SWR2 Feature am Sonntag

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature am Sonntag
Wenn Wörter versinken
Ein akustisches Memorial zum Siebenbürgisch-Sächsischen
Von Carmen Gräf, Martin Daske
Sendung: Sonntag, 8. Mai 2016, 14.05 Uhr
Redaktion: Walter Filz
Regie: Martin Daske
Produktion: SWR 2016
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Wenn Wörter versinken
Feature von Martin Daske und Carmen Gräf
Redaktion:
Walter Filz
___________________________________________________________
Geräuschmusik1 (aus:
Sprachfetzen, Geräuschen und Musikfragmenten), freistehend ca. 15 Sek. Dann
darüber:
OT1 Hermine Untch
Ech riden saksesch.
OT2 Ecaterine-Luise von Simons
Ech riaden soksesch.
OT3 Frieder Schuller
Ech rieden saksesch, ja. Und ech rieden nu gern den Hermannstädter Dialekt. Of et
rin Hermannstädter es, wiß ich uch net, denn meng Motter kum ous Agnetheln, meng
Voater ous Schaas, aber se hun sich uf desen Dialekt geinigt.
Geräuschmusik 1 wieder freistehend, dann darüber:
Carmen:
Ich rieden saksesch. Ich spreche sächsisch. Siebenbürgisch-Sächsisch. Noch
gehöre ich zu etwa 200.000 Menschen, die das von sich behaupten können - aber
wie lange noch? Meine Muttersprache ist vom Linguizid bedroht. Klingt fies, ist es
auch: Sprachtod.
Geräuschmusik 1 wieder freistehend, dann darüber:
Sprecher 2:
Jede zweite Woche verschwindet eine Sprache. Noch gibt es genug davon – etwa
6000 weltweit - Ende dieses Jahrhunderts werden es – je nach Schätzung – nur
noch die Hälfte sein oder auch nur 10 Prozent.
OT 4 Schuller
12:
54-13:11
Ech hun da Kengd ous irschter Ih, dot sen zwe Gangen, dä noch en Rumänien
gebiren sein und dro von der zweten Fra' hä en Detschlond drau Kengd – met denen
detsch, awer da zwing Gangen dä hun gern diesen Dialekt.
2
12:
28-12:43
Und na hun ich an Son, di äs Fotograf und lievt en New York und di hot a klinzig
Kengd na. Hi äs mät dem Kengd no grad en Berlin. Und die riat mät sengem
klinzigen zwejährijen Gangen saksesch.
Musik (Liedertrun, Track 7, Ausschnitt)
OT 5 Umfrage Großscheuerner-Interviews Ingolstadt
K 0073 2:
17-2:21
Die sagen dann schon, das klingt so holländisch oder es klingt so schweizerisch oder
ja..
R 0073 2:
23-2:41
Also, ich glaub viele machen sich auch nicht die Mühe hinzuhören und zu versuchen
zu verstehen. Also (….) für die ist es halt was – keine Ahnung – was Fremdes und
damit fertig. Viele machen sich nicht die Mühe zu fragen und zu versuchen zu
verstehen.
Sprecher 1:
Siebenbürgisch-Sächsisch ist die Alltagssprache der Siebenbürger Sachsen, einer
deutschen Minderheit aus Siebenbürgen, auch bekannt als Transsylvanien im
heutigen Rumänien. Dort leben aber nur noch etwa 15.000 Siebenbürger Sachsen.
Die meisten von ihnen wanderten seit den 1970er Jahren und verstärkt ab 1990 nach
Deutschland aus, manche auch nach Österreich, nach Kanada oder in die USA.
OT 6 Schuller
7:
06-7:38
(…) Einer ist dann ausgewandert nach Amerika und hat in Amerika einen
Gedichtband in Siebenbürgischer Mundart heraus gebracht. Hat 50 Cent gekostet.
(…) 7:29 Hat den Gedichtband heraus gebracht, hat sich feiern lassen, sich
betrunken und wurde prompt von einem Italiener erstochen. Gestorben.
(geht über in Atmo Straßencafé Hermannstadt)
Sprecher 2:
Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird. Jorge Semprun.
Musik Siebenbürgen, süße Heimat… Jugendbachchor Kronstadt Siebenbürgenlied
youtube; evtl. verfremdet
3
Carmen:
Heimat - großes Wort. Löst der Begriff etwas aus in mir? Gibt es mehrere Heimaten?
Gibt es überhaupt die Mehrzahl des Begriffs Heimat? Der Duden meint: ja. Heimat –
braucht man das? Ich habe ein Zuhause. Vor 33 Jahren bin ich aus Siebenbürgen
ausgewandert. Seitdem kommt mir meine Muttersprache nach und nach abhanden.
Wie alte Kleider, die man nicht mehr trägt, weil sie zu eng geworden sind oder nicht
mehr angesagt. Das hat mir bisher wenig ausgemacht. Ich spreche schon lange
deutsch mit meinen Eltern und mit meinem Bruder – und habe mich von meinem
Herkunftsmilieu weitgehend distanziert. Ich bin nie einer Volkstanzgruppe beigetreten
und gehe zu keinem Treffen der Heimat- und Ortsgemeinschaft der Siebenbürger
Sachsen in Berlin. Doch je älter ich werde, desto seltsamer finde ich es, die Sprache
zu verlieren, in der ich sprechen gelernt habe. Es fehlt mir etwas, das zu mir gehört.
Sprache als tragbare Heimat – als Heimat to go?! Kann man aus seiner
Muttersprache überhaupt auswandern?
Sprache und Erinnerungen – vielleicht sind das gerade für uns Globalisierungskinder
mobile Identifikationsfaktoren, ganz gleich, wo wir leben. Deshalb fasse ich einen
Plan: Ich suche nach Sprechakten in meiner Muttersprache: SiebenbürgischSächsisch. Erste Station: das Internet.
Atmo Radio Siebenbürgen vielleicht noch etwas Gesang vorher 07:05
RS Radio Sivenberjen. Et hot gesangen der Honterus-Chor Drabenderhöhe. Und
wegter git et met...
Carmen:
Radio Siebenbürgen sendet im Internet auf Siebenbürgisch-Sächsisch. EcaterinaLuise von Simons aus Berlin-Moabit gehört zum vierköpfigen Moderationsteam, das
über die ganze Bundesrepublik verteilt ist. Jede Woche ist sie drei Stunden live am
Mikrofon. Hier ist jeder Moderator für seine Sendungen zuständig. Es geht um
aktuelle Themen aus Siebenbürgen, aber auch aus Deutschland und der Welt, um
Brauchtum und Geschichte. Von Simons will ihre Heimatsprache pflegen, macht sich
aber keine Illusionen über deren Zukunft.
OT 7 von Simons (18:
30-18:48)
Ich gehe davon aus, dass (…) unser Siebenbürger Sächsisch nicht so, wie wir es
kennen, erhalten bleiben wird, sondern es wird höchstwahrscheinlich irgend eine
verflachte Sprache kommen – und das ist auch gut so.
Atmo Hermannstadt
Carmen:
Noch ist es aber nicht soweit. Ich suche nach dem echten, unverfälschten
Siebenbürgisch-Sächsisch. Zweite Station: Hermannstadt, rumänisch Sibiu in
Siebenbürgen. Vor zehn Jahren war ich zuletzt hier. Damals hat mich die Sprache
wenig interessiert. Jetzt fühle mich ein bisschen wie der Schmetterlingssammler bei
4
Winnetou – nur mit dem Unterschied, dass ich Wörter sammele. Wörter und Sätze,
die es bald nicht mehr geben wird.
