« in Rheinland-Pfalz eine Landesregierung.
Jedoch müssen wir nach wie vor sehr
demütig sein, uns klar positionieren, aber
zugleich nicht polarisieren und radikalisieren. Sonst nehmen uns die Bürgerinnen und Bürger am Ende nicht ernst.
Wir müssen eine klare politische Linie
verfolgen. Gerade auch mit Blick auf die
Verteidigung der Freiheitsrechte.
Persönlich gelten Sie als eine der
letzten wahrnehmbaren Stimmen
des deutschen Linksliberalismus.
Wie marginalisiert ist Ihr Flügel eigentlich in der FDP?
Der ist überhaupt nicht marginalisiert.
Im Gegenteil. Es ist inzwischen mitten in
der Partei angekommen, dass ein bürgerrechtsorientierter Liberalismus uns auch
die Abgrenzung zu Volksparteien, sogenannten Volksparteien, aber auch zu Linken und Grünen und erst recht zur AfD
bietet. Das macht unseren eigenen Platz
im Parteienspektrum aus. Es gibt viele
junge Menschen, die mittlerweile voll dabei sind und sich in Sachen Bürgerrechte
in der FDP engagieren. Es findet auch
nicht mehr statt, dass das eine Thema
gegen das andere ausgespielt wird. Es ist
nicht mehr so, dass da die Wirtschaftsliberalen sind, da die Rechtsliberalen und
da die Bürgerrechtsliberalen. Diese Zeit
ist vorbei.
Wie groß ist die Gefahr, die von der
AfD für die Liberalen ausgeht?
Die FDP sah sich, als die AfD damals
noch von Bernd Lucke geführt wurde,
sehr wohl einem gewissen Wettbewerb
ausgesetzt. Vor allem in bezug auf gewisse ordnungspolitische Themen. Die
AfD hat sich jetzt jedoch in eine Richtung
Linksliberale
Ein Gespräch mit der früheren Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger (FDP) über den Aufstieg
der AfD sowie über Verfassungsschutz und
NSU. Außerdem: Klartext im Handelsblatt
über US-Geopolitik und neuen Rüstungswettlauf. Schwarzer Kanal
»Mit der
AfD kann
es keinerlei
Austausch
geben«
Gespräch
Mit Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Über den Aufstieg der Rechten,
Verfassungsschutz und NSU sowie
Berufsverbotsopfer der 1970er Jahre
n Fortsetzung auf Seite zwei
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
… war von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesministerin
der Justiz. Sie gilt als exponierte Vertreterin des linksliberalen Flügels
ihrer Partei. Aus Protest gegen die geplante akustische Wohnraumüberwachung im Rahmen des »Großen Lauschangriffs«, die von ihrer Partei bei einer Mitgliederbefragung befürwortet worden war, gab
sie 1996 ihr Amt als Ministerin auf. Von 2000 bis 2013 leitete sie den
Landesverband Bayern der FDP.
PICTURE ALLIANCE/CITYPRESS 24
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Schwarze Liste
Gigantisches Monopol
Offene Rechnungen
Fester Widerstand
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Ein Gespräch mit Bese Hozat (PKK)
über die mörderische Politik
Ankaras und die Rolle Europas
Kurden wütend auf Merkel
Türkisches Parlament stimmt für Aufhebung von Abgeordnetenimmunität.
Luftwaffe bombardiert Dörfer im Nordirak. Von Peter Schaber, Erbil, und Nick Brauns
D
Tel Aviv. Israels Verteidigungsminister Mosche Jaalon (Foto) ist am
Freitag von seinem Posten zurückgetreten. Als Grund nannte der
65jährige »schwere Auseinandersetzungen« mit dem rechtsnationalistischen Regierungschef Benjamin Netanjahu. Mit seinem Schritt
reagierte Jaalon auch auf Berichte,
der extrem rechte Exaußenminister
Avigdor Lieberman solle ihn im
Amt ablösen. Die Regierungspartei
Likud plant nun, die Partei von
Lieberman, Unser Haus Israel, mit
in die Koalition aufzunehmen.
