Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 2015

Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie
Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie
Herausgeberinnen und Herausgeber:
Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster;
Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Klagenfurt
Verantwortliche Herausgeber:
Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale
Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg
Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und
-psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster
Redakteur: Dipl.-Psych. Kay Niebank (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Hartwigstr. 2c,
D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected]
Gegründet von A. Dührssen und W. Schwidder
Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl,
M. Müller-Küppers, W. Schwidder, I. Seiffge-Krenke, F. Specht, A. Streeck-Fischer
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Die Zeitschrift wird regelmäßig von den Literaturdatenbanken DIMDI, ETHMED, Psyc-INFO und
PSYNDEX und den Referatediensten „Current Contents“ (SSCI), „Psychological Abstracts“ und
„Psychologischer Index“ ausgewertet.
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier.
ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225
1 Beilage: Hogrefe
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Inhalt
Originalarbeiten / Original Articles
Gerolf Renner und Manfred Mickley
Berücksichtigen deutschsprachige Intelligenztests die besonderen
Anforderungen von Kindern mit Behinderungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Do Current German-Language Intelligence Tests Take into Consideration the Special
Needs of Children with Disabilities?
Sandra Schmiedeler, Luisa Klauth, Robin Segerer und Wolfgang Schneider
Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . 104
Relationship Between Age of School Entry and Behaviour Problems
Julia Jaščenoka, Franziska Korsch, Franz Petermann und Ulrike Petermann
Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen
Entwicklungsstörungen und ADHS im Vorschulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Cognitive Profiles of Preschool Children with Developmental Coordination Disorders
and ADHD
Harald Werneck, Maximilian O. Eder, Simone Ebner und Sonja Werneck-Rohrer
Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden in getrennten und
nicht-getrennten Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Father-Child-Contact and Well-being of the Children in Separated and Non-Separated Families
Autoren und Autorinnen / Authors 152 | Neuere Testverfahren / Test Reviews 154
Buchbesprechungen / Book Reviews 160 | Tagungskalender / Congress Dates 169
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes / Preview of the next Issue 169
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 87 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
ORIGINALARBEITEN
Berücksichtigen deutschsprachige Intelligenztests die
besonderen Anforderungen von Kindern mit Behinderungen?
Gerolf Renner und Manfred Mickley
Summary
Do Current German-Language Intelligence Tests Take into Consideration the Special Needs of
Children with Disabilities?
A review of 23 German intelligence test manuals shows that test-authors do not exclude the use
of their tests for children with disabilities. However, these special groups play a minor role in the
construction, standardization, and validation of intelligence tests. There is no sufficient discussion and reflection concerning the issue which construct-irrelevant requirements may reduce
the validity of the test or which individual test-adaptations are allowed or recommended. Intelligence testing of children with disabilities needs more empirical evidence on objectivity, reliability, and validity of the assessment-procedures employed. Future test construction and validation
should systematically analyze construct-irrelevant variance in item format, the special needs of
handicapped children, and should give hints for useful test-adaptations.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 88-103
Keywords
intelligence testing – test fairness – children with disabilities
Zusammenfassung
Eine Analyse von 23 Manualen deutschsprachiger Intelligenztests zeigt, dass die Anwendung
dieser Verfahren bei behinderten Kindern von den Testautoren überwiegend nicht ausgeschlossen wird. Behinderte Kinder spielen dennoch nur eine marginale Rolle bei der Konstruktion,
Normierung und Validierung der einbezogenen intelligenzdiagnostischen Instrumente. Eine
spezifische Diskussion und Reflexion, welche konstrukt-irrelevanten Zugangsfertigkeiten den
Einsatz und die Aussagekraft der Verfahren beeinflussen könnten, oder welche Durchführungsveränderungen zulässig sind, findet nur ansatzweise statt. Intelligenzdiagnostik bei Kindern mit
Behinderungen kann derzeit nur begrenzt auf Basis gesicherter Erkenntnisse über die Gütekriterien der eingesetzten standardisierten Tests erfolgen. Bei der Testkonstruktion und ValidiePrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 88 – 103 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Intelligenztests und die besonderen Anforderungen behinderter Kinder�����
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rung sollten künftig die besonderen Voraussetzungen von Kindern mit Behinderungen durch
eine entsprechende Aufgabenkonstruktion, eine systematische Analyse der Zugangsfertigkeiten
und Angaben zu möglichen Testadaptationen besser berücksichtigt werden.
Schlagwörter
Intelligenztestung – Testfairness – behinderte Kinder
1
Hintergrund
Intelligenztests für Kinder und Jugendliche werden in Deutschland überwiegend
in klinischen und Beratungskontexten eingesetzt (z. B. Frühförderung, Sozial- und
Neuropädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, schulpsychologische Beratung). Eine
zumindest orientierende Intelligenzdiagnostik wird unter anderem in den Leitlinien
zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und
Jugendalter (DGKJPP et al., 2007) bei vielen psychischen und Entwicklungsstörungen
als obligat angesehen. Die Erfassung des kognitiven Entwicklungsstandes spielt bei
der Auswahl von Förder- und Behandlungsmaßnahmen, bei neuropsychologischen
Fragestellungen und in der sonderpädagogischen Diagnostik eine bedeutende Rolle.
Psychometrische Testungen ohne spezifische Indikation sind weitgehend unüblich.
Mit wenigen Ausnahmen wie z. B. in der Hochbegabungsdiagnostik werden Intelligenztests vor allem bei Kindern eingesetzt, die in einem, oft auch in mehreren Entwicklungsbereichen beeinträchtigt sind. Ziel der Intelligenzdiagnostik ist dabei nicht nur, etwaige kognitive Funktionsbeeinträchtigungen zu erkennen, sondern auch Stärken eines
Kindes klarer zu markieren. Behandlungsmaßnahmen und Platzierungsentscheidungen,
die aus Testbefunden abgeleitet oder von Testbefunden beeinflusst werden, haben möglicherweise für die Betroffenen langfristige und lebensbeeinflussende Konsequenzen.
Bei Kindern mit Intelligenzminderungen und/oder Sinnes- oder Körperbehinderungen setzt der verantwortungsvolle Einsatz intelligenzdiagnostischer Verfahren
zum einen voraus, dass bei der Konstruktion von Testverfahren die spezifischen Bedingungen behinderter Kinder berücksichtigt werden, da bei ihnen häufig Einschränkungen bei den so genannten Zugangsfertigkeiten vorliegen können. Zum anderen
sollte die psychometrische Qualität der eingesetzten Tests gesichert und eine valide
Testinterpretation gewährleistet sein.
Als Zugangsfertigkeiten (Kasten 1) werden alle Fertigkeiten bezeichnet, die vorhanden sein müssen, um eine Testaufgabe überhaupt erfassen und bewältigen zu können.
Typische Beispiele sind die Sehfähigkeit bei visuell und die Hörfähigkeit bei auditiv präsentierten Items. Zugangsfertigkeiten werden abgegrenzt von den Zielfertigkeiten, die
jene Leistungen bezeichnen, die der Test eigentlich erfassen soll, z. B. Intelligenzfaktoren
wie Visuelle Verarbeitung und Kristalline Intelligenz. Kinder mit Behinderungen weisen
in unterschiedlichem Maß Beeinträchtigungen in Zugangsfertigkeiten auf, sodass sie –
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G. Renner, M. Mickley
unabhängig von ihren intellektuellen Fähigkeiten – bestimmte Intelligenztestaufgaben
nicht oder nur eingeschränkt bewältigen können. Damit werden Fragen der Fairness
von Intelligenztests und der Konstruktvalidität für spezifische Populationen angesprochen (vgl. Messick, 1998). Eine faire Testung liegt vor, wenn es zu keiner systematischen
Benachteiligung bestimmter Personen kommt (Moosbrugger u. Kelava, 2007) und
wenn Testwerte eines Verfahrens für verschiedene Subpopulationen die gleiche Bedeutung und die gleichen Konsequenzen haben. Niedrige Werte in Intelligenztests sollten
niedrige intellektuelle Fähigkeiten der untersuchten Person widerspiegeln und nicht auf
behinderungsbedingt reduzierte Zugangsfertigkeiten zurückzuführen sein.
Kasten 1: Ausgewählte Zugangsfertigkeiten
•
•
•
•
•
Hörfähigkeit
Sehfähigkeit
Motorik: insbesondere manuelle Fertigkeiten wie Gegenstände greifen, Umgang mit Stift etc.
Sprache: Artikulation, Sprechmotorik, Sprachverständnis
Interaktion: Akzeptanz und Umsetzen von Anweisungen, Nachfragen bei nicht verstandenen
Anweisungen etc., Ausdrücken persönlicher Bedürfnisse
• Aufmerksamkeit, Ausdauer
• Lesefertigkeit, Lesegeschwindigkeit
Zu psychometrischen Eigenschaften von Testverfahren werden in der Regel in Testmanualen mehr oder weniger umfangreiche Daten vorgelegt, die überwiegend an Normierungsstichproben gewonnen wurden. Allerdings kann nicht ohne weiteres davon
ausgegangen werden, dass diese Daten auf Populationen behinderter Kinder übertragen werden können. Zur Sicherung der Qualität diagnostischer Entscheidungen bei
Kindern mit Behinderungen sind spezifische Befunde zur Objektivität, Reliabilität
und Validität erforderlich.
Bei Kindern mit Störungen der kognitiven Entwicklung ist außerdem zu beachten,
ob Bodeneffekte die Interpretierbarkeit von Testbefunden beeinträchtigen. Bodeneffekte liegen vor, wenn ein Test nicht genügend Items im unteren Schwierigkeitsbereich
enthält, sodass (weit) unterdurchschnittliche Testleistungen nicht mehr ausreichend
abgebildet werden können. Außerdem kann die Testmotivation gefährdet werden, da
bei Fehlen leichter Items vor allem Misserfolge erlebt werden.
Auch aus berufsethischen Erwägungen sollte es selbstverständlich sein, dass für jedes Kind eine für die jeweilige Fragestellung angemessene und faire Untersuchung der
kognitiven Leistungsfähigkeit angestrebt wird (vgl. AERA, APA, NCME, 1999). Dazu
gehört unseres Erachtens auch, dass ohne zwingende Gründe keine Abstriche bei den
Qualitätsanforderungen an psychometrische Verfahren gemacht werden dürfen: Behinderte Kinder haben den Anspruch, dass eine Intelligenz- und Leistungsdiagnostik
zu ebenso reliablen und validen Ergebnissen führt wie bei nichtbehinderten Kindern.
Dazu müssen bei der Interpretation von Intelligenztests auch die Besonderheiten atypischer Entwicklungsverläufe berücksichtigt werden, damit Testergebnisse nicht zur
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Quelle unangemessener Empfehlungen oder unerwünschter Nebenwirkungen werden können (vgl. Sarimski, 2009).
Eine mangelnde Passung zwischen den diagnostischen Herausforderungen, die sich
bei behinderten Kindern und den zur Verfügung stehenden diagnostischen Verfahren
ergibt, ließe sich auf zwei Arten auflösen: Zum einen können behinderte Kinder als
„nicht testbar“ etikettiert werden. Eine psychometrische Erfassung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und damit eines bedeutsamen und empirisch gut erforschten Prädiktors
unterbliebe, diagnostische Urteile beruhten dann auf informellen Verfahren mit unbekannter Testgüte oder ausschließlich auf subjektiven Wertungen. Zum anderen wäre zu
überlegen, inwieweit für diese Kinder nicht umgekehrt das Angebot an Testverfahren
ungeeignet ist. Konsequenterweise wäre dann zu fordern, dass eine ausgrenzende Testdiagnostik durch eine Erweiterung und Verbesserung der Testverfahren zu vermeiden ist.
2
Fragestellung
Der Frage, inwieweit aktuelle deutschsprachige Intelligenztests bei der Testentwicklung und -validierung die besonderen Anforderungen an die Diagnostik kognitiv,
motorisch und/oder sinnesbeeinträchtigter Kinder berücksichtigen, soll durch eine
Analyse der Manuale von verbreiteten Testverfahren nachgegangen werden. Dabei
werden folgende Leitfragen gestellt:
1. Wird die Untersuchung von Kindern mit Behinderungen als Einsatzbereich des
Testverfahrens explizit benannt?
2. Inwieweit wurden Kinder mit Behinderungen bei der Normierung berücksichtigt?
3. Wird diskutiert, welche Zugangsfertigkeiten die Untertests des jeweiligen Testverfahrens voraussetzen?
4. Werden zur Sicherung der Durchführungsobjektivität spezifische Instruktionen für
die Testung von Kindern mit Behinderungen angeboten und/oder werden Hinweise zu zulässigen Adaptationen bei der Testdurchführung gegeben?
5. Wurde die Reliabilität des Testverfahrens bei Kindern mit Behinderungen überprüft?
6. Wurde die Validität des Testverfahrens bei Kindern mit Behinderungen überprüft?
7. Werden bei den Hinweisen zur Testinterpretation mögliche Gefährdungen der
Testfairness bei Kindern mit Behinderungen thematisiert?
8. Bestehen Bodeneffekte, die bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen eine
Differenzierung im unteren Leistungsbereich beeinträchtigen?
3
Methode
Von den Autoren wurden 23 Testmanuale von allgemein zugänglichen standardisierten und normierten deutschsprachigen intelligenzdiagnostischen Verfahren für Kin-
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G. Renner, M. Mickley
der und Jugendliche durchgesehen (Tab. 1). Für die Auswahl der Verfahren wurden die
Internetseiten von Testverlagen und diagnostische Lehrbücher sowie die Testdatenbank PSYNDEX (Recherchedatum 27.08.2014, Suchsyntax: SH = „2.3 Intelligenztests
für Kinder“ LA = „German“ PY >= 1990) herangezogen. Nicht berücksichtigt wurden
Gruppentests (mit Ausnahme der auch häufig in der Individualdiagnostik eingesetzten Verfahren CFT 1-R und CFT 20-R), Testverfahren, die vor 1990 erschienen sind
und seitdem nicht mehr neu normiert wurden, sowie Verfahren, die ausschließlich
zur Untersuchung hochbegabter Kinder und Jugendlicher konzipiert wurden.
In einem ersten Schritt wurden von beiden Autoren unabhängig alle Textstellen
erfasst, in denen auf Kinder mit Behinderung und auf die oben genannten Leitfragen Bezug genommen wurde. Die Ergebnisse wurden verglichen und bei mangelnder
Übereinstimmung durch eine erneute Durchsicht der Testmanuale überprüft.
Empirische Daten zu psychometrischen Gütekriterien wurden nur dann berücksichtigt, wenn die Stichprobenbeschreibung eindeutig erkennen ließ, dass es sich um
Kinder mit geistigen, körperlichen oder Sinnesbehinderungen handelte. Bei weit gefassten Diagnosekategorien wie „Entwicklungsverzögerung“ oder „Entwicklungsstörung“ oder unspezifischen Beschreibungen wie „klinische Stichprobe“ sowie bei Kindern, die als lernbehindert bezeichnet wurden, galt dieses Kriterium als nicht erfüllt.
Zur Beurteilung der Bodeneffekte auf Ebene der Untertests wurden alle Normtabellen
der Testmanuale inspiziert. Für jede Altersgruppe und jeden Untertest wurde der dem
Testrohwert 1 (bzw. dem niedrigsten, von Null abweichenden Testrohwert) zugeordnete Standardwert abgelesen. Als Kriterium wurde festgelegt, dass der entsprechende
Untertest als frei von Bodeneffekten bezeichnet werden soll, wenn dieser Standardwert
drei oder mehr Standardabweichungen unter dem Mittelwert lag (entsprechend einem
IQ-Wert ≤ 55 bzw. einem Prozentrang ≤ 0,13). Als leicht, deutlich und extrem wurden
Bodeneffekte bewertet, wenn der entsprechende Standardwert in die IQ-Bereiche 56-70,
71-85 und ≥ 86 fiel. Waren für den Testrohwert 1 keine Standardwerte tabelliert, wurde
der niedrigste in der Normtabelle ablesbare Standardwert herangezogen.
4
Ergebnisse
Leitfrage 1: Einsatzbereich der Testverfahren
Bei den Empfehlungen zum Einsatzbereich des jeweiligen diagnostischen Verfahrens
werden Kinder mit Behinderungen teilweise nicht erwähnt, teilweise werden bestimmte
Behinderungsformen explizit ein- oder ausgeschlossen (vgl. Tab. 1, nächste Doppelseite):
• In der Mehrheit der Testmanuale (52 %) wird die Anwendung bei Kindern mit
Behinderungen weder ausgeschlossen noch beansprucht. In einigen Testmanualen
finden sich weit gefasste oder unspezifische Beschreibungen der Anwendungsbereiche wie „allfällige Entwicklungsverzögerungen“ (Manual der IDS, S. 138) oder
„Entwicklungsdefizite, die eine adäquate Auseinandersetzung mit Umweltanforderungen beeinträchtigen“ (Manual des WET, S. 13).
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• Bei circa 30 % der Verfahren finden sich ausdrückliche Hinweise, dass sie auch
bei Kindern mit Behinderungen einsetzbar seien. Diese Empfehlungen betreffen
Kinder mit Körperbehinderungen (CPM, WPPSI-III), Hörbehinderungen (CPM,
K-ABC, SON-R 2½-7, SON-R 6-40), Sprachbehinderungen (CPM, K-ABC, PSB-R
4-6, SON-R 2½-7, SON-R 6-40) und geistigen Behinderungen (CPM, K-TIM,
SON-R 2½-7, SON-R 6-40). Kein Verfahren beansprucht, für die Anwendung bei
Kindern mit Sehbehinderungen geeignet zu sein.
• Spezifische Ausschlüsse hinsichtlich des Einsatzbereiches finden sich für Kinder mit geistigen Behinderungen (BUEGA, BUEVA-II, CFT 1-R), Körperbehinderungen (SON-R 2½-7, SON-R 6-40) und Sehbehinderungen (K-ABC, SON-R
2½-7, SON-R 6-40). Die drei letztgenannten Verfahren sind die einzigen, bei denen
sowohl ihre Eignung als auch ihre Nichteignung bei bestimmten Behinderungsformen diskutiert wird. In 74 % der Testmanuale werden keine Einschränkungen
des Einsatzbereichs benannt, davon weisen zwei (WISC-IV, WPPSI-III) pauschal
darauf hin, dass im Einzelfall andere Verfahren genutzt werden sollten.
• Nur im Manual des PSB-R 6-13 wird angegeben, dass es „nicht zentral zur Feststellung der Förderbedürftigkeit“ konzipiert worden sei (Manual, S. 68).
Leitfrage 2: Einbezug behinderter Kinder in die Normierungsstichprobe
Ein expliziter Einschluss behinderter Kinder in die Normierungsstichprobe des jeweiligen diagnostischen Verfahrens fand sich bei der K-ABC, bei deren Normierung
versucht wurde, „… systematisch lernbehinderte, geistig retardierte, sprach- oder
sprechgestörte … Kinder … in die Normierungsstichprobe aufzunehmen …“ (Interpretationshandbuch, S. 17), ohne dabei auf Kinder mit schwereren motorischen
Einschränkungen einzugehen.
In circa 43 % der Tests fanden sich hierzu in den Manualen gar keine, in 22 % unpräzise Angaben wie z. B. Kinder aus Sonder- oder Förderschulen (CFT 1-R, CFT 20-R,
WISC-IV) oder Probanden mit einer medizinischen Diagnose (K-TIM). Bei 30 % der
Verfahren (z. B. KET-KID, SON-R 2½-7 und SON-R 6-40) wurden behinderte Kinder
aus der Normierungsstichprobe ausgeschlossen. Der SON-R 2½-7 reklamiert einerseits den Einsatz bei geistig behinderten Kindern, schließt diese aber andererseits bei
der Normierung aus (Manual, S. 28).
Leitfrage 3: Diskussion von Zugangsfertigkeiten
In keinem der eingesehenen Manuale erfolgt für alle Untertests eine systematische
und differenzierte Darstellung der erforderlichen Zugangsfertigkeiten, wie sie etwa
Braden und Elliott (2003) für die „Stanford-Binet Intelligence Scales, Fifth Edition“ (SB-5; Roid, 2003) vorgelegt haben. In der Mehrzahl der Manuale (70 %) wird
nur bei einzelnen Untertests die Frage diskutiert, inwieweit konstrukt-irrelevante
Zugangsfertigkeiten einen Einfluss auf die zu erzielenden Testergebnisse haben
könnten. Die sprachfrei durchführbaren Verfahren wie SON-R 2½-7 und SON-R
6-40 sowie der CFT 1-R und die K-ABC thematisieren explizit sprachliche Zu-
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K-CAB. Kaufman – Computerized Assessment Battery (Petermann, 2010)
K-TIM. Kaufman-Test zur Intelligenzmessung für Jugendliche und Erwachsene
(Melchers, Schürmann, Scholten, 2006)
KET-KID. Kognitiver Entwicklungstest für das Kindergartenalter (Daseking u.
Petermann, 2009)
KFT 4-12+ R. Kognitiver Fähigkeitstest für 4. bis 12. Klassen, Revision (Heller u.
Perleth, 2000)
KLI 4-5 R. Kombinierter Lern- und Intelligenztests für 4. und 5. Klassen. Revidierte Form (Schröder, 2005)
LPS-2. Leistungsprüfsystem 2 (Kreuzpointner, Lukesch, Horn, 2013)
IDS. Intelligence and Development Scales (Grob, Meyer, Hagmann-von Arx,
2009)
IDS-P. Intelligence and Development Scales – Preschool (Grob, Reimann, Gut,
Frischknecht, 2013)
K-ABC. Kaufman-Assessment Battery for Children (Melchers u. Preuß, 2009)
AID 3. Adaptives Intelligenzdiagnostikum 3 (Kubinger u. Holocher-Ertl, 2014)
BIVA. Bildbasierter Intelligenztest für das Vorschulalter (Schaarschmidt, Ricken,
Kieschke, Preuß, 2004)
BUEGA. Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungs­störungen im Grundschulalter (Esser, Wyschkon, Ballaschk, 2008)
BUEVA-II. Basisdiagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen für das Vorschulalter – Version II (Esser u. Wyschkon, 2012)
CFT 1-R. Grundintelligenztest Skala 1- Revision (Weiß u. Osterland, 2012)
CFT 20-R. Grundintelligenztest Skala 2 – Revision (Weiß, 2008)
CPM. Coloured Progressive Matrices (Raven, Raven, Court, 2002)
Testverfahren
GB, HB, KB,
SprBc
keine
keine
keine
keine
keine
keine
ESb: HB, SprB
AS: SB
keine Angaben
ES: GB
keine Angaben
keine Angaben
keine Angaben
keine Angaben
keine Angaben
keine
keine
keine
keine
keine
keine
AS: GBa
keine Angaben
ES: GB, HB, KB,
SprB
keine Angaben
Asperger-Autismus
Trisomie 21
keine
keine
AS: GB
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
AS: GB
Sonstige
Validitätsdaten
keine
keine
Daten zur differenziellen Validität
keine
keine
Einsatz bei Kindern
mit Behinderungen
keine Angaben
keine Angaben
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
keine
Reliabili­
tätsdaten
keine
keine
Tabelle 1: Angaben zum Einsatz sowie zur Validität und Reliabilität bei Kindern mit Behinderungen in Testmanualen ausgewählter Intelligenztests
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G. Renner, M. Mickley
ES: KB
AS: im Einzelfall
AS: im Einzelfall
GB, KB
keine
keine
keine
keine
keine
Autismus, Neuro­ keine
fibro­matose I,
Trisomie 21
GB
keine
keine
keine
keine
keine
GB, HB
ES: HB, SprB, GB
AS: SB, KB
ES: HB, SprB, GB
AS: SB, KB
keine Angaben
keine
keine
keine
keine
AS: alle
HB
SprBd
ES: SprB
Anmerkungen. a) Kein expliziter Ausschluss, es wird aber deutlich auf Überforderungssymptome bei einer kleinen Stichprobe geistig behinderter
Kinder hingewiesen. b) Bezogen auf die Nonverbale Skala der K-ABC. c) US-amerikanische Daten. d) Schülerinnen aus Schulen zur individuellen
Sprachförderung. ES = Einschluss, AS = Ausschluss, GB = Geistige Behinderung, HB = Hörbehinderung, KB = Körperbehinderung, SB = Sehbehinderung, SprB = Sprachbehinderung
WISC-IV. Wechsler Intelligence Scale for Children (Petermann u. Petermann,
2012)
WPPSI-III. Wechsler Primary and Preschool Scale of Intelligence – III (Petermann, 2009)
WET. Wiener Entwicklungstest (Kastner-Koller u. Deimann, 2012)
SON-R 6-40. Nonverbaler Intelligenztest (Tellegen, Laros, Petermann, 2012)
PSB-R 4-6. Prüfsystem für Schul- und Bildungs­beratung für 4. bis 6. Klassen –
rev. Fassung (Horn, Lukesch, Kormann, Mayrhofer, 2003)
PSB-R 6-13. Prüfsystem für Schul- und Bildungs­beratung für 6. bis 13. Klassen –
rev. Fassung (Horn, Lukesch, Kormann, Mayrhofer, 2002)
SON-R 2½-7. Nonverbaler Intelligenztest (Tellegen, Laros, Petermann, 2007)
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Intelligenztests und die besonderen Anforderungen behinderter Kinder�����
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G. Renner, M. Mickley
gangsfertigkeiten. Erwähnt werden weiter visuelle Wahrnehmungsschwierigkeiten
(SON-R 2½-7, SON-R 6-40), motorische Fertigkeiten wie die Fähigkeit, mit Bleistift
und Papier umzugehen (CFT 20-R, SON-R 2½-7, SON-R 6-40), oder die AugeHand-Koordination (SON-R 6-40). Mehrfach finden sich allgemeine Warnungen,
eine schwache Leistung in einem (Unter-)Test „nicht automatisch auf eine niedrige
intellektuelle Leistungsfähigkeit zurückzuführen“ (WISC-IV-Manual, S. 59; ähnliche Überlegungen finden sich im Manual zur WPPSI-III, S. 36). Vereinzelt wird
vorgeschlagen, Untertests auszulassen, wenn die erforderlichen Zugangsfertigkeiten
nicht gegeben sind (K-ABC, K-CAB, K-TIM, WISC-IV, WPPSI-III).
Leitfrage 4: Sicherung der Durchführungsobjektivität
Zur Sicherung der Durchführungsobjektivität eines Testverfahrens sind möglichst
genaue Angaben zu Testinstruktionen und Erklärungen, benutzten Materialien,
Zeitbegrenzungen, Rahmenbedingungen und zu möglicherweise auftretenden
Komplikationen wie Fragen und Schwierigkeiten der Probanden notwendig (vgl.
Macha u. Petermann, 2013).
Über die Standardinstruktionen hinausgehende Anweisungen finden sich nur für
Kinder mit Sprach- und Hörbehinderungen: SON-R 2½-7 und SON-R 6-40 enthalten detaillierte Richtlinien, die eine objektive nonverbale Testdurchführung erlauben.
Eine sprachfreie Instruktion wird auch für einige Untertests des AID 3 angeboten;
eher allgemeine Hinweise zum Umgang mit fehlenden sprachlichen Zugangsfertigkeiten werden in den Manualen von CFT 1-R, CFT 20-R, K-ABC und K-CAB gegeben. Im CFT 1-R, ansatzweise auch im CFT 20-R, finden sich zudem Hinweise –
jedoch keine umfassenden Instruktionen – für die Untersuchung von Kindern mit
motorischen Behinderungen. Bei den weiteren untersuchten Testverfahren finden
sich keine Handlungsanweisungen oder Regeln, wie eine objektive Testdurchführung
bei eingeschränkten Zugangsfertigkeiten gewährleistet werden kann.
Leitfrage 5: Reliabilität
In den 23 gesichteten Manualen werden keine empirischen Daten zur Reliabilität
der Verfahren bei Kindern mit Behinderungen berichtet.
Leitfrage 6: Validität
Bei den Validitätsdaten finden sich vor allem Angaben zur differenziellen Validität
für verschiedene klinische Gruppen, die teilweise an US-amerikanischen Stichproben erhoben wurden. Untersuchungen an geistig behinderten Kindern werden in
den Manualen von K-ABC, SON-R 2½-7, WISC-IV und WPPSI-III berichtet, zu
Kindern mit Asperger-Syndrom finden sich Daten in den IDS, zu Kindern mit Hörbeeinträchtigungen im SON-R 2½-7, im SON-R 6-40 und in der K-ABC. Kinder
mit Trisomie 21 wurden im WET und in den IDS-P berücksichtigt, Kinder mit Körperbehinderungen nur in der K-ABC. Kinder mit Sprachbehinderungen finden sich
möglicherweise in einer Stichprobe aus Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt
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Sprache, die im Manual des PSB-R 4-6 dargestellt wird. Insgesamt finden sich in
neun Verfahren (39 %) klinische Daten, die Kindern mit einer spezifischen Behinderungsform zugeordnet werden können. Bei weiteren 9 % lassen die Beschreibungen
der Stichproben vermuten, dass es sich um leichtere Beeinträchtigungen handelt.