Geräuschmusik 2, dann darüber:
Sprecher 2:
Gibt es für eine Sprache fast nur noch Sprecher, die über 50 Jahre alt sind, sowie
über „Halbsprecher“ in der Altersgruppe zwischen 25 und 50 Jahren, jedoch über
kaum noch Sprecher in der Altersgruppe unter 25 Jahren, so gilt diese Sprache als
„moribund“ (todgeweiht), da die Weitergabe der Sprache von Eltern an ihre Kinder
kaum noch möglich ist.
Sprecher 1:
Rumänen, Ungarn, Siebenbürger Sachsen und Roma haben ihre eigenen Sprachen
und Dialekte bewahrt. Nur Siebenbürgisch-Sächsisch verschwindet nach und nach.
Auf den Straßen von Hermannstadt hört man es so gut wie gar nicht mehr. Von den
170 Tausend Einwohnern sind etwa 1300 Siebenbürger Sachsen – vor der Wende
waren es zehnmal mehr. In einem der typischen Altstadthäuser mit großem Tor zum
Hof wohnt die Sprachforscherin Anneliese Thudt.
OT 8 Anneliese Thudt
Te miest näuch mät aulden Loidjen räiden (…) Et sein jo nor old Liedj hä, da Gangen
sein awech gezujen. Ant te miest mät den Lietjen räiden, dot äm dot äm Klong, äm
Rhythmus, än der Melodie äfeit, denn dot kun det Wierterbeach net.
Carmen:
Anneliese Thudt ist 88 Jahre alt und eine energische Frau. Man müsse mit den alten
Leuten sprechen, denn die Jungen seien ja weg gezogen. Man müsse den Klang
und Rhythmus ihrer Sprache einfangen, denn das könne kein Wörterbuch. 30 Jahre
lang hat sie am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch mitgearbeitet und es auch
lange Zeit geleitet. Sieben Bände von bisher zehn hat sie mit verfasst. Sie holt den
ersten Band aus dem Regal, erschienen 1954.
OT 9 Thudt
Die Wortbedeutung wird durch einen Beispielsatz erläutert (…) und das ist dann in
einem Wörterbuchartikel strukturiert: 1 so, 2 so – und jedes hat dann Belegbeispiele,
datiert und Ortsangabe.
Sprecher 2:
Das ist sehr wichtig, denn jeder Ort in Siebenbürgen hat seinen eigenen Dialekt. Das
Wort Stuhl heißt etwa...
OT 10 Thudt (26:
50-27:20)
In Hermannstadt der Stahl, in Leschkirch der Steal, in Alzen, 4 km davon entfernt der
Stähl, (…) auch in Reps wird das Steal sein.
5
Geräuschmusik 3, etwas länger freistehend, mit viel Sprachfetzen
Sprecher 1:
Tausende Wörter und Beispielsätze hat Anneliese Thudt fürs SiebenbürgischSächsische Wörterbuch gesammelt. Dass diese einmal Teil eines Audioatlasses
siebenbürgisch-sächsischer Dialekte werden würden, konnte sie damals noch nicht
ahnen. Doch dazu später. Anneliese Thudt erzählt von ihren Feldforschungen, die
sie ab Ende der 50er Jahre startete, gemeinsam mit ihrer Kollegin Gisela Richter.
OT 11 Thudt
Wir waren nicht so gut ausgestattet, dass wir ein Auto hatten oder was weiß ich was,
sondern wir sind mit dem Felleisen auf dem Rücken, d.h. mit etwas Butter und etwas
Brot und etwas Speck und einem Kaffee vielleicht, einem gekochten in einer Flasche
sind wir aufgebrochen, zwei Frauen zu Fuß, über Berg und Tal, durch Wald und Feld
– das ist schon eine interessante Sache gewesen, und (…) sind dann in die Dörfer,
haben Leute gefunden, haben mit denen dann gesprochen, haben notiert in unserer
Transkription, die vorgegeben war durch die älteren Bände, und natürlich haben wir
noch die ein oder andere Kleinigkeit geändert, wir sind sozusagen perfekter
geworden, ohne perfekt zu sein (…) da haben wir das eine ganze Zeit durchgehalten
und wir waren also wirklich kühn.
Sprecher 1:
Auch im tiefsten Winter zogen sie los. Einmal waren sie mit einem Jeep unterwegs,
der kein Dach, sondern eine nur eine Plane hatte. Das Auto wurde über Nacht
komplett eingeschneit und musste am nächsten Tag freigeschaufelt werden.
OT 12 Thudt
denn es gab zu der Zeit, wie man im Nösnerland, wo wir eben waren, sagt, es gab
große Wändfochen. Das sind Windfauchen – Schneeverwehungen.
Carmen::
Ein siebenbürgisch-sächsisches Wort, das es Anneliese Thudt besonders angetan
hat. Und schon fallen ihr weitere Wörter ein, die sie gerne hört.
OT 13 Thudt
In Leschkirch sagt man zum Frosch Kradder – bitte der Kradder ist im Rheinischen
Wörterbuch, aber sonst nicht. In Kronstadt heißt das Tor, das die Ringmauer
abschloss – da sagte man Pforte - (…) 34:57 das ist also da Poirz (…) das gibt es
auch im Rheinland mit 'nem Umlaut, die Pörz. 35:18, (...) unverschoben mit P - Poirz
35.27
Geräuschmusik 4 mit Frosch- und Türschwerpunkt
Carmen:
Die Verwandtschaft mit den Dialekten aus dem Rheinland und dem Moselraum
kommt nicht von ungefähr, denn meine Vorfahren kamen aus diesen Gebieten.
6
Sprecher 1:
Johannes Tröster, 1666: Neue Beschreibung des Landes Siebenbürgen. Der
weltberühmte Fechtplatz vieler streitbarer Völker, das alte Gothenland oder Dacia, ist
zwar fast von allen Römischen Welt- und Geschichtsschreibern, derer unsterblicher
Schriften einverleibet, aber so unterschiedlich begrenzet, daß derselben Widrigkeit
zu entrichten, nicht geringe Müh erfordert wird. So ist auch das letztere rechte Dacia,
darinnen sie lang gewohnet, und endlich von denen Weltherrn, den Römern,
gebändiget worden, von wegen seines Namen sehr strittig. Strabo und Plinius führen
die Mylos an beyden Ufern der Donau herauf, der Erste zwar will, die Gothen
wohnen näher an der Maotischen See, und die Dacier weiter heraus gegen
Teutschland.
Sprecher 2:
Die Vorfahren der Siebenbürger Sachsen brachen ab dem 12. Jahrhundert Richtung
Osten auf. Sie kamen aus den Gebieten an der Mosel und am Mittel- und
Niederrhein, aus Flandern, Wallonien, Luxemburg, Lothringen sowie aus dem
Hunsrück, dem Westerwald und aus Bayern. Manche von ihnen wollten der Armut in
ihren Herkunftsgebieten entkommen und hofften auf ein besseres Leben. Andere
waren als Kreuzzügler ins Heilige Land unterwegs und ließen sich in Siebenbürgen
nieder, das damals zum Königreich Ungarn gehörte. Hier bekamen sie Land und
Privilegien und halfen im Gegenzug, das Gebiet zu erschließen und gegen die
Einfälle der Mongolen und Tataren zu verteidigen.
Geräuschmusik
Sprecher 2:
In den ehemaligen Sümpfen und Steppen entstanden bald Dörfer und Städte mit
Kirchenburgen und Wehrkirchen, von denen heute einige zum UNESCOWeltkulturerbe zählen. Siedler mit Adelsrechten wurden in der lateinischen
Verwaltungssprache Saxones, genannt: Sachsen. Der Name weitete sich – als
Missverständnis – auf die ganze Siedlergruppe aus. Die Siebenbürger Sachsen
haben daher nichts mit den Sachsen aus dem Osten Deutschlands oder mit den
Angelsachsen zu tun.
