Österreichische Orient-Gesellschaft Hammer-Purgstall Informationszentrum für Zentralasien und Südkaukasien Einladung zum SYMPOSION „MUSLIME, RADIKALE UND ISLAMOPHOBIE IN DER RUSSISCHEN FÖDERATION“ Die zum Teil sehr erhitzten Diskussionen und Debatten über das Zusammenleben von Muslimen und „Mehrheitsgesellschaft“ in unseren Breiten erfüllen inzwischen alle Medien und Diskussionsrunden unseres Alltags. Es ist daher besonders interessant zu erfahren, wie vergleichbare Auseinandersetzungen in einem anderen europäischen Land ablaufen, das historisch bedingt schon seit Jahrhunderten engen Kontakt mit Muslimen gehabt hatte (innerhalb des eigenen Landes!) und dessen koloniale Ausbreitung in muslimische Gebiete nicht durch überseeischen Kolonialismus, sondern durch fortgesetzte Ausweitung der eigenen Grenzen (auf Kosten anderer) erfolgte. In der Sowjetunion galten überdies mehr als 40 Millionen Muslime als unmittelbare Staatsbürger. Zurzeit ist die städtische Gesellschaft Russlands durch starke muslimische Präsenz gekennzeichnet: Solche aus eigenem Territorium und Arbeitsmigranten, die aus früheren Sowjetrepubliken heute regelmäßig in die Russische Föderation zuwandern. Daraus entstehen besondere Probleme, die im Rahmen des Symposions vorgestellt und diskutiert werden. Montag, 30. Mai 2016 18.00 Uhr - 21.30 Uhr Musikzimmer der Diplomatischen Akademie 1040 Wien, Favoritenstraße 15a Eintritt: € 5,- (erm. € 3,-), für Mitglieder der ÖOG gratis ÖSTERREICHISCHE ORIENT-GESELLSCHAFT HAMMER-PURGSTALL 1010 Wien, Dominikanerbastei 6/6 Tel.: 01 5128936 www.orient-gesellschaft.at IN ÖSTERREICH DAHEIM : IM ORIENT ZUHAUSE Programm Begrüßung und Einführung Univ.-Prof. Dr. Bert FRAGNER Präsident der ÖOG, w. M. der ÖAW Offizieller Islam in Russland: Der kleine Bruder der Orthodoxen Kirche? Prof. Dr. Michael KEMPER Professor für osteuropäische Studien, Universität Amsterdam Dagestan – Politische und religiöse Entwicklung am „Berg der Sprachen“ Dr. Uwe HALBACH Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin Islam in Tschetschenien: zwischen pseudo-sufistischen Mythen und Dschihadismus Maynat KURBANOVA Journalistin, Korrespondentin: Radio Liberty/ Radio Free Europe Diskussion und kurze Pause Aktuelle Probleme der Tataren in Russland Alexander SOTNICHENKO, Ph.D. Associate Professor, St. Petersburg State University (Vortrag in englischer Sprache mit Dolmetschung) Marginalisierungsprozesse und Integrationsstrategien zentralasiatischer Migranten in Russland: Eine ethnographische Sicht auf die Rolle des Islam unter Migranten in Moskau Dr. Sophie ROCHE Karl Jaspers Center for Advanced Transcultural Studies, Universität Heidelberg Abschlussdiskussion Im Anschluss laden wir zu Erfrischungen ein Offizieller Islam in Russland: Der kleine Bruder der Orthodoxen Kirche? Dr. Michael KEMPER (Professor für osteuropäische Studien, Universität Amsterdam) Auf den ersten Blick sind die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) und der Islam in Russland höchst unterschiedlich: das Moskauer Patriarchat vertritt nach eigenen Angaben 150 Millionen Gläubige, von denen die meisten Russen sind; die Zahl der Muslime in Russland wird mit etwa 20 Millionen angegeben, darunter vor allem Tataren, Baschkiren, Tschetschenen und andere Völker des Nordkaukasus. Auch institutionell sind die Unterscheide groß: Die Russische Orthodoxe Kirche stellt eine stark hierarchische Institution dar, welche die Russische Föderation systematisch abdeckt mit 51 Erzbistümern und hunderten von Bistümern, während der offizielle Islam aus etwa 60 Geistlichen Verwaltungen (Muftiaten) besteht, die keine zentrale Leitung haben sondern miteinander in Konkurrenz stehen, und deren Netzwerke einander überlappen (mit in Extremfällen bis zu sechs Geistlichen Verwaltungen in einer einzigen Region). Dennoch haben die Institutionen beider Konfessionen eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten, die sich aus ihrer Geschichte ergeben (beide sind im Russischen Reich und der Sowjetunion grundlegend umgebaut worden), und beide orientieren sich heute noch stark am Staat. Der Vortrag diskutiert den Islam in Russland deshalb im Dreieck mit der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Kreml, und stellt vor allem die Frage, welche Strategien die führenden Muftis verfolgen, um den Islam zu einem Zwilling der Kirche um zu formieren. Dagestan – Politische und religiöse Entwicklung am „Berg der Sprachen“ Dr. Uwe HALBACH (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin) Dagestan ist in ethno-demographischer, kultureller und religionspolitischer Hinsicht das wohl komplizierteste „Föderationssubjekt“ Russlands. Es hat Tschetschenien als Epizentrum islamistischer Untergrundaktivität im Nordkaukasus in den Hintergrund gedrängt und bildete zuletzt den Kernbereich des 2007 ausgerufenen „Kaukasus Emirats“, das seit 2014 durch Gefolgschaftswechsel seiner ideologischen und militärischen Führer zum Islamischen Staat (ISIS) zunehmend zersplittert. Wie wirkt sich die enorme ethnische Vielfalt, mit der sich Dagestan unter allen nationalen Teilrepubliken Russlands hervorhebt, auf Politik und Gesellschaft aus? In welchem Zusammenhang steht Gewaltentwicklung mit sozialökonomischen Problemen und Defiziten der Regierungsführung? Vor allem aber: Wie hat sich islamische „Wiedergeburt“ in nach-sowjetischer Zeit in Dagestan vollzogen und wie hat die politische Machtelite in Moskau und in der Republikhauptstadt Machatschkala darauf reagiert? Aktuelle Probleme der Tataren in Russland Alexander SOTNICHENKO, Ph.D. (Associate Professor, St. Petersburg State University) (Vortrag in englischer Sprache mit Dolmetschung) Die Tataren sind die größte native ethnische Gemeinde von Muslimen in der Russischen Föderation. Laut der Volkszählung von 2010 gibt es mehr als 5,3 Millionen Tataren, der Großteil davon sind Sunni Hanafi Muslime. Als Folge der Krim-Annexion 2014 sind zu dieser Zahl noch ca. 230 000 Krimtataren dazuzuzählen. Traditionell haben die Tataren seit dem 18. Jahrhundert die Positionen der allrussischen Mufti kontrolliert. Zurzeit gibt es zwei unabhängige Mufti-Organisationen (Muftiate) – der Rat der Muftis von Russland und die Zentrale Spirituelle Administration der Muslime, beide werden von Tataren geleitet. Aktuell können folgende Probleme von Tataren und Islam in Russland dokumentiert werden: erstens der hohe Säkularisierungsgrad unter den Tataren - mehr als 80% gelten als gläubig, allerdings folgen weniger als 25% muslimischen Praktiken. Diese Zahl ist vergleichbar mit jener der russisch-orthodoxen Gesellschaft und unterscheidet sich grundsätzlich von jener der ethnischen muslimischen Gemeinden im Kaukasus (Tschetschenien, Dagestan), wo mehr als 70% tatsächlich religiöse Praktiken ausüben. Zweitens der wachsende Druck, den Migranten auf die religiösen Autoritäten der Tataren ausüben. Die Moschee in St. Petersburg galt seit jeher als die „Tatarenmoschee“ für die kleine Gemeinde der Tataren in der Stadt und die Khutba wurde in der tatarischen Sprache gesprochen. Mittlerweile besteht der Großteil der Gemeinde nicht mehr aus Tataren, sondern aus Migranten aus Zentralasien und dem Kaukasus, weshalb die Khutba nun ins Russische übersetzt wurde. Drittens die zunehmende Einflussnahme auf die tatarische Umma aus dem Ausland. Laut inoffiziellen Berichten aus Kazan haben 1990 nur zwei Dutzend Familien regelmäßig die Traditionen des Islam befolgt. Es fehlten