Daten zur konvergenten und divergenten Validität liegen überwiegend nicht vor.
Allenfalls in einer Stichprobe Frühgeborener, zu der im WET-Manual Korrelationen
mit der K-ABC berichtet werden, könnten Kinder mit Behinderungen vertreten sein.
Somit wurden auch Zusammenhänge zu Schulleistungen nicht untersucht. Zur faktoriellen und prognostischen Validität finden sich bei keinem Verfahren Daten.
Leitfrage 7: Testinterpretation
In der Mehrzahl der Testverfahren (65 %) wird in den Manualen nicht auf Besonderheiten der Testinterpretation eingegangen, die bei Kindern mit Behinderungen
zu berücksichtigen sind. Eine systematische und umfassende Diskussion dieser
Thematik, die Auswirkungen von Beeinträchtigungen in den Bereichen Motorik,
Sprache, Sehen, Hören und geistige Entwicklung auf die Validität der Testbefunde
berücksichtigt, wird durchgehend nicht geführt. Hingewiesen wird auf den Einfluss motorischer (z. B. K-ABC, K-TIM, SON-R 2½-7; SON-R 6-40, WISC-IV) und
sprachlicher (z. B. SON-R 2½-7; SON-R 6-40, WISC-IV) Beeinträchtigungen, teilweise nur bei einzelnen Untertests (IDS, IDS-P).
Leitfrage 8: Bodeneffekte
Eine umfassende Darstellung der Bodeneffekte kann hier angesichts der Vielzahl der
Untertests und Altersgruppen, die bei der Sichtung zu berücksichtigen waren, nicht erfolgen. Nur das LPS-2 ist in allen Untertests und in allen Altersgruppen völlig frei von
Bodeneffekten. In mindestens einem Untertest und mindestens einer Altersgruppe
finden sich leichte Bodeneffekte in acht, deutliche Bodeneffekte in neun und extreme
Bodeneffekte in fünf Verfahren (AID 3, BIVA, K-ABC, KET-KID, SON-R 2½-7).
5
Diskussion
Die Sichtung der Testmanuale zeigt, dass die Anwendung vieler Verfahren bei behinderten Kindern von den Testautoren nicht ausgeschlossen wird. Somit beanspruchen
diese Tests zumindest implizit, dass sie den spezifischen diagnostischen Anforderungen bei behinderten Kindern gerecht werden können. Gleichzeitig spielen Kinder
mit kognitiven, körperlichen oder sensorischen Beeinträchtigungen eine marginale
Rolle bei der Konstruktion, Normierung und Validierung der untersuchten intelligenzdiagnostischen Instrumente (vgl. Tab. 1). Nur mittlerweile veraltete und daher in
unserer Analyse nicht berücksichtigte Testverfahren wie der „Intelligenztest für 6- bis
14jährige körperbehinderte und nichtbehinderte Kinder“ (ITK; Neumann, 1981) oder
die „Testbatterie für geistig behinderte Kinder“ (TBGB; Bondy, Cohen, Eggert, Lüer,
98
G. Renner, M. Mickley
1975) wurden primär für Kinder mit Behinderungen entwickelt. Zwar wird bei einigen
Tests auch explizit angegeben, dass sie eine Aussagekraft für behinderte Kinder hätten,
eine spezifische Diskussion und Reflexion, welche konstrukt-irrelevanten Zugangsfertigkeiten den Einsatz und die Aussagekraft der Verfahren beeinflussen könnten oder
welche Durchführungsveränderungen zulässig sind oder empfohlen werden könnten,
findet – wenn überhaupt – nicht systematisch statt. Gerade solche Reflexionen, wie
eine inhaltliche Testveränderung oder eine – dann im Detail beschriebene – Durchführungsveränderung die Interpretierbarkeit der erzielten Ergebnisse bei behinderten
Kindern beeinflusst, erscheinen aber für einen verantwortungsvollen Testeinsatz essenziell. Bemerkenswerterweise wurden Kinder mit Behinderungen in der Normierung von einigen Testverfahren ausgeschlossen, die explizit reklamieren, für die Untersuchung dieser Zielgruppe geeignet zu sein.
Empfehlungen, einzelne Untertests oder Subskalen von Intelligenztests bei der Diagnostik behinderter Kindern nicht zu benutzen, sind hier nur bedingt hilfreich: Sie führen
zu einer Reduktion der Reliabilität von aggregierten Skalen und können aufgrund einer
eingeschränkten Konstruktrepräsentanz (Nichtberücksichtigung bedeutsamer Intelligenzkomponenten) die Validität gefährden. Je nach Testzusammenstellung können relevante kognitive Stärken oder Schwächen übersehen werden und Fehleinschätzungen des
globalen kognitiven Leistungsniveaus erfolgen (vgl. Decker, Englund, Roberts, 2012).
Da kaum Daten zur Validität intelligenzdiagnostischer Untersuchungen bei Kindern
mit Behinderungen vorliegen, bleibt weitgehend unklar, ob klinische Interpretationen
und Empfehlungen auf den gleichen Regeln und Maßstäben beruhen können wie bei
unauffällig entwickelten Kindern. Dass dies nicht automatisch der Fall ist, zeigen exemplarisch die Erkenntnisse zur Entwicklung von blinden Kindern (vgl. Kasten 2).
Kasten 2: Klinische Interpretation von intelligenzdiagnostischen Befunden: Besonderheiten am
Beispiel blinder Kinder
Bei blinden Kindern finden sich oftmals – gemessen an Normen sehender Kinder – auffällige Testprofile im Sinne statistisch großer Entwicklungsrückstände im motorischen Bereich und eher kleinerer
Entwicklungsrückstände im sprachlichen Bereich. Dennoch haben diese großen Entwicklungsrückstände eine geringere klinische Bedeutung als die statistisch kleineren Entwicklungsrückstände im
sprachlichen Bereich. Diese sind für blinde Kinder als auffälliger zu bewerten (s. Brambring, 2005).
Die Generalisierbarkeit der an sehenden Kindern normierten testbasierten Erkenntnisse ist für die
Gruppe blinder Kinder nicht gegeben; die empirische Absicherung der daraus abgeleiteten Empfehlungen ist aufgrund konstrukt-irrelevanter Einflüsse invalide. Spezifische an blinden Kindern erhobene Normen könnten eventuell eine solche Fehlinterpretation verhindern.
Einschränkend ist zu beachten, dass die vorliegende Untersuchung ausschließlich auf
der Analyse von Testmanualen beruht und daher nicht die gesamte Evidenz zum Einsatz
von Intelligenztests bei Kindern mit Behinderungen berücksichtigt. Zumindest Testverfahren, die international verbreitet sind (z. B. WISC-IV, WPPSI-III), wurden in unabhängigen Studien bei verschiedenen Behinderungsformen eingesetzt (ein Überblick für
den Einsatz des WISC-IV bei gehörlosen Kindern findet sich z. B. bei Braden, 2005).
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99
Angesichts nicht immer eindeutiger Angaben in den gesichteten Testmanualen kann es
zu einzelnen Fehleinschätzungen durch die Autoren gekommen sein. Aus der mangelnden Berücksichtigung von Kindern mit Behinderungen bei der Testentwicklung und
-validierung ist auch nicht abzuleiten, dass bestimmte Verfahren für die Untersuchung
von Kindern mit Behinderungen grundsätzlich ungeeignet sind: So ist z. B. das Fehlen von Validitätsdaten kein Nachweis einer mangelnden Validität. Es sei noch darauf
hingewiesen, dass Daten zur Validität von Intelligenztests insbesondere im Hinblick auf
die Konsequenzen intelligenzdiagnostischer Befunde („consequential validity“; Cizek,
Bowen, Church, 2010) auch bei nicht behinderten Kindern kaum vorliegen.
6
Schlussfolgerungen und Ausblick
Intelligenzdiagnostik bei Kindern mit Behinderungen muss derzeit weitgehend ohne
gesicherte Erkenntnisse zu den Gütekriterien der eingesetzten standardisierten Tests
stattfinden. Diagnostiker können bei Entwicklungsprognosen, Therapieempfehlungen und Platzierungsentscheidungen, in die Resultate einer Intelligenzdiagnostik
einfließen, nur sehr begrenzt auf empirische Evidenz zurückgreifen. Entsprechend
liegt es in der Verantwortung des jeweiligen Diagnostikers, den beschriebenen
Herausforderungen bei der Untersuchungsplanung durch eine überlegte und gezielte Testzusammenstellung gerecht zu werden, eventuell auch durch Einsatz von
Testadaptationen, die eine objektive, reliable und valide Erfassung der Zielfertigkeiten nicht gefährden. Dies erfordert eine sorgfältige Analyse der erforderlichen
Zugangsfertigkeiten, um konstrukt-irrelevante Einflüsse auf die Testergebnisse zu
vermeiden. Bei der Testinterpretation sind angesichts des Fehlens spezifischer Validitätsdaten in den Testmanualen umfassende entwicklungs-, kognitions- und neuropsychologische Kenntnisse über die jeweiligen Behinderungsformen erforderlich
(vgl. Hill-Briggs, Dial, Morere, Joyce, 2007).
Der eher geringe Anteil behinderter Kinder und Jugendliche an der Gesamtpopulation und die Heterogenität der Behinderungsformen und ihrer Verläufe sowie etwaige
Komorbiditäten stellen für die Entwicklung und Validierung von geeigneten Testverfahren eine große Herausforderung dar. Es wäre zu wünschen, dass schon bei der Auswahl
von Testanforderungen und bei der Gestaltung von Testmaterialien systematisch überlegt
wird, wie der validitätsgefährdende Einfluss konstrukt-irrelevanter Zugangsfertigkeiten
minimiert und die Testfairness maximiert werden kann (vgl. Messick, 1998). Dazu sind
keine großen Stichproben erforderlich, vielmehr bedarf es der Bereitschaft, in den Prozess der Testentwicklung von vornherein Kinder und Jugendliche mit Behinderungen
und Experten für die jeweilige Behinderungsform einzubeziehen und dann entsprechend
angepasste Testaufgaben und Durchführungsregeln in den Normierungsstudien zu verwenden. Ein zukunftsweisendes Beispiel stellt die Entwicklung der „Kaufman Assessment
Battery for Children, Second Edition“ (KABC-II; Kaufman u. Kaufman, 2004) in den
USA dar, wo für hörbehinderte Kinder ein in diesem Bereich spezialisierter Experte alle
100 G. Renner, M. Mickley
Items der KABC-II analysierte und bewertete. Zahlreiche Items wurden verändert oder
aus der Standardisierungs- und Normierungsstudie eliminiert, wenn sie nicht auch in Gebärdensprache übersetzt und wieder rückübersetzt werden konnten, ohne dass die valide
Erfassung bedeutsamer Zielfertigkeiten gefährdet wurde (vgl. Kaufman, Lichtenberger,
Fletcher-Janzen, Kaufman, 2005). Auch für andere intelligenzdiagnostische Verfahren in
den USA sind mittlerweile Standards wie einheitliche Durchführungs- und Akkomodationsregeln, spezifische Hinweise zur Testwerte-Interpretation, systematischer Einbezug
von Subpopulationen behinderter Kinder in die Normstichprobe mit entsprechenden
empirischen Ergebnissen etabliert (vgl. Reesman et al., 2014). Für die „Differential Ability
Scales, Second Edition“ (DAS-II; Elliott, 2007) liegt z. B. für verschiedene Untertests eine
Übersetzung der Testinstruktionen in die American Sign Language in Form einer CD
vor, sodass für hörbehinderte Kinder eine objektive Darbietung gewährleistet ist.
Auch im deutschen Sprachraum sollte zumindest eine systematische Analyse der
jeweils erforderlichen Zugangsfertigkeiten und möglicher Gefährdungen einer validen Testuntersuchung selbstverständlich werden. Schon kleinere Pilotstudien mit behinderten Kindern können hilfreich sein. Minimal zu fordern ist, dass Testmanuale
explizite Hinweise enthalten, welche Testadaptionen empfohlen werden.
Die anspruchsvollere Aufgabe, empirische Analysen zur psychometrischen Qualität
etablierter Testverfahren bei Kindern mit Behinderungen vorzulegen, könnte durch
die systematische Sammlung und Analyse von vorhandenen Testprotokollen, die
in verschiedenen Anwendungskontexten erhoben wurden, erleichtert werden (z. B.
Krouse u. Braden, 2011). Dies erfordert eine engere Kooperation von forschungsorientierten Einrichtungen, Testverlagen und Testanwendern in klinischen und sonderpädagogischen Handlungsfeldern.
Fazit für die Praxis
Die spezifischen Bedürfnisse und Erfordernisse von Kindern mit Behinderungen
werden bei der Entwicklung und Validierung von Intelligenztests nur ansatzweise berücksichtigt. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen für die Praxis und
die Weiterentwicklung der Intelligenzdiagnostik behinderter Kinder:
• Testanwender können sich hier weniger auf gesicherte Erkenntnisse zur Validität von Testbefunden stützen. Sie haben eine große Verantwortung, Einsatzmöglichkeiten der Tests kritisch zu überprüfen, Testfairness zu sichern und die
besonderen Voraussetzungen behinderter Kinder zu beachten.
• Testanwender, die behinderte Kinder untersuchen, sollten gegenüber Testautoren und Verlagen als konstruktiv-kritische Kunden eine Verbesserung der
Datenlage einfordern.
• Praxisforschung zum Einsatz von Testverfahren bei behinderten Kindern bietet
die Chance, die unbefriedigende Datenlage zu verbessern, und sollte vermehrt
initiiert werden.
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Intelligenztests und die besonderen Anforderungen behinderter Kinder������
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Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Gerolf Renner, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik, Pestalozzistr. 53, 72762 Reutlingen;
E-Mail: [email protected]
Gerolf Renner, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik; Manfred Mickley,
Sozialpädiatrisches Zentrum, Vivantes-Klinikum Berlin-Friedrichshain
Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und
Verhaltensauffälligkeiten
Sandra Schmiedeler, Luisa Klauth, Robin Segerer und Wolfgang Schneider1
Summary
Relationship Between Age of School Entry and Behaviour Problems
Recent studies demonstrated that children who are relatively young within a school year show
more behaviour problems, are at greater risk of being diagnosed with attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) and treated with stimulants compared to their older classmates.
In this paper we examine the association of age at school entry and behavioural problems
for a German sample of elementary school children, who were enrolled in 2009 (N = 928).
We used teacher ratings on the Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) as well as the
prevalence of ADHD diagnosis and medication. Our analyses showed that those children
with a relatively younger age at school entry were judged more hyperactive than their older
peers when sex was controlled for. After stratifying for sex, the effect of age at school entry
on hyperactivity was now only significant for boys. No association with age at school entry
could be found for the other SDQ-subscales as well as for ADHD diagnosis and medication.
Although we could only partially demonstrate a significant relationship between age at school
entry and behavioral problems in German elementary school-children, understanding these
associations may help to consider children´s maturity differences when evaluating the child´s
behavior.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 104-116
Keywords
behaviour problems – attention-deficit/hyperactivity disorder – ADHD – relative age effect –
medication
1 Wir danken dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg für die Unterstützung sowie den Kindern, ihren Eltern, den Lehrkräften/Erziehern für ihre Teilnahme. Besonderer Dank geht an die Kooperationspartner im Projekt „Schulreifes Kind“ in Würzburg (Frank
Niklas und Marie Pröscholdt), Heidelberg (Eva Randhawa, Isabelle Keppler, Miriam Johnson und
Hermann Schöler) und Frankfurt (Katja Krebs, Hanna Wagner, Jan-Henning Ehm und Marcus
Hasselhorn). Ohne ihren Einsatz bei der Planung und Umsetzung dieses Projekts wäre dieser Beitrag nicht möglich gewesen.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 104 – 116 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten������
105
Zusammenfassung
Aktuelle Studien legen nahe, dass Kinder, die innerhalb ihrer Schulklasse zu den jüngsten
zählen, vermehrt Verhaltensauffälligkeiten zeigen und eine höhere Diagnosewahrscheinlichkeit für eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) tragen und medikamentös behandelt werden als ihre relativ älteren Klassenkameraden. In dem vorliegenden
Beitrag wird der Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten
anhand des „Strengths and Difficulties Questionnaire“ (SDQ) nach Lehrerurteil sowie der
Prävalenz von ADHS-Diagnosen und -Medikation für eine Stichprobe von Grundschulkindern in Deutschland untersucht, die 2009 eingeschult wurden (N = 928). Es zeigte sich,
dass die relativ jüngeren Kinder als hyperaktiver beurteilt wurden als die älteren Kinder der
Klassenstufe, wenn das Geschlecht kontrolliert wurde. Bei getrennter Betrachtung der Geschlechter erwies sich nur für die Stichprobe der Jungen der relative Alterseffekt bzgl. der
Hyperaktivität als bedeutsam. Für alle anderen Subskalen des SDQ sowie für die ADHS-Diagnose und -Medikation konnte kein Zusammenhang mit dem Einschulungsalter gefunden
werden. Auch wenn die Beziehung zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten
nur zum Teil belegt wurde, erscheint ein Verständnis dieser Assoziationen für die klinische
Praxis wichtig, um bei der Verhaltensbeurteilung von Kindern mögliche Reifeunterschiede
berücksichtigen zu können.
Schlagwörter
Verhaltensauffälligkeiten – Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung – ADHS – relativer Alterseffekt – Medikation
Die Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten wie auch der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) schwankt je nach zugrunde liegenden
Kriterien und Charakteristika der Stichprobe (wie z. B. Alter und Geschlecht) beträchtlich. Neuere Befunde zeigen zudem, dass die Wahrscheinlichkeit einer ADHSDiagnose auch von dem Einschulungsalter der Kinder abhängt: Kinder, die regulär,
jedoch vergleichsweise früh eingeschult wurden und somit im Klassenverband relativ jung waren, erhielten mit höherer Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose als
ihre älteren Klassenkameraden (Elder, 2010; Elder u. Lubotsky, 2009; Evans, Morill,
Parente, 2010; Halldner et al., 2014; Morrow et al., 2012). In diesem Beitrag wird
untersucht, ob der relative Alterseffekt bezüglich des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten und dem Risiko für eine ADHS-Diagnose sowie -Medikation für eine
Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung in Deutschland anhand längsschnittlicher
Daten von Grundschulkindern aus dem Projekt „Schulreifes Kind“ (Hasselhorn et
al., 2012) bestätigt werden kann.
106 S. Schmiedeler et al.
1
Theoretischer Hintergrund
1.1 Der relative Alterseffekt
Wie in den meisten Schulsystemen anderer Länder ist auch in Deutschland der
Schuleintritt der Kinder durch die Stichtagsregelung bestimmt (vgl. Autorengruppe
Bildungsberichterstattung, 2012; Schmiedeler, 2011). Infolgedessen sind diejenigen
Kinder, die kurz vor dem Einschulungsstichtag geboren sind (und regulär eingeschult wurden), um bis zu ein Jahr jünger als ihre Klassenkameraden, die kurz nach
dem Stichtag geboren sind. Die mit diesem „relativen Alter“ assoziierte Konsequenz
in Form eines Entwicklungsklimas, das manche Kinder bevorzugt und andere benachteiligt, ist als der „relative Alterseffekt“ bekannt (Baker, Schorer, Cobley, 2010;
Cobley, McKenna, Baker, Wattie, 2009; Musch u. Grondin, 2001).
Besonders augenscheinlich ist der relative Alterseffekt im Bereich des Sports. Hier
zeigt sich in fast allen kompetitiven Sportarten weltweit, dass die relativ älteren Kinder eine deutlich erfolgreichere Laufbahn haben als ihre relativ jüngeren Kameraden
(vgl. Baker et al., 2010; Musch u. Grondin, 2001). Auch in Bezug auf akademische
Leistungen zeigt die Befundlage mehrheitlich, dass Kinder, die zu den jüngeren ihrer
Schulklasse gehören, im Lesen, Schreiben und in Mathematik bedeutsam schlechter abschneiden als ihre relativ älteren Klassenkameraden (z. B. Bedard u. Dhuey,
2006; Cobley et al., 2009; Elder u. Lubotsky, 2009; Gold, Duzy, Rauch, Murcia, 2012;
Sharp, George, Sargent, O‘Donnell, Heron, 2009). Dabei fällt der Zusammenhang
zwischen dem relativen Alter und der Schulleistung in jüngeren Klassenstufen größer aus (Cobley, et al., 2009; Gold et al., 2012; Sharp et al., 2009). Darüber hinaus
wurde ein relativer Alterseffekt mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit einer Lernstörung nachgewiesen (z. B. Cobley et al., 2009; Dhuey u. Lipscomb, 2010; Sharp et al.,
2009) sowie hinsichtlich der Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf
(z. B. Drabman, Tarnowski, Kelly, 1987).
Die Ursachen für den relativen Alterseffekt sind noch nicht geklärt, wobei sowohl
physische als auch psychische Mechanismen diskutiert werden (vgl. auch Baker et
al., 2010; Cobley et al., 2009; Musch u. Grondin, 2001; Sharp et al., 2009). Eine favorisierte Erklärung ist, dass jüngere Kinder emotional, intellektuell und körperlich
weniger weit entwickelt sind als ihre älteren Klassenkameraden, was zu Stress und
schulischem Versagen führen könnte, insbesondere auch, wenn das Curriculum auf
sehr junge Kinder nicht abgestimmt ist (Gledhill, Ford, Goodman, 2002). Auch bei
der Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten könnte diese These eine Rolle spielen:
Werden pädagogische Fachkräfte gebeten, das Verhalten eines Kindes zu beurteilen, so erfolgt der Vergleich unter anderem auch mit den relativ älteren Kindergartenkindern bzw. Klassenkameraden. So könnte vergleichsweise unreifes Verhalten
eines relativ jüngeren Kindes fälschlicherweise als auffälliges Problemverhalten interpretiert werden (Elder, 2010; Evans et al., 2010).
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Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten������
107
1.2 Der relative Alterseffekt und Verhaltensauffälligkeiten
Ein Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und der Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten konnte in mehreren Studien gezeigt werden. Goodman, Gledhill
und Ford (2003) fanden anhand des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ;
Goodman, 1997) für eine repräsentative Stichprobe aus den USA (N = 10.438),
dass die relativ jüngeren Kinder sowohl nach Eltern- und Lehrerurteil als auch
nach Selbstaussage höhere Symptomausprägungen auf dem Gesamtscore des SDQ
erzielten als die relativ älteren Kinder. Der Zusammenhang zeigte sich für unterschiedliche Altersgruppen, auch wenn er als klein zu beurteilen ist (r = .04 bis .06).
Anhand einer norwegischen Stichprobe (N = 6.752) konnten Lien, Tambs, Oppedal,
Heyerdahl und Bjertness (2005) einen bedeutsamen Einfluss des relativen Alters in
der untersuchten Gruppe der 15- bis 16-Jährigen nur für die Skala „Probleme im
Umgang mit Gleichaltrigen“ des SDQ nach Selbsturteil mit einer kleinen Effektstärke finden, wobei dieser bei differenzieller Betrachtung der Geschlechter nur in der
Stichprobe der Jungen auftrat.
In jüngerer Zeit sind auch Studien zum relativen Alterseffekt entstanden, die sich
speziell mit der ADHS befasst haben. Evans et al. (2010) zeigten anhand dreier Datensätze in den USA (N = 35.343; N = 31.641; N = 18.559), dass Kinder, die direkt
vor dem Einschulungsstichtag geboren wurden und somit zu den jüngsten der Klassenstufe zählten, eine höhere Wahrscheinlichkeit trugen, mit ADHS diagnostiziert zu
werden als Kinder, deren Geburtstag direkt nach dem Stichtag lag (9.7 % vs. 7.6 %).
Die jüngsten wurden zudem etwas häufiger medikamentös behandelt. Ähnliche Ergebnisse ergaben sich auch in der Untersuchung von Elder (2010) in den USA (N =
11.784): Kinder mit einem relativ geringen Einschulungsalter wiesen eine höhere Prävalenzrate von ADHS im Vergleich zu Kindern mit einem relativ höheren Einschulungsalter auf (8.4 % vs. 5.1 %). Zudem war bei den relativ jüngsten Kindern eine höhere Rate an ADHS-Medikation zu finden. Morrow und Kollegen (2012) bestätigten
diese Befunde anhand von Daten des öffentlichen Gesundheitssystems aus Kanada
(N = 937.943): Das Risiko für eine ADHS-Diagnose sowie für die Verschreibung von
ADHS-Medikation lag sowohl für die relativ jüngeren Jungen als auch für die Mädchen vergleichsweise höher. Auch Zoëga, Valdimarsdóttir und Hernández-Díaz
(2012) zeigten anhand von Daten aus Island (N = 11.785), dass bei den Kindern im
jüngsten Drittel der Klassenstufe (8.0 %) häufiger als bei den Kindern im ältesten
Drittel (5.6 %) Stimulanzien verschrieben wurden. Der Zusammenhang zwischen
relativem Alter und medikamentöser ADHS-Behandlung war bei einer insgesamt
geringeren Prävalenz bei den Mädchen für beide Geschlechtsgruppen zu finden.
Eine aktuelle Studie aus dem skandinavischen Raum hat in einem großen Panel
(N = 56.263) den Zusammenhang zwischen relativem Alter und ADHS-Diagnose
sowie -Medikation für Kinder ebenfalls bestätigt (Halldner et al., 2014). Der Befund
zeigte sich jedoch nicht, wenn Eltern- (N = 10.760) oder Selbsturteil (N = 6.970)
berücksichtigt wurden. Zudem nahm der Zusammenhang zwischen relativem Al-
108 S. Schmiedeler et al.
ter und ADHS-Diagnose sowie -Medikation bis zum 18. Lebensjahr der Kinder ab
und war in der Alterskohorte der 35-Jährigen (oder älteren) nicht mehr vorhanden. Nach Ansicht der Autoren ist es die relative Unreife der jüngeren Kinder im
Vergleich zu ihren älteren Klassenkameraden, die die Wahrscheinlichkeit für eine
ADHS-Diagnose erhöht, wohingegen im Erwachsenenalter Reifeunterschiede keine Rolle mehr spielen sollten. Als Grundlage für diese Argumentation nennen die
Autoren die verzögerte Entwicklung der Gehirnreife bei Kindern mit ADHS. Diese tritt insbesondere in präfrontalen Regionen auf, die für die Kontrolle kognitiver
Prozesse wie Aufmerksamkeit und motorische Steuerung zuständig sind, was unter
Forschern auch als Ursache der ADHS diskutiert wird (Shaw et al., 2007, 2011).
Aus dem deutschsprachigen Raum ist uns bislang keine Studie bekannt, die explizit den Zusammenhang zwischen dem relativen Alter und Verhaltensauffälligkeiten
bzw. der ADHS-Diagnose und -Medikation der Kinder geprüft hat. Jedoch wurde im
Rahmen der Mannheimer Risikokinderstudie der Einfluss des Einschulungsalters auf
nicht kognitive Fähigkeiten in Form von Temperamentsmessungen nach Elternurteil
an einer Stichprobe von N = 360 Kindern untersucht (Mühlenweg, Blomeyer, Laucht,
2011). Es zeigte sich unter anderem, dass die relativ älteren Kinder im Alter von acht
Jahren niedrigere Werte (um 0.93 Standardabweichungen) bezüglich der von den Eltern eingeschätzten Hyperaktivität aufwiesen als Kinder mit einem relativ frühen Einschulungsalter. Im Alter von elf Jahren verblasste der Effekt.
In der vorliegenden Studie wird nun anhand einer längsschnittlichen Analyse untersucht, ob sich ein relativer Alterseffekt auf die Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten
von Grundschulkindern in Deutschland nachweisen lässt. Wir nehmen an, dass Kinder, die im Vergleich zu ihren Klassenkameraden relativ früh eingeschult wurden, nach
Lehrerurteil eine höhere Ausprägung an Verhaltensauffälligkeiten zeigen sowie häufiger
eine ADHS-Diagnose tragen und medikamentös behandelt werden als ihre relativ älteren Klassenkameraden. Es wird auch geprüft, ob ein potenzieller Effekt für Jungen und
Mädchen gleichermaßen auftritt und ob dieser über die Schulzeit hinweg verblasst.