Sprecher 1:
Die Siebenbürger Sachsen blieben weitgehend unter sich, fast achthundert Jahre
lang. Das änderte sich erst in den jüngeren Generationen. Sie identifizierten sich
sehr stark über die gemeinsame Sprache, die sich aus den verschiedenen
moselfränkischen Dialekten entwickelt hatte, und über ihr kulturelles Erbe. In der
evangelischen Kirche von Rotberg ist sinngemäß zu lesen: „Hier wurde deutsch
gesprochen, als Berlin noch ein slawisches Fischernest war.”
In der Tat wurde dieser Teil Südosteuropas, zuerst von deutschen Siedlern
angesteuert. Sie waren überwiegend (natürlich nur auf den Dörfern) freie Bauern und
verwalteten ihre Dörfer und Städte fast vollständig selbst. Diese Rechte wollten sie
durch Mischehen nicht verlieren. Später spielte auch die Religion eine Rolle: Die
Siebenbürger Sachsen sind eine protestantische Minderheit im orthodoxen
Rumänien.
Geräuschmusik 5 Schwerpunkt Sprachfetzen, dann darüber
7
Carmen:
Meine Muttersprache, Siebenbürgisch-Sächsisch, klingt ein bisschen wie
Mittelhochdeutsch und ist zum Teil auch auf dessen Entwicklungsstand.
Collage Textfetzen
Sprecher 1:
Doch gilt wohl als gemeinsamer Zug für alle siebenbürgisch-sächsischen Mundarten,
dass das a und ä mit übermäßig weiter Kieferöffnung, das ö und ü mit verbreitertem
Munde (ohne merkbare Rundung der Lippen), alle Selbstlaute aber mit
verhältnismäßig stark nach hinten gezogener Zunge ausgesprochen werden.
Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Worte zu sehr „ous dem Halz" gesprochen
werden. Die Rede erhält damit zugleich einen dunkleren, wuchtigeren Ton, was
manche Redner, besonders in der Predigt, veranlasst, diese Art des Sprechens zu
übertreiben. Aus: Adolf Schullerus: Die Sprache des siebenbürgisch-sächsischen
Volkes.
Carmen:
Manche Wörter wie etwa Brot versteht man problemlos, anderes wie zum Beispiel
Handtuch klingt für fremde Ohren exotisch.
OT 14 Kilian Dörr (8:
40-8:51)
Man sagt nicht nur Bred, Briud, Bruid, Brät, sondern man sagt dann sagt dann zum
Handtuch Drädich – Trockentuch.
Carmen:
Wir besuchen den evangelischen Pfarrer Kilian Dörr in Hermannstadt. Ihm kommt
das Siebenbürgisch-Sächsische nicht so locker über die Zunge – in seinem
Elternhaus wurde deutsch und ungarisch gesprochen. Kilian Dörr ist für etwa 1500
Gemeindemitglieder zuständig. Die meisten leben in der Stadt, der Rest in
Schellenberg und Hammersdorf sowie in sechs weiteren Gemeinden.
OT 15 Dörr (3:
20-3:29)
Ich spreche sächsisch auf Dörfern, wo ich merke, dass die Leute schlechter deutsch
sprechen als ich sächsisch. Und dann sage ich, lieber quäl' ich mich ein bisschen
und red dann sächsisch mit denen.
Carmen:
Viele sind es ohnehin nicht mehr. Auf jedem Dorf meist nur noch eine Handvoll. Und
auch deren Sprache habe sich verändert mit den Jahren.
OT 16 Dörr (6:
35-6:59)
8
Ich glaube, das Sächsische hat sich verflacht in letzter Zeit, weil früher war es so, ich
konnte in meiner Schulklasse erkennen, wer aus welchem Dorf kam. Die Agnethler
sprachen auf eine Art und die Michelsberger, also jedes Dorf hatte seinen speziellen
Dialekt, und man wusste das, die Großprobstdorfer sprechen so hässlich oder die
anderen so singend und die Dritten sagen das ganz anders. (7:27-7:35) Man freut
sich schon, wenn man Sächsisch hört und sieht es nicht so, ist das jetzt ein
Agnethler oder ein Schässburger oder was weiß ich was.
Geräuschmusik 5
Carmen:
3. Station - es geht weiter nach Großscheuern, sieben Kilometer nordöstlich von
Hermannstadt entfernt. Hier bin ich aufgewachsen.
OT 17 Doina Marcu (00:
26-00:30)
Griußschaiern – also, hab ich mich doch erinnert. (lacht)
Thudt OT 18 T (29:
12-)
No dies, dot hat ich net geducht. Ous Griußschuiern! Na sech un! And wonni bes ta
awech gezujen?
Carmen:
Wann bist du weggezogen, werde ich gefragt. Mit 15! Seitdem hat sich hier viel
verändert. Noch stehen die typischen Bauernhäusern links und rechts der
Hauptstraße. In einer Seitenstraße grasen Pferde, sonst sieht man keine
Menschenseele. Für Besucher aus dem Westen eine romantische Zeitreise - für die
Einheimischen ein Kampf ums Überleben. Die meisten jüngeren Leute sind in die
Stadt oder ins Ausland gezogen, weil sie hier keine Arbeit mehr finden. Zurück
bleiben die Alten und Arbeitsunfähigen. Großscheuern hat schon bessere Zeiten
erlebt. Der Gemeindesaal ist eine Ruine, sein Dach nur noch ein Gerippe aus Holz.
Die evangelische Kirche wurde mit Hilfe von Geldspenden ehemaliger Dorfbewohner
aus Deutschland zum Teil renoviert - doch auch an ihr nagt der Zahn der Zeit. Der
Altar ist bei einem Brand zerstört worden, die Orgel ist kaputt.
Orgelspiel auf der kaputten Großscheuerner Orgel
Carmen:
Auf den Kirchbänken verstauben die evangelischen Gesangbücher. An die Zeit, als
sie gedruckt wurden, kann ich mich noch gut erinnern. Damals war die Kirche jeden
Sonntag voll.
Sprecher1:
Gottesdienste gab es hier schon lange nicht mehr. Klaus-Martin Untch ist hier Pfarrer
– ganze sieben Gemeindemitglieder hat er zu betreuen. Er ist noch für drei weitere
Gemeinden nördlich von Hermannstadt sowie für zwei weitere im Süden Rumäniens
zuständig.
9
OT 19 Klaus-Martin Untch (0079 2:03-2:33)
Das ist manchmal ein Stück Akrobatik, es so zu machen, dass jede einzelne
Gemeinde mindestens zweimal pro Monat Gottesdienst feiern kann – und das
bedeutet dann für mich persönlich, dass ich drei bis vier Gottesdienste abhalte pro
Sonntag und manchmal auch zu besonderen Gelegenheiten, versuchen wir auch
gemeinsame Gottesdienste zu feiern mit Zufahrdiensten.
Sprecher 1:
Der 48-jährige Pfarrer hat sich – wie sein Kollege Kilian Dörr aus Hermannstadt dafür entschieden, nicht auszuwandern. Seine Heimatkirche brauche ihn, sagt er. Er
mag die Menschen und ihre Sprache – und manche Wörter ganz besonders.
OT 20 Untch (0079 8:
53-9:16)
Errlächt – ein Irrlicht (…) Es hat eher eine negative Konnotation, in dem Sinne, du
führst andere in die Irre, dann bist du halt ein Errlächt. Lacht.
Carmen:
Vom Kirchturm schaue ich aufs Dorf und auf die sanften Hügel, die es umgeben. Die
Landschaft hat hier weiche Arme, die einen umfangen und wiegen und beruhigen.