Bei seinem Rücktritt hatte
Jaalon, Mitglied des Likud, vor
einer gefährlichen Radikalisierung
Israels gewarnt. »Leider haben
extremistische Kräfte die Kontrolle
unseres Landes und des Likud an
sich gerissen«, sagte er vor Journalisten in Tel Aviv. (dpa/jW)
EPA/STR/DPA - BILDFUNK
as türkische Parlament hat am
Freitag mit großer Mehrheit
für die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten gestimmt, denen Straftaten vorgeworfen werden. Betroffen sind rund ein Viertel aller Abgeordneten. Die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan geforderte Verfassungsänderung zielt allerdings auf den
Ausschluss der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus
dem Parlament. Gegen 50 von 59 HDPAbgeordneten liegen Anzeigen nach
dem Antiterrorgesetz vor, ihnen drohen
nun Verhaftungen und Anklagen. 376
von 550 Abgeordneten stimmten für
das Gesetz, 138 dagegen. Die restlichen
Abgeordneten enthielten sich, wählten
ungültig oder blieben der Abstimmung
fern. Die notwendige Zweidrittelmehrheit kam nur zustande, weil neben der
religiös-nationalistischen Regierungspartei AKP und der faschistischem
MHP noch mindestens 19 Abgeordnete
der kemalistisch-sozialdemokratischen
CHP zustimmten.
In der Nacht zum Freitag bombardierte die türkische Luftwaffe erneut
Dörfer in den nordirakischen Kandilbergen nahe dem Hauptquartier der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In
Reaktion auf den seit Monaten andauernden Beschuss von Wohngebieten
durch die türkischen Streitkräfte hatte
die PKK-Guerilla in den vergangenen
Tagen eine Reihe von Angriffen gegen
Einrichtungen des türkischen Militärs
durchgeführt, bei denen Dutzende Soldaten getötet wurden. Erst nachdem die
Guerilla entsprechende Videos veröffentlicht hatte, bestätigte die Armeeführung nach einer Woche auch den
Abschuss eines Kampfhubschraubers.
Im Gespräch mit junge Welt kündigte
Bese Hozat, Kovorsitzende der aus der
Siehe Kommentar Seite 8
Ankara am Freitag: Oppositionsabgeodnete protestieren im Parlament gegen die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität
PKK hervorgegangenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), eine
Ausweitung der Guerilla-Aktionen an:
»Wir haben beschlossen, den Kampf
in Nordkurdistan sowie in der Türkei
zu intensivieren und zu radikalisieren.«
Im Winter habe die Guerilla nicht voll
in die Kämpfe eingreifen können, jetzt
aber habe man die volle Bewegungsfreiheit zurück. »Also werden die Aktionen
sowohl auf dem Land, als auch in den
Städten sowie in türkischen Metropolen
zunehmen.«
Die Angriffe der Türkei werte man
als »Vernichtungspolitik«: »Es werden
Massaker verübt. In Cizre wurden etwa
400 Menschen ermordet, sie wurden
bei lebendigem Leibe verbrannt. In Sur
waren es ungefähr 100 Zivilisten, die
auf diese Weise ermordet wurden«, so
Hozat. »Vielerorts in Kurdistan, zum
Beispiel in Hezex, in Nusaybin wurden Massaker verübt. In ganz Kurdistan
gibt es Angriffe, Massaker, Verhaftungen und Folter. Selbst Leichen werden
geschändet. Solche Greueltaten, solche
Verbrechen gegen die Menschheit, solche Kriegsverbrechen werden von der
AKP und dem türkischen Staat begangen.«
Scharf kritisierte Hozat die Kollaboration Brüssels und Berlins mit dem
Regime in Ankara. »Deutschland hat
die AKP sehr aktiv unterstützt, und
unterstützt sie immer noch. Vor allem Angela Merkel. Die Kurden sind
sehr wütend über Merkels Politik.« So
rechtfertigte der Leiter des Istanbuler
Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, Colin Dürkop, gegenüber Deutschlandradio Kultur in dieser
Woche das Vorgehen gegen die HDPAbgeordneten als Teil des »laufenden
Antiterrorkampfes«. Das von Erdogan
angestrebte Präsidialsystem sieht Dürkop positiv, da es dann nur noch einen
Ansprechpartner gebe. »Es wird dann
keine Spannungen und keine Reibereien mehr geben zwischen dem Staatspräsidenten und dem Regierungschef.«
Siehe Interview Seiten 12/13
Drohpotential gegen Russland
Die Europäische Union und die NATO wollen ihre militärische Kooperation ausbauen
N
achdem die NATO sich am
Donnerstag Montenegro einverleibt hat, wurde am Freitag
auf dem zweitägigen Treffen der Außenminister der westlichen Kriegsallianz eine engere Kooperation mit der
Europäischen Union (EU) beschlossen.