2
Methodik
2.1 Stichprobe
Als Datengrundlage diente die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des
Projekts „Schulreifes Kind“ (SRK) gewonnene Stichprobe, die vom Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg gefördert wurde (Hasselhorn et al.,
2012). Die 34 teilnehmenden Schulen waren im Raum Baden-Württemberg verteilt.
Die für diese Analysen relevanten Erhebungen fanden am Ende der ersten, zweiten
und dritten Klasse sowie Mitte der vierten Klassenstufe statt. Um bei den Berechnungen Verzerrungen durch vorzeitig oder verspätet eingeschulte Kinder auszuschließen, wurden die Analysen nur mit Kindern durchgeführt, die im Herbst 2009
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Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten������
109
regulär eingeschult wurden, das heißt, diejenigen, die nach gesetzlicher Regelung bis
zum Stichtag am 30. September 2009 das sechste Lebensjahr vollendet hatten. Zudem wurden nur diejenigen Kinder in die Analysen aufgenommen, von denen alle
relevanten Daten (Geburtsdatum, Geschlecht, Verhaltensbeurteilungen) vorlagen.
Somit ergab sich eine Stichprobe von N = 928 Kindern. Berechnungen bezüglich des
Drop-outs wurden zwischen dieser Stichprobe und denjenigen regulär eingeschulten
Kindern durchgeführt, von denen zwar in der ersten Klasse Daten vorhanden waren,
aber mindestens zu einem der weiteren Messzeitpunkte Werte fehlten (N = 263). Die
Kinder unserer Stichprobe wiesen niedrigere Symptomausprägungen hinsichtlich der
im SDQ gemessenen Verhaltensauffälligkeiten auf als die Kinder mit fehlenden Werten,
die nicht in die Analysen eingingen (1. Klasse: F (1,1189) = 25.301, p < .001, η² = .021).
Hinsichtlich Alter und Geschlecht zeigten sich keine bedeutsamen Gruppenunterschiede (F (1,1189) = 0.296, p > .05 bzw. Χ² (1) = .402, p > .05). Dieser gerichtete Dropout ist bei der Interpretation der Befunde zu berücksichtigen. Das Einschulungsalter
wurde aus dem Geburtsdatum der Kinder und dem Einschulungsdatum (14.09.2009)
berechnet und betrug in der zugrunde liegenden Stichprobe M = 77.07 Monate (6
Jahre und 5 Monate; SD = 3.45 Monate). Das Geschlechtsverhältnis war ausgeglichen (50.1 % männlich).
2.2 Fragebogendaten
Verhaltensauffälligkeiten. In einem Lehrerfragebogen wurde die Beurteilung von
Verhaltensauffälligkeiten der Kinder zu allen vier Messzeitpunkten mittels einer
leicht abgeänderten Version des SDQ (Goodman, 1997) erfasst. Der SDQ kann bei
Kindern und Jugendlichen im Altersbereich zwischen 4 und 16 Jahren eingesetzt
werden und gilt als reliables und valides Screeninginstrument zur Abklärung von
Verhaltensauffälligkeiten (Becker, Woerner, Hasselhorn, Banaschewski, Rothenberger, 2004; Saile, 2007). Bei unserer Studie wurden die Skalen „Emotionale Probleme“, „Hyperaktivität“ und „Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen“ mit jeweils
fünf Items unverändert beibehalten. Bei der Skala „Prosoziales Verhalten“ wurde
das Item „Lieb zu jüngeren Kindern“ durch das Item „Geht freundlich mit jüngeren
Kindern um“ ersetzt; bei der Skala „Verhaltensprobleme“ wurden zwei Items („Im Allgemeinen folgsam“ und „Stiehlt zu Hause“) nicht erhoben. Die Aussagen wurden von
den Lehrkräften anhand einer dreistufigen Skala bewertet („nicht zutreffend“ = 0 bzw.
2 Punkte, je nach Polung, „teilweise zutreffend“ = 1 Punkt oder „eindeutig zutreffend“ = 2 bzw. 0 Punkte). Die Reliabilität der von uns leicht geänderten Version kann
als gut bezeichnet werden (1. Klasse: Cronbachs α = .88, 2. Klasse: α = .90, 3. Klasse:
α = .88; 4. Klasse: α = .87). Die Stabilität der Verhaltensbeurteilungen zwischen den
vier Messzeitpunkten fiel hoch aus (rtt = .51 bis .78).
ADHS-Diagnose und -Medikation. In Klassenstufe 3 und 4 wurden die Lehrkräfte
zudem gefragt, ob bei dem Kind die Diagnose einer ADHS gestellt wurde und das
Kind aus diesem Grund medikamentös behandelt wird.
110 S. Schmiedeler et al.
2.3 Statistisches Vorgehen
Um die relativ jungen mit den relativ alten Kindern einer Klassenstufe zu vergleichen, wurden die Kinder in Altersquartile analog zum akademischen Jahr aufgeteilt
(vgl. auch Cobley et al., 2009). Kinder, die innerhalb von drei Monaten nach dem
Stichtag des 30.09.2009 geboren wurden (Oktober bis Dezember) und somit zur
ältesten Gruppe gehörten, bildeten Quartil 1 (N = 246; 51.8 % Jungen), die zwischen Januar und März geborenen Kinder Quartil 2 (N = 210; 54.3 % Jungen), die
zwischen April und Juni geborenen Kinder Quartil 3 (N = 248; 45.7 % Jungen) und
Kinder, die innerhalb von drei Monaten vor dem Stichtag geboren wurden (Juli bis
September) und somit zu den jüngsten der Klasse zählten, bildeten Quartil 4 (N =
224; 48.7 % Jungen). Um das längsschnittliche Design der Studie zu berücksichtigen,
wurden Varianzanalysen mit Messwiederholung anhand der Subskalen des SDQ berechnet. Da das Geschlecht nicht nur ein bedeutsamer Faktor bei der Genese von
Verhaltensstörungen darstellt, sondern vorherige Studien auch differenzielle relative
Alterseffekte aufzeigen konnten (z. B. Lien et al., 2005), diente das Geschlecht als
Kontrollvariable. Über Kreuztabellen mit der Χ²-Prüfgröße wurde ein Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und dem Auftreten einer ADHS-Diagnose sowie der medikamentösen Behandlung der Kinder untersucht. Dazu wurden die
Angaben in Klasse 3 und 4 zusammengefasst, das heißt, es wurde geprüft, ob bei
dem Kind zu mindestens einem der beiden Messzeitpunkte eine Diagnose vorlag
bzw. das Kind zu mindestens einem Zeitpunkt Medikation erhielt. Im Anschluss
wurden die Analysen getrennt für die Jungen und Mädchen durchgeführt.
3
Ergebnisse
In Abbildung 1 sind die Ausprägungen der Verhaltensauffälligkeiten nach Lehrerurteil anhand der Subskalen des SDQ in den vier Altersgruppen der regulär eingeschulten Kinder (Geburtsquartil 1 bis 4) im Laufe der Grundschulzeit abgebildet.
Bei der varianzanalytischen Überprüfung von Unterschieden zwischen den Geburtsquartilen fanden sich ohne Kontrolle des Geschlechts keine bedeutsamen Ergebnisse (Skala „Hyperaktivität“ (F (3,924) = 2.437, p > .05; Skala „Emotionale Probleme“: F (3,924) = 0.916, p > .05; Skala „Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen“:
F (3,924) = 1.912, p > .05; Skala „Verhaltensprobleme“: F (3,924) = 0.954, p > .05;
Skala „Prosoziales Verhalten“: F (3,924) = 0.407, p > .05). Wurde das Geschlecht in
den Analysen berücksichtigt, zeigte sich ein bedeutsamer relativer Alterseffekt für
die Skala „Hyperaktivität“ (F (3,923) = 3.916, p < .01, η² = .013). Nachgeschobene
paarweise Vergleiche belegten, dass die beiden jüngsten Gruppen (Quartile 3 und 4)
jeweils bedeutsam höhere Ausprägungen aufwiesen als die beiden ältesten Gruppen
(Quartile 1 und 2). Bei Betrachtung eines differenziellen Geschlechtseffekts wurde deutlich, dass ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Hyperak-
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Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten������
111
tivität nur für die Gruppe der Jungen auftrat (F (3,459) = 3.341, p < .05, η² = .021), nicht
aber für die Mädchen (F (3,461) = 1.455, p = .23, η² = .009). Eine Veränderung des Alterseffekts über die Zeit hinweg wurde dabei nicht sichtbar (F (9,923) = 1.182, p > .05).2
Alle anderen Gruppenvergleiche bezüglich der weiteren Subskalen des SDQ verfehlten auch bei Kontrolle des Geschlechts die statistische Signifikanz (Skala „Emotionale
Probleme“: F (3,923) = 0.891, p > .05; Skala „Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen“:
F (3,923) = 1.918, p > .05; Skala „Verhaltensprobleme“: F (3,923) = 1.247, p > .05;
Skala „Prosoziales Verhalten“: F (3,923) = 1.085, p > .05).
8
Hyperaktivität
7
6
Emotionale Probleme
5
Verhaltensprobleme mit
Gleichaltrigen
4
3
Verhaltensprobleme
2
Prosoziales Verhalten
1
0
1
2
3
4
1. Klasse
1
2
3
4
2. Klasse
1
2
3
4
3. Klasse
1
2
3
4
4. Klasse
Abbildung 1: Ausprägung der Verhaltensauffälligkeiten auf den Subskalen des SDQ in den Geburts­
quartilen der regulär eingeschulten Kinder (1 = älteste Kinder – Oktober bis Dezember; 2 = Januar bis
März, 3 = April bis Juni, 4 = jüngste Kinder – Juli bis September)
In einem zweiten Schritt wurden diejenigen Kinder betrachtet, von denen zu mindestens
einem der beiden Messzeitpunkte in Klasse 3 oder 4 eine ADHS-Diagnose vorlag bzw.
die medikamentös behandelt wurden. Insgesamt trugen von den Kindern der zugrunde
liegenden Stichprobe 33 (3.6 %) Kinder eine ADHS-Diagnose und 23 (2.5 %) Kinder
erhielten Medikation. In Tabelle 1 ist die Anzahl an Kindern mit einer ADHS-Diagnose
bzw. -Medikation getrennt nach den Geburtsquartilen abgebildet.
Tabelle 1: Anzahl an Kindern mit einer ADHS-Diagnose und -Medikation in der 3. bzw. 4. Klasse in
den Geburtsquartilen der regulär eingeschulten Kinder (1 = älteste Kinder – Oktober bis Dezember;
2 = Januar bis März, 3 = April bis Juni, 4 = jüngste Kinder – Juli bis September)
ADHS-Diagnose
ADHS-Medikation
1
N=9
N=6
2
N=9
N=8
3
N=5
N=3
4
N = 10
N=6
2 Zur Korrektur der Verletzung der Sphärizitätsannahme wurde eine Korrektur der Freiheitsgrade nach
Greenhouse-Geisser durchgeführt, es werden dennoch die vollständigen Freiheitsgrade präsentiert.
112 S. Schmiedeler et al.
Aus den deskriptiven Daten lässt sich kein relativer Alterseffekt erahnen. Mit der Χ²Prüfgröße konnte weder für die ADHS-Diagnose (Χ² (3) = 2.587, p > .05) noch für die
-Medikation ein bedeutsamer Gruppenunterschied gefunden werden (Χ² (3) = 3.230,
p > .05). Es wurde auch kein Effekt sichtbar, wenn die Analysen getrennt für Jungen
und Mädchen durchgeführt wurden.
4
Diskussion
In der vorliegenden Studie zeigte sich ein relativer Alterseffekt derart, dass die relativ jüngeren der regulär eingeschulten Jungen ein signifikant höheres Ausmaß
an hyperaktivem Verhalten nach Lehrerurteil auf dem SDQ aufwiesen als die relativ älteren Jungen. Unsere Ergebnisse erweitern damit den von Mühlenweg et al.
(2011) präsentierten Zusammenhang zwischen relativem Alter und Hyperaktivität
der Kinder nach Elternurteil um den relativen Alterseffekt aus Sicht der Lehrkräfte.
Dabei war wie schon bei Lien et al. (2005), bei dem auch der SDQ zum Einsatz kam,
nur für die Gruppe der Jungen der relative Alterseffekt evident. Eine Erklärung für
den fehlenden Effekt des relativen Alters bei Mädchen könnte darin liegen, dass der
eingesetzte SDQ im unteren Bereich nicht ausreichend genug differenziert. Zudem
präsentieren Mädchen bei der ADHS in erster Linie unaufmerksames Verhalten, das
weniger auffallend ist als Symptome von Hyperaktivität/Impulsivität (APA, 2013).
Als Erklärungsmöglichkeit für den relativen Alterseffekt bei der ADHS werden
in der Literatur vorwiegend Reifeprozesse diskutiert (z. B. Evans et al., 2010; Halld­
ner et al., 2014). Dafür spricht, dass der Zusammenhang zwischen dem relativen
Alter und der Schulleistung in den meisten Studien in jüngeren Klassenstufen größer ausfällt als in der späteren Entwicklung (Gold et al., 2012; Sharp et al., 2009).
Mühlenweg et al. (2011) zeigten auch für Hyperaktivitätswerte, dass der für Kinder
mit acht Jahren gefundene relative Alterseffekt mit elf Jahren verblasste. In unseren
Daten konnte eine Abnahme des Effekts im Laufe der Grundschulzeit dagegen nicht
bestätigt werden. Die Beurteilung des Verhaltens der Kinder geschah bei Mühlenweg et al. (2011) jedoch nicht durch den jeweiligen Klassenlehrer, sondern durch
die Eltern der Kinder bzw. durch geschulte externe Beobachter, die vom Bezugsrahmen der Klasse weniger beeinflusst werden konnten. Es ist anzunehmen, dass
Eltern bei der Verhaltensbeurteilung eher altersgleiche Kinder als Referenznahmen
nutzen und nicht diejenigen in derselben Klasse. Damit einher geht auch der Befund von Halldner und Kollegen (2014), die keine Effekte des relativen Alters unter
Bezugnahme des Elternurteils fanden. Die hier vorgelegten Befunde deuten somit
eine Stabilisierung des reifebedingten relativen Alterseffekts bei Beurteilungen von
ADHS-Symptomen durch Lehrkräfte an. Durch die Nutzung der Schulklasse als Referenzrahmen könnten Lehrkräften auch geringe Verhaltensunterschiede zwischen
Kindern auffallen. Es ist somit durchaus möglich, dass Reifeprozesse bei ADHSSymptomen bis zum Ende der Grundschulzeit nicht abgeschlossen sind. Auch bei
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Zusammenhang zwischen Einschulungsalter und Verhaltensauffälligkeiten������
113
Halldner et al. (2014) blieben die Effekte über die Schulzeit hinweg beständig, wenn
sie auch im Laufe der Zeit geringer ausgeprägt waren.
Bei weiteren Subskalen des SDQ wurde in unserer Studie kein relativer Alterseffekt
sichtbar. Eine mögliche Begründung für den fehlenden Effekt könnte in genannter
These der Verstärkung von Reifeeffekten durch Beurteilungsfehler der Lehrkräfte liegen. Es ist möglich, dass der klasseninterne Bezugsrahmen bei der Beurteilung von
ADHS-Symptomen eine größere Rolle spielt als beispielsweise bei emotionalen Problemen. Zudem sind die Kinder in Deutschland insgesamt etwas älter bei der Einschulung als in vielen anderen Ländern. So bestand z. B. die US-amerikanische Stichprobe bei Goodman et al. (2003) aus Kindern, die in dem Jahr eingeschult wurden,
in dem sie fünf Jahre alt geworden waren. Es ist denkbar, dass sich Reifeunterschiede
in manchen Bereichen bei einem späteren Schuleintrittsalter bereits nivelliert haben.
Letztlich muss jedoch die Bedeutung von Reifeprozessen sowie des Referenzrahmens
bei der Erklärung des relativen Alterseffekts in Hinblick auf Verhaltensauffälligkeiten
noch präziser untersucht werden.
Entgegen der Ergebnisse vorheriger Studien konnte ein Zusammenhang zwischen
dem Einschulungsalter und dem Auftreten einer ADHS-Diagnose sowie der -Medikation bei uns nicht bestätigt werden. Eine mögliche Erklärung ist in der geringen Prävalenz für ADHS in unserer Stichprobe zu sehen, sodass hier mögliche Effekte aufgrund
der geringen Stichprobenzahl nicht aufgedeckt werden konnten. Da bei uns die Frage
nach einer bestehenden ADHS-Diagnose von den Lehrkräften beantwortet wurde,
ist es möglich, dass nicht alle Kinder mit einer tatsächlichen ADHS-Diagnose in die
Analyse eingeflossen sind, auch wenn Lehrkräfte in der Regel gut über die Kinder
ihrer Klasse informiert sind. Dabei fiel bei uns auch im Vergleich zu Studien aus dem
angloamerikanischen Raum die Rate an Kindern mit einer medikamentösen Behandlung kleiner aus, wobei sich unsere Zahlen mit anderen Befunden aus dem deutschen
Raum decken (z. B. Schubert, Köster, Lehmkuhl, 2010). Es scheint, dass in Deutschland eine medikamentöse Behandlung bei Kindern mit ADHS etwas zurückhaltender
vorgenommen wird als in den USA.
Methodische Probleme ergeben sich aus dem gerichteten Drop-out innerhalb der
Studie: Kinder unserer Stichprobe wiesen geringere Symptomausprägungen im SDQ
auf als diejenigen Kinder, von denen zwar in der ersten Klasse Verhaltensbeurteilungen
vorlagen, die dann aber zu mindestens einem weiteren Messzeitpunkt fehlende Werte
hatten und daher nicht weiter in die Analysen eingingen. Es ist möglich, dass insbesondere Kinder mit hohen Symptomausprägungen nicht weiter an der Studie teilnahmen, da sie gegebenenfalls eine Klasse wiederholten oder ein Schulwechsel vorlag.
114 S. Schmiedeler et al.
Fazit für die Praxis
Auch wenn sich in unserer deutschen Stichprobe der in internationalen Studien berichtete Befund eines relativen Alterseffekts für ADHS-Diagnosen und -Medikation
nicht bestätigen ließ, fand sich ein relativer Alterseffekt derart, dass die relativ jüngeren Jungen einer Klassenstufe von den Lehrkräften als hyperaktiver beurteilt wurden. Da Lehrkräfte oftmals diejenigen sind, die Eltern zu einer diagnostischen Abklärung von Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder raten (Sax u. Kautz, 2003), besteht
hier die Gefahr, dass bei jüngeren Kindern nur deshalb zu einer Abklärung geraten
wird, weil diese im Vergleich zu ihren Klassenkameraden als unreif erlebt werden
(vgl. auch Elder, 2010; Evans et al., 2010; Morrow et al., 2012; Zoëga et al., 2012).
Um eine mögliche Verunsicherung der Eltern zu reduzieren und in Einzelfällen auch
Fehldiagnosen zu vermeiden, sollte in der klinischen Praxis, aber auch bei pädagogischem Fachpersonal und Eltern, über den relativen Alterseffekt informiert werden
(Halldner et al., 2014; Goodman et al., 2003). Zudem sollte der Vergleichsstandard
bei der Beurteilung von Verhalten nicht der Klassenschnitt sein, sondern diejenigen
Kinder, die im selben Alter sind; hier könnten auch altersnormierte Ratingskalen eingesetzt werden (Evans et al., 2010; Morrow et al., 2012). Insgesamt erscheint bei der
Beurteilung von klinisch relevanter Symptomatik wichtig, das Verhalten des Kindes
in multiplen Bereichen und hier auch verstärkt außerhalb der Schule zu berücksichtigen, um gegebenenfalls Verzerrungen durch die Einschätzungen im schulischen
Kontext zu kompensieren (Morrow et al., 2012).
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Korrespondenzanschrift: Dr. Sandra Schmiedeler, Lehrstuhl für Psychologie IV, Institut für Psychologie der Universität Würzburg, Röntgenring 10, 97070 Würzburg;
E-Mail: [email protected]
Sandra Schmiedeler, Luisa Klauth, Robin Segerer und Wolfgang Schneider, Universität Würzburg
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Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen
Entwicklungsstörungen und ADHS im Vorschulalter
Julia Jaščenoka, Franziska Korsch, Franz Petermann und Ulrike Petermann
Summary
Cognitive Profiles of Preschool Children with Developmental Coordination Disorders and ADHD
Studies confirm that developmental coordination disorders (DCD) are often accompanied by
ADHD. It is important to know why children with combined disorders show a special profile in
a common intelligence test (WPPSI-III). For this purpose, the WPPSI-III results of a total of 125
children aged five to six years with diagnosed isolated DCD, isolated ADHD, combined disorders
and a normative sample were compared. Children with isolated ADHD showed the best cognitive profile. Children of all three diagnosis subgroups presented significantly poorer abilities in all
WPPSI-III scales than the normative sample. In comparison with preschoolers showing isolated
ADHD, children with DCD and ADHD have a significant lower Processing Speed Quotient.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 117-134
Keywords
DCD – ADHD – comorbidity – assessment of intelligence – WPPSI-III
Zusammenfassung
Studien belegen, dass Kinder mit umschriebenen Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen (UEMF) häufig auch eine ADHS aufweisen. Für die klinische Praxis ist es von Bedeutung zu
untersuchen, ob Kinder mit UEMF und ADHS ein spezifisches kognitives Leistungsprofil zeigen.
Dazu werden die WPPSI-III-Resultate von insgesamt 125 Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren mit isolierter UEMF, isolierter ADHS und kombinierten Störungen mit einer Kontrollgruppe
sowie untereinander verglichen. Die Kinder mit ADHS weisen auf deskriptiver Ebene das beste Leistungsprofil der drei Diagnosegruppen auf. Sowohl Kinder mit isolierter UEMF, isolierter ADHS
als auch Kinder mit kombinierten Störungen schneiden in allen Skalen der WPPSI-III signifikant
schlechter ab als unauffällige Kinder. Kinder mit UEMF und ADHS zeigen im Vergleich zu Kindern
mit isolierter ADHS signifikant schlechtere Leistungen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Schlagwörter
umschriebene motorische Entwicklungsstörungen (UEMF) – ADHS – Komorbidität – Intelligenzdiagnostik – WPPSI-III
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 117 – 134 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
118 J. Jaščenoka et al.
1
Hintergrund
Das Störungsbild der umschriebenen Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (kurz: UEMF) zählt mit einer Prävalenz von etwa 5 % zu einem häufigen Entwicklungsproblem im Vorschulalter. Schuleingangsuntersuchungen aus dem süddeutschen Raum zeigen, dass in den vergangenen zehn Jahren ein tendenzieller Anstieg
motorischer Defizite festgestellt werden kann (Stich, 2009). Eine motorische Entwicklungsstörung zeichnet sich durch ein verspätetes Erreichen wichtiger motorischer
Meilensteine sowie deutliche Defizite in der Fein- und Grobmotorik aus. Trotz steigender Prävalenzraten und der negativen Konsequenzen motorischer Störungen auf
die gesamte Entwicklung betroffener Kinder findet das Störungsbild der UEMF in der
Klinischen Kinderpsychologie bisher wenig Beachtung (Kastner u. Petermann, 2009).
Es gilt mittlerweile jedoch als gesichert, dass motorische Entwicklungsstörungen oft
kombiniert mit typischen Störungsbildern der Kinder- und Jugendpsychiatrie auftreten und neben dieser Primärsymptomatik einer eigenständigen Behandlung bedürfen.
Besonders häufig ist die Kombination von UEMF mit einer ADHS zu beobachten (Kaplan, Crawford, Cantell, Kooistra, Dewey, 2006). Verschiedene Studien berichten Komorbiditätsraten von bis zu 50 % für das Grundschulalter (z. B. Green, Baird, Sudgen,
2006) und circa 22 % für das Vorschulalter (Yochman, Ornoy, Parnush, 2006). Kinder
mit einer ADHS werden in der Regel sehr differenziert psychodiagnostisch untersucht,
da sie vielfältige Problembereiche aufweisen. Während der diagnostische Prozess zumeist einen Intelligenztest und eine neuropsychologische Diagnostik umfasst, gehört
die Einschätzung des motorischen Leistungsniveaus dabei in der Regel nicht zum Standardprozedere (Kirby, Salmon, Edwards, 2007). Es ist deshalb von hoher klinischer
Relevanz zu untersuchen, ob Kinder mit einer Kombination von UEMF und ADHS
ein spezifisches kognitives Leistungsprofil aufweisen, welches dem Praktiker Hinweise
für die Notwendigkeit einer Abklärung des motorischen Funktionsniveaus bei ADHSKindern liefert. Das Hauptziel dieser Studie besteht darin, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragestellung zu leisten, indem die Intelligenzprofile von Vorschulkindern
mit isolierter UEMF, isolierter ADHS und mit kombinierten Störungen mit einer unauffälligen Kontrollgruppe sowie untereinander verglichen werden.
1.1 Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit UEMF und ADHS
Die aktuelle Forschungslage deutet darauf hin, dass sowohl UEMF als auch ADHS
mit verschiedenen kognitiven Defiziten assoziiert sind. Die UEMF wird dabei primär von einer defizitären Verarbeitung visueller Reize (z. B. Tsai, Wilson, Wu, 2008),
aber beispielsweise auch von einer verzögerten Entwicklung der Exekutivfunktionen
begleitet. Laut einer Studie von Tsai et al. (2008) an 178 Kindern im Alter von neun
und zehn Jahren weisen Kinder mit UEMF Defizite in den Bereichen visuelle Diskriminationsfähigkeit, visuelles Gedächtnis, Erkennen visuell-räumlicher Beziehungen, Formkonstanz, sequentielles Gedächtnis, Figur-Grund-Erkennung und
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Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
119
Gestaltschließen auf. Wilson, Maruff und McKenzie (1997) belegen zudem, dass
visuell-räumliche Defizite unabhängig davon bestehen, ob die Aufgaben zur Überprüfung der visuell-räumlichen Leistung motorische Anteile enthalten.
Michel, Kauer und Roebers (2011) untersuchten verschiedene kognitive Basisfunktionen bei Siebenjährigen mit niedrigen motorisch-koordinativen Leistungen (n = 34)
und mit einem Risiko für eine UEMF (n = 8). Alle Kinder absolvierten kognitive Aufgaben zu Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisfunktionen. Die Ergebnisse zeigen,
dass motorisch unterdurchschnittliche Kinder in kognitiv-exekutiven Bereichen der
Aufmerksamkeit zwar aufgabenübergreifend langsamer waren, die Leistungsgenauigkeit
aber vergleichbar mit einer motorisch unauffälligen Kontrollgruppe ist. Dagegen zeigen
Kinder mit einem Risiko für eine UEMF qualitativ schlechtere Genauigkeitsleistungen.
Verschiedene Studien belegen, dass die berichteten kognitiven Defizite bei Kindern
mit UEMF durch Intelligenztests abgebildet werden können. So zeigen beispielsweise bereits motorisch auffällige Vorschulkinder im Vergleich mit einer unauffälligen
Kontrollgruppe signifikant schlechtere Leistungen in den Skalen Verbal-, Handlungsund Gesamt-IQ der Wechsler Preschool and Primary Scale-III (WPPSI-III; Petermann,
2011a; Kastner et al., 2011). Eine Validierungsstudie zur WPPSI-III (Wechsler, 2002)
berichtet, dass motorisch entwicklungsverzögerte Kinder (n = 16) verglichen mit einer
Kontrollgruppe ausschließlich einen signifikant schlechteren Handlungs-IQ (p = .001)
und Gesamt-IQ (p = .015) aufweisen (siehe Tab. 1).
Tabelle 1: Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit UEMF, ADHS und kombinierter Störung
Testverfahren
M
SD
Kognitive Leistungen
Handlungs- Verarbeitungsge- Gesamtskala
bezoge (IQ) schwindigkeit (IQ)
(IQ)
M
SD
M
SD
M
SD
Kastner et al. (2011)
WPPSI-III (n = 21)
93*
10
90*
14
-
-
90*
11
102
9
88*
12
89
18
94*
9
94
13
97
15
95
16
94
12
97
17
99
16
94
11
96
15
100
14
95*
22
90*
12
-
-
Verbale (IQ)
Störung
UEMF
ADHS
UEMF/
Motorik
Wechsler (2002)
WPPSI-III (n = 16)
Wechsler (2002)
WPPSI-III (n = 41)
Petermann u.