Das Dorf ist gewachsen. Die Wiese, auf der wir als Kinder spielten, ist inzwischen ein
Neubaugebiet. Viele Häuser sind nicht fertig geworden. Schon seit Jahren nicht, wie
es aussieht - wahrscheinlich, weil das Geld ausging. Früher hieß die Wiese
Schweinsweide. Schwiengdswoid. Schweine gab es auf fast jedem Hof. Jeden
Winter wurde eines geschlachtet. Uadän nannte man das: abtun. Klingt beiläufig, fast
harmlos, war aber eine große Sauerei. Das Tier wurde auf Stroh gebettet. Ohne
Betäubung schnitt man ihm die Kehle durch oder stach ihm ins Herz. Das Schwein
schrie erbärmlich. Schreien wie am Spieß – da muss es herkommen. Das tote Tier
wurde in einen Trog gelegt und mit kochend heißem Wasser übergossen, damit sich
die Borsten von der Haut besser lösten.
OT 21 Schweineschlachten 1:40-2:54
Ausi dä Männer, dä nien det Schweng ous dem Stol än schoafen et of dä Stal, wo
em et jo uädien soll. Do dit em em e wenig Stri angden, dit et oft Stri luan of dä lengt
Segt end stecht et. Normal messt em et jo änt Harz stechen, dän em träft et net äin
gena. Wun et gestochen es uch wun em feststalt dot det Schweng diud äs, dro git em
än broingt det Wosser, kochen Wosser, det wot em Kesal schiun kocht, dot mes
awer jea kochen. Än don dit em det Schweng en dä Meald – en dit Katenen angder
det Schweng oder Strong, wot em jo hot än nit a wenig Esch wä et fraher wor. (...)
2:40 – än struen iwer det Schweng än schiden det his Wosser drif än dren et än dem
kochigen Wosser ämereng, bes dot mer feststallen, dot det Hor sich vom Schweng
list.
Geräuschmusik 6, dann darüber
10
Carmen:
Die Gedärme des Schweines wurden mit heißem Salzwasser gewaschen, sorgfältig
auf einem Brett mit dem Messerrücken ausgekratzt und mit Leber - Liawer - und
Hackfleisch gefüllt. Die fertigen Würste hing man in den Hof über einen
ausgemusterten Besenstiel herum, bis sie gefroren. Dann kamen sie in die
Speisekammer. Ein Teil wurde - zusammen mit dem Speck – Bäufloisch, wörtlich:
Bauchfleisch - geräuchert, ein anderer Teil gebraten und in Schweinefett eingelegt.
Der Vorrat reichte für ein Jahr. Schnaps – auf sächsisch: Pauli - Wurst, Speck und
Gebäck – das sind die Zutaten der Siebenbürgischen Gastfreundschaft. Sie wurden
auch gereicht, wenn junge Männer von Haus zu Haus zogen, um Glück und Segen
fürs Weihnachtsfest und fürs neue Jahr zu wünschen.
Chrestwurscht mieng Ausschnitt (verfemdet?)
Carmen:
Großscheuern war ein kleines Balkan-Bullerbü. Ein Dorf mit einer einzigen
Teerstraße. Dort wohnten wir nicht, sondern in der staubigen Bachgasse. Das Haus,
in dem ich aufgewachsen bin, ist jetzt orangefarben gestrichen. Früher war es grün.
Man hat wohl halbherzig versucht, die Bachgasse zu asphaltieren, doch der Belag
deckt nicht ganz und bröckelt überall. Früher sah es hier gepflegter aus. Wenn die
letzte Kuh- und Ziegen-Herde durch getrampelt war, kamen die Bewohner wie auf ein
geheimes Kommando am frühen Sonntagmorgen aus ihren Höfen heraus und fegten
die Straße mit Reisigbesen. Alle sieben Tage die gleiche Choreografie.
Geräuschmusik …
Schschsch! Das Geräusch, das mich weckte. Die Bachgasse wurde fein gemacht für
die Kirchgänger und Sonntagsspazierer. Ihren Namen hat sie vom Krumbach, der
dort fließt. Im Winter war es meist still in der Bachgasse, aber ab Ende April gingen
die Frösche – de Kratschen– auf Brautschau – und das konnte sich bis August
hinziehen. Böse Jungen quälten die Frösche manchmal und pumpten sie auf, bis sie
platzten. Wenn ihnen das zu langweilig wurde, füllten sie die Hähne, da Kuekesch,
mit Schnaps ab, bis sie ziellos hin und her torkelten und sich die Jungen grölend vor
Lachen auf dem Boden wälzten. Im Sommer bauten wir Wehre im Bach und
badeten, im Winter fegten wir Rutschbahnen, auf denen man meterweit gleiten
konnte: glätschen. Schlittschuhe besaß kaum jemand. Die Dorfkinder hatten viel Zeit
seit der Zwangsenteignung durch das kommunistische Regime. Wir mussten –
anders als unsere Eltern – nicht mehr auf den Feldern und Höfen mithelfen. Meine
Eltern duzten ihre Eltern nicht, sondern verwendeten den Majestätsplural: Ihr. Erst
meine Generation ging vereinzelt zum Du über.
Sprecher 1:
Der Schriftsteller Khaleid Hossein sagt: „In Afghanistan ist man nie bloß ein
Individuum, man versteht sich als Bruder von jemandem, Cousin von jemandem,
man ist Teil von etwas Größerem als man selbst.“ (sollen wir das nicht doch drin
lassen?)
Carmen:
Das galt auch für Siebenbürgen. Im Kern bestimmten drei Ordnungsprinzipien das
Geschehen: Man misstraute dem Staat und dem öffentlichen Raum, vertraute aber
11
umso mehr der Familie und der Verwandtschaft – und der Kirche. Der sonntägliche
Kirchgang war so selbstverständlich wie das „Amen“ nach der Predigt. Außerdem
war die Kirche ein Gegengewicht zum kommunistischen Machtapparat. Der Pfarrer,
der Foar, war eine Autorität im Dorf. Ihn hatte die Gemeinde – anders als den
Bürgermeister – ja auch wirklich gewählt. In der Kirche gab es eine feste
Sitzordnung: Die Ehefrau des Pfarrers saß mit ihren Kindern und der Lehrerschaft
auf der Bank mit der Rückenlehne, der Foarschbunk, in der Mitte des
Kirchenschiffes. Davor saßen die älteren Frauen, dahinter die jüngeren verheirateten
Frauen, rechts unter der Burschen-Empore nahmen die Frauen mittleren Alters Platz
– ganz hinten saßen die Männer auf einem erhöhten Gestühl. Neben der Kanzel
saßen die unverheirateten, nicht mehr ganz jungen Frauen auf einer Bank mit dem
unschönen Namen „da Bleifbunk.“ Es wurde früh geheiratet, ab Ende 20 galt man
schon als „sitzen geblieben.“ Diese Frauen schauten direkt auf die „Wartebank“ vor
ihnen, die den verlobten Frauen vorbehalten war. Im Altarraum saßen die
konfirmierten Mädchen, da Mäid. Da Presbyter, die kirchlichen Gemeindevertreter,
waren im Chorgestühl platziert. Es war eine Ordnung, die niemand in Frage stellte.
Diese drei Prinzipien – das Vertrauen gegenüber Familie und Kirche und das
Misstrauen gegenüber dem Staat - griffen ineinander und bekräftigten sich
wechselseitig.
Geräuschmusik
Carmen:
Es gab eine große Kluft zwischen der offiziellen Ideologie und dem, was die
Menschen privat taten. Uns Kindern wurde von klein auf eingetrichtert: Was zu
Hause gesprochen wird, bleibt hier – auch zum Beispiel, dass meine Eltern
regelmäßig an dem wuchtigen „Concert“-Radiogerät herumschraubten, um den
Sender Freies Europa – rumänisch: Europa libera - möglichst störungsfrei zu
empfangen. Dafür konnte man ins Gefängnis kommen. So arrangierte man sich mit
der Diktatur, ging zur Schule, ins Büro, in den Betrieb – und träumte sich zu Hause in
eine freie Welt. Die kommunistische Rhetorik, die einem auf Schritt und Tritt
begegnete, prallte an den Siebenbürger Sachsen ab wie Regentropfen an den
polierten Reitstiefeln, mit denen die Männer in ihrer Festtagstracht in die Kirche
stolzierten.