Spätestens bis zum NATO-Gipfel in
der polnischen Hauptstadt Warschau
am 8. und 9. Juli sollen die »Felder«
benannt werden, auf denen die militärische Zusammenarbeit ausgebaut werden soll. Dazu soll auf dem Treffen der
EU-Staats- und Regierungschefs Ende
Juni eine neue »Sicherheitsstrategie«
Verteidigungsminister
­Israels zurückgetreten
MICHAEL KAPPELER/DPA-BILDFUNK
Lettische Regierung sieht in deutschen Bayer will Saatgutkonzern Monsanto
Polens rechte Regierung hat Probleme
Antifaschisten Gefahr für öffentschlucken. Der ist auch Marktfühmit ihren Wahlversprechen.
liche Ordnung. Von Ulla Jelpke
rer bei Unkrautgift Glyphosat
Von Reinhard Lauterbach
formuliert werden. Grundlage der »einzigartigen Partnerschaft« zwischen EU
und NATO seien die »gemeinsam geteilten Werte«, erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag in
Brüssel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Außenkommissarin
Federica Mogherini.
Bereits jetzt kooperiert die EU eng
mit der NATO. Seit Februar gibt es
zwei Abkommen. Eines betrifft den
Bereich »Cybersicherheit«. Das andere regelt den Marineeinsatz in der
Ägäis, der angeblich zur Abwehr von
»Schleusern« dient. Mogherini be-
tonte, die beiden imperialistischen
Mächte werden ihre Kooperation bei
der »maritimen Sicherheit« sowohl
im Mittelmeer wie auch »in anderen
Teilen der Welt« verstärken.
Um die EU weiter an die NATO zu
binden, nahmen am Freitag in Brüssel
auch die Außenminister von Schweden
und Finnland an dem Treffen teil. Die
beiden EU-Staaten sind nicht Mitglied
des westlichen Militärbündnisses.
Am Donnerstag haben sich die
NATO-Außenminister über das Ver­
hältnis zu Russland verständigt. Vor
allem die USA und die osteuropäischen
Mitgliedsstaaten setzen weiterhin auf
Konfrontation. Dazu soll die Truppenpräsenz an der Ostgrenze des Kriegspakts ausgebaut werden. Georgien und
Moldawien soll zudem »beim Aufbau
von Kapazitäten geholfen« und die
Ukraine bei ihren »laufenden Reformen« unterstützt werden. Gleichzeitig
wurde auf Druck der Bundesrepublik
vereinbart, Moskau zu einer Sitzung
des NATO-Russland-Rates noch vor
dem Gipfel in Warschau einzuladen.
Damit sollen »die Wege für einen politischen Dialog offen bleiben«, erklärte
Stoltenberg.
Roland Zschächner
Hohe Steuereinnahmen
für Bund und Länder
Berlin. Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums vom Freitag
legten die Steuereinnahmen im
April gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,6 Prozent auf rund
46,3 Milliarden Euro zu. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum der
ersten vier Monate 2015 waren sie
um 5,7 Prozent höher. »Erhebliche
Zuwächse bei den Steuern vom
Umsatz sowie bei der Lohnsteuer
bilden die Basis dieser positiven
Entwicklung«, schrieben die Beamten des Finanzministeriums in
ihrem neuen Monatsbericht. »Auch
das Ergebnis der Körperschaftssteuer hat sich im Berichtsmonat
wieder sehr positiv entwickelt.«
Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble (CDU) sprach sich am
Freitag für Steuersenkungen nach
der Bundestagswahl aus, »um etwa
die zu hohe Besteuerung bei mittleren Einkommen zusammen mit
den Sozialversicherungsabgaben
zu senken«, sagte er am Rande des
G-7-Finanzministertreffens im japanischen Sendai. (Reuters/dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.832 Genossinnen und
Genossen (Stand 29.4.2016)
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