Petermann (2014)
WISC-IV (n = 31)
Loh et al. (2011)
WISC-IV (n = 11)
Anmerkungen: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, WPPSI-III = Wechsler Preschool and Primary Scale-III, WISC-IV = Wechsler Intellilgence Scale for Children-IV, * = signifikantes Ergebnis auf
dem .05-Signifikanzniveau im Vergleich mit einer unauffälligen Kontrollgruppe
120 J. Jaščenoka et al.
Auch bei einer ADHS manifestieren sich neuropsychologische Störungen (Naglieri
u. Goldstein, 2006; Millenet, Hohmann, Poustka, Petermann, Banaschewski, 2013;
Petermann u. Toussaint, 2009); besonders häufig werden Defizite im Bereich der exekutiven Funktionen erwähnt. Hierzu zählen die Inhibition, Planung und Organisation
sowie das Arbeitsgedächtnis. Darüber hinaus wird eine beeinträchtigte Verarbeitungsgeschwindigkeit vermutet (Loh, Piek, Barrett, 2011). Toussaint und Petermann (2010)
beschreiben in diesem Zusammenhang, dass Kinder mit ADHS im Mittel langsamer
reagieren als Gesunde, wobei ihre Leistungen insgesamt stärker schwanken; weiterhin
charakterisiert sich ihr kognitives Leistungsprofil durch häufige Auslassungen (eine
verpasste Reaktion auf bestimmte Zielreize). Im Gegensatz zur UEMF zeigen Kinder
mit ADHS in zwei Validierungsstudien zu Wechsler-Intelligenztestverfahren jedoch
in keiner der übergeordneten Skalen signifikant negative Leistungsabweichungen von
einer Kontrollgruppe. In einer klinischen Studie mit der amerikanischen Originalversion der WPPSI-III (Wechsler, 2002) wurden 41 Kinder mit ADHS untersucht. Die
Leistungen der Kinder unterscheiden sich mit einem durchschnittlichen Testergebnis
von 95.4 IQ-Punkten (SD = 16.1) in der Verarbeitungsgeschwindigkeit wie auch in den
anderen Skalen nicht signifikant von der Kontrollgruppe. Auch in einer Validierungsstudie zur deutschsprachigen Adaptation der Wechsler Intelligence Scale for Children
– vierte Version (WISC-IV, Petermann u. Petermann, 2014) ist ein ähnlicher Trend
nachweisbar: Die 31 Kinder mit ADHS zeigen in keinem der überprüften Bereiche
(Sprachverständnis, Wahrnehmungsgebundenes Logisches Denken, Arbeitsgedächtnis,
Verarbeitungsgeschwindigkeit) signifikante Abweichungen von der Kontrollgruppe.
Loh et al. (2011) betrachten erstmalig innerhalb einer Studie Schulkinder mit isolierter ADHS (n = 14), Kinder mit isolierter UEMF (n = 11), Kinder mit einer Kombination beider Störungen (n = 11) und eine Kontrollgruppe (n = 26) mit der WISCIV (Wechsler, 2004). Die Autoren weisen nach, dass Kinder mit UEMF und ADHS
signifikant schlechtere Testergebnisse (p < .05) im Index Verarbeitungsgeschwindigkeit
als die Kontrollgruppe zeigen, jedoch nicht als die Kinder mit isolierter UEMF bzw.
ADHS. Im Index Wahrnehmungsgebundenes Logisches Denken erzielen die Kinder mit
kombinierter Störung signifikant schlechtere Testleistungen als die Kinder der Kontrollgruppe und die Kinder mit isolierter ADHS (p < .05).
1.2 Fragestellung
Bisher liegen kaum Studien vor, die sich mit der Kombination von UEMF und ADHS
befassen. Aus klinischer Sicht ist es jedoch von großem Interesse zu untersuchen,
ob die von beiden Störungen betroffenen Kinder ein spezifisches kognitives Leistungsprofil aufweisen; dies ist insbesondere für die Planung einer passgenauen Intervention von zentraler Bedeutung, um einer ungünstigen Entwicklungsprognose
rechtzeitig entgegenzuwirken. Die zentrale Frage, die durch die vorliegende Arbeit
beantwortet werden soll, ist, ob sich die von beiden Störungen betroffenen Kinder
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Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
121
durch ein spezifisches Intelligenzprofil auszeichnen. Zur Beantwortung dieser Frage sollen zunächst separat die Leistungsprofile von Vorschulkindern mit isolierter
UEMF und isolierter ADHS analysiert werden, um diese im nächsten Schritt mit
dem Profil der von beiden Störungen betroffenen Kinder zu vergleichen und gegebenenfalls Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Die geschilderten Ergebnisse lassen vermuten, dass Kinder mit einer isolierten UEMF
aufgrund von Einschränkungen in der visuellen Wahrnehmung geringere Testleistungen
in den handlungsbezogenen Testaufgaben erzielen als eine motorisch unauffällige Kontrollgruppe. Zusätzliche feinmotorische Defizite sowie defizitäre Aufmerksamkeitsleistungen könnten sich negativ auf die Leistungen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit
auswirken. Es ist davon auszugehen, dass die Gesamtheit dieser Beeinträchtigungen
auch einen negativen Effekt auf den Gesamt-IQ ausübt. Eine ADHS geht insbesondere
mit Defiziten im Arbeitsgedächtnis sowie in der Verarbeitungsgeschwindigkeit einher.
Klinische Validierungsstudien zu Wechsler-Intelligenztests konnten jedoch keinen Effekt auf das kognitive Leistungsprofil der Kinder nachweisen. Es ist deshalb zu überprüfen, ob sich eine verlangsamte Verarbeitungsgeschwindigkeit bei Kindern mit ADHS
negativ auf die Leistungen in der WPPSI-Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit auswirkt.
Basierend auf diesen Annahmen ist abschließend davon auszugehen, dass Kinder mit
kombinierter UEMF und ADHS sowohl in der Handlungsskala als auch in der Verarbeitungsgeschwindigkeit signifikant schlechter abschneiden als gesunde Kinder; daraus
schlussfolgernd wird ein geringerer Gesamt-IQ vermutet. Bezugnehmend auf die Ergebnisse von Loh et al. (2011) besteht die zusätzliche Annahme, dass sich die Leistungen der
Kinder mit kombinierten Störungen in handlungsbezogenen Aufgaben signifikant von
denen der Kinder mit ADHS unterscheiden.
2
Methode
2.1 Datenerhebung und Stichprobe
Um die Schuleingangsuntersuchung (SEU) durch ein Screening zur Erfassung kindlichen Problemverhaltens zu ergänzen, wird die SEU in Bremen seit 2010 durch den
Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ; Goodman, 1997) ergänzt (Korsch u.
Petermann, 2012). Kinder, bei denen sich im SDQ auffällige Werte zeigen, erhalten bei
gleichzeitig auffälligem Befund in der Anamnese oder Verhaltensbeurteilung durch den
Amtsarzt die Empfehlung zu einer differenzierten psychologischen Nachuntersuchung.
Nach der SEU der Stadt Bremen in den Einschulungsjahrgängen 2011 und 2012 wurden
130 Kinder aufgrund des Verdachts auf das Vorliegen einer Verhaltens- oder emotionalen Störung in der Psychotherapeutischen Ambulanz (PTA) der Universität Bremen
untersucht. Die Untersuchung erfolgte nach aktuellen Empfehlungen zur Diagnostik
psychischer Störungen im Kindesalter multimodal (Döpfner u. Petermann, 2012) und
schloss neben einer ausführlichen Anamnese auch eine Verhaltensbeurteilung durch El-
122 J. Jaščenoka et al.
tern und Erzieher, eine Verhaltensbeobachtung, die Beurteilung des kognitiven und motorisch-koordinativen Leistungsniveaus sowie des psychosozialen Entwicklungsstands
ein. Diagnosen wurden nach den Richtlinien der ICD-10 gestellt.
Tabelle 2: Stichprobenbeschreibung
UEMF
auffällig
ADHS
UEMF/ADHS
unauffällig
Kontrolle
n
weiblich
männlich
gesamt
Alter in Monaten
M
SD
Spannweite
M-ABC-2
M
SD
Spannweite
SDQ
M Eltern/Erzieher
SD Eltern/Erzieher
Spannweite Eltern/Erzieher
DISYPS-II/ADHS ges.
M
SD
Spannweite
7 (26,9 %)
19 (73,12 %)
26
12 (32.4 %)
25 (67,2 %)
37
6 (24 %)
19 (76 %)
25
12 (32.4 %)
25 (67.2 %)
37
76.38
4.52
74.69
3.72
75.84
3.60
74.97
5.04
5.15
.83
2-6
9.03
2.08
7-15
4.48
1.30
2-6
11.16
2.01
8-16
4.52/4.82
2.52/2.44
0-10/1-9
6.41/5.80
2.25/3.26
1-10/0-10
7.04/6.56
2.05/2.86
3-10/3-10
2.49/2.06
2.14/2.38
0-7/0-9
.88
.58
0.16-2.68
1.44
.61
0.37-2.68
1.70
.65
0.32-2.68
.53
.38
0-1.58
Anmerkungen: Bei den Ergebnissen von M-ABC-2, SDQ und DISYPS-II handelt es sich um standardisierte Werte
Für die vorliegende Studie wurden aus dieser Gesamtstichprobe drei klinische Teilstichproben gezogen. Einschlusskriterium war das alleinige Vorliegen einer Diagnose aus dem
Bereich der ADHS (F90 ICD-10) ohne motorische Beeinträchtigungen (n = 37), das alleinige Vorliegen einer UEMF (F82 ICD-10) ohne ADHS (n = 26), oder das kombinierte
Vorliegen beider Diagnosen (n = 25). Zusätzlich wurden n = 37 Kinder ohne ADHS oder
UEMF als Kontrollgruppe rekrutiert, womit der vorliegenden Studie insgesamt N = 125
Datensätze zugrunde liegen. Globale Ausschlusskriterien aller Gruppen waren eine psychopharmakologische Behandlung, Intelligenzminderung (Gesamt-IQ < 70), neurologische Erkrankungen, Unfallverletzung mit Schädel-Hirn-Beteiligung und eine Geburt
vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche. Bei der Zusammenstellung der Gruppen
wurde weitestgehend nach Alter und Geschlecht parallelisiert. Eine entsprechende Stichprobenbeschreibung ist Tabelle 2 zu entnehmen. Die Untersuchung der Kontrollgruppe
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Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
123
erfolgte bezüglich des Ablaufs und des eingesetzten Untersuchungsmaterials analog zu
den Fallgruppen. Das schriftliche Einverständnis aller Eltern zur wissenschaftlichen Verwendung des Datenmaterials liegt vor. Alle Eltern wurden über den vertraulichen Umgang mit ihren persönlichen Daten und den Daten ihrer Kinder aufgeklärt.
2.2 Messinstrumente
2.2.1 Diagnostik und Verhaltensbeurteilung
Die Diagnostik der ADHS nach den ICD-10-Kriterien basiert neben dem ausführlichen Elterngespräch und der Verhaltensbeobachtung auf einer Beurteilung des
kindlichen Verhaltens zu Hause und im Kindergarten (Gawrilow, Petermann, Schuchardt, 2013). Um einen ersten Überblick über das Verhalten zu erlangen, wurde der
Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ; Goodman, 1997) eingesetzt. Der SDQ
besteht aus 25 Items, die sich gleichmäßig auf vier Problemskalen (Emotionale Probleme, Hyperaktivität, Verhaltensprobleme, Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen)
und die Skala Prosoziales Verhalten verteilen. Über die vier Problemskalen hinweg
kann ein Gesamtproblemwert bestimmt werden. Zur zusätzlichen gezielten Erfassung
der Diagnose-Kriterien der häufigsten Verhaltensauffälligkeiten im Vorschulalter (vgl.
Korsch u. Petermann, 2012) kamen Symptomfragebögen zur ADHS, Störungen des
Sozialverhaltens und Angststörungen aus dem Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche (DISYPS-II; Döpfner,
Görtz-Dorten, Lehmkuhl, Breuer, Goletz, 2008) zum Einsatz. Der für die vorliegende
Studie relevante ADHS-Symptomfragebogen wurde von Eltern und Erziehern in der
eigens für Schulanfänger konzipierten Vorschulversion (ADHS-V) ausgefüllt.
2.2.2 Kognitive Leistungsfähigkeit
Für die Erhebung des kognitiven Leistungsniveaus wurde die speziell für das Vorschulalter konzipierte Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence-III
(WPPSI-III; Petermann, 2011a) eingesetzt. Der Gesamt-IQ berechnet sich aus sieben Kerntests (Mosaik-Test, Allgemeines Wissen, Matrizen-Test, Wortschatz-Test,
Bildkonzepte, Begriffe erkennen und Symbole kodieren), anhand derer auch eine
getrennte Betrachtung des Handlungs- und Verbal-IQs vorgenommen werden kann.
Die zusätzliche Durchführung des Untertests Symbol-Suche ermöglicht die Einschätzung der Verarbeitungsgeschwindigkeit.
2.2.3 Motorische Leistungsfähigkeit
Der motorische Entwicklungsstand wurde mit Hilfe der Movement Assessment Battery for Children-II (M-ABC-2; Petermann, 2011b) bestimmt. Es handelt sich dabei
124 J. Jaščenoka et al.
um ein international etabliertes und standardisiertes Testverfahren zur Überprüfung
motorisch-koordinativer Leistungen. Das Verfahren kann bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 3;0 bis 16;11 Jahren eingesetzt werden. Der M-ABC-2 bestimmt
durch acht Untertests die Dimensionen Handgeschicklichkeit, Ballfertigkeiten sowie
Balance, die anschließend zu einem Gesamttestwert verrechnet werden. Zur Einschätzung der motorisch-koordinativen Leistungen stehen drei Bewertungskategorien zur Verfügung (therapiebedürftig: Standardwert ≤ 5, kritisch: Standardwert = 6
und unauffällig: Standardwert ≥ 7). Für die vorliegende Studie wird in Anlehnung an
die Empfehlungen der Versorgungsleitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF; Blank, Smits-Engelsman,
Polatajko, Wilson, 2012) dann von einer motorischen Entwicklungsstörung ausgegangen, wenn ein auffälliger Gesamtwert unterhalb der 15. Perzentile vorliegt.
2.3 Auswertungsstrategie
Berechnungen erfolgten mit IBM SPSS 20 Statistics. Nach Eingabe der Datensätze
wurden Plausibilitätskontrollen zur Sicherstellung der Datenqualität durchgeführt.
Um den Einfluss des Gruppen-Faktors auf die kognitive Leistungsfähigkeit in der
WPPSI-III zu untersuchen, wurden Mehrfachgruppenvergleiche (einfaktorielle
ANOVA) vorgenommen. Die Voraussetzungen der Normalverteilung (Kolmogorov-Smirnov-Test) und der Homoskedastizität (Levene-Test) zeigten sich als erfüllt.
Zum Vergleich einzelner Diagnosegruppen wurden post-hoc paarweise Vergleiche
(Scheffé) durchgeführt. Aufgrund der Mehrfachtestung erfolgte eine Adjustierung
des Signifikanzniveaus nach Bonferroni. Berichtet wird die Effektstärke η2 nach Cohen (1988) (η2 >. 01 = klein, η2 > .06 = mittel, η2 > .13 = groß).
3
Ergebnisse
3.1 UEMF
Tabelle 3 bildet den Einfluss von UEMF auf die kognitiven Leistungen in der WPPSIIII ab. Die Annahme, dass Kinder mit UEMF schlechtere Resultate in den handlungsbezogenen Aufgaben der WPPSI-III (Mosaik-Test, Matrizen-Test, Bildkonzepte sowie
Symbole kodieren) erzielen als eine Kontrollgruppe, ist auf deskriptiver Ebene zu bestätigen. Die Prüfung auf statistische Bedeutsamkeit weist zunächst einen signifikanten
Leistungsunterschied zwischen allen in die Analyse einbezogenen Diagnosegruppen
aus (Mosaiktest: F(3,120) = 9.63, p < .001; Matrizen-Test: F(3,120) = 4.32, p = .006;
Bildkonzepte: F(3,120) = 6.33, p = .001; Symbole kodieren: F (3,120) = 8.03; p < .001).
Die Betrachtung der Post-Hoc-Analysen zeigt einen signifikanten Unterschied für alle
handlungsbezogenen Subtests der WPPSI-III zwischen Kindern mit UEMF und der
Kontrollgruppe (Mosaik-Test: p < .001, Matrizen-Test: p = .029, Bildkonzepte: p = .001;
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Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
125
Symbole kodieren: p < .001). Ähnliche Tendenzen können auch für diejenigen Testaufgaben verzeichnet werden, die Komponenten der Verarbeitungsgeschwindigkeit erfassen. Die Scheffé-Prozedur bestätigt den signifikanten Leistungsunterschied zwischen
den beiden Gruppen UEMF und Kontrolle für die beiden Testaufgaben (Symbol-Suche:
p < .001; Symbole kodieren: p = .001). Entsprechend der Resultate in den spezifischen
Untertests lassen sich auch auf Skalenebene statistisch bedeutsame Leistungsunterschiede zwischen Kindern mit und ohne UEMF belegen (Handlungs-IQ: p < .001;
Verarbeitungsgeschwindigkeit: p < .001, Gesamt-IQ: p < .001). Zusätzlich schneiden
Kinder mit UEMF auf einem Signifikanz-Niveau von p < .01 in den sprachlichen Aufgaben Allgemeines Wissen, Wortschatz-Test und Begriffe erkennen sowie im Verbal-IQ
signifikant schlechter ab als die unauffälligen Kinder der Kontrollgruppe.
3.2 ADHS
In der Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit erzielen die ADHS-Kinder im paarweisen
Einzelvergleich mit der Kontrollgruppe mit einem durchschnittlichen IQ-Wert von
89.76 (SD = 13.80) ein signifikant schlechteres Ergebnis (p = .003). In den beiden zugehörigen WPPSI-III-Untertests Symbol-Suche (M = 8.53, SD = 2.90) und Symbole
kodieren (M = 7.94, SD = 3.05) können auf deskriptiver Ebene im Vergleich mit der
Kontrollgruppe Abweichungen zu Ungunsten der aufmerksamkeitsgestörten Kinder
festgestellt werden. Die Post-Hoc-Vergleiche zeigen nur für den Untertest SymbolSuche eine signifikante Abweichung von der Kontrollgruppe (p = .003), nicht jedoch
für das Symbole kodieren (p = .095) (siehe Tab. 3).
Zusätzlich können nach Scheffé-Prozedur auch Signifikanzen für den Vergleich
ADHS-Gruppe/Kontrollgruppe in den Aufgaben Mosaik-Test (p = .013), WortschatzTest (p = .010) und Begriffe erkennen (p = .012) sowie in den Skalen Verbal-, Handlungs- und Gesamt-IQ (p = .007, p < .001, p < .001) berichtet werden.
3.3 UEMF/ADHS
Die Annahme durchschnittlich schlechterer Testleistungen von Kindern mit UEMF
und ADHS in allen handlungsbezogenen Leistungen und der Verarbeitungsgeschwindigkeit ist zu bestätigen. Die auffälligen Kinder erzielen in Post-Hoc-Analysen in allen
Testaufgaben wie auch im Handlungs- und Gesamt-IQ sowie der Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit signifikant schlechtere Resultate als die Kinder der Kontrollgruppe (p <
.021). Die geringsten Testwerte liegen im Untertest Symbol-Suche (M = 6.24, SD = 2.65)
und Symbole kodieren (M = 6.32, SD = 2.39) vor, während die besten Testergebnisse im
Untertest Bildkonzepte (M = 8.64; SD = 2.94) gezeigt werden. Auf deskriptiver Ebene ist
festzustellen, dass die von beiden Störungen betroffenen Kinder im Handlungs-IQ und
der Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit durchschnittlich geringere Werte aufweisen als
im Verbal-IQ. Zusätzlich können für die sprachbezogenen Leistungen signifikante Abweichungen von der Kontrollgruppe nachgewiesen werden (p = .001) (siehe Tab. 3).
126 J. Jaščenoka et al.
Abbildung 1 stellt die WPPSI-III-Leistungsprofile der vier Gruppen isolierte UEMF,
isolierte ADHS, kombinierte UEMF und ADHS sowie die Kontrollgruppe gegenüber.
Dabei wird augenscheinlich, dass diejenigen Kinder, die sowohl an einer UEMF als auch
an einer ADHS leiden, ein sehr ähnliches Leistungsprofil zu den ausschließlich motorisch auffälligen Kindern aufweisen. Die Kombination beider Störungen führt somit
nicht zu einer Addition der kognitiven Leistungsschwächen. Eine Ausnahme stellt lediglich der Untertest Symbol-Suche dar. Zudem kann ein nahezu paralleler Kurvenverlauf
für die drei Subgruppen Kontrolle, isolierte ADHS und isolierte UEMF beobachtet werden, wobei die Kinder der Kontrollgruppe die besten Leistungen, die Kinder der Subgruppe UEMF die schlechtesten Testergebnisse erzielen. Eine Leistungsspitze kann für
alle Subgruppen für die Testaufgabe Bildkonzepte beschrieben werden.
14,00
Wertpunkte
12,00
10,00
8,00
6,00
UEMF
ADHS
UEMF/ADHS
Kontrolle
4,00
2,00
0,00
MT
AW
MZ
WT
BK
SYS
BE
SK
Anmerkungen: MT = Mosaik-Test, AW = Allgemeines Wissen, MZ = Matrizen-Test, WT = WortschatzTest, BK = Bildkonzepte, SYS = Symbol-Suche, BE = Begriffe erkennen, SK = Symbole kodieren
Abbildung 1:
WPPSI-III-Leistungen auf Untertestebene nach Diagnosegruppen
Der statistische Vergleich aller drei klinischen Gruppen und der Kontrollgruppe mittels
einfaktorieller ANOVA ergibt signifikante Ergebnisse für alle in die Prozedur einbezogenen abhängigen Variablen; die Effekte können dabei mit Ausnahme der Testaufgabe
Matrizentest (η2 = .098) durchgehend als groß eingeschätzt werden (η2 >.132) werden,
die größten Effekte sind dabei für den Untertest Symbol-Suche (η2 = .261), den Handlungs-IQ (η2 = .253), die Verarbeitungsgeschwindigkeit (η2 = .250) sowie den Gesamt-IQ
(η2 = .300) zu dokumentieren (siehe Tab. 3). Die anschließenden Mittelwertvergleiche
zwischen den drei klinischen Subgruppen bringen jedoch nur Signifikanzen für den
Vergleich der Gruppen ADHS und UEMF/ADHS im Untertest Symbolsuche (p = .019)
und der gesamten Verarbeitungsgeschwindigkeit hervor (p = .029).
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3.71
3.37
16.06
12.22
15.58
12.08
7.85
6.69
88.04
90.00
84.58
86.31
Begriffe erkennen (BE)
Symbole kodieren (SK)
Verbal-IQ
Handlungs-IQ
Verarbeitungsgeschwindigkeit
Gesamt-IQ
91.31
8.36
7.94
93.30
94.08
89.76
9.06
8.64
10.31
8.53
11.73
3.15
3.05
13.51
12.38
13.80
2.60
3.11
3.20
2.90
2.45
2.75
2.94
2.65
10.54
10.84
11.70
10.97
M
10.30
10.86
86.12 11.44 103.76
10.70
2.33
2.97
12.07
11.51
15.40
2.28
2.67
2.58
2.97
SD
2.73
2.37
Kontrolle
(n = 37)
7.92 3.90 10.76
6.32 2.39
9.65
90.00 14.05 103.95
87.40 10.00 104.65
79.04 12.54 101.22
8.68
8.36
8.64
6.24
Deskription
ADHS
UEMF/
(n = 37)
ADHS
(n = 25)
M
SD
M
SD
8.31
2.55 7.00 2.80
9.42
2.62 8.52 2.20
17.13
6.11
8.03
8.66
13.68
13.46
4.32
7.26
6.33
14.10
F
9.63
6.56
< .001**
.001**
< .001**
< .001**
< .001**
< .001**
.006*
< .001**
.001**
< .001**
p
< .001**
< .001**
ANOVA
.300
.132
.167
.177
.253
.250
.098
.154
.137
.261
η2
.194
.141
UEMF, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
UEMF, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
KOMB < ADHS
UEMF, ADHS, KOMB < KG
UEMF, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
KOMB < ADHS
UEMF, ADHS, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
UEMF, ADHS, KOMB < KG
Scheffé
(p < .05)
Anmerkungen: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, F = F-Test, p = Signifikanzniveau, η2 = Effektstärke Eta-Quadrat, KOMB = kombinierte UEMF/
ADHS, KG = Kontrollgruppe, * = signifikantes Ergebnis auf dem .01-Signifikanzniveau, ** = signifikantes Ergebnis auf dem .001-Signifikanzniveau
2.30
3.08
3.10
3.12
8.77
7.69
9.31
7.88
Matrizen-Test (MZ)
Wortschatz-Test (WT)
Bildkonzepte (BK)
Symbol-Suche (SYS)
SD
2.85
3.11
M
7.31
8.27
Mosaik-Test (MT)
Allgemeines Wissen (AW)
WPPSI-III
UEMF
(n = 26)
Tabelle 3: Deskriptive Statistiken und Kennwerte der einfaktoriellen Varianzanalyse für die Subtests (Wertpunkte) und Skalen der WPPSI-III (IQ-Werte)
����������������������������������������������������������������������������������
Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
127
128 J. Jaščenoka et al.
4
Diskussion
Es sollte geklärt werden, ob Vorschulkinder mit kombinierter UEMF und ADHS ein
spezifisches Intelligenzprofil aufweisen, das Hinweise darauf gibt, wann im Rahmen
einer ADHS-Diagnostik auch motorische Fertigkeiten überprüft werden sollten.
Diesbezüglich werden die Leistungsprofile von Kindern mit isolierter UEMF und
ADHS analysiert und mit Testleistungen von Kindern mit kombinierter UEMF und
ADHS verglichen.
4.1 UEMF
Es zeigt sich zunächst, dass die Annahme geringerer Testleistungen ausschließlich motorisch beeinträchtigter Kinder in den handlungsbezogenen Testaufgaben sowie einer
defizitären Verarbeitungsgeschwindigkeit zu bestätigen ist. Dies gilt sowohl auf Skalenals auch auf Untertestebene. Die 26 untersuchten Kinder mit isolierter UEMF zeigen
in allen Untertests der Handlungsskala (Mosaik-Test, Matrizen-Test, Bildkonzepte, Allgemeines Wissen) und der Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit (Symbol-Suche, Symbole kodieren) signifikant schlechtere Leistungen als die Kontrollgruppe. Diese Resultate bestätigen nicht nur die aus der Literatur abgeleiteten Annahmen, sondern decken sich auch
mit den Resultaten einer Arbeit von Kastner und Petermann (2010), die in ihrer Studie
nachweisen, dass Grundschulkinder mit einer motorischen Entwicklungsstörung in der
WISC-IV in nahezu allen Untertests des Index Wahrnehmungsgebundenes Logisches
Denken, welcher das Äquivalent zur Handlungsskala der WPPSI-III darstellt, geringere
Leistungen erzielen als eine Kontrollgruppe. Die UEMF-Kinder der vorliegenden Studie
erzielen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit durchschnittliche Testergebnisse die etwa
eine Standardabweichung von der Kontrolle abweichen; auch hier konnten Kastner und
Petermann (2010) ähnliche Ergebnisse berichten. Betrachtet man die Testleistungen
jedoch eingehender, gestalten sich die Resultate im Bereich der handlungsbezogenen
Leistungen weniger erwartungskonform. Auf Subtestebene weicht lediglich der Mosaiktest mit einem Durchschnittswert von 7.31 Wertpunkten (SD = 2.85) deutlich vom
Altersdurchschnitt ab. Der Mosaiktest erfordert dabei eine Reihe unterschiedlicher visueller Wahrnehmungsleistungen. Dazu zählen insbesondere Analyse und Synthetisieren
abstrakter visueller Reize, nonverbale Konzeptbildung, visuo-motorische Koordination
sowie Figur-Grund-Unterscheidung.
In Anlehnung an die bereits zitierten Ergebnisse von Tsai et al. (2008), dass motorisch beeinträchtigte Kinder Schwächen in der visuellen Diskriminationsfähigkeit,
dem visuellen Gedächtnis, der Formkonstanz, dem sequentiellen Gedächtnis, der
Figur-Grund-Erkennung, dem Gestaltschließen sowie in der Wahrnehmung visuellräumlicher Beziehungen aufweisen, lässt das schlechtere Abschneiden der motorisch
auffälligen Kinder plausibel erscheinen. Laut Wilson et al. (1997) bestehen visuellräumliche Beeinträchtigungen bei Kindern mit motorischer Entwicklungsstörung
auch dann, wenn die Aufgaben zur Überprüfung der visuell-räumlichen Leistung kei-
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����������������������������������������������������������������������������������
Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
129
ne motorischen Anteile enthalten. Diese Aussage ist aufgrund der vorliegenden Ergebnisse in den Testaufgaben Matrizen-Test und Bildkonzepte, welche keine visuo-motorische Koordination erfordern, zumindest in der Tendenz anzuzweifeln. Im Untertest
Bildkonzepte erzielen die Kinder der Diagnosegruppe UEMF mit einem Mittelwert
von 9.31 Wertpunkten (SD = 3.10) ein Ergebnis, das nur knapp unterhalb der Norm
von zehn Wertpunkten liegt. Der signifikante Gruppenunterschied zur Kontrollgruppe ist möglicherweise auf das überdurchschnittliche Abschneiden der Kontrollkinder
zurückführbar (M = 11.70, SD = 2.58). Ein ähnlicher (wenn auch weniger deutlicher)
Trend kann auch für den Matrizentest festgestellt werden.