Geräuschmusik:
Das Siebenbürgisch-Sächsische leistete auf seine Weise Widerstand. Es machte
sich gar nicht erst die Mühe, Wörter aus der Sprache der Apparatschiks zu
integrieren. Das rumänische Wort für Antrag, Cerere, nahm es mit spitzen Fingern
an, ohne auch nur um einen Buchstaben darin zu verändern. Den Wörtern Colectif
und Coada (für Schlange stehen) passierte das Gleiche. In ganz Großscheuern gab
es einen einzigen überzeugten Kommunisten. Marx und Lenin wurden nicht einmal in
der Schule gelesen. Dafür lernten wir später auf dem Gymnasium in Hermannstadt
mit einer Kalaschnikow umzugehen. Die „Vorbereitung der Jugend zur Verteidigung
des Vaterlandes“ war ein eigenes Schulfach, das aber keiner richtig ernst nahm. Der
Homo sovieticus, befreit von Herkunft und Religion und bereit, dem feindseligen
Westen die Stirn zu bieten - er war den Siebenbürger Sachsen noch suspekter als
der verkommene, Zigarre rauchende Klischee-Kapitalist.
12
Geräuschmusik
Weltläufiges, Abweichendes und Verrücktes war sowohl im Kommunismus als auch
in der Dorfgemeinschaft tabu. Zwar hatte jedes Dorf seinen Irren, den man im
Großen und ganzen in Ruhe ließ. Psychisch Kranke nannte man „nimi richtig äm
Hioft“ - nicht richtig im Kopf. Homosexualität – dafür gab es nicht einmal ein Wort oder offene Promiskuität wären aber niemals akzeptiert worden. Den Irrsinn und die
Schikanen des kommunistischen Machtapparates versuchten die Leute dagegen
gefasst zu ertragen – etwa wenn wieder und wieder Absagen auf Ausreiseanträge
kamen. Antrag – Verhör – Absage. Sieben Jahre lang ging das so, bis meine Familie
endlich ausreisen konnte.
Collage Textfetzen, evtl. mit Werbespotfetzen (LUX, Persil etc.)
Carmen:
Wie der der Westen roch, wussten wir schon lange vorher: nach den Sitzen der
Audis und Mercedes-Benz, mit denen die ausgewanderten Verwandten im Sommer
zu Besuch kamen: of Besäck. Denen entströmte ein dezenter, fast vornehmer
Wohlgeruch, ganz anders als den rumänischen Dacias. Die Autoinsassen dufteten
nach Persil und Lux-Seife. Lange dachte ich, dass das Wort Luxus, das es in meiner
Mutttersprache nicht gab, von der Lux-Seife kommt. „Cremig zart“ versprach eine
scheu lächelnden Blondine auf der Verpackung, deren Bild ein Rosenzweig zierte.
Die Autos waren Schatzkisten, gefüllt mit Geschenken für die große Verwandtschaft:
Seife, Schokolade, Kaffee, Feinstrumpfhosen – Soif, Tschokolaud, Kaffei, Strampel und manchmal gab es auch eine Jeans fürs Kind. „Woah, stramm!“, riefen wir dann
und freuten uns irrsinnig. Das war der einzige Ausdruck, um Sensationelles oder
Überraschendes in Worte zu fassen. Und erst meine Generation hatte ihn erfunden.
Toll, geil, krass, klasse, irre, abgefahren, Wahnsinn – mit den Varianten, die das
Deutsche hier bietet, kann meine Muttersprache nicht mithalten.
Carmen:
Kraftausdrücke wie „verflucht“ oder „verdammte Scheiße“ fehlen gänzlich in meiner
Muttersprache. Was sagt das über die Siebenbürger Sachsen aus? Ein Volk von
Stoikern? Wenn sie sich über jemanden ärgern, dann sagen sie „dot dich det Wadder
dich!“ – was so viel heißt wie „soll dir doch das Wetter was antun“ – gemeint ist wohl:
der Blitz erschlagen. Oder „dot tä zerreißen säult“ – es soll dich zerfetzen. Wenn es
mal derb und vulgär sein soll, dann greift der Siebenbürger Sachse aufs Rumänische
zurück. Das bietet ein fast unerschöpfliches Arsenal an Fluch- und Schimpftiraden.
Collage Schimpfwörter
Sprecher 1:
Vielleicht hatten die Siebenbürger Sachsen einfach weniger zu fluchen. Es ging
ihnen ja lange gut. Sie kannten keine Leibeigenschaft – anders als die rumänischen
Bauern. Diese Erfahrungen haben die Sprache imprägniert. Jahrhunderte alte
Traditionen haben sich in sie eingelassen und bestimmen heute noch das
Atmosphärische der Kommunikation.
Geräuschmusik
13
Carmen:
Freunde und Verwandte habe ich keine mehr in Rumänien, aber eine Handvoll
meiner ehemaligen Lehrer lebt noch dort. Ich hatte vor der Reise meine
Mathematiklehrerin aus Großscheuern, Anneliese Schmidt, per E-Mail kontaktiert sie freue mich sehr, mich wieder zu sehen, schrieb sie. Nun steht sie im Türrahmen
und lacht ihr vertrautes, kehliges Kettenraucherinnen-Lachen. Wir umarmen uns zur
Begrüßung. Sie hat zwei beeindruckende Torten gebacken, die so gut schmecken
wie sie aussehen. Eine derartige Küchenkompetenz hätte ich bei dieser Frau nicht
vermutet, die so lässig mit binomischen Formeln und Sinuskurven jonglierte. Ihre
Wohnung ist klein, die Rente knapp, aber sie beklagt sich nicht. Sie gehe sowieso
nicht gern aus und jeden Samstag spielt sie Scrabble mit Freunden – die meisten
davon sind rumänischer Abstammung. Siebenbürgisch-sächsisch spricht sie kaum
noch im Alltag.
OT 22 Anneliese Schmidt 2:13-2:30:
Schade ist es, dass das ganze Völkchen ausgewandert ist – also nicht mehr da ist.
Wer soll's noch sprechen, wenn die Leut' nicht mehr hier sind? Ob sie's in
Deutschland noch sprechen, das weiß jeder, was er selbst dort tut. Wahrscheinlich
sprechen sie noch die älteren Leute unter einander sächsisch.
Carmen:
Ich habe mit Anneliese Schmidt nie siebenbürgisch-sächsisch gesprochen, sondern
deutsch. 18 Jahre lang unterrichtete sie Mathematik in Großscheuern und später in
Hermannstadt, bis sie in Rente ging. Sie stammt aus Tartlau bei Kronstadt,
rumänisch Brașov.
OT 23 Anneliese Schmidt (1:15-1:44)
Eine Kollegin hat gelacht über meinen Dialekt. (…) Denn der erschien ihr komisch.
Wir haben manche Laute – z.B. die „Zwei“ sagen wir „Sp“: spinanzspenzig spoarz
gesproinkelt Spenchen. Das sind 22 schwarz gesprenkelte Schweine. Das ist so
typisch für unseren Dialekt.
(1:
55-2:02) Damit man nicht mehr lacht über mich habe ich nicht mehr Dialekt
gesprochen, sondern nur Hochdeutsch, (lacht), ja.
Sprecher 2:
Hochdeutsch war auch die Unterrichtssprache an den deutschen Schulen in
Rumänien, in den evangelischen Kirchen wurde deutsch gepredigt. Kindergärten,
Schulen und Kirchengemeinden für die deutsche Minderheit waren hier lange
selbstverständlich - anders als damals in den meisten Ostblockstaaten. Doch
während der Ceaușescu-Diktatur häuften sich die Repressalien gegen die
Minderheiten in Rumänien – und so sahen auch viele Siebenbürger Sachsen hier
keine Zukunft mehr. Als sie nach der Wende ab 1990 endlich legal und unkompliziert
ausreisen konnten, verließen sie das Land scharenweise.