traditionelle, religiöse Schulen der Tataren, so dass nun ein wachsender Einfluss durch Salafisten und Sufi, die nicht aus der Region, sondern hauptsächlich aus der Türkei und Saudi-Arabien stammen, zu beobachten ist. Viertens ist die anhaltende Rivalität zwischen Kazan und Ufa, den Tataren und Baschkiren, zu erwähnen, die in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts die anti-religiöse Propaganda des kommunistischen Moskaus sehr begünstigte. Islam in Tschetschenien: zwischen pseudo-sufistischen Mythen und Dschihadismus Maynat KURBANOVA (Journalistin, Korrespondentin: Radio Liberty/ Radio Free Europe) Islam in Tschetschenien ist im Vergleich zu den anderen muslimischen Gemeinden Russlands eine relativ junge Religion. Obwohl in Dagestan, in unmittelbarer Nähe zu Tschetschenien, die Islamisierung schon im 8. Jahrhundert im Zuge der arabischen Expansion angefangen hatte, blieben Tschetschenen noch Jahrhunderte lang ihrem alten heidnischen Glauben treu. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhundert gelten alle Tschetschenen (ausgenommen eine in Georgien lebende kleine Minderheit) als Muslime. Der Vortrag behandelt die Spezifik des Islams in Tschetschenien – von der Entwicklung einer Religion, die dort lange Zeit als mystischer Weg der Selbstfindung und Gotteserfahrung in vielen verschiedenen Sufi-Orden ausgeübt wurde, hin zu einer Ideologie, die in den letzten 20 Jahren so viele Terroristen und Jihadisten hervorgebracht hat. Außerdem werden einige historische Aspekte erläutert, die den Islam in Zeiten der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland immer wieder zu einem der wichtigsten Identitätsmerkmalen der Tschetschenen gemacht haben. Im letzten Abschnitt des Vortrags werden auf die jihadistischen Bewegungen in Tschetschenien und den Einfluss der Al-Qaida und des so genannten Islamischen Staaten auf diese eingegangen. Marginalisierungsprozesse und Integrationsstrategien zentralasiatischer Migranten in Russland: Eine ethnographische Sicht auf die Rolle des Islam unter Migranten in Moskau Dr. Sophie ROCHE (Karl Jaspers Center for Advanced Transcultural Studies, Universität Heidelberg) Russlands politische Elite hat wiederholt die guten Beziehungen zu den arabischen Ländern einerseits und gegenüber den russischen Muslimen, den Tataren, andererseits betont. Diese ‚guten Beziehungen‘ beschränken sich jedoch auf diese beiden Gruppen und schließen die mehrheitlich muslimischen Migranten aus Zentralasien nicht mit ein. Es sind aber Migranten, die die große Mehrheit der aktiven Gläubigen in Russland ausmachen und die Moscheen zum Bersten füllen. Diese Migranten begegnen populärer Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie politischer Instrumentalisierung von Emotionen was zu einer Überregulierung der Migration geführt hat. Während Islam in Russland eine integrative Funktion hat, führen die sozialen und politischen Angriffe zu einer Marginalisierung der Migranten. Hierbei handelt es sich einerseits um politische Ausschlussprozesse und andererseits um den Rückzug der Migranten in wirtschaftliche und soziale Nischen, die genügend Raum zur Realisierung von individuellen Zielen bieten. Trotz dieser besorgniserregenden Migrationspolitik finden viele Migranten Zugang zur russischen Gesellschaft über den Islam. Es sind alltägliche Beziehungen, virtuelle Diskussionen und offizielle Reden, die ein religiöses Bild von Russland bei den Migranten geprägt und Russland zu einer zentralen Drehscheibe für zentralasiatische Muslime gemacht haben. In diesem Vortrag wird auf die Welt der Migranten aus Tadschikistan in Moskau eingegangen und dabei vor allem ihre religiösen Strategien beleuchtet.
© Copyright 2024 ExpyDoc