Die zu Beginn berichteten Studien deuten im Kontext von UEMF auf unbeeinträchtigte sprachliche Leistungen hin. Es zeigt sich jedoch, dass die Kinder mit isolierten
motorischen Defiziten in allen dem Verbalteil zugeordneten Testaufgaben signifikant
schwächere Leistungen als die Kontrollgruppe erzielen. Zusätzlich wird nachgewiesen,
dass der Verbal-IQ sogar niedriger als der Handlungs-IQ ausfällt. Es ist darüber hinaus
festzustellen, dass die ausschließlich motorisch beeinträchtigten Kinder gegenüber
den drei weiteren Diagnosegruppen über die durchschnittlich geringsten sprachlichen
Kompetenzen verfügen. Die Frage, inwieweit motorisch auffällige Kinder tatsächlich
in ihrer sprachlichen Entwicklung unbeeinträchtigt sind, wird aktuell konträr diskutiert. Während ein Teil der Studien von weitestgehend durchschnittlichen sprachlichen Leistungen ausgeht und somit den sprachlichen IQ indirekt als Schätzwert der
eigentlichen kognitiven Kompetenzen empfiehlt (Coleman, Piek, Livsey, 2001; Piek,
Dawson, Smith, Gasson, 2008), weisen andere Untersuchungen vermehrt auch auf
Leistungsdefizite in sprachlichen Bereichen hin (z. B. Kastner u. Petermann, 2010; Kastner et al., 2011). Erklärungsansätze existieren bisher allerdings kaum. Kastner und
Petermann (2010) mutmaßen aufgrund ihrer Verhaltensbeobachtungen während
eines Intelligenztests, dass sozial unsicheres bzw. ängstliches Verhalten dazu führt,
dass Kinder nur kurz und knapp auf die Fragen der Testleiter antworten und somit
geringere Testergebnisse erzielen als motorisch unauffällige Kinder. Weiterhin scheint
es vor den aktuellen Ausführungen der Versorgungsleitlinien zum Thema UEMF und
Komorbiditäten der AWMF möglich, dass motorische Entwicklungsstörungen häufig
mit Verzögerungen in der Sprachentwicklung assoziiert sind (Blank et al., 2012). Ob
einer dieser Ansätze als Erklärung für die verminderten sprachlichen Leistungen der
motorisch auffälligen Kinder dienen kann, wäre nur durch zusätzliche diagnostische
Untersuchungen in den Bereichen Verhalten und Sprache festzustellen.
4.2 ADHS
Kinder mit isolierter ADHS zeigen in der Gesamtskala Verarbeitungsgeschwindigkeit signifikant schlechtere Ergebnisse als die Kontrollgruppe. Die Betrachtung auf
Subtestebene bestätigt die postulierten Annahmen hingegen nur teilweise. Während
die Vergleiche mit der Kontrollgruppe in der Aufgabe Symbol-Suche signifikant
schlechter ausfallen, trifft dies auf das Symbole kodieren nicht zu. Der mangelnde
130 J. Jaščenoka et al.
Nachweis einer Signifikanz für letztgenannte Aufgabe könnte bei eingehender Betrachtung der Testresultate in beiden Subgruppen jedoch durch einen Stichprobeneffekt erklärbar sein, da die Kontrollgruppe den zu erwartenden Durchschnittswert
von zehn Wertpunkten unterschreitet (M = 9.65; SD = 2.97).
Zusätzlich fällt auf, dass die Ergebnisse im Subtest Symbole kodieren schlechter ausfallen als in der Symbol-Suche. Das Symbole kodieren erfordert ähnlich wie die SymbolSuche Fähigkeiten in den Bereichen kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, visuelles
Kurzzeitgedächtnis, visuo-motorische Koordination sowie kognitive Flexibilität.
Eine effiziente und schnelle Bearbeitung der Testaufgabe Symbole kodieren erfordert
darüber hinaus auch ein hohes Maß an Lernfähigkeit. Es ist zu vermuten, dass aufgrund
der engen Verknüpfung von Lernfähigkeit und Arbeitsgedächtnis (Baddeley, 2003) Defizite im Bereich des Arbeitsgedächtnisses die Lernfähigkeit verlangsamen und ADHSKinder deshalb im Symbole kodieren vergleichsweise schlechtere Resultate erzielen.
Die Kinder mit ADHS erzielen auch im Mosaik-Test signifikant schlechtere Resultate als die Kontrollgruppe. In den zwei weiteren handlungsbezogenen Subtests Bildkonzepte und Matrizen-Test setzt sich dieser Trend jedoch nicht fort. Es ist somit festzuhalten, dass die ADHS-Kinder nur im Mosaik-Test beeinträchtigt scheinen. Diese
Testaufgabe fordert ein hohes Maß an feinmotorischem Geschick und ist zusätzlich
zeitlich begrenzt.
Anders als erwartet sind auch die sprachlichen Leistungen der Kinder mit ADHS
im Vergleich zur Kontrollgruppe eingeschränkt; ähnlich wie in der Diagnosegruppe
UEMF ist die Forschungslage diesbezüglich konträr (vgl. Loh et al., 2011). Es bleibt
an dieser Stelle offen, ob Kinder mit ADHS tatsächlich leichte sprachliche Einschränkungen aufweisen oder ob dieses Phänomen lediglich auf einen Stichprobeneffekt zurückzuführen ist.
4.3 UEMF/ADHS
Die zentrale Fragestellung nach einem spezifischen Leistungsprofil bei Kindern der
Diagnosegruppe UEMF/ADHS kann nach Betrachtung der isolierten Störungsbilder abschließend diskutiert werden. Die Kinder mit kombinierter UEMF und
ADHS erzielen signifikant schlechtere Werte in der Verbal- und Handlungsskala, der
Verarbeitungsgeschwindigkeit und im Gesamt-IQ als die Kontrollgruppe.
Die Post-Hoc-Analysen zeigen, dass alle drei Diagnosegruppen signifikant schlechtere
WPPSI-III-Leistungen in den Skalen Verbal-IQ, Handlungs-IQ, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gesamt-IQ erzielen. Auch wenn die Einzelbetrachtung aller Testprofile in
der Tendenz darauf hindeutet, dass ADHS-Kinder im Vergleich mit den anderen beiden
Diagnosegruppen in allen Bereichen der WPPSI-III geringere Beeinträchtigungen aufweisen, bestätigt die statistische Analyse ausschließlich einen signifikanten Leistungsunterschied der beiden Diagnosegruppen isolierte ADHS und UEMF/ADHS für den Subtest Symbol-Suche und die Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit. Aufmerksamkeitsdefizite
gepaart mit motorischen Beeinträchtigungen führen zu schlechteren Testleistungen als
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����������������������������������������������������������������������������������
Kognitive Leistungsprofile von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen������
131
eine isolierte ADHS. Bezugnehmend auf die Studie von Loh et al. (2011) werden signifikante Leistungsunterschiede in der Handlungsskala zwischen den Gruppen isolierte
ADHS und UEMF/ADHS vermutet. Für die handlungsbezogenen Testaufgaben ist zwar
auf deskriptiver Ebene ein durchschnittlicher Leistungsunterschied von nahezu sieben
Wertpunkten zwischen den Gruppen isolierte ADHS und UEMF/ADHS festzustellen,
in der statistischen Überprüfung erweist sich dieser jedoch als nicht signifikant. Der
statistische Vergleich der Gruppen isolierte UEMF und UEMF/ADHS zeigt keine signifikanten Unterschiede in den Testprofilen. Das zusätzliche Vorhandensein einer ADHS
führt zu keiner weiteren Herabsetzung der Testleistungen.
Die Ergebnisse dieser Studie lassen sich abschließend folgendermaßen zusammenfassen:
1. Kinder mit isolierter UEMF erzielen in allen überprüften Subtests sowie in den
Skalen Verbal-IQ, Handlungs-IQ, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gesamt-IQ der
WPPSI-III signifikant schlechtere Testleistungen als eine Kontrollgruppe.
2. Kinder mit isolierter ADHS erzielen in den Subtests Mosaik-Test, Wortschatz-Test
und Begriffe erkennen sowie in den Skalen Verbal-IQ, Handlungs-IQ, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gesamt-IQ der WPPSI-III signifikant schlechtere Testleistungen als eine Kontrollgruppe.
3. Kinder mit einer kombinierten UEMF und ADHS erzielen in allen überprüften
Subtests sowie in den Skalen Verbal-IQ, Handlungs-IQ, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gesamt-IQ der WPPSI-III signifikant schlechtere Testleistungen als eine
Kontrollgruppe.
4. Die WPPSI-III-Leistungen von Kindern mit kombinierter UEMF und ADHS unterscheiden sich im Subtest Symbol-Suche und der Skala Verarbeitungsgeschwindigkeit signifikant von Kindern mit isolierter ADHS.
5. Die WPPSI-III-Leistungsprofile von Kindern mit isolierter UEMF und kombinierter UEMF/ADHS unterscheiden sich nicht signifikant.
Als Beschränkung der Studie sind folgende Punkte zu benennen. Die Hauptkritik
bezieht sich zunächst auf die geringen Stichprobenumfänge, weshalb alle Ergebnisse
mit Vorbehalten zu interpretieren sind. Auch erfolgte die Vergabe der Diagnosen
zwar auf Basis einer ausführlichen multimodalen Diagnostik nach ICD-10-Kriterien, es wurde jedoch kein standardisiertes Interviewverfahren eingesetzt. Zudem
zeigt sich, dass die rekrutierte Kontrollgruppe Intelligenzwerte über der 50. Perzentile aufweist und somit keine optimale Nachbildung der Norm gelungen ist. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die hier vorgenommene Analyse von Querschnittsdaten keine verlässlichen Aussagen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen
ermöglicht.
132 J. Jaščenoka et al.
Fazit für die Praxis
Kinder mit einer ADHS werden sehr umfassend psychodiagnostisch untersucht, da
sie vielfältige Probleme aufweisen. Während routinemäßig ein Intelligenztest und eine
neuropsychologische Diagnostik erfolgen, gehört die Abklärung der Motorik in der
Regel nicht zum Standardprozedere. Ein Leistungsprofil, welches deutliche Abweichungen von mehr als einer Standardabweichung im Subtest Symbol-Suche sowie der
Gesamtskala Verarbeitungsgeschwindigkeit aufweist und in der Tendenz zusätzliche
Einschränkungen in der Handlungsskala hervorbringt, kann für den Praktiker ein
Hinweis darauf sein, das motorische Funktionsniveau genauer zu untersuchen und
so möglicherweise neben der ADHS eine UEMF zu identifizieren. Therapeutische
Maßnahmen müssen sich dann nicht nur auf aufmerksamkeitssteigernde Maßnahmen beschränken, sondern motorische Interventionen integrieren.
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134 J. Jaščenoka et al.
Korrespondenzanschriften: Dr. Julia Jaščenoka, Dipl.-Psych. Franziska Korsch,
Prof. Dr. Franz Petermann, Prof. Dr. Ulrike Petermann, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen, Grazer Str. 2a und 6, 28359
Bremen; E-Mail: [email protected]
Julia Jaščenoka, Franziska Korsch, Franz Petermann und Ulrike Petermann, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen
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Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden in
getrennten und nicht-getrennten Familien
Harald Werneck, Maximilian O. Eder, Simone Ebner und Sonja Werneck-Rohrer
Summary
Father-Child-Contact and Well-being of the Children in Separated and Non-Separated Families
This study investigated determinants of the contact between children and fathers after parental separation and the interplay of family status (non-separated vs. separated families),
father-child relationship-quality and child’s well-being. We compared 254 adolescents aged
15 to 19 years, from non-separated and separated families, by administering an adaptation of
the “Inventory of Life Quality in Children and Adolescents” (Mattejat u. Remschmidt, 1998)
and the scale emotionality of the FPI-R (Fahrenberg, Hampel, Selg, 2000). Contact between
fathers and children after parental separation was mainly associated with parental conflict
and contact during and after the separation. No significant associations were found with age
and gender of the child, maternal remarriage or paternal education. The relationship to the
father mediated the effects of family arrangement on different measures of child well-being.
In separated families children with little contact to their fathers showed worse relationships to
them compared to children in intact families. Good father-child relationships were positively
associated with different measures of children’s well-being. A central conclusion of this study
is, that the father-child relationship is an important source for child’s well-being.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 135-151
Keywords
father – parental separation – father-child-relationship – child well-being
Zusammenfassung
In dieser Arbeit wurden Determinanten des Kontaktausmaßes von Kindern zum getrennt
lebenden Vater sowie Zusammenhänge zwischen dem Familienstatus (nicht-getrennte und
getrennte Familien), der Beziehung zum Vater und Kriterien des kindlichen Wohlbefindens
untersucht. Dazu wurden 254 Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren aus nicht-getrennt
und getrennt lebenden Familien befragt. Vorgegeben wurde eine Adaptation des Inventars zur
Erfassung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen (Mattejat u. Remschmidt, 1998)
und die Skala Emotionalität aus dem FPI-R (Fahrenberg et al., 2000). Das Kontaktausmaß
zum Vater nach der Trennung stand vor allem mit dem zwischenelterlichen Konflikt- und
Kontaktausmaß während und nach der Scheidung in Zusammenhang. Nicht relevant waren
das kindliche Geschlecht und das Alter, der Partnerschaftsstatus der Mutter oder das BilPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 135 – 151 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
136 H. Werneck et al.
dungsniveau des Vaters. Die Beziehung zum Vater stellte sich als bedeutsame Mediatorvariable der Unterschiede zwischen den getrennten und nicht-getrennten Familien bezüglich des
kindlichen Wohlbefindens heraus. Kinder aus getrennten Familien mit wenig Kontakt zum
Vater gaben eine geringere Beziehungsqualität zu diesem an als jene aus nicht-getrennten Familien. Eine gute Beziehung zum Vater ging wiederum mit erhöhten Werten im Wohlbefinden einher. Wichtig erscheint in dieser Hinsicht, dass vor allem die Beziehungsqualität zum
Vater maßgeblich mit dem kindlichen Wohlbefinden in Zusammenhang steht.
Schlagwörter
Vater – elterliche Trennung – Vater-Kind-Beziehung – kindliches Wohlbefinden
1
Hintergrund
Dass Vätern generell eine große Bedeutung für die Entwicklung ihrer Kinder beizumessen ist, wurde mittlerweile mehrfach empirisch belegt (z. B. Lamb, 2010). In einer
Metaanalyse von 59 Studien zur Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern wurden zahlreiche Zusammenhänge zwischen der väterlichen Unterstützung und dem
kindlichen Wohlbefinden gefunden (Amato, 1998). Es verwundert daher nicht, dass
der Verlust des Kontaktes zum nicht sorgeberechtigten Vater für betroffene Kinder
häufig einen zentralen Stressor in der Entwicklung darstellt (Amato, 2000). Metaanalysen (z. B. Amato u. Gilbreth, 1999) bestätigen, dass sich eine gute Beziehung der
Kinder zum getrennt lebenden Vater als förderlich für die kindliche Entwicklung erweist (Amato, 2000; Kelly, 2003; Moxnes, 2003). Viele Studien zeigen, dass eine gute
Beziehung durch häufigen Kontakt zwischen Vater und Kind begünstigt wird (Adritti
u. Keith, 1993; Fabricius u. Luecken, 2007; Sobolewski u. King, 2005; Whiteside u.
Becker, 2000). Aus diesem Grund erscheint es von Interesse, die potenziellen Determinanten des Kontaktausmaßes nach der Trennung zu ergründen.
1.1 Determinanten des Kontaktausmaßes zum Vater nach der Trennung
Einen bedeutsamen Zusammenhang zum Kontaktausmaß zwischen Kindern und
ihren getrennt lebenden Vätern zeigt das elterliche Konfliktverhalten. Grundsätzlich ist es wichtig, das Konfliktverhalten der Eltern nach und vor der Trennung zu
differenzieren (King u. Heard, 1999). Mehrere Studien berichteten einen negativen
Zusammenhang zwischen elterlichem Konflikt vor beziehungsweise nach der Trennung und der väterlichen Erziehungsbeteiligung (z. B. De Graaf u. Fokkema, 2007).
Kelly (2006) wies nach, dass elterlicher Konflikt nach einer Trennung zu weniger
väterlicher Beteiligung führte. In einer Metaanalyse fanden sich höhere Konfliktraten bei getrennten Eltern mit alleiniger Obsorge im Vergleich zu jenen mit geteiltem
Sorgerecht (Bauserman, 2002). Pruett, Williams, Insabella und Little (2003) zeigten,
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����������������������������������������������������
Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden������
137
dass elterlicher Konflikt zu weniger Beteiligung des nicht zu Hause lebenden Vaters führte. Kooperative Kommunikation und interparentale Kooperation standen
zudem in einem positiven Zusammenhang mit der Häufigkeit des Vater-KindKontaktes (Whiteside u. Becker, 2000). Konflikte zwischen Eltern können also dazu
führen, dass Väter den Kontakt zu ihren Kindern verringern, um konflikthafte Begegnungen mit der ehemaligen Partnerin zu vermeiden. Dennoch wiesen manche
Untersuchungen nur sehr geringe oder keine Zusammenhänge zwischen väterlicher
Beteiligung und elterlichem Streit nach der Trennung auf (z. B. Adritti u. Keith,
1993; Sobolewski u. King, 2005). Vereinzelte Befunde zeigten sogar positive Zusammenhänge zwischen elterlichem Konflikt nach einer Trennung und der Beteiligung
des abwesenden Elternteils (z. B. Amato u. Rezac, 1994). King und Heard (1999)
betonten, dass elterlicher Konflikt nach einer Trennung ein Hinweis darauf sein
kann, dass beide Eltern weiterhin in die Erziehung ihres Kindes involviert sind. Kein
Konflikt zwischen den Eltern nach der Trennung könnte laut Autorinnen ausdrücken, dass diese eine wenig konflikthafte Beziehung zueinander pflegen, aber auch,
dass sie kaum oder gar keinen Kontakt zueinander haben. Fehlender Elternkontakt
könnte sich wiederum negativ auf den Kontakt zwischen Vater und Kind auswirken.
Diese Ergebnisse könnten darauf hinweisen, dass elterliches Konfliktverhalten nach
der Trennung einen Indikator für aktives väterliches Engagement darstellt. Die Eltern wären dementsprechend dazu bereit, Konflikte zu riskieren, um den Kontakt
zwischen Kind und getrennt lebendem Elternteil aufrechtzuerhalten. Ebenso kann
ein positiver Zusammenhang zwischen Kontakt und elterlichem Konflikt aber auch
daraus resultieren, dass häufiger Kontakt mehr Gelegenheit für Streit bietet.
Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand daher darin zu untersuchen, inwiefern sich das Konflikt- und Kontaktverhalten der Eltern nach und vor der Trennung auf das Ausmaß des Vater-Kind-Kontaktes auswirken.
Ein weiterer relevanter Faktor für das väterliche Engagement nach der Trennung ist
der Partnerschaftsstatus der Eltern. Seltzer (1991) stellte fest, dass die Heirat mit einem
neuen Partner die väterliche Einbindung reduzierte. Gingen die Ex-Partnerinnen
neue Partnerschaften ein, führte dies zu weniger Kontakt zwischen Kindern und deren Vätern und bei diesen zu Gefühlen der Rivalität und Konkurrenz (Sieder, 2001;
Skevik, 2006), Angst vor Kontaktverlusten zu ihrem Kind und zu einer Reduktion
der Besuchskontakte (Schmidt-Denter, 2000). Väter mit neuen Partnerinnen zeigten
ebenfalls weniger Kontakt zu ihren Kindern aus der früheren Partnerschaft (Swiss u.
Le Bourdais, 2009). Gegensätzliche Ergebnisse, welche positive Zusammenhänge zwischen einer Heirat der Elternteile mit neuen Partner/innen und dem Kontaktausmaß
zwischen Vater und Kind feststellten, wurden jedoch ebenfalls gefunden (Aquilino,
2006; Skevik, 2006).
Darüber hinaus wurde das Kontaktausmaß nach einer Trennung in Zusammenhang mit dem kindlichen Geschlecht untersucht. Manche Studien zeigten, dass Väter
häufigeren Kontakt zu Kindern eines Geschlechts, meist Buben, hatten (King, Harris,
Heard, 2004; Seltzer, 1991; Swiss u. Le Bourdais, 2009). Andere Autor/innen wiede-
138 H. Werneck et al.
rum konnten kaum Zusammenhänge nachweisen (Cooksey u. Craig, 1998; Manning,
Stewart, Smock, 2003; Sobolewski u. King, 2005).
Ebenfalls diskutiert wurde der Einfluss des väterlichen Bildungsniveaus auf das
Kontaktausmaß zwischen Vätern und Kindern (Adritti u. Keith, 1993; Amato u. Rezac, 1994; Cooksey u. Craig, 1998; King et al., 2004). Bisherige Ergebnisse zeigen, dass
das Bildungsniveau des Vaters positiv mit dem Kontaktausmaß nach der Trennung in
Zusammenhang steht.
Widersprüchliche Hinweise bestehen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen
dem Kontaktausmaß und dem Alter des Kindes. Furstenberg (2000) argumentierte,
dass ältere Kinder häufiger Zeit mit Peers verbringen, was sich negativ auf das Kontaktausmaß zum Vater auswirke. Andere Autor/innen zeigen hingegen, dass Väter
mehr Kontakt mit ihren älteren Kindern pflegen, unter anderem weil Brief- und Telefonkontakte mit diesen leichter möglich sind (Cooksey u. Craig, 1998; Manning et al.,
2003; Seltzer, 1991).
1.2 Zusammenhänge zwischen Familienstatus, Vater-Kind-Kontakt und
kindlichem Wohlbefinden
Eine zentrale Annahme der vergangenen Forschung war, dass Kinder aus getrennten
Familien tendenziell niedrigere Werte im Wohlbefinden aufweisen als jene aus nichtgetrennten Familien. Meist wurden geringe Effektstärken berichtet, jedoch zeigte sich
dieses Muster über einige Jahrzehnte relativ konsistent (Albertini u. Garriga, 2011;
Amato, 2000, 2010; Amato u. Keith, 1991). Welche Variablen in diesem Zusammenhang mit dem kindlichen Wohlbefinden in Beziehung stehen, ist nach wie vor unklar.
Zahlreiche Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen der Kontaktfrequenz
von getrennt lebenden Vätern zu ihren Kindern und kindlichem Wohlbefinden, und
konnten wenige bis gar keine Assoziationen finden (Amato u. Gilbreth, 1999, King u.
Heard, 1999, Whiteside u. Becker, 2000). Viele Autor/innen hoben hervor, dass nicht
das Kontaktausmaß direkt, sondern viel eher die Qualität der Vater-Kind Beziehung
bedeutsam für das Wohl der Kinder sei (Amato u. Gilbreth, 1999; Booth, Scott, King,
2010; Hawkins, Amato, King, 2007; Kelly, 2006; Sobolewski u. King, 2005). Dabei ließ
sich die Qualität der Vater-Kind Beziehung als Mediatorvariable zwischen dem Kontaktausmaß und Maßen des kindlichen Wohlbefindens empirisch bestätigen (Fabricius u. Luecken, 2007). Regelmäßiger Besuch erlaubte den Vätern eine gute Beziehung zu den Kindern aufrechtzuerhalten oder aufzubauen (z. B. Adritti u. Keith, 1993;
Fabricius, 2003; Fabricius u. Luecken, 2007). Auch die Ergebnisse einer Metaanalyse
zeigten, dass das Kontaktausmaß positiv mit der Qualität der Vater-Kind-Beziehung
und diese wiederum mit dem Wohlbefinden, den sozialen und kognitiven Fähigkeiten
der Kinder in Zusammenhang stand (Whiteside u. Becker, 2000). Ein positiver Zusammenhang zwischen regelmäßigem Kontakt, der Vater-Kind Beziehung und kindlichem Wohlbefinden ist jedoch nicht automatisch gewährleistet (Amato u. Gilbreth,
1999; Whiteside u. Becker, 2000). Booth et al. (2010) belegten, dass eine bestehende
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Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden������
139
Ehe der Eltern oder regelmäßiger Kontakt zum getrennt lebenden Vater kein Garant
für positives Wohlbefinden des Kindes war, sondern dieses meist von der Beziehungsqualität zum Vater abhängig sei.
In der folgenden Untersuchung sollten die erläuterten Befunde für österreichische
Familien anhand aktueller Daten überprüft und erweitert werden.
Ausgehend von der facheinschlägigen Literatur vermuteten wir folgende Zusammenhänge:
H1: Das Kontaktausmaß zwischen Vätern und ihren Kindern steht in Zusammenhang mit (a) dem Konflikt- und Kontaktverhalten zwischen den Eltern während und (b)
nach der Trennung, (c) dem derzeitigen Partnerschaftsstatus der Mutter und (d) dem
Bildungsniveau des Vaters.
Aufgrund der unklaren Befundlage zum Zusammenhang zwischen dem kindlichen
Alter sowie dem Geschlecht und dem Kontaktausmaß gingen wir davon aus, dass
diesbezüglich keine relevanten Zusammenhänge zu finden sind.
Darüber hinaus sollte der Zusammenhang zwischen dem Familienstatus (nichtgetrennte Familien und getrennte Familien), dem Kontakt zum Vater und Aspekten
des kindlichen Wohlbefindens untersucht werden. Wir gingen davon aus, dass nicht
nur der Familienstatus, sondern ebenso das Kontaktausmaß zum Vater in getrennten
Familien einen bedeutenden Zusammenhang mit der Beziehung zu diesem und dem
Wohlbefinden aufweist.
H2: Kinder mit wenig Kontakt zu ihrem Vater nach einer elterlichen Trennung unterscheiden sich hinsichtlich der Beziehung zu diesem stärker von Kindern aus nichtgetrennten Familien, als Kinder mit viel Kontakt zu ihrem Vater nach einer elterlichen
Trennung.
Zudem erwarteten wir keine Unterschiede zwischen Kindern aus getrennten und
aus nicht-getrennten Familien im kindlichen Wohlbefinden, wenn die Beziehungsqualität zum Vater mitberücksichtigt wird.
H3: Es besteht kein Unterschied im Wohlbefinden zwischen Kindern aus getrennten
und aus nicht-getrennten Familien, wenn die Beziehungsqualität zum Vater als Mediatorvariable berücksichtigt wird.
Zusätzlich erwarteten wir, dass eine gute Beziehung zum Vater mit höherem kindlichen Wohlbefinden einhergeht.
H4: Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen der Beziehung zum Vater und
Maßen des kindlichen Wohlbefindens.
2
Methode
Die in der Untersuchung erfasste Stichprobe setzte sich aus insgesamt 254 Jugendlichen
(158 weiblich, 96 männlich) im Alter von 15 bis 19 Jahren (M = 16.35, SD = 1.16) zusammen. In 96 Fällen (37,8 %) lebten die Eltern getrennt und die Kinder bei der Mutter.
Die eingesetzten Fragebögen wurden überwiegend in niederösterreichischen Schulklas-
140 H. Werneck et al.
sen verteilt und beinhalteten vorwiegend eigens erstellte Items zu diversen Themenbereichen, welche von den Jugendlichen beantwortet wurden. Diese gaben an, ob ihre
Eltern verheiratet waren oder eine Lebensgemeinschaft führten (nicht-getrennte Familie), beziehungsweise, ob sie geschieden oder getrennt waren (getrennte Familie). Im
letzteren Fall konnten sie angeben, wie viel Zeit sie aktiv während der Woche mit ihrem
getrennt lebenden Vater verbringen („mindestens 10 Stunden pro Woche“ oder „weniger als 10 Stunden pro Woche“). Aus diesen Angaben wurde die Variable Familienstatus
erstellt. Dabei wurden die drei Gruppen „nicht-getrennte Familie“ (Eltern verheiratet
oder in Lebensgemeinschaft), „viel Kontakt“ (getrennte Familie, in welcher das Kind
mehr als zehn Stunden aktiven Kontakt zum Vater pro Woche hat) und „wenig Kontakt“ (getrennte Familie, in welcher das Kind weniger als zehn Stunden aktiven Kontakt
zum Vater pro Woche hat) gebildet. In 35 Fällen bestand trotz elterlicher Trennung viel
Kontakt und in 61 Fällen nur wenig Kontakt zum Vater. Die restlichen 158 Jugendlichen
stammten aus nicht-getrennten Familien.