Musik5
14
Lied vom Großscheuerner Treffen (0074_BU + 0074_LR, Bränchen um groinjen
Roin)
Carmen:
Station vier: Großmehring bei Ingolstadt. Ein großer Teil der ehemaligen Bewohner
von Großscheuern lebt heute in dieser Gegend. Viele arbeiten im Audi-Werk.
Deshalb veranstaltet die Heimat- und Ortsgemeinschaft alle drei Jahre hier ein
Treffen für die Ex-Großscheuerner. Im Oktober 2015 war es wieder soweit. Fast 500
Menschen sind gekommen.
Atmo5 Großscheuerner Treffen
Carmen:
So viele bekannte Gesichter, deren Namen ich nicht mehr weiß! Viele haben sich
jahre- oder jahrzehntelang nicht gesehen. Man umarmt sich, wechselt ein paar Worte
- dann ab zum nächsten. So viele wie möglich begrüßen, lautet die Devise. Nach
dem offiziellen Programm - einem Gottesdienst, Ansprachen und dem Auftritt der
Volkstanzgruppe – sitzen wir in Grüppchen zusammen, lachen und reden
siebenbürgisch-sächsisch.
OT 24 Umfrage M (0082 00:13-00:40)
Es ist nicht mehr die Hauptsprache, die Hauptsprache ist Deutsch, aber wir freuen
uns und wir suchen Gelegenheiten, um wieder sächsisch zu sprechen.0:24 Zum
Beispiel haben wir eine Wandergruppe seit wir in Rentner sind und uns das leisten
können – und da haben wir ganz bewusst darauf geachtet, dass nur Leute aus
Siebenbürgen dabei sind, um das Sächsische zu pflegen.
0073 0:
14 -0:42
Also, bei uns ist es so, dass ich mit meinem Vater – meine Mutter lebt nicht mehr –
und mit meinen Geschwistern auch sächsisch spreche, grundsätzlich und mit
meinem Mann eben nicht, weil der nicht sächsisch spricht und mit den Kindern auch
nicht. (…)
Susanne Drothler 0073 0:
46-01:17
Also bei mir ist es anders, denn einen Großteil des Tages spreche ich deutsch und
es fällt mir dann auch richtig schwer, sächsisch zu sprechen, wenn ich z.B. mit
meinem Bruder, mit meiner Schwägerin sächsisch spreche. Wir habe da auch lange
Zeit einfach wirklich deutsch gesprochen wegen der Kinder, die eben nicht sächsisch
sprechen.
Carmen:
Kaum ein Kind, das in Deutschland aufwächst, spricht noch siebenbürgischsächsisch. Der 4-jährige Luis und der 7-jährige Leon sind eine Ausnahme.
OT 25 Luis und Leon 0078 01:38
15
Ich hun Schnitzel geißen met Krumpiren-Salaut. Wot häuste gedraenken?
Gedreanken hun ich en Spezi.
Carmen:
Schnitzel mit Karfoffel-Salat gab es zu Essen. Die Familie halte eben an ihrer
Heimatsprache fest, erzählt uns die Großmutter der beiden, Monika Müller.
OT 26 Monika Müller 0078 3:39-4:03
Meine Kinder sind ja noch in Rumänien geboren, in Siebenbürgen, in Hermannstadt.
Die wussten das, die kannten das und unsere Enkelkinder sollten das auch lernen.
Wir haben uns bewusst dafür entschieden, die Sprache weiter zu geben – auch
wenn sie uns nicht immer in unserem Dialekt antworten – für uns ist es wichtig, dass
sie es verstehen und es weiter gegeben wird.
Sprecher 1:
Auf die Pflege ihrer Sprache, auf deren Verbundenheit mit dem Deutschen legten die
Siebenbürger Sachsen großen Wert, solange sie in Siebenbürgen lebten. Ihr
Nischen-Nationalismus, ihr Stolz auf die eigene Herkunft waren auch ein Ausgleich
für ihr Gefühl, sich als Minderheit immer wieder neu behaupten zu müssen. In einem
bekannten siebenbürgischen Lied heißt es: Unser Herz ist deutsch, unser Blut ist
deutsch in uns und unseren Kindern. Wir wollen bleiben, was wir sind. Gott hilf uns
jetzt und immer!
Musik6 0076
0076_LR 3. Strophe 2:
37-3:07
Aus Harz es dietsch, aus Bläd es dietsch än aus uch ausen Kandjen. Mir weallen
blaiwen wot mer sein. Guatt healf aus ienst uch andjen.
OT 27 Michael Guist 0082 2:44-3:05
(…) Das Liedgut ist wehmütig, ist melancholisch, das ist richtig, vielleicht liegt das
aber auch an der Diaspora, in der wir gelebt haben, ne. Aber sonst die
Alltagssprache, die ist nicht melancholisch. Ich würde eher sagen, dass es eine
nüchterne Sprache ist, nüchtern und sachlich.
Carmen:
meint mein ehemaliger Musiklehrer Michael Guist. Ja, unsere Muttersprache sei
einfach zurückhaltender als das Rumänische, das im Vergleich dazu lauter und
forscher wirkt.
OT 28 Michael Guist
M 0092 3:
31-3:47
16
Also lauter ist es auf alle Fälle. Es ist vielleicht auch direkter, das Rumänische. Wir
versuchen da eher diplomatischer vorzugehen – das liegt auch am geschichtlichen
Hintergrund, würde ich sagen.
Sprecher:
Zwar wollten die Siebenbürger Sachsen als Minderheit nicht hervorstechen, aber ihre
Sprache und Bräuche bewahren und auf keinen Fall im Rest der Bevölkerung
aufgehen. Was über 800 Jahre geklappt hat, geht nun zu Ende. Michael Guist und
seine Ehefrau Edeltraut beklagen das nicht, aber so lange sie können, wollen sie
dazu beitragen, siebenbürgische Traditionen wieder zu beleben. Sie leiten
zusammen die Sing- und Volkstanzgruppe aus Ingolstadt und sind dafür zu den
Proben aus ihrem Wohnort bei Stuttgart angereist.
Geräuschmusik
OT 29 Michael Guist M 7:32-7:49
Und vielleicht auch mit dem Hintergrund, ein Stück deutsches Kulturgut zu erhalten,
denn es ist deutsches Kulturgut, es ist genau wie das Sächsische oder das
Norddeutsche – es gehört zur deutschen Volksgemeinschaft, es ist deutsches
Kulturgut.
OT 30 Edeltraut Guist T 7:50-8:00
Diese Tänze, die wir jetzt tanzen, die sind eigentlich aus einer Sammlung von
Tänzen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum – von daher sind wir verbunden
miteinander.
Geräuschmusik
Carmen:
Wir sprechen über unsere Muttersprache beim Großscheuerner Treffen. Was mögen
wir an ihr? Das Vertraute natürlich, aber auch das Spezielle, was es sonst nirgendwo
zu hören gibt. Meine Großmutter hatte zum Beispiel einen hübschen Ausdruck dafür,
wenn etwas drohte kaputt zu gehen. „Däut häut det Starvkloid un“, sagte sie.“Das hat
das Sterbekleid an.“
OT 31 Umfrage K 0073 7:
42-8:00
(…) Vergäumeren – wenn ich Gelüste habe auf etwas, also schwangere Frauen zum
Beispiel – das heißt im Sächsischen vergäumeren. Das gibt’s im Deutschen nicht.
OT 32 von Simons 24:
08-24:26
Schatzig, hiasch, puica cokesch, Hemmels heißt Aufboden/Dachboden, piuca
kokesch ist der Truthan, hiasch schön und schatzig herzig.
