Schwester Magdalena Winghofer, Mainz Zuspruch am Morgen in hr2-kultur, Mittwoch, 18.5.2016 Hörwunder Unsere junge Mitbewohnerin aus Eritrea spricht Tigrinja. Davon habe ich noch nie etwas gehört, bevor ich sie kennengelernt habe. Und ihre Schriftzeichen sehen für mich auch wahnsinnig kompliziert aus. Zum Glück kann sie auch ein paar Brocken Englisch und lernt langsam auch immer mehr deutsche Wörter – so können wir uns wenigstens ein bisschen verständigen. Die für sie wichtigsten deutschen Wörter hat sie schnell gelernt: „Ausländerbehörde“ und „Ausweis“. Dann kamen die alltagspraktischen Wörter wie Uhrzeiten und Nahrungsmittel. Ich staune, wie sie lernt, und freue mich mit ihr über jedes neue Wort. Aber je mehr wir uns kennenlernen, umso öfter stoßen wir auch an die Sprachgrenzen: Gerne würde ich mehr von ihr erfahren, würde wissen, wie es ihr geht. Gerne würde ich in ein echtes Gespräch mit ihr eintreten. Aber dann stehen wir manches Mal beide da und schauen uns hilflos an – wir möchten uns etwas mitteilen und können es nicht ausdrücken. In solchen Momenten wünschte ich mir ein pfingstliches Sprachenwunder. So wie damals vor zweitausend Jahren. Da waren Völker versammelt, deren Namen schon fast Zungenbrecher sind: Parther, Meder und Elamiter, Menschen aus Mesopotamien, Kappadozien, Phrygien und Pamphylien und noch viele andere. Und unter ihnen ein paar der Jünger Jesu, also Israeliten. Was für ein Sprachenwirrwarr! Bis der Heilige Geist vom Himmel kam und die Jünger Jesu erfüllte. Und plötzlich können alle sie verstehen! Als Jugendliche fand ich das toll. Ich habe mir vorstellt, wie das wohl war: Plötzlich hätte ich all die vielen Sprachen sprechen können – Tigrinja zum Beispiel. Erst im Studium habe ich diese Geschichte dann ganz genau gelesen und gelernt: Da steht überhaupt nicht, dass die Jünger Jesu plötzlich ganz viele Sprachen sprechen konnten. Da steht, dass die Zuhörer sie jeder in seiner Sprache hören konnte. Es ist also viel eher ein Hörwunder als ein Sprachenwunder: Die Menschen konnten die Jünger in ihrer Sprache hören. Also in einer Weise, die für sie verständlich war. Sie konnten verstehen, was die Jünger ihnen sagen wollten. Dieses Hörwunder ist vielleicht nicht ganz so spektakulär wie es ein Sprachenwunder wäre. Aber dafür erlebe ich es manchmal auch mit unserer eritreischen Mitbewohnerin: Ich verstehe zwar nicht, was sie mir mit ihren Worten sagen will. Aber ich verstehe ihr Gesicht. Und sie versteht meines. Und so können wir uns miteinander freuen oder auch einander trösten. Zwischen all den mühsamen Verständigungsversuchen im Alltag sind diese Momente für mich kleine Pfingstwunder. Zum Nachhören als Podcast http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/index.jsp?rubrik=22644
© Copyright 2025 ExpyDoc