Das aktuelle Konfliktverhalten der Eltern wurde über die Frage „Haben deine Eltern in letzter Zeit häufig Streit?“ mit den drei Antwortoptionen „ja“, „nein“ oder
„meine Eltern haben keinen Kontakt“ erfasst. Das Konfliktverhalten während der
Scheidung konnte über die Frage „Ging die Scheidung deiner Eltern mit vielen Konflikten einher?“ mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden. Der Partnerschaftsstatus
der sorgeberechtigten Mutter wurde über die Frage „Lebt jener Elternteil, bei dem
du wohnhaft bist, mit einem neuen Partner zusammen?“ mit den Antwortoptionen
„ja“ oder „nein“ erfasst. Das Bildungsniveau des Vaters konnte über fünf Antwortmöglichkeiten („Pflichtschule“, „Lehre“, „Fachschule“, „Matura“, „Universität“) angegeben werden.
Zur Erfassung der Vater-Kind Beziehungsqualität und unterschiedlicher Maße des
Wohlbefindens diente eine adaptierte Version des Inventars zur Erfassung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen von Mattejat und Remschmidt (1998). Daraus wurden
50 für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellungen relevant erscheinende Items
selegiert und reanalysiert. Faktorenanalytisch ergaben sich dabei sieben Skalen (siehe
Ebner, 2006) von welchen folgende sechs in der Analyse berücksichtigt wurden:
1. Empfundene Belastung (9 Items; α = .81; z. B. „Im letzten Monat hatte ich viele
Ängste.“).
2. Allgemeines
Wohlbefinden (7 Items; α = .81; z. B. „Im letzten Monat ging es mir
gut.“).
3. Beziehung
zum Freundeskreis (6 Items; α = .74; z. B. „Im letzten Monat konnte ich
mit meinen Freunden über alles reden.“).
4. Schulische
Anforderungen (5 Items; α = .66; z. B. „Im letzten Monat hatte ich Angst,
die Klasse nicht zu schaffen.“).
5. Interaktion mit dem Umfeld (3 Items; α = .58; z. B. „Im letzten Monat hatte ich das
Gefühl, dass andere Jugendliche mich nicht verstehen.“).
6. Beziehung zum Vater (3 Items; α = .87; z. B. „Im letzten Monat konnte ich mich auf
meinen Vater verlassen.“).
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Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden������
141
Das Antwortformat wurde zur differenzierteren Erfassung der Informationen von
dichotom auf vierstufig (stimmt genau/ein wenig/eher nicht/gar nicht) erweitert.
Hohe Werte repräsentieren eine wünschenswerte Ausprägung. Ferner wurde aus
dem revidierten Freiburger Persönlichkeitsinventar (Fahrenberg et al., 2000) die Skala Emotionalität (14 Items, α = .82) übernommen. Hohe Werte repräsentieren eine
hohe Emotionalität.
3
Ergebnisse
Um unsere erste Hypothese zu beantworten, wurde eine binär logistische Regression
durchgeführt. In dieser wurden das Kontaktausmaß zum Vater als abhängige Variable und das aktuelle Konfliktverhalten der Eltern, das Konfliktverhalten während der
Scheidung, das Geschlecht des Kindes, der Partnerschaftsstatus der Mutter, das Alter
des Kindes und das Bildungsniveau des Vaters als Prädiktorvariablen definiert. Das
Bildungsniveau des Vaters wurde auf Grund geringer Fälle in manchen Kategorien in
die zwei Ausprägung „Matura oder höher“ (Matura und Universität) und „Fachschule
oder geringer“ (Fachschule, Lehre, Pflichtschule) dichotomisiert. Die Prädiktorvariablen wurden mittels Einschlussmethode in die Analyse integriert. Insgesamt wurden
die Angaben von 96 Jugendlichen mit getrennt lebenden Eltern analysiert. Tabelle 1
zeigt die Ergebnisse der binär logistischen Regression. Der Hosmer-Lemeshow ChiQuadrat goodness of fit (GOF) und die Pseudo-R2 Maße zeigten eine gute Anpassung
des Modells an (GOF p = .885; Nagelkerke’s R2 = .484; Cox & Snell R2 = .354). Wie
in Tabelle 1 ersichtlich sind sowohl das aktuelle als auch das Streitverhalten während
der Trennung statistisch signifikante Prädiktoren. Die Wahrscheinlichkeit, dass das
Kind weniger als zehn Stunden pro Woche mit dem getrennt lebenden Vater verbrachte, war 5.7 Mal so hoch, wenn die elterliche Scheidung mit Konflikten einherging (OR = 5.738, 95 % KI = 1.739-18.929, p = .004). Interessanterweise zeigte sich
kein von den aktuellen Konflikten der Eltern abhängiger Unterschied (OR = 0.646,
95 % KI = 0.155-2.691, p = .549). Jedoch war die Wahrscheinlichkeit mehr als 22 Mal so
hoch, dass das Kind weniger Zeit mit dem getrennt lebenden Vater verbrachte, wenn die
Eltern gar keinen Kontakt zueinander zeigten (OR = 22.935, 95 % KI = 32.728-192.852,
p = .004). Das Geschlecht des Kindes (OR = 0.578, 95 % KI = 0.156-2.147, p = .413), der
Partnerschaftsstatus (OR = 0.485, 95 % KI = 0.154-1.524, p = .215) das Alter des Kindes
(OR = 0.781, 95 % KI = 0.506-1.204, p = .263) und das Bildungsniveau des Vaters (OR =
2.303, 95 % KI = 0.738-7.183, p = .151) zeigten keinen statistisch signifikanten Einfluss.
Für die Beantwortung unserer letzten drei Hypothesen wurden für jede Facette des
kindlichen Wohlbefindens Mediationsanalysen durchgeführt. Aktuelle Artikel zu mediationsanalytischen Verfahren kritisieren den von Baron und Kenny (1986) propagierten und häufig angewendeten „causal-steps-approach“ als unbefriedigend (Hayes,
2009; Hayes u. Preacher, 2013; Preacher u. Hayes, 2004). Deshalb sollte in unseren
Analysen auf eine von Hayes und Preacher (2013) berichtete Strategie zurückgegriffen
142 H. Werneck et al.
werden. Dieser Ansatz erlaubt eine Quantifizierung des indirekten Effekts und weist
zudem eine höhere Teststärke als der „causal-steps-approach“ auf (Hayes, 2009).
Tabelle 1: Ergebnisse der logistischen Regressionsanalyse für die abhängige Variable Kontaktausmaß
zum Vater
Prädiktoren
Aktuelles Konfliktverhalten
Nein vs. Ja
Nein vs. kein Kont. zu Ex-Partn.
Konflikt bei Scheidunga
Geschlechtb
Partnerschaftsstatusc
Alter
Bildungsniveau Vaterd
Test
Evaluation des Gesamtmodells
Likelihood Ratio Test
Goodness-of-fit Test
Hosmer & Lemeshow
Regressions­
koeffizient (b)
Standard- Odds Ratio
fehler (SE) (Exp(B))
-.436
3.133**
1.747**
-.548
-.724
-.247
.834
χ2
.727
1.086
.609
.669
.584
.221
.580
df
.646
22.935*
5.738*
.578
.485
.781
2.303
p
41.945
7
.000**
3.002
7
.885
95 %-Konfidenz­
intervall (KI)
0.155, 2.691
2.728, 192.852
1.739, 18.929
0.156, 2.147
0.154, 1.524
0.506, 1.204
0.738, 7.183
Anmerkungen: kein Kont. zu Ex-Partn. = kein Kontakt zu Ex-Partnerin, aReferenzgruppe = „nein“,
b
Referenzgruppe = „weiblich“, cReferenzgruppe = „nein“, dReferenzgruppe = „Matura oder höher“, Cox
& Snell R2 = .354; Nagelkerke R2 = .484; *p < .05, **p < .01
Als unabhängige Variable diente der Familienstatus. Die Beziehung zum Vater wurde als Mediatorvariable und die Facetten des kindlichen Wohlbefindens (empfundene Belastung, allgemeines Wohlbefinden, Beziehung zum Freundeskreis, Interaktion mit dem Umfeld, schulische Anforderungen und negative Emotionalität) als
abhängige Variable modelliert. Eine schematische Darstellung der Mediationsanalysen findet sich in Abbildung 1. Insgesamt wurden sechs Modelle analysiert, welche
sich durch die jeweilige Facette des Wohlbefindens, unterschieden.
Da unsere unabhängige Variable mehrkategorial war, entschieden wir uns für eine
von Hayes und Preacher (2013) berichtete Analysestrategie. Hierfür wurden aus der
Variable Familienstatus zwei Dummy-Variablen erstellt, bei welchen die Gruppe der
Kinder aus nicht-getrennten Familien als Referenzkategorie diente. Somit wurde ein
Vergleich zwischen Kindern aus getrennten Familien, mit viel Kontakt zu ihrem Vater,
und Kindern aus nicht-getrennten Familien, sowie ein Vergleich zwischen Kindern
aus getrennten Familien, mit wenig Kontakt zu ihrem Vater, und Kindern aus nichtgetrennten Familien, ermöglicht. Die Mittelwertunterschiede zwischen Kindern aus
getrennten Familien und nicht-getrennten Familien konnten für die Beziehung zum
Vater (a1 & a2) und die unterschiedlichen Maße des Wohlbefindens unter Konstanthaltung der Beziehung (c’1 & c’2) analysiert werden.
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Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden������
143
Abbildung 1: Schematische Darstellung der berechneten Pfade. a-c’ repräsentieren die Pfadkoeffizienten zwischen den Variablen. a1 und a2 repräsentieren den Mittelwertunterschied in der Beziehung
zum Vater zwischen Kindern mit getrennten und mit gemeinsam lebenden Eltern. b repräsentiert
den Einfluss der Beziehung zum Vater auf Maße des Wohlbefindens. c’1 und c’2 repräsentieren den
Mittelwertunterschied in Maßen des Wohlbefindens zwischen Kindern mit getrennten und mit gemeinsam lebenden Eltern, wenn die Beziehung zum Vater konstant gehalten wird. d repräsentiert die
Vierfelderkorrelation zwischen den beiden Dummy-kodierten Variablen zum Familienstatus. e1 und
e2 repräsentieren den Fehlerterm der abhängigen und mediierenden Variable. Insgesamt wurden sechs
Modelle mit unterschiedlichen Maßen des Wohlbefindens analysiert.
Um die statistische Signifikanz der indirekten Effekte (a1b & a2b) zu überprüfen,
wurde für jeden indirekten Effekt ein fehlerkorrigiertes 97.5 %-Konfidenzintervall
berechnet. Dieses wurde über Bootstrap-Analysen mit jeweils 5.000 Ziehungen erstellt. Ein indirekter Effekt kann dann als statistisch signifikant angesehen werden,
wenn das Konfidenzintervall den Wert 0 nicht beinhaltet (Preacher u. Hayes, 2004).
Die Analysen wurden mithilfe eines von Hayes und Preacher (2013) erstellten Macros (MEDIATE) mittels SPSS 21 durchgeführt.
Die Ergebnisse der Mediationsanalysen finden sich in den Tabellen 2, 3 und 4. Da
die Koeffizienten für die Pfade a1 und a2, sowie die Vierfelderkorrelation d zwischen
den beiden Dummy-Variablen in allen Modellen ident waren, werden diese zusammen in Tabelle 2 berichtet. Alle anderen Pfade (b, c’1 und c’2) werden getrennt für jedes
Maß des Wohlbefindens in Tabelle 3 dargestellt. Die indirekten Effekte (a1b und a2b)
und deren 97.5 %-Konfidenzintervalle werden getrennt für alle Maße des Wohlbefindens in Tabelle 4 angegeben.
144 H. Werneck et al.
Tabelle 2: Pfadkoeffizienten zwischen Familienstatus und Beziehung zum Vater
Bez. Vater
a1
a2
b
-.76**
.17
SE
.129
.160
Vierfelderkorrelation
r
SE
-.22**
.009
Anmerkungen: Bez. Vater = Beziehung zum Vater; a1 und a2 = Dummy-Variable zum Vergleich des
Familienstatus; b = unstandardisierter Pfadkoeffizient, r = Korrelationskoeffizient, SE = Standardfehler;
*p < .05, **p < .01
Wie in Tabelle 2 ersichtlich, unterschieden sich Kinder aus getrennten Familien,
welche viel Kontakt zu ihrem Vater angaben, hinsichtlich ihrer Beziehung zu diesem
nicht von Kindern aus nicht-getrennten Familien (a2 = .17, p = .281). Kinder mit
wenig Kontakt zu ihrem Vater nach der Trennung wiesen hingegen einen deutlich
niedrigeren Mittelwert in der Beziehung zu diesem auf als jene aus nicht-getrennten
Familien (a1 = -.76, p = .000).
Wie aus Tabelle 3 (folgende Seite) ersichtlich, unterschieden sich Kinder aus getrennten Familien (sowohl mit viel als auch mit wenig Kontakt zum Vater) hinsichtlich verschiedener Maße des Wohlbefindens nicht statistisch signifikant von jenen
aus nicht-getrennten Familien (c’1 und c’2), wenn die Beziehung zum Vater konstant
gehalten wurde. Die Beziehung zum Vater (b) wies einen statistisch signifikanten
Zusammenhang mit den meisten Variablen zum Wohlbefinden auf. Eine gute Beziehung zum Vater ging mit günstigeren Ausprägungen in der empfundenen Belastung
(b = .19, p = .000), dem allgemeinen Wohlbefinden (b = .23, p = .000), der Beziehung
zum Freundeskreis (b = .13, p = .000), der Interaktion mit dem Umfeld (b = .17, p =
.000) und der negativen Emotionalität (b = -.91, p = .000) einher.
Wie aus Tabelle 4 (folgende Seite) ersichtlich, zeigte sich ein indirekter Effekt des
Familienstatus auf vier Maße des kindlichen Wohlbefindens. Dieser zeigte sich ausschließlich im Vergleich zwischen Kindern aus nicht-getrennten Familien und Kindern aus getrennten Familien, welche weniger als zehn Stunden pro Woche aktiven
Kontakt zu ihrem Vater angaben (a1b). Die Bootstrap-Analysen ergaben 97.5 % fehlerkorrigierte Konfidenzintervalle, die den Wert 0 nicht beinhalteten. Dies weist darauf hin, dass die Unterschiede in der empfundenen Belastung (97.5 %-KI = -.272 bis
-.061), dem allgemeinen Wohlbefinden (97.5 %-KI = -.326 bis -.081), der Beziehung
zu Freunden (97.5 %-KI = -.226 bis -.027) und der Emotionalität (97.5 % KI = .285 bis
1.284) zwischen den beiden Gruppen über die Beziehung zum Vater mediiert wurden.
Für den Vergleich zwischen Kindern aus nicht-getrennten Familien und Kindern aus
getrennten Familien, welche mehr als zehn Stunden aktiven Kontakt pro Woche zu
ihrem Vater angaben, konnten diese indirekten Effekte nicht gefunden werden.
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allgemeines
Wohlbefinden
b
SE
.23**
.039
-.07
.085
-.07
.099
Beziehung zu
Freunden
b
SE
.13**
.038
.14
.084
-.17
.098
Interaktion mit dem
Umfeld
b
SE
.17**
.050
.01
.109
-.17
.127
schulische
Anforderungen
b
SE
.08
.045
-.06
.098
-.15
.114
Emotionalität
b
SE
-.91**
.204
.44
.444
.52
.518
allgemeines Wohlbefinden
SE
UGKI
OGKI
.054
-.326
-.081
.024
-.003
.107
schulische Anforderungen
b
SE
UGKI
OGKI
-.06
.039
-.171
.018
.01
.012
-.004
.051
b
-.18
.04
b
.69
-.16
b
-.09
.02
Beziehung zu Freunden
SE
UGKI
OGKI
.041
-.226
-.027
.015
-.002
.074
Emotionalität
SE
UGKI
OGKI
.219
.285
1.284
.092
-.422
.003
Anmerkungen: Die beiden Pfade a1b und a2b repräsentieren den Mittelwertunterschied zwischen Kindern aus nicht-getrennten und getrennten Familien
in Maßen des kindlichen Wohlbefindens, der über die Beziehung zum Vater mediiert wird. Enthält das Konfidenzintervall (UGKI - OGKI) des indirekten
Effektes nicht die Zahl 0, so ist dieser als statistisch signifikant anzusehen. b = unstandardisierter Pfadkoeffizient, SE = Standardfehler; UGKI = Untergrenze des 97.5 %-Konfidenzintervalls; OGKI = Obergrenze des 97.5 %-Konfidenzintervalls
a1b
a2b
a1b
a2b
b
-.14
.03
empfundene Belastung
SE
UGKI
OGKI
.047
-.272
-.061
.020
-.003
.088
Interaktion mit dem Umfeld
b
SE
UGKI
OGKI
-.13
.049
-.268
-.041
.029
.019
-.002
.085
Tabelle 4: Indirekte Effekte des Familienstatus auf unterschiedliche Maße des Wohlbefindens
Anmerkungen: Pfad b gibt den Einfluss der Beziehung zum Vater auf Maße des kindlichen Wohlbefindens an. Die Pfade c’1 und c’2 repräsentieren den
Mittelwertunterschied zwischen Kindern aus nicht-getrennten Familien und Kindern aus getrennten Familien unter Konstanthaltung der Beziehung zum
Vater. b = unstandardisierter Pfadkoeffizient, SE = Standardfehler; *p < .05, **p < .01
b
c’1
c’2
empfundene
Belastung
b
SE
.19**
.042
.01
.091
-.08
.106
Tabelle 3: Pfadkoeffizienten vom Familienstatus und der Beziehung zum Vater zu unterschiedlichen Maßen des kindlichen Wohlbefindens
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Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden������
145
146 H. Werneck et al.
4
Diskussion
Ziel der vorliegenden Studie war es, Variablen zu identifizieren, welche mit dem
Ausmaß des Kontaktes zwischen Kindern und ihren getrennt lebenden Vätern in
Zusammenhang stehen. Außerdem sollten Zusammenhänge zwischen dem Familienstatus, der Beziehung zum Vater und Maßen des kindlichen Wohlbefindens analysiert werden.
Unsere Annahmen, dass die Kontaktfrequenz zwischen Kindern und deren getrennt
lebenden Vätern mit dem Konflikt- und Kontaktverhalten zwischen den Eltern während
und nach der Scheidung, dem derzeitigen Partnerschaftsstatus der Mutter und dem Bildungsniveau des Vaters in Zusammenhang steht, konnten teilweise bestätigt werden.
So zeigte sich in Übereinstimmung mit bisherigen Forschungsergebnissen (De Graaf
u. Fokkema, 2007), dass das Kontaktausmaß zwischen Kindern und deren Vätern vom
elterlichen Konflikt während der Trennung abhängig war. Die Wahrscheinlichkeit weniger als zehn Stunden pro Woche aktiv Zeit mit dem getrennt lebenden Vater zu verbringen, war mehr als fünf Mal so hoch, wenn das Kind Konflikte der Eltern während
der Trennung angab. Interessanterweise zeigte sich, dass zwischen den Bedingungen
vorhandenes und nicht vorhandenes Konfliktverhalten der Eltern nach der Trennung
kein Unterschied im Kontaktausmaß zwischen Vater und Kind bestand. Kein Kontakt
zwischen den Eltern nach der Trennung führte zu einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit, dass Kinder wenig Kontakt zu ihrem Vater angaben. Dieses Ergebnis ist vereinbar mit der Annahme von King und Heard (1999), welche besagt, dass Konflikte
zwischen den Eltern nach der Trennung einen Hinweis auf ein bestehendes Engagement
zur Kindererziehung des nicht sorgeberechtigten Elternteils darstellen können. Ebenso
könnten vermehrte Kontakte zwischen den Eltern aber auch den Nährboden für weitere
Konflikte bieten und deshalb miteinander in Zusammenhang stehen. Väter, die sich potenziellen Konflikten mit ihrer ehemaligen Partnerin aussetzen, sehen ihre Kinder also
häufiger als jene, die keinen Kontakt zur Ex-Partnerin pflegen.
Wie erwartet konnte kein Zusammenhang zwischen dem kindlichen Geschlecht
und dem Kontaktausmaß gefunden werden. Somit bestätigen unsere Daten bisherige
Befunde, die zeigten, dass das Geschlecht des Kindes einen zu vernachlässigenden Zusammenhang mit dem Kontaktausmaß zum getrennt lebenden Vater aufweist (Manning et al. 2003; Sobolewski u. King, 2005).
Der Partnerschaftsstatus der Mutter zeigte im Gegensatz zu bisherigen Befunden
(Schmidt-Denter, 2000; Seltzer, 1991; Sieder, 2001) keinen Zusammenhang mit dem
Kontaktausmaß. Der fehlende Zusammenhang könnte daraus resultieren, dass in der
Analyse der Zeitpunkt der mütterlichen Wiederheirat nicht einbezogen wurde. So
weist Aquilino (2006) darauf hin, dass die Langzeiteffekte einer Wiederheirat gegenläufige Muster zu deren Kurzzeiteffekten zeigen können. In seinen Längsschnittanalysen ergab sich ein positiver Zusammenhang zwischen der elterlichen Wiederheirat
und dem Kontaktausmaß, während Studien mit kurzen Untersuchungszeiträumen
gegenläufige Ergebnisse berichteten (Schmidt-Denter, 2000; Seltzer, 1991). Unsere
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Vater-Kind-Kontakt und kindliches Wohlbefinden������
147
Stichprobe umfasst möglicherweise Trennungsfamilien, welche erst kürzlich, als auch
solche, welche bereits vor längerer Zeit wieder geheiratet haben.
Der Einfluss des Alters des Kindes auf das Kontaktausmaß war in unserer Studie
ebenso nicht bedeutsam. Eine Berücksichtigung der verstrichenen Zeit seit der elterlichen Trennung hätte möglicherweise zu differenzierteren Resultaten geführt. In
der Literatur stellt sich die Befundlage dazu widersprüchlich dar (Furstenberg, 2000;
Manning et al., 2003), manche Autor/innen verweisen aber darauf, dass das kindliche
Alter immer in Beziehung zur Zeit seit der elterlichen Trennung zu setzen ist, um bedeutsame Ergebnisse zu erzielen (Seltzer, 1991; Swiss u. Le Bourdais, 2009).
Der Zusammenhang der väterlichen Bildung mit dem Kontaktausmaß nach der
Scheidung konnte in dieser Studie ebenfalls nicht bestätigt werden. King et al. (2004)
gingen davon aus, dass der Einfluss väterlicher Bildung besonders bei Familien ohne
Migrationshintergrund evident sein sollte. Nachdem der Migrationshintergrund der
Familie nicht kontrolliert wurde, besteht die Möglichkeit, dass ein fehlender Zusammenhang darauf zurückzuführen ist, dass dieser in der aktuellen Stichprobe einen
nicht zu vernachlässigenden Anteil ausmachte.
Konsistent mit unserer Annahme unterschieden sich Kinder aus getrennten Familien, welche wenig Kontakt zu ihrem Vater angaben, in ihrer Beziehung zu diesem stärker von Kindern aus nicht-getrennten Familien als Kinder aus getrennten Familien,
die viel Kontakt zum Vater angaben. Vergleichbar mit den Ergebnissen von Fabricius
(2003) zeigten Kinder, welche viel Kontakt zu ihrem Vater nach der elterlichen Trennung aufwiesen, ähnlich gute Beziehungen zu diesem wie Kinder aus nicht-getrennten
Familien. Hingegen gaben Kinder aus getrennten Familien mit wenig Kontakt zum Vater auch eine bedeutend schlechtere Beziehung an als Kinder aus nicht-getrennten Familien. Dies ist vereinbar mit Ergebnissen welche nahelegen, dass die Beziehung zum
Vater in direktem Zusammenhang mit dem Kontaktausmaß zu diesem steht (Adritti
u. Keith, 1993; Fabricius, 2003; Fabricius u. Luecken, 2007; Whiteside u. Becker, 2000).
Häufige Kontakte ermöglichen es, bedeutungsvolle Interaktionen und Beziehungen
aufzubauen. Unter der Annahme, dass Kinder aus nicht-getrennten Familien öfter die
Möglichkeit haben, mit ihrem Vater zu interagieren, verwundert es kaum, dass diese
Kinder eine bessere Beziehung zu ihrem Vater angeben als jene aus getrennten Familien, welche nur sporadisch Kontakt zu ihrem Vater haben.
Übereinstimmend mit unserer dritten Hypothese zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied in Maßen des Wohlbefindens zwischen Kindern aus getrennten
Familien und nicht-getrennten Familien, wenn die Beziehung zum Vater als Mediatorvariable berücksichtigt wurde. Passend zu unserer vierten Hypothese stand lediglich die Beziehung zum Vater mit Maßen des kindlichen Wohlbefindens in einem
statistisch signifikanten Zusammenhang. Dies ist konsistent mit bisherigen Befunden
welche zeigen, dass nicht das Kontaktausmaß zum Vater oder die Familienstruktur,
sondern die Qualität der Vater-Kind-Beziehung in Zusammenhang mit dem kindlichen Wohlbefinden stehen (Amato u. Gilbreth, 1999; Booth et al., 2010; Fabricius
u. Luecken, 2007; Hawkins et al., 2007; Kelly, 2006; Sobolewski u. King, 2005). Un-
148 H. Werneck et al.
terschiede im Wohlbefinden zwischen Kindern mit wenig Kontakt zu ihrem getrennt
lebenden Vater und jenen aus nicht-getrennten Familien wurden über die Beziehung
zum Vater mediiert. Regelmäßiger Kontakt mit dem Vater kann die Beziehung zu diesem also begünstigen. Eine tragfähige Beziehung wiederum ermöglicht es dem Kind,
mit seinem Umfeld, dem Freundeskreis und Belastungen wirkungsvoller umzugehen,
ein Gefühl des Wohlbefindens aufzubauen und aufrechtzuerhalten.
4.1 Einschränkungen
Die vorliegende Studie unterliegt einigen Einschränkungen, welche in zukünftigen
Untersuchungen zu berücksichtigen sind. Zum einen wurden in der Analyse Querschnittsdaten verwendet, weshalb kausale Aussagen unmöglich sind. Hawkins et
al. (2007) hoben beispielsweise hervor, dass auch inverse Effekte für den Zusammenhang zwischen der Beziehungsqualität zum Vater und dem kindlichen Wohl
verantwortlich sein können. So könnten problematische Charakteristika des Kindes
dazu führen, dass sich Väter zunehmend von ihren Kindern distanzieren. Kinder
wiederum könnten ihr eingeschränktes Wohlbefinden auf die Abwesenheit ihrer
Väter zurückführen und deshalb den Kontakt zu diesen meiden. Zukünftige Untersuchungen sollten deshalb vermehrt auf Längsschnittdaten zurückgreifen. Darüber
hinaus wurden alle gesammelten Informationen ausschließlich über die Jugendlichen und über Fragebögen erhoben. Deshalb sollte das Problem der gemeinsamen
Methodenvarianz auf Grund von Effekten, die in der berichterstattenden Personen
verankert sind, für die Interpretation berücksichtigt werden.
Fazit für die Praxis
Das Kontaktausmaß des Kindes zum getrennt lebenden Vater steht mit dem elterlichen Konfliktverhalten während wie auch dem Kontaktverhalten der Eltern
nach der Scheidung in Zusammenhang. Eine kooperationsförderliche Beziehung
zwischen den Eltern sollte deshalb während und nach dem Scheidungsprozess
durch Mediation oder Elterngruppen fokussiert werden. Die Beziehungsqualität zwischen Vater und Kind steht zudem in bedeutendem Zusammenhang zum
Kontaktausmaß mit diesem sowie zum kindlichen Wohlbefinden. Beratungsund Interventionsprogramme müssen gezielt die Beziehung zwischen Vater und
Kind fokussieren, um eine adäquate Anpassung an die geänderte Familiensituation zu ermöglichen. Gruppeninterventionsprogramme mit Kindern aus Trennungsfamilien sollten verstärkt eine Einbindung beider Elternteile anregen und
die Beziehung zwischen Kind und Eltern stärker fokussieren.