Carmen:
17
Und dennoch spürte ich sehr früh, dass es vieles gab, was ich in meiner
Muttersprache nicht ausdrücken konnte. So ging es auch meiner Freundin Susanne
Drothler, die in Großscheuern ein paar Häuser weiter auf der Bachgasse wohnte.
OT 33 Susanne Drohtler Interview Ingolstadt 0073 6:06-6:15
Ja, das sind die Fiäß, die Füße – also normalerweise gibt es da mehrere Ausdrücke.
Im Sächsischen gibt es kein Bein. 0073 8:22-8:33
Zum Beispiel hatten wir's vorhin, da Musik es zä hoart, könnte man jetzt meinen hart
ist, also hoart, aber das heißt laut, ja. 0073 6:16-6:38
Und mir ist noch was eingefallen, wo man das falsch gemacht hat beim Übersetzen
vom Sächsischen ins Deutsche – da Liech – mer gäun of da Liech. Und wenn man
das dann Wort für Wort übersetzt, heißt das, wir gehen auf die Leiche. Eigentlich
heißt das, wir gehen aufs Begräbnis. Lacht.
Carmen:
Später erfuhr ich, dass das Bayerische und das Österreichische das genauso
handhaben. „A scheene Leich“ bedeutet „ein schönes Begräbnis.“ Je tiefer ich ins
Deutsche einstieg, desto begeisterter schürfte ich in seinen Zwischentönen, seinen
Feinheiten, seinen Schattierungen. Ich lernte täglich neue deutsche Wörter in der
Schule und brachte sie mit nach Hause. Bald las ich Bücher. Mit den Wörtern und
Sätzen machte ich es so wie die Frauen bei der Obsternte: Die besonders schönen
Früchte legten sie in einen Extra-Korb. Ich hatte mir ein dickes Notizheft angelegt, in
das ich jeden Ausdruck aufschrieb, der mir außerordentlich gut gefiel, der mir
besonders lustig oder extravagant vorkam. „Scherzkeks“, „Firlefanz“ und
„fuchsteufelswild“ notierte ich mit meiner krakeligen Kinderschrift. (Leider hat es
dieser „Wort-Schatz“ nicht über die rumänische Grenze geschafft und ist wohl längst
zu Mehltüten recycelt worden.)
OT 34 Frieder Schuller 28:03-28:47
(…) Ich würde nie sächsisch schreiben können. Wenn ich mich ein bisschen
interessanter unterhalten will, muss ich ins Deutsche gehen. Im Sächsischen kommt
man nicht – die Worte sind zu wenig präzise. Man kann sächsisch übers Essen
sprechen (…), Aufstehen, die Kuh melken – es ist alles abgedeckt - (…) und so weit
hat es mich auch nur mit zunehmendem Alter gepackt, dass ich so gerne das
Sächsische höre, vielleicht auch ein bisschen damit kokettiere, dass ich sächsisch
noch kann, nicht wahr (raus?), aber ich möchte lieber ein perfektes Deutsch
sprechen.
Carmen::
Trotzdem kann der Autor und Filmemacher Frieder Schuller seiner Muttersprache
jede Menge Poesie abgewinnen. Wir treffen ihn in Berlin, unserer fünften Station. Er
ist in Helsdorf bei Kronstadt aufgewachsen.
OT 35 Schuller 22:
2018
Ein Plumpsklo heißt sächsisch Schämpes, aber das ist mir als Kind auch so
geblieben, weil, wenn ich lief im Hof, Plumpsklo, wo wir waren, rief meine Mutter:
Gihst ta aft Schämpes! Ach, Klinzig, aft Schämpesken gihst ta. 22:34 So ist mir das
so geblieben, wenn ich heut ein zärtliches Wort – ich Schämpes gesagt. Plumpsklo!
Geräuschmusik, darüber:
OT 36 Frieder Schuller 37:27-37:32
Schön sagt man ienig – (…) inniglich, das ist eigentlich ein sehr schönes Wort.
(38:
16-38:29-38:34) Also in Helsdorf war eine sehr schöne Frau, die mich sehr
beeindruckt hat als kleinen Jungen, die Erna-Tante, (...) aber im Dorf sagte man, se
as an Här – Hure – an Här. 38:29 Das Wort hat mir auch gefallen – das fand ich
wunderschön: Här. (39:04-39:23)
Oder die anderen schönen Worte, (...) 39:10 (...) da Krumpiren, also die Kartoffeln.
Das sind so schöne Worte. Meine Freundin die liebt es, wenn ich solche Worte dann
– wenn wir in Katzendorf sind, sagt sie, na hast du Krumpiren gebracht? Diese Worte
gebraucht sie dann auch.
Carmen:
Frieder Schuller lebt abwechselnd in Berlin und in Katzendorf in Rumänien. Er
wechselt munter hin und her zwischen Deutsch und Siebenbürgisch-Sächsisch.
Dabei wird klar, dass die beiden Sprachen die Welt unterschiedlich sehen. Die
Berlinerin Hermine Untch, die aus dem siebenbürgischen Braller stammt, hat ein
paar Beispiele.
OT 37 Hermine Untch 5:
00-5:17
Es gibt so spezielle Ausdrücke, z.B. (….) heißt es im Siebenbürgisch-Säschsischen
nicht et fallt mir net iän – also es fällt mir nicht ein, sondern et kit mer niet iän – also
es kommt mir nicht ein.
(5:
21-5:39-6:01) Oder neulich sagte mein Vater, in meinem Alter kriecht man nicht mehr
auf den Baum. (….) 5:46 Als mir zum ersten Mal dieser Unterschied bewusst wurde,
habe ich gedacht, komisch, wieso sagen die Sachsen das, sie kriechen auf den
Baum (…) Sie kriechen auch ins Auto, ne, obwohl das völlig verrückt ist.
Geräuschmusik
Carmen:
Station 6. An solchen eigenartigen Wendungen ist Thomas Krefeld sehr interessiert.
Der Sprachwissenschaftler hat mit seinem Team an der Münchner LudwigMaximilians-Universität einen Audioatlas siebenbürgisch-sächsischer Dialekte
erstellt: 360 Stunden gesprochene Sprache aus etwa 250 verschiedenen
19
Ortschaften! Krefeld und sein Team haben das Internetportal so aufbereitet, dass es
nicht nur Sprachforscher nutzen können.
OT 38 Thomas Krefeld 00:
49-1:36
Für Laien ist das außerordentlich gut geeignet, weil man da ja also Schlagwörter
suchen kann, man kann Begriffe suchen und es wird so die siebenbürgische
Nachkriegsgeschichte auf 'ne Art und Weise dokumentiert, die nicht gesteuert ist,
sondern die Leute erzählen ja eigentlich, nicht. 1:07 Es sind zwei verschiedene Arten
von Material – ein Teil das ist Syntax – da gibt’s dann ein Set von Sätzen, die
übersetzt werden mussten, das schrecklich berühmt ist in der Germanistik (…) – und
die sind in Siebenbürgen eben auch abgefragt worden. Das ist das Eine (…) Und das
Andere ist, dass die Leute eigentlich ungesteuert interviewt wurden. Und da erzählen
sie über alles Mögliche.
Carmen:
Zum Beispiel über das Brauchtum, über die Deportation in die Sowjetunion oder über
die Zwangskollektivierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Themen sind in
sogenannten Begriffsclouds zusammen gefasst. Allein beim Thema Hochzeit landet
man 423 Treffer. Hochzeitsvorbereitungen sind in Siebenbürgen Frauensache. Sie
backen Unmengen an Hanklich und Striezel.
Atmo 6 Audioatlas Hochzeit File 1090, Abtsdorf bei Marktschelken 1972
Fridig uch Soanöuwend sin jo vil Fran do än hälfen bä de Virberoidungen – bä äus
bockt sich dä Hunklich uch da Strezel uf den Hochzeden.