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149
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151
Korrespondenzanschrift: Harald Werneck, Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung,
Liebiggasse 5/1, A-1010 Wien/Österreich; E-Mail: [email protected]
Harald Werneck, Maximilian O. Eder und Simone Ebner, Universität Wien, Österreich; Sonja WerneckRohrer, Medizinische Universität Wien, Österreich
AUTOREN UND AUTORINNEN
Simone Ebner, Mag., Absolventin an der Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut
für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung.
Maximilian Oscar Eder, Diplomstudent an der Fakultät für Psychologie Wien und Studienassistent am Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung.
Julia Jaščenoka, Dr. phil., Dipl.-Psych., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation.
Luisa Klauth, Dipl.-Psych., Studium an der Universität Würzburg. In Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie).
Franziska Korsch, Dipl.-Psych., am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der
Universität Bremen tätig.
Manfred Mickley, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Therapeut
SG. Seit 15 Jahren tätig im Sozialpädiatrischen Zentrum, Vivantes-Klinikum Berlin-Friedrichshain.
Franz Petermann, Prof. Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Diagnostik der Universität Bremen. Direktor des Zentrums für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen.
Ulrike Petermann, Prof. Dr. phil., Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Kinderpsychologie
der Universität Bremen.
Gerolf Renner, Prof. Dr. rer. nat., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinischer
Neuropsychologe GNP. Professor für Psychologie und Diagnostik an der Pädagogischen
Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik.
Sandra Schmiedeler, Dr., Dipl.-Psych., Postdoktorandin am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Universität Würzburg. In Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie).
Wolfgang Schneider, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Universität Würzburg. Primäre Forschungsgebiete: Gedächtnis,
Metagedächtnis, Intelligenz und Lese-Rechtschreibschwierigkeiten.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 152 – 153 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Autoren und Autorinnen 153
Robin Segerer, Dr., Dipl.-Psych., Postdoktorand am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Universität Würzburg. In Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie).
Harald Werneck, Ass.-Prof., Mag. Dr., Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe,
Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit,
Entwicklung und Förderung.
Sonja Werneck-Rohrer, Mag. Dr., Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie.
NEUERE TEST VERFAHREN
Ricken, G., Fritz, A., Balzer, L. (2013). MARKO-D. Mathematik- und Rechenkonzepte im Vorschulalter – Diagnose. Göttingen: Hogrefe, 198,- €, Preis für
Verbrauchsmaterialien pro Durchführung 0,80 €.
Kurzcharakteristik
MARKO-D ist ein Einzeltest zur Erfassung des Entwicklungsstands von Kindern
im Alter von vier bis sechs Jahren hinsichtlich erworbener arithmetischer Konzepte
(Manual, S. 6). Das Verfahren ermöglicht sowohl eine altersnormbezogene Auswertung (T-Werte) als auch eine qualitative Zuordnung zu einer von fünf aufeinander
aufbauenden Entwicklungsstufen, woraus Anhaltspunkte für die individuelle Förderung abgeleitet werden können. Dazu liegt mit MARKO-T (Gerlach, Fritz, Leutner,
2013) ein Trainingsprogramm vor, das unmittelbar auf diese fünf Kompetenzstufen
ausgerichtet ist (Besprechung ebenfalls in diesem Heft, S. 160). Die Testkonstruktion basiert auf dem Rasch-Modell und erfüllt die testtheoretischen Anforderungen
der probabilistischen Testtheorie.
Einleitung und theoretische Grundlagen
Schon ab dem Säuglingsalter bilden sich bei Kindern die Grundlagen eines Mathematikverständnisses heraus. Grundlegend ist dabei das intuitive Erfassen und Vergleichen kleiner Mengen. Mit einsetzender Sprachentwicklung werden Zahlworte
und deren Reihung erworben und es bildet sich eine explizite Mengenvorstellung
heraus. Darauf bauen etwa ab einem Alter von vier Jahren weitere Entwicklungsniveaus mathematischer Konzepte auf, die von den Autoren ebenfalls als wichtige
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Aneignung von Lerninhalten im schulischen
Mathematikunterricht angesehen werden: Auf Niveau 1 (Zählzahl-Konzept) sind
Kinder in der Lage, Objektmengen durch eine Eins-zu-eins-Strategie direkt miteinander zu vergleichen. Auf Niveau 2 (Ordinaler Zahlenstrahl) gelingt das Vergleichen von Zahlen. Niveau 3 (Kardinalität und Zerlegbarkeit) beschreibt das Wissen
um die Mengenrepräsentanz von Zahlen (Mächtigkeit). Dadurch können Mengen
als abstrakte zusammengesetzte Einheiten verstanden werden und Additionen erfolgen durch das Weiterzählen von der ersten Menge aus. Kann das Kind Mengen
in Teilmengen zerlegen, hat es Niveau 4 (Enthaltensein und Klasseninklusion) erreicht. Niveau 5 (Relationalität) ist durch das Erkennen der Äquidistanz zwischen
benachbarten ganzen Zahlen gekennzeichnet, wodurch Differenzen zwischen verschiedenen Mengen nun exakt bestimmt werden können. Die Testergebnisse können sowohl quantitativ durch Vergleich zur Normstichprobe als auch qualitativ
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 154 – 159 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Neuere Testverfahren 155
hinsichtlich des Erreichens der fünf Niveaustufen interpretiert werden. Letzteres
ermöglicht die Ableitung von Hinweisen zur individuellen Förderung.
Testaufbau
Der Test besteht aus 55 Items, die jeweils einer der fünf Niveaustufen zugeordnet
sind. Die Aufgaben sind in einen thematischen Rahmen eingebettet (zwei Eichhörnchen, die bei der Nahrungssuche Zähl- und Rechenprobleme zu bewältigen haben)
und werden allesamt mündlich, meist in Verbindung mit einer visuellen Vorlage,
vorgegeben. Die Instruktionstexte sind wörtlich genau einzuhalten. Als Zielreaktion
müssen die Kinder antworten, auf Abbildungen zeigen oder mit Zählplättchen Manipulationen vornehmen. Die Aufgaben ähneln vom Inhalt her denen anderer Tests
zu frühen Rechenfertigkeiten. Auf Niveaustufe 1 muss die Zahlenreihe aufgesagt
werden. Objektmengen sind abzuzählen und Mengen sind hinsichtlich ihrer Mächtigkeit zu vergleichen. Bei Niveau 2 sind Vorläufer und Nachfolger in der Zahlenreihe zu benennen, Mengenveränderungen sind durch Zählplättchen vorzunehmen,
sichtbare und unsichtbare Teilmengen müssen zusammengefügt und ausgezählt
werden („Hier siehst du 4 Sterne und unter der Wolke sind noch 3 Sterne. Wie viele
Sterne sind das zusammen?“). Niveau 3 verlangt das Zusammenfügen und Vermindern von Mengen im Zahlenraum bis 8. Mengen müssen so ergänzt werden, dass sie
einer vorgegebenen anderen Menge entsprechen, und es muss erkannt werden, dass
eine Menge gleich bleibt, egal an welchem Ausgangspunkt man mit dem Abzählen
beginnt. Kennzeichnend für Niveau 4 sind Aufgaben, bei denen Mengeninklusion
bewältigt werden muss („Gib mir 5 Chips, drei davon müssen blau sein“), Zahlwortreihen müssen richtig weitergeführt werden (1 – 3 – 5 - …) und der Zusammenhang von Teilmengen und Gesamtmenge muss verstanden worden sein („4 Blumen
habe ich, wie viele fehlen bis zur 10?“). Auf Niveau 5 schließlich sind Differenzen
zwischen Mengen zu bestimmen („Nenne mir die Zahl, die um 2 größer ist als 4.“),
es muss in Zweierschritten rückwärts gezählt werden, und es ist das Verhältnis von
Teil- zu Gesamtmenge herzustellen unter gleichzeitiger Beachtung von Differenzen
(„Gib mir 8 Chips, 2 blaue mehr als rote.“).
Die meisten Aufgaben werden anhand eines aufstellbaren Aufgabenordners präsentiert. Bei einigen Items kommen Aufgabenkarten zum Einsatz, auf die Zählplättchen gelegt werden müssen. Ermittelt wird ein Gesamtrohwert. Der zugehörige
Altersnormwert kann in einer Tabelle abgelesen werden. Außerdem erfolgt eine
qualitative Auswertung, welcher der fünf Niveaustufen das Kind zuzurechnen ist.
Für das Bewältigen einer Stufe wurde als Kriterium die Lösung von 75% der zugehörigen Aufgaben gesetzt. Es gibt kein Abbruchkriterium, die Kinder haben alle
Aufgaben zu bearbeiten.
Im Lieferumfang enthalten sind Manual (53 Seiten inkl. Testnormen), diverse
Testmaterialien (Aufgabenbuch, Aufgabenkarten, Zählplättchen), zehn Ergebnisund zehn Protokollbogen.
156 Neuere Testverfahren
Normierung und Testanalyse
Die Testentwicklung erfolgte in mehreren Stufen. Aufgrund theoretischer Vorannahmen wurden Items formuliert und mit einem dichotomen Rasch-Modell auf
ihre Fähigkeit überprüft, zwischen den fünf postulierten Stufen zu differenzieren.
Für die Endfassung wird eine zufriedenstellende Übereinstimmung der empirischen
Daten mit den aus dem theoretischen Modell vorhergesagten Lösungshäufigkeiten
(Infit-Analyse nach Wright und Linacre, 1994) berichtet. Die Itemschwierigkeiten
decken den Leistungsbereich der Kinder in der Normstichprobe angemessen ab, sodass keine Boden oder Deckeneffekte zu verzeichnen sind.
Der Test ist normiert für Kinder im Alter von 4;0 Jahre bis „6;6 Jahre und älter“. Die
Normierungsstichprobe umfasste 1.095 Kinder im Alter von 4;0 bis 7;3 Jahren und
wurde im Zeitraum Februar 2009 bis Februar 2010 von 36 geschulten Testleitern (Pädagogen, Psychologen und Studenten) in Kindertagesstätten erhoben, überwiegend in
den Großstädten Essen, Hamburg und Berlin. Das Ziel einer möglichst vollständigen
Erfassung aller Kinder in den ausgewählten Gruppen sei weitgehend erreicht worden.
Die vorliegenden Daten sprechen abgesehen von fehlender geografischer Repräsentativität für eine leidlich gute Annäherung an soziodemografische Gegebenheiten in
der Bundesbevölkerung. Allerdings fehlen Angaben für bis zu 50 % der einbezogenen
Kinder, sodass die Repräsentativität der Normierungsstichprobe nicht abschließend
beurteilt werden kann.
Im Manual sind flächentransformierte T-Werte und Prozentränge sowie die zugehörigen 68 %- und 95 %-Konfidenzintervalle angegeben. T-Werte unter 40 gelten als
auffällig. Die Normgruppen umfassen jeweils sechs Monate mit Stichprobengrößen
von N = 26 (6;6 Jahre und älter) bis N = 329 (5;6-5;11 Jahre). Geschlechtsunterschiede
wurden nicht gefunden. Die Itemgradienten sind stetig und die Normwertanstiege
zwischen den Altersgruppen fallen moderat aus. Das Manual enthält kritische Differenzen für den Fall, dass mehrere Testergebnisse inter- oder intraindividuell miteinander verglichen werden sollen. Allerdings finden sich keine Angaben zu den Grundraten der Differenzen.
Die Zuordnung zu einer der fünf hierarchisch angeordneten Niveaustufen kann auf
zwei verschiedenen Wegen erfolgen. Zum einen dient die Gesamtzahl der richtig gelösten Items als Kriterium („Gesamtwert“). Eine Rohwertsumme von 30 ist z. B. der Niveaustufe III zugeordnet. Zum anderen wird ausgezählt, wie viele Items pro Stufe richtig
gelöst wurden („Lösungsmuster“), wobei angenommen wird, dass die Lösungswahrscheinlichkeit mit ansteigendem Niveau abnimmt. Liegt die Zahl der richtig gelösten
Items einer Stufe bei mindestens 75 %, gilt diese als erreicht und die weitere Förderung
des Kindes sollte sich auf die nächsthöhere konzentrieren. Das zugehörige Trainingsprogramm MARKO-T liefert dazu die passenden Aufgaben. Führen Gesamtwert und
Lösungsmuster zu diskrepanten Ergebnissen oder stimmt das Lösungsmuster nicht mit
der Annahme hierarchischer Stufen überein (ansteigende anstatt abfallende Lösungswahrscheinlichkeiten), ist eine eindeutige Niveauzuordnung nicht möglich.
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Neuere Testverfahren 157
Testobjektivität sehen die Autoren durch schriftlich fixierte Durchführungs- und Auswertungshinweise im Manual gesichert. Es fehlen jedoch Angaben, wie zu verfahren ist,
wenn das Kind Schwierigkeiten hat, die Einführungsaufgaben zu bewältigen. Der Protokollbogen ist weitgehend benutzerfreundlich und die Tabellen lassen sich problemlos
ablesen, sodass die Auswertungsobjektivität nicht zu bezweifeln ist. Die Reliabilität für
die gesamte Normgruppe wird mit .91 angegeben, was für eine hohe Reliabilität spricht.
Es fehlen allerdings Angaben getrennt nach Altersgruppen, sodass von einer zumindest
leichten Überschätzung der Reliabilität auszugehen ist. Eine Testwiederholung bei 100
Kindern aus der Normstichprobe ergab eine Test-Retest-Korrelation von .89 innerhalb
eines Zeitraums von zwei Wochen. Andere Angaben des Manuals deuten allerdings auf
signifikante Übungseffekte bei Testwiederholung hin. Eine Parallelversion liegt nicht vor.
Die im Manual postulierte Inhaltsvalidität der 55 Items im Hinblick auf vorschulische
Rechenleistungen ist durchweg erkennbar, allerdings ist die inhaltliche Zuordnung der
Items zu den fünf Niveaustufen nicht immer gut nachzuvollziehen, etwa wenn das Zählen in Zweierschritten aufwärts der Stufe 4 und abwärts der Stufe 5 zugeordnet wird.
Zu Teilstichproben der Normierungspopulation liegen weitere Befunde vor, die zur Bestimmung der Kriteriumsvalidität herangezogen wurden. Der Zusammenhang mit dem
Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung (OTZ; van Luit, van de Rijt, Hasemann,
2001) beträgt bei einer Stichprobe von 53 Kindern .77 (hohe Korrelation) und bestätigt die
konkurrente Validität von MARKO-D. Die Korrelation des Testergebnisses mit der Rohwertsumme der Untertests 3, 4, und 5 des Grundintelligenztests CFT1 (Cattell, Weiß, Osterland, 1997) erreicht .65 und stimmt mit der Annahme überein, dass schlussfolgerndes
Denkens für die Mathematikentwicklung im Vorschulalter bedeutsam ist. Ähnlich können die Korrelationen mit den Untertests „Klassen bilden“ (.41) und „Matrizen-Test“
(.59) des HAWIVA-III (Ricken et al., 2008) interpretiert werden. Auch die Zusammenhänge mit sprachlichen Leistungen (TROG-D; Fox, 2008 sowie BISC; Jansen et al., 2002)
ergeben mittlere Korrelationen, was nicht unbedingt für die diskriminative Validität des
Verfahrens spricht, aber mit der vermutlich bedeutsamen Rolle erklärt werden könnte,
die sprachliche Kompetenzen beim Bearbeiten von MARKO-D spielen. Insgesamt sprechen die Ergebnisse für eine zufriedenstellende Konstruktvalidität des Verfahrens, es fehlen jedoch Angaben zur prognostischen Validität anhand realer Schulleistungen.
Praktische Durchführung
Der Test wird in einer Mappe geliefert, die sich einfach handhaben lässt. Allerdings
können die Zählchips durch ein Loch am Fußende der Mappe herausfallen wenn
der Testanwender sie nicht zusätzlich durch ein zusätzliches Behältnis sichert. Die
Testdurchführung ist im Allgemeinen problemlos möglich. Da das Verfahren Rechenfertigkeiten ab einem Entwicklungsalter von etwa vier Jahren prüft, werden
Zählfertigkeiten und ein elementares Mengenverständnis vorausgesetzt. Kinder, die
in diesen Bereichen gravierende Defizite haben, können mit MARKO-D nicht angemessen getestet werden.
158 Neuere Testverfahren
Die Reihenfolge der 55 Items ist festgelegt und die Aufgabenschwierigkeit wechselt
beständig. So sind z. B. Aufgaben der Niveaustufe I über den gesamten Test verteilt. Da
kein Abbruchkriterium vorgesehen ist, erleben Kinder mit geringen mathematischen
Fertigkeiten dadurch gehäuft Misserfolge, was sich negativ auf deren Leistungsmotivation auswirken kann. Warum allerdings in der Normierungsstichprobe die schwierigsten
Items nur von 20-50 % der Kinder bearbeitet wurden (siehe Tabelle 9 im Manual), ist unverständlich und wird im Manual nicht erklärt. Die Testdauer wird mit 20-30 Minuten
angegeben. Nach eigener Erfahrung, sowohl im klinischen als auch im nicht-klinischen
Kontext, kann es auch zu deutlich längeren Bearbeitungszeiten kommen.
Die Rahmenhandlung erwies sich bei der praktischen Erprobung als nur mäßig motivierend. Dies deckt sich mit einem Befund der Testautoren, demzufolge Kinder die
Testdurchführung mit Rahmenhandlung nicht attraktiver finden als wenn diese weggelassen wird. Die Einführungstexte und Demonstrationsaufgaben sind zum Teil recht
lang und bereiten Kindern mit geringem Sprachverständnis teilweise Probleme. Wenn
Kinder häufiger auf Fragestellungen nicht reagieren, kann dies laut Manual auch am fehlenden Sprachverständnis liegen. In diesen Fällen soll von einer Ergebnisinterpretation
abgesehen werden.
Die Anweisungen zu den Items 54 und 55 sind irreführend. Die Kinder werden aufgefordert, so viele Nüsse in ein Feld zu legen, wie in dem benachbarten Feld abgebildet
sind. Da in dem Eingabefeld bereits Nüsse abgebildet sind, sollen die Kinder eigentlich
nur die Differenz an Nüssen hineinlegen und nicht die genannte Zahl. Da Items und
Abbildungen im Testordner durchweg unterschiedliche Nummerierungen aufweisen,
muss der Untersucher aufpassen, dass er bei der Aufgabendarbietung und beim Protokollieren die verschiedenen Zählungen nicht verwechselt. Das Protokollheft ist übersichtlich gestaltet, es fehlt lediglich der Platz für die Altersberechnung. Die Bewertung
der Ergebnisse, der Eintrag ins Protokollheft und die Übertragung auf den Ergebnisbogen bereiten im Allgemeinen keine Probleme. Das Ablesen der Tabellen ist unkompliziert, ebenso die Feststellung des Konzeptniveaus.
Bewertung
Marco-D ist ein theoretisch fundiertes Verfahren zur Erfassung mathematischer
Leistungen von Vorschulkindern. Elementares Zahlenwissen und Mengenverständnis der zu testenden Kinder werden dabei vorausgesetzt. Die Testinstruktionen stellen einige sprachliche Anforderungen an die Probanden. Nicht alle Formulierungen
sind altersgemäß, etwa die Frage „Erkennst du die Ordnung“ (Beispielitem zu Bildkarte 5). Die Durchführung ist i. A. unproblematisch, stellt aber trotz Rahmenhandlung keinen besonderen Leistungsanreiz dar. Wegen fehlender Abbruchkriterien
kann es gehäuft zu Misserfolgen kommen. Einige Schwachstellen bestehen noch in
der Materialgestaltung und bei den Instruktionen. Testauswertung und Interpretation werfen keine Schwierigkeiten auf. Neben der altersnormbezogenen Auswertung
wird hinsichtlich der postulierten Entwicklungsstufen eine qualitative Einordnung
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Neuere Testverfahren 159
der Rechenleistungen geboten. Daraus können Hinweise für die weitere Förderung
abgeleitet werden, die insbesondere in Verbindung mit dem zugehörigen Trainingsprogramm konkret nutzbar zu machen sind.
Die Testkonstruktion beruht auf einer Rasch-Skalierung. Die Reliabilitätsangaben fallen zufriedenstellend aus. Validitätsangaben, soweit berichtet, bestätigen die konkurrente
Validität mit einem anderen Testverfahren (OTZ). Die Normwertgradienten sind stetig
und die fünf Niveaustufen lassen sich empirisch überwiegend voneinander abgrenzen.
MARKO-D hat eine entwicklungspsychologisch nachvollziehbare Fundierung im
Gegensatz zur Neuropsychologischen Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen
(ZAREKI-K; Aster et al., 2009) und weist eine hohe empirische Korrelation mit dem
OTZ auf. In messtechnischer Hinsicht erweist MARKO-D sich, ähnlich wie OTZ, der
ZAREKI-K weit überlegen. Was MARKO-D gegenüber OTZ auszeichnet ist die aktuelle Normierung und die Möglichkeit der qualitativen Auswertung. Die inhaltliche Verknüpfung mit dem Trainingsprogramm MARKO-T erlaubt es, Förderangebote direkt
auf die Testergebnisse abzustimmen und Lernverläufe diagnostisch zu dokumentieren.
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für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern – Kindergartenversion. Frankfurt: Pearson
Assessment & Information.
Cattell, R. B., Weiß, R. H., Osterland, J. (1997). CFT-1. Grundintelligenztest Skala 1. Göttingen:
Hogrefe.
Fox, A. V. (2008). TROG-D. Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses. Idstein: SchulzKirchner.
Gerlach, M., Fritz, A., Leutner, D. (2013). MARKO-T. Mathematik- und Rechenkonzepte im Vorund Grundschulalter – Training. Göttingen: Hogrefe.
Jansen, H., Mannhaupt, G., Marx, H., Skowronek, H. (2002). BISC. Bielefelder Screening zur
Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Göttingen: Hogrefe.
Ricken, G., Fritz, A., Schuck, K. D., Preuß, U. (2008). HAWIVA-III. Hannover Wechsler Intelligenztest für das Vorschulalter. Bern: Huber.
Van Luit, J. E. H., van de Rijt, B. A. M., Hasemann, K. (2001). OTZ. Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung. Göttingen: Hogrefe.
Wright, B. D., Linacre, J. M. (1994). Reasonable mean-square fit values. Rasch Measurement
Transactions, 1994, 8, 370 (Internet-Ressource: www.rasch.org/rmt/rmt83b.htm, Zugriff am
22.11.2014).
Dieter Irblich, Auel
BUCHBESPRECHUNGEN
Gerlach, M., Fritz, A., Leutner, D. (2013). MARKO-T: Mathematik- und Rechenkonzepte im Vor- und Grundschulalter – Training. Göttingen: Hogrefe, „Training
komplett“ 298,- €, Materialset (optional) 398,- €.
Zur Förderung von numerischem Wissen und Mengenverständnis gibt es eine unübersehbare Menge von Programmen und didaktischen Materialien, die jedoch meist
ohne theoretische Fundierung und empirischen Wirksamkeitsnachweis auskommen.
MARKO-T unterscheidet sich davon durch den Bezug auf ein Modell, das fünf Stufen
numerischer Kompetenz im Alter von vier bis sechs Jahren postuliert, die aus entwicklungspsychologischen Erkenntnissen abgeleitet und empirisch überprüft wurden.
Eine diagnostische Einzelfallabklärung im Hinblick auf diese fünf Stufen ist mithilfe des Rechentests MARKO-D (Ricken, Fritz, Balzer, 2013) möglich, der ebenfalls in
dieser Ausgabe der Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie dargestellt und
bewertet wird (S. 154-159).
Die fünf Niveaustufen „Zählen“, „ordinaler Zahlenstrahl“, „Kardinalität und Zerlegbarkeit“, „Enthaltensein und Klasseninklusion“ sowie „Relationalität“ bauen demnach
aufeinander auf und stellen Vorläuferfertigkeiten für schulischen Rechenerwerb dar.
Eine frühzeitige Erfassung von Defiziten und eine sich anschließende gezielte Förderung
sollen schulischem Misserfolg und der Ausbildung von Rechenstörungen vorbeugen.
MARKO-T ist als Einzeltraining für rechenschwache und entwicklungsverzögerte
Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren, also in der Übergangszeit vom Kindergarten zur Grundschule, konzipiert. Die 57 ausgearbeiteten Fördereinheiten beziehen
sich jeweils auf eine der fünf Kompetenzstufen. Mittels einer Eingangsdiagnostik
der Rechenleistungen mit MARKO-D kann festgestellt werden, welche Stufen das
Kind bereits sicher beherrscht und wo die „Zone der nächsten Entwicklung“ liegt.
Ziel des Trainings ist es, die nachfolgenden Stufen sukzessive und durch die Vermittlung „grundlegender arithmetischer Konzepte und tragfähiger mathematischer
Strategien“ einzuüben. Dabei wird besonderer Wert auf metakognitive Reflexionsfähigkeit, also Aspekte des bewussten problemlösenden Lernens, gelegt.
Der thematische Rahmen wird mittels der Handpuppe Marko, einem Mistkäfer, gestaltet. Die Handpuppe evoziert die Aufgaben zu Mengenerfassung und zu numerischen
Operationen. Das Kind wird aufgefordert, Marko bei der Erledigung seiner Aufgaben zu
helfen oder Marko modelliert Lösungswege, die vom Kind nachvollzogen und imitiert
werden sollen. Die Übungseinheiten sind auf je 45 Minuten konzipiert und enthalten
meist eine Wiederholung des vorangegangenen Stoffes, die Entwicklung neuer Lösungsstrategien, deren Einübung sowie ein Abschlussfeedback mit Ausblick auf die nächste
Einheit. Die Durchführung erfolgt adaptiv. Dies betrifft sowohl die Wahl der Eingangsstufe als auch die Auswahl der Einheiten. Manche Sitzungen sind optional, abhängig
davon, ob die Aufgaben der vorangegangenen bewältigt wurden oder nicht, andere
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 160 – 168 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Buchbesprechungen 161
sollen bei auftretenden Problemen wiederholt werden. Der Lernfortschritt wird somit
individuell an das Lerntempo des Kindes angepasst. Mathematische Problemstellungen
werden meist anhand konkreter Handlungen verständlich gemacht und sollen somit
schrittweise in sprachliche, vorstellungsmäßige und symbolische Prozesse übergehen.
Eine Evaluationsstudie mit 53 rechenschwachen Kindern im Alter von fünf bis neun
Jahren belegt die Effektivität des Trainings im Hinblick auf richtige Lösungen in einer
Pilotversion des MARKO-D. In durchschnittlich 16 Übungseinheiten ist es demnach
gelungen, die Rückstände rechenschwacher Kinder bezüglich mathematischer Kompetenzen weitgehend aufzuholen. Andere Kriterien, wie z. B. Schulerfolg, wurden nicht
überprüft. Es erfolgte auch kein Effizienzvergleich mit anderen Trainingsprogrammen.
Das „Training komplett“ enthält Manual (32 Seiten), fünf Spiralhefte, die die Durchführungsanweisungen und Kopiervorlagen zu den verschiedenen Niveaustufen enthalten, sowie die Handpuppe Marko. Das weitere benötigte Material befindet sich
in einem „Materialset“. Dabei handelt es sich um einen Plastikkoffer mit circa 800
Holzplättchen in verschiedenen Größen, Farben und Formen, außerdem Fädelperlen
mit Schnüren, Wendeplättchen, Würfel, Knete, Spielplan, diverse Zählplättchen und
weiteres Zubehör. Nicht enthalten sind Filzstifte, die ebenfalls benötigt werden.
Die Bezeichnung „Training komplett“ ist irreführend, da die Durchführung auf
das Materialset angewiesen ist, sodass der Komplettpreis des Trainings eigentlich bei
knapp 700,- € liegt. Manual und Testhefte beschreiben die benötigten Materialien
auch nicht so detailliert, dass der Anwender auf andere Gegenstände ausweichen
könnte. So werden im Manual z. B. Kugeln als „groß“ bezeichnet, die einen Durchmesser von 12 mm haben. Die Handlungsanweisungen sind detailliert ausgearbeitet. Der Trainer muss sich aber sorgfältig mit den Aufgaben im Vorfeld beschäftigt
haben, damit er diese auch korrekt präsentieren kann. Die Kinder müssen sowohl
über sprachliche als auch logische und basale numerische Voraussetzungen verfügen, damit sie am Trainingsprogramm teilnehmen können. So muss z. B. das Konzept „mehr als – weniger als“ bereits beherrscht werden. Die Einleitungstexte mit
denen die Kinder auf die Aufgaben eingestimmt werden sollen, sind relativ lang
und nicht nimmer altersgemäß. So finden sich vereinzelt Formulierungen wie „…
verstand die Welt nicht mehr“.
Die Handpuppe des Mistkäfers Marko hat für Kinder einen hohen Aufforderungscharakter und motiviert zur Kooperation. Einige Kinder sind aber durch Handpuppe
und Rahmenhandlung so stark abgelenkt, dass die Durchführung des Trainings dadurch behindert wird. Die ausgeprägt handlungsbezogene Arbeitsweise (Knetkugeln
werden gerollt, aufgetürmt, gezählt und verglichen, Perlen gefädelt, Plättchen sortiert,
aufeinander geschichtet usw.) spricht Kinder in der Übergangszeit von Vorschule zu
Grundschule i. A. positiv an. Die Aufgabenstellungen entsprechen denen anderer
Förderkonzepte in Frühförderung und Schuldidaktik. Durch die kindgemäß spielerische Einbettung, die theoretische Fundierung einschließlich der metakognitiven
Handlungsstrategien, den systematischen Aufbau des Trainingsprogramms und die
darin enthaltenen adaptiven Möglichkeiten hat sich MARKO-T in der praktischen
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Erprobung1 als gut durchführbar erwiesen. Das Anwendungsspektrum lässt sich, je
nach Kenntnisstand der Kinder über die angegebene Altersspanne fünf bis acht Jahre
hinaus erweitern. Außerdem ist ein Einsatz in Kleingruppen möglich. Teile des Programms können auch auszugsweise im Rahmen einer multidimensionalen Entwicklungs- oder Lernförderung eingesetzt werden. MARKO-T dürfte sich somit für viele
Benutzer als ein nützliches Trainingsprogramm erweisen.
Ricken, G., Fritz, A., Balzer, L. (2013). MARKO-D: Mathematik- und Rechenkonzepte im
Vorschulalter – Diagnose. Göttingen: Hogrefe.
Dieter Irblich, Auel
Schlarb, A. A. (2014). KiSS Therapeutenmanual. Das Training für Kinder von 5 bis
10 Jahren mit Schlafstörungen. Stuttgart: Kohlhammer, 132 Seiten, 39,90 €.
Schlarb, A. A. (2014). KiSS Begleit- und Arbeitsbuch für Eltern und Kinder. Das
Training für Kinder von 5 bis 10 Jahren mit Schlafstörungen. Stuttgart: Kohlhammer, 67 Seiten, 19,90 €.
KiSS ist ein Gruppentrainingsprogramm zur Behebung behavioraler Schlafstörungen bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter. In sechs Sitzungen (3 Elterntermine und 3 Kindertermine) werden Themen wie Einschlafrituale, Umgang
mit Einschlafängsten, Widerstand des Kindes gegen selbständiges Einschlafen behandelt. Dabei kommen sowohl die funktionale Verhaltensanalyse als auch Verstärkersysteme und imaginative Techniken zum Einsatz. Letztere dienen vor allem dazu,
dem Kind Hilfen aufzuzeigen, sich selbst zu beruhigen und somit allein, das heißt
ohne Anwesenheit und aktive Mithilfe der Eltern, in seinem eigenen Bett einzuschlafen. Grundsätzlich ist das Programm auch in der Einzelbehandlung einsetzbar,
doch dürfte der Gruppenrahmen sich positiv sowohl auf die Motivation der Kinder
als auch den Erfahrungsaustausch der Eltern auswirken.
Im Gegensatz zu dem Trainingsprogramm für Vorschulkinder Mini-Kiss nimmt hier
die therapeutische Arbeit mit den Kindern selbst eine wichtige Rolle ein. Insbesondere
die Entspannungsübungen und hypnotherapeutischen Interventionen zur Selbstberuhigung prägen das vorliegende Programm und sollen den Kindern auf spielerische Weise
die erforderlichen Techniken und Einstellungen vermitteln. Die Schulungseinheiten für
die Eltern enthalten sowohl psychoedukative Anteile mit Information zum kindlichen
Schlafverhalten als auch eine Anleitung zur kognitiv-behavioralen Analyse und zum
Einsatz von Verstärkersystemen. Begleitend zu den Sitzungen sollen sowohl Eltern als
auch Kinder Hausaufgaben erledigen, deren Erledigung wiederum zumindest für die
1 Der Autor dankt den heilpädagogischen Kolleginnen Frau H. Schummer und Fr. E. Kaucher, SPZ kreuz-
nacher diakonie, Bereichsstelle Idar-Oberstein, für die praktische Erprobung des Trainingsprogramms.
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Kinder mit einem Verstärkersystem verknüpft ist. Für die Eltern gibt es ein Begleitbuch,
in dem Inhalte der Elternschulung nachgelesen und ein Teil der Hausaufgaben erledigt
werden können. Die Kinder sollen eine Arbeitsmappe führen.
Inhaltlich weist KiSS deutliche Parallelen zu der Version für jüngere Kinder auf (siehe
die Rezension zu Mini-Kiss, S. 163 in diesem Heft). Es fehlen bei KiSS aber Hinweise auf
eventuelle Kontraindikationen und bisherige Evaluationsbemühungen. Das Vorliegen
einer oppositionell-durchsetzungsorientierten Verhaltensstörung dürfte in zahlreichen
Fällen einer erfolgreichen Teilnahme entgegenstehen. Die Trainingseinheiten sind auf
etwas mehr als 90 Minuten konzipiert und enthalten teilweise sehr viele Inhalte bzw.
Übungen. Vermutlich könnten die Inhalte besser verarbeitet werden, wenn sie auf acht
anstatt sechs Einheiten verteilt würden. Bei der Durchführung von KiSS kommt mehr
noch als bei Mini-KiSS eine Leopardenfigur als Handpuppe zum Einsatz. Außerdem soll
jedes Kind über einen Leoparden als Stoff-Tier verfügen. Allerdings schweigt sich das
Manual darüber aus, wo diese Materialien zu beschaffen sind.
Die Hausaufgaben, die Eltern und Kinder von einer Sitzung zur nächsten zu erledigen
haben, sind beträchtlich und es ist fraglich, ob es vielen Familien gelingt, die Vorgaben
in vollem Umfang zu bewältigen. So sollen z. B. die Eltern zwischen der dritten und
vierten Sitzung eine Verhaltensmodifikation planen, ein Belohnungssystem konzipieren
und den anderen Eltern beim nächsten Mal vorstellen, die Inhalte der letzten Sitzung
sorgfältig nacharbeiten (21 Seiten Text), 5 Mal mit dem Kind eine Phantasiereise durchführen, ein Schlafprotokoll führen und zusätzlich überwachen, ob das Kind seine eigenen Hausaufgaben (ebenfalls drei Punkte plus fünf Objekte, die zum nächsten Treffen
mitgebracht werden sollen) erledigt.
KiSS weist einige interessante methodische Aspekte insbesondere im Bereich des
Gruppentrainings mit Kindern auf. Den Nachweis der Praxistauglichkeit bleibt es dagegen noch schuldig.
Dieter Irblich, Auel
Schlarb, A. A. (2014). Mini-KiSS Therapeutenmanual. Das Elterntraining für Kinder bis 4 Jahre mit Schlafstörungen. Stuttgart: Kohlhammer, 174 Seiten, 39,90 €.
Schlarb, A. A. (2014). Mini-KiSS Begleit- und Arbeitsbuch für Eltern. Stuttgart:
Kohlhammer, 148 Seiten, 29,90 €.
Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen treten bei Kleinkindern häufig auf und
belasten nicht selten die familiäre Situation. Das vorliegende Elterntraining bietet Unterstützung mit verhaltenstherapeutischen Methoden bei so genannten behavioralen
Insomnien, also nicht-organischen Schlafstörungen bei Kindern im Alter von 0;6 bis 4
Jahren an. Die Durchführung erfolgt in Elterntrainingsgruppen und ist auf sechs Termine à 90 Minuten konzipiert. Dabei werden Erziehungsprinzipien wie Verhaltenslöschung, Konsequenz, Verstärkerpläne und Verhaltensrituale vermittelt. Eltern lernen,
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wie sie mit ihren Kindern Selbstberuhigungstechniken üben können, und sollen ihre
eigenen Ressourcen durch hypnotherapeutisch geführte Phantasiereisen stärken.
Die Trainingseinheiten sind im Manual detailliert ausgearbeitet und die erforderlichen Materialien werden als Internetressourcen zur Verfügung gestellt. Das Begleitbuch für Eltern enthält die meisten Informationstexte des Manuals zum Nachlesen. Die Eltern sollen zwischen den Terminen Hausaufgaben erledigen, z. B. die
Schulungstexte lesen, ein Schlaftagebuch führen oder den Tagesablauf verändern.
Für Trainer und Eltern stehen weitere Materialien online zur Verfügung.
Das Programm liefert wichtige Hinweise darauf, wie Kleinkinder zum Einschlafen motiviert werden können, und vermittelt bewährte behaviorale Methoden für
die häusliche Anwendung. Die Autorin erkennt richtigerweise, dass die Schlafproblematik nicht isoliert vom gesamten Erziehungskontext einer Familie gesehen werden kann, geht aber nicht auf die Frage ein, in welchen Erziehungskonstellationen
Mini-KiSS erfolgreich angewendet werden kann, und wann Eltern eher dazu geraten werden sollte, vorrangig andere Erziehungsziele in Angriff zu nehmen.
Nicht alle Vorschläge in Mini-KiSS wirken gut durchdacht und praxiserprobt. So
schließen sich einige Tipps gegenseitig aus, z. B. die Empfehlung vor dem Einschlafen
nur ruhige Aktivitäten durchzuführen und der Vorschlag, Kinder, die beim Zubettgehen
trödeln, durch einen Wettkampf zu motivieren, wer schneller den Schlafanzug angezogen hat, das Kind oder seine Eltern. Die praktischen Nachteile dieser Idee dürften auf
der Hand liegen. Zweifelhaft ist auch der Vorschlag, bei Trennungsangst eine Schnur am
Handgelenk des Kindes zu befestigen (es handelt sich um Kleinkinder!), die eine Verbindung zum Handgelenk eines Elternteils herstellt, das in einem anderen Zimmer schläft.
Für überbesorgte Eltern dürfte die verhältnismäßig ausführliche Passage zu plötzlichem
Kindstod eher kontraproduktiv sein. Dafür vermisst man Ausführungen zum Vorgehen
bei jenen chronisch kranken Kindern, die tatsächlich intensiverer nächtlicher Überwachung bedürfen. Einige verhaltenstherapeutische Überzeugungen der Autorin muten zu
rigide an, etwa dass das Einschlafritual unbedingt außerhalb des Kinderbettes stattzufinden hat. Das Programm sieht den Einsatz eines Leoparden-Stofftiers als Einschlafhilfe
vor, ohne dass Bezugsquellen angegeben werden. Themen wie Abstillen oder Babymassage sind nur für einen kleinen Teil der Zielgruppe relevant.
Für viele Familien mit kleinen Kindern dürfte es schwierig bis unmöglich sein, dass
beide Elternteile – wie von der Autorin gefordert – gleichzeitig zu Hause abkömmlich
sind, um an dem Elterntraining teilzunehmen. Eltern aus sozioökonomisch schwächeren Bevölkerungsschichten werden sowohl vom Anschaffungspreis des Begleitund Arbeitsbuchs als auch von dessen sprachlichen Niveau abgeschreckt werden. Pro
Woche sind 14 bis 26 Textseiten durchzuarbeiten. Hinzu kommen zum Teil aufwändige Aufgaben einschließlich der angestrebten Veränderungen häuslicher Abläufe.
Dies stellt erhebliche zeitliche und geistige Anforderungen an die Eltern. Mini-Kiss
dürfte daher eher gebildete und ressourcenreiche Familien ansprechen.
Die Praxiserprobung des Programms, auf die im Manual hingewiesen wird, scheint
bislang auf 17 Elternurteile begrenzt zu sein und erfüllt selbst bescheidene metho-
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Buchbesprechungen 165
dische Ansprüche empirischer Evaluation nicht. Das Manual könnte für den Trainer übersichtlicher gestaltet sein. Es ist nicht unmittelbar erkennbar, welche Schritte
optional und welche obligatorisch sind. Die vollständige Durchführung dürfte den
vorgegebenen zeitlichen Rahmen deutlich überschreiten. Die Quellenangaben zu
den theoretischen Grundlagen des Programms sind ausgesprochen lückenhaft.
Mini-KiSS kann dem Trainer einen Überblick geben, auf welche Themen er bei der
Elternberatung zu kleinkindlichen Schlafstörungen einzugehen hat. Positiv hervorzuheben sind vor allem die Vorschläge zur Selbstberuhigung der Kinder. Für eine manualisierte Durchführung in der bestehenden Form bietet es sich dagegen weniger an.
Dieter Irblich, Auel
Kißgen, R., Heinen, N. (Hrsg.) (2014). Trennung, Tod und Trauer in den ersten
Lebensjahren. Begleitung und Beratung von Kindern und Eltern. Stuttgart:
Klett-Cotta, 247 Seiten, 37,95 €.
Das Buch ist der dritte Band, der aus dem Forum Frühe Kindheit entstanden ist, einer
Veranstaltungsreihe, die in Kooperation der Universitäten Siegen und Köln aktuelle
Fragen der frühen Kindheit aus interdisziplinärer Perspektive darstellt und diskutiert.
Im vorliegenden Band geht es um die Auswirkungen von Trennung, Tod und Trauer
auf Kleinkinder. Jedem Themenbereich sind jeweils zwei Beiträge zugeordnet.
Im ersten Themenkreis werden übergreifende Perspektiven vorgestellt. Schiefenhövel et al. diskutieren die humanethologische Betrachtungsweise des Umgangs mit
Tod und Trauer und bringen hierzu viele Beispiele aus traditionellen Gesellschaften.
Grossmann und Grossmann ergänzen und erweitern die Diskussion mit der Sichtweise der Bindungstheorie.
Der nächste Teil behandelt den frühen Verlust eines Kindes. Kribs beschreibt, wie
sich Elternschaft entwickelt, wie Trauer verläuft und welche Faktoren beide Prozesse erschweren und belasten können. Anschließend besprechen Zöllner und Reichert Modelle
und Theorien der Trauerarbeit sowie Phasen und Aufgaben der Trauerbewältigung und
stellen die Ergebnisse einer Befragung von Eltern, deren Kinder am Perinatalzentrum
Dresden verstorben sind, zur Begleitung bei diesem frühen Verlust dar.
Kinderhospizarbeit ist der nächste Themenkomplex. Es gibt wenig empirische
Studien in Deutschland, so Jennessen. Nach einem allgemeinen Überblick über
Konzepte und Forschungsstand stellt er die Ergebnisse einer eigenen Studie vor, in
der alle Akteure hinsichtlich Bedarfe der Unterstützung und Begleitung befragt wurden, um die Grundlagen einer guten Hospizarbeit zu spezifizieren. Einen Einblick
in die konkrete Praxis der Hospizarbeit gibt van Dijk am Beispiel des Kinderhospiz
Regenbogenland in Düsseldorf. In den weiteren Beiträgen wechselt der Fokus; nicht
mehr das Sterben des Kindes ist Thema, sondern der Verlust oder die Trennung von
den leiblichen Eltern.
166 Buchbesprechungen
Der Themenbereich „Junge Waisenkinder“ beginnt mit der Darstellung der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR in den 50er und 60er Jahren des
letzten Jahrhunderts und deren Aufarbeitung in diesem Jahrhundert (Kittel). Mit
vielen Fallbeispielen beschreibt Bogyi die Reaktionen kleiner Kinder, wenn ein Elternteil verstirbt, und die psychotherapeutische Begleitung dieser Kinder.
Um einen Problembereich, von dem mittlerweile viele Kinder betroffen sind, geht
es im nächsten Teil: die Folgen von Trennung und Scheidung. Walper und Langmeyer
geben einen Forschungsüberblick, beschreiben eine Stress-Bewältigungsperspektive
und trennungsbezogene Risikofaktoren. Eine wichtige Institution für Hilfesuchende
ist die Erziehungsberatungsstelle. Loschky stellt fest, dass die Bindungsbedürfnisse
der Kinder häufig vernachlässigt werden. Sie stellt ein Fachkonzept vor, das sieben
Bausteine umfasst (vom Bindungsverhalten der Eltern bis zur Zusammenarbeit der
Institutionen) und erläutert diese ausführlich.
Junge Kinder in Pflegefamilien ist das Thema der nächsten beiden Beiträge. Wolf
gibt einen Überblick über den Stand der wissenschaftlichen und praktischen Diskussion. Er beschreibt die unterschiedlichen Formen der Pflege (mit unterschiedlichen
Aufgaben) und geht auf die deutsche Diskussion ein, die in den letzten Jahren erfreulicherweise differenzierter geworden ist, Pflegefamilie entweder als Ersatz- oder
als Ergänzungsfamilie zu sehen. Auf die besondere Lebenslage und damit besonderen Probleme und Bedürfnisse von Pflegekindern geht Wiemann differenziert ein.
Das letzte Kapitel thematisiert Qualifikation, Aufgaben, Rechte und Pflichten
eines Verfahrensbeistandes unter besonderer Berücksichtigung von Kindern unter
drei Jahren. Die beiden Beiträge zu jedem Themenkomplex ergänzen sich meist gut.
Während der erste Beitrag meist einen Überblick über Theorien und Forschungsstand gibt, gibt der zweite Beitrag Einblicke in die Praxis.
Die Beiträge sind aktuell und vermitteln ein umfangreiches Wissen. Es ist wichtig
für Fachleute auf diese zentralen Themen, die im Verlaufe des Aufwachsens von
Kindern eine Rolle spielen können, vorbereitet zu sein und angemessene Umgangsund Bewältigungsformen verfügbar zu haben.
Lothar Unzner, Putzbrunn
Ahnert, L. (Hrsg.) (2014). Theorien in der Entwicklungspsychologie. Heidelberg: Springer-VS, 539 Seiten, 39,99 €.
Das vorliegende Lehrbuch umfasst 19 Kapitel, die zu 7 Teilen zusammengefasst sind.
Im ersten Teil werden Paradigmen der Entwicklungspsychologie besprochen und ein
zeitgemäßer Entwicklungsbegriff herausgearbeitet (Krettenauer). Als wichtige Bezugssysteme werden die Kultur (Ahnert u. Haßelbeck) und die Evolution (Euler) charakterisiert. Die Bedeutung der Kultur als menschlich organisierte Umwelt wird heruntergebrochen bis zu Details im inter- und intrakulturellen Vergleich (z. B. Alltagsverpflichtungen,
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Schlafarrangements). Im Kapitel zum Zusammenhang von Entwicklung und Evolution
werden die Grundpositionen einer evolutionären Entwicklungspsychologie vorgestellt
und im Rahmen einer Lebensverlaufstheorie evolvierte psychische Mechanismen wie
die Inzestvermeidung erläutert. Alle folgenden Kapitel haben einen ähnlichen Aufbau:
Nach den historischen Anfängen werden allgemeine theoretische Orientierungen des
jeweiligen Gebietes und klassische Befunde dargestellt, bevor die Autorinnen und Autoren auf moderne Trends und theoretische Modifikationen eingehen.
Der zweite Teil fasst die Theorien zur Entwicklung der Wahrnehmung und des Wissenserwerbs zusammen. Im Kapitel zur Wahrnehmungsentwicklung stellen Schwarzer und Degé klassische Befunde zu den einzelnen Dimensionen in der Säuglingszeit
dar und besprechen als modernen Trend den theoretischen Ansatz des „Perceptual
Narrowing“, Überlegungen zur gemeinsamen Entwicklung von Wahrnehmung und
Handlung. Sodian erläutert anschließend zur Entwicklung begrifflichen Wissens
Kernwissenstheorien. In beiden Bereichen werden Befunde Piagets widerlegt und den
Säuglingen und Kleinkinder wesentlich umfangreicher Kompetenzen zugesprochen.
Der dritte Teil (Intelligenz und Gedächtnis) hat drei Kapitel. Als erstes würdigt HoppeGraff den strukturgenetischen Konstruktivismus als große einflussreiche Theorie, die
das Bild vom Kind nachhaltig verändert hat. Er macht deutlich, dass die Bedeutung einer
großen Theorie nicht darin besteht, dass sie in allen Einzelheiten bestätigt wird, sondern
darin dass sie über einen langen Zeitraum Themen, Fragestellungen und Herangehensweisen entscheidend beeinflusst hat. Es folgen ein eher allgemeinpsychologisch ausgerichtetes Kapitel zur Erforschung menschlicher Intelligenz (Stern u. Grabner) und ein
Kapitel zur Gedächtnisentwicklung im Kindes- und Jugendalters (Schneider u. Berger).
Im vierten Teil (Motivation) wird das Thema erst allgemeinpsychologisch besprochen (Krapp u. Hascher). Beide Autoren gehen dann in einem weiteren Kapitel auf
die Entwicklung der Leistungs- und Lernmotivation in Kindheit und Jugend ein. Einen ganz anderen Lebensabschnitt, das Alter, betrachten Freund, Weiss und Nikitin;
sie arbeiten Modelle zum „erfolgreichen Altern“ heraus.
Im fünften Teil, der die Kapitel zum sozialen Lernen zusammenfasst, geht es wieder zurück in die frühe Kindheit. Verschiedene theoretische Ansätze zu den Fähigkeiten zur Imitation und die Fähigkeit, die Handlungen anderer Menschen zu verstehen und für sich selbst zunutze zu machen (Elsner), sowie soziale Lerntheorien
(Ittel, Raufelder, Scheithauer) werden erläutert.
Der sechste Teil (Soziale Beziehungen und Bindung) beginnt mit der Darstellung
der psychoanalytischen Zugänge zur frühen Kindheit (Datler u. Wininger). Als
moderner Trend wird unter anderem die Fähigkeit des Mentalisierens betrachtet.
Das folgende Kapitel führt das Gedankengut der Psychoanalyse für das Jugendalter
weiter (Seiffge-Krenke). Die Bindungstheorie (Ahnert u. Spangler) ist ein Theoriegebäude, das sich zwar schwerpunktmäßig mit die Kindheit befasst, aber auch Aussagen über den gesamten Lebenslauf macht, einer interdisziplinären Ausrichtung
offen ist und mit ihrer modernen sozial-, natur- und neurowissenschaftlichen Forschungsorientierung besticht.
168 Buchbesprechungen
Der siebente Teil umfasst die Themenfelder Emotion und Sprache. Ausgehend von
allgemeinpsychologischen Theorien und Methoden stellt Holodynski das weite Feld
der emotionalen Entwicklung dar. Die nächsten beiden Kapitel, jeweils verfasst von
Kani und Schöler, besprechen Theorien zum Spracherwerb, einer sehr komplexen
Entwicklungsaufgabe. Sie charakterisieren die Theorien und setzen sich in einem
eigenen Kapitel mit den Protagonisten Skinner und Chomsky auseinander. Ein Kapitel von Keller und Kärtner, die ein ökokulturelles Modell von Entwicklung einführen, schließt das Buch ab. Es werden kulturspezifische Entwicklungspfade gezeigt,
die die Annahme der Universalität von Entwicklungsverläufen infrage stellen.
Das Lehrbuch informiert umfassend nicht nur über den aktuellen Wissensstand,
die modernen Trends zeigen auch Pfade der zukünftigen Themenschwerpunkte.
Das Buch würde auch dann sehr empfehlungswert bleiben, wenn das Arbeiten damit – anders als auf der Einbandrückseite geschrieben – kein lustvolles Erleben sein
sollte. Es könnte ein Klassiker werden.
Lothar Unzner, Putzbrunn
Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion
angefordert werden:
–– Bundschuh, K., Winkler, C. (2015). Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik (8.
Aufl.). München: Reinhardt/UTB, 464 Seiten, 34,99 €.
–– Emmerling, P. (2014). Ärztliche Kommunikation. Stuttgart: Schattauer, 263 Seiten, 29,99 €.
–– Garbe, E. (2015). Das kindliche Entwicklungstrauma. Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 304 Seiten,
ca. 36,95 €.
–– Göttken, T., von Klitzing, K. (2015). Psychoanalytische Kurzzeittherapie mit Kindern (PaKT).
Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 312 Seiten, ca. 37,95 €.
–– Häußler, G. (Hrsg.) (2015). Psychoanalytische Säuglingsbeobachtung und Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie. Frankfurt: Brandes & Apsel, ca. 240 Seiten, ca. 29,90 €.
–– Hantel-Quitmann, W. (2015). Klinische Familienpsychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 304
Seiten, ca. 34,95 €.
–– Jungmann, T. et al. (2015). Überall steckt Sprache drin. Alltagsintegrierte Sprach- und LiteracyFörderung für 3- bis 6-jährige Kinder. München: Reinhardt, ca. 154 Seiten, ca. 19,90 €.
–– Jungmann, T. et al. (2015). Überall steckten Gefühle drin. Alltagsintegrierte Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen für 3- bis 6-jährige Kinder. München: Reinhardt, ca. 147
Seiten, ca. 19,90 €.
–– Schneider, S. (2015). Bilingualer Erstspracherwerb. München: Reinhardt/UTB, ca. 323 Seiten,
ca. 29,99 €.
–– Simchen, H. (2015). AD(H)S – Hilfe zur Selbsthilfe. Lern- und Verhaltensstrategien für Schule,
Studium und Beruf. Stuttgart: Kohlhammer, 243 Seiten, 26,99 €.
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TAGUNGSKALENDER
13./14.3.2015 in Wien/Österreich:
7. Wiener Fortbildungstagung: Essstörungen und assoziierte Krankheitsbilder
Auskunft: Wiener Medizinische Akademie, c/o Christian Linzbauer, Alserstr. 4, A-1090 Wien;
Tel.: +43(1)405-1383-17, Fax: +43(1)407-8274, E-Mail: [email protected]
25./26.3.2015 in Frankfurt/M.:
Beratung in Zukunft – Im Zentrum der Hilfen
Auskunft: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V., Internet: www.bke.de
24.4.2015 in Potsdam:
Fachtagung Autonomie und Mündigkeit in der Sozialen Arbeit
Auskunft: Internet: http://fachtag2015sozialearbeit.wordpress.com
25.4.-2.5.2015 in Klappholttal/Sylt:
30. Entspannungstherapiewoche der Deutschen Gesellschaft für Entspannungsverfahren DG-E e.V.
Embodiment, entspannte Körper – verkörperte Entspannung
Auskünfte: DG-E e.V.-Geschäftsstelle, Blanckstraße 3, 23564 Lübeck, Tel.: 03212-7070533,
E-Mail: [email protected], Internet: www.dg-e.de
13.-17.7.2015 in Salzburg/Österreich:
64. Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg. Einander anerkennen
Auskunft: Internet: www.bildungskirche.at/Werktagung
19./20.9.2015 in Bremen:
65. Kindertherapietage an der Universität Bremen
Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie, Grazer Str. 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421218-68603, Fax: 0421-218-68629, E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de
1./2.10.2015 in Freiburg:
Fachtagung: Bilanz und Perspektiven der Resilienzforschung
Auskunft: E-Mail: [email protected]
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
F. Timmermann u. D. Ohlmeier: Sprachstile in der Spätadoleszenz – H. G. Ganser et al.:
Therapiezugang für psychisch kranke Kinder und Jugendliche – A. A. Schlarb u. S. Jäger:
Tübinger-Intensiv-Programm für Eltern ängstlicher Kinder – N. Gust et al.: Emotionsregulation, Verhaltensauffälligkeiten und prosoziales Verhalten im Vorschulalter
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 169 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Mehr Sensibilität für Trennungskinder
und ihre Väter!
Matthias Franz / André Karger (Hg.)
Scheiden tut weh
Elterliche Trennung aus Sicht der Väter
und Jungen
2013. 286 Seiten, mit 8 Abb. und 13 Tab.,
kartoniert
€ 24,99 D
ISBN 978-3-525-45377-3
eBook: € 19,99 D
ISBN 978-3-647-45377-4
Zerschlagenes Geschirr, Tränen, erbitterte Auseinandersetzungen: Das Ende
einer Liebesbeziehung ist für alle Beteiligten ein emotional erschütterndes,
schmerzliches Ereignis. Für Kinder ist gerade eine hochstrittige elterliche
Trennung, bei der ums Sorgerecht gekämpft wird, mit erheblichen Verunsicherungen und Entwicklungsrisiken verbunden. Der Band klärt über
Ursachen und Folgen, Gefahren und Chancen von Trennungen besonders
aus Sicht der Väter und Jungen auf. Er zeigt, wie jenseits einer einseitigen
Täter-Opfer-Zuschreibung Verständigung und Bewältigung möglich werden.
»Ein erhellendes, wichtiges Kompendium für alle, die selbst von Trennung
betroffen sind oder die mit Menschen mit Trennungserfahrungen zu tun
haben – also eigentlich für alle.« Netzwerk für Männergesundheit
www.v-r.de