Carmen:
Thomas Krefeld ist sehr angetan von der Vielfalt der siebenbürgisch-sächsischen
Dialekte.
OT 39 Krefeld 15:
38-15:54
Diese Dialektlandschaft, die sehr speziell ist. Man hat nie Räume,die sich bilden,
sondern das ist außerordentlich fragmentiert, man hat lauter Einzeldialekte
sozusagen, die nicht, wie das sonst so üblich ist, Regionaldialekte erkennen lassen –
eigentlich praktisch überhaupt nicht.
(22:
44-22:09)
Es gibt allein 31 phonetische Varianten für „tun“ (…) Also die phonetische Variation
ist außerordentlich groß – das ist ja bekannt, nicht. Manche Sachen sind ganz
exotisch - „sp“ für „zw“ nich und so Sachen – Der Vokalismus ist sehr kompliziert (…)
und das haben wir jetzt maximal erfasst.
Collage Textfetzen
20
Carmen:
Die Aufnahmen wurden von Germanisten aus Rumänien in den 60er und 70er
Jahren gemacht, unter anderem auch von Anneliese Thudt, der Sprachforscherin aus
Hermannstadt. Krefeld und sein Team haben sie ins Deutsche übersetzt und auch
auf den Einfluss anderer Sprachen abgeklopft.
OT 40 Krefeld (18:
31-18:59)
Es ist eine trotz (…) konservativem Input eine sehr innovative sprachliche
Konstellation, die außerordentlich vielfältig eigentlich ist. 18:43- Man weiß ja auch,
dass die Siebenbürger immer schon sehr früh zum Studieren nach Westeuropa
gegangen sind, nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Frankreich, Paris,
Basel ist bekannt – d.h., da kam dann auch wieder sprachlicher Input, der sich auch
niederschlägt.
Carmen:
Außerdem gehörte Siebenbürgen ab Ende des 17. Jahrhunderts bis nach dem
Ersten Weltkrieg zur Habsburger Monarchie. Aus dieser Zeit stammen wohl Wörter
wie Trottoir, Spitäul und Paradeis für Tomate - oder Gefrorenes für Speiseeis, was
aber schon zu meiner Zeit sehr angestaubt war und mich immer peinlich berührte,
wenn meine Großmutter mich beim Eismann fragte, Kandj, wällt te en Gefrorenes.
Wir hatten das rumänische Wort für Eis adaptiert: inghetata. Ansonsten wurde aus
dem Rumänischen nur wenig übernommen – hauptsächlich Begriffe aus der
Verwaltungssprache wie etwa Primar für Bürgermeister, Tovaräsch für Genosse oder
Sedinta für Sitzung.
OT 41 Krefeld 10:
55-11:20
In der Sprachwissenschaft ist ja Sprachkontakt ein Riesen-Thema – und man meint
immer, wenn da Gruppen zusammen leben, gibt es sofort 'ne Menge Sprachkontakt.
Das ist hier merkwürdiger Weise überhaupt nicht so. Die Leute wechseln in die
Sprache und wechseln zurück und switchen, aber man hat ganz wenig Entlehnungen
nur eigentlich, nicht. Das ist auffällig, muss man sagen.
Carmen:
Sprachwissenschaftler streiten heute darüber, ob das Siebenbürgisch-Sächsische
nun eine Sprache ist oder ein Dialekt.
OT 42 Krefeld (19:
55-20:35)
Also der Unterschied zwischen einer Sprache und einem Dialekt ist ein rein
soziologischer. Ein berühmter amerikanischer Linguist hat mal gesagt: Language is a
dialect with a navy and an army. (…) Als sprachliches System ist ein Dialekt in sich
komplett. Der Status in der Gesellschaft ist ein anderer (…) insofern ist das eigentlich
'ne akademische Diskussion, die man da führt: Sprache oder Dialekt.
21
Carmen:
Gudrun Spaan kümmert das nicht. Sie stammt aus Hermannstadt und ist
Sprachlehrerin für Englisch und Spanisch. Siebenbürgisch-sächsisch zu sprechen,
empfindet sie als große Bereicherung.
OT 43 Gudrun Spaan (8:
15-9:50)
Mir, die ich mehrere Sprachen gelernt habe und auch sehr großes Interesse hatte an
der Welt und an Europa, hat das Sächsische natürlich viel geholfen. Es hat mir
geholfen, die Aussprache des Englischen sehr schnell zu lernen und auch mühelos
hinzubekommen, dann kann ich durch das Sächsische sehr viele Dialekte auch
verstehen, also des Deutschen. Es gibt ja so Wörter (…) im Badischen oder
Schwäbischen, die sagen da Krumpir (…) oder Plattdütsch einige Wörter versteht
man dann auch sofort oder auch das Niederländische, da muss ich immer lachen,
wie das dem Sächsischen ähnelt. Ich habe das jetzt einem Bekannten mal
vorgesprochen – und er sagte, das klingt wie (…) im Süden von Holland und
natürlich das Luxemburgische auch. 9:27 (…) Und natürlich gibt einem das die
Gelegenheit, Europa besser zu verstehen oder dass einem Europa bekannt
vorkommt.
Carmen:
Das Siebenbürgisch-Sächsische und das Luxemburgische, von den Einheimischen
Letzebuergesch genannt, sind offensichtlich sehr verwandt – ein Teil meiner
Vorfahren kamen ja im 12. Jahrhundert aus dieser Gegend. Gegencheck also im
Touristenbüro in Luxemburg - unsere siebte und letzte Station. Wir verstehen uns
mühelos.
Atmo 8 Dialog Touristenbüro
01:56-:
A ja, det glejt wirklich dem Lätzeburgische, ja.
Total.
Total, ja. Verrickt.
And Ihr sied vun do?
Ech ben von do, ja vun Sivenberjen, awer ich liawen en Berlin enster.
Sprecherin:
Zwei Europäerinnen von heute, verbunden durch zwei mittelalterlich klingende
Sprachen: die Eine, das Luxemburgische, quicklebendig, auch ein bisschen mit
staatlicher Hilfe. Wer die luxemburgische Staatsbürgerschaft bekommen will, muss
das „Zertifikat Luxemburger Sprache und Kultur“ nachweisen. Die Andere, das
Siebenbürgische: todgeweiht. Die siebenbürgischen Spätaussiedler geben ihre
Heimatsprache normalerweise nicht mehr an ihre Kinder und Enkelkinder weiter, und
auch in Rumänien hat die Sprache keine Zukunft. Dort ist die Gemeinschaft der
Siebenbürger Sachsen überaltert - und ihr Durchschnittsalter steigt von Jahr zu Jahr.
22
Eine Rückwanderungswelle nach Siebenbürgen ist kaum zu erwarten. Das
Siebenbürgisch-Sächsische wird wahrscheinlich verschwinden.
Sprecher 1:
Wenn eine Sprache als tot gilt, dann bedeutet das nicht unbedingt, dass es
niemanden mehr gibt, der die Sprache versteht. Mit gewissen lautlichen
Einschränkungen ist es sogar möglich, eine tote Sprache wiederzubeleben. Das
passierte etwa mit dem Kornischen und mit dem Iwrit, dem modernen Hebräisch. Es
wurde als gesprochene Sprache zur Staatssprache Israels – über 2000 Jahre nach
dem Aussterben des Hebräischen.
Sprecher 2:
Wenn die Nachfahren der Siebenbürger Sachsen eine Ahnung davon bekommen
wollen, wie ihre Großeltern und Urgroßeltern gesprochen haben, dann müssen sie
sich in Zukunft wohl in Luxemburg umhören.
Atmo9 Dialog Touristenbüro (...) 2:27 Det hist bä ech kann em det nemmi schwetzen.
Nemmi vil.
Mieng Generation näuch, awer däun nemmi.
Carmen:
Ich bin meiner Muttersprache ein Stück näher gekommen. Längst versunkene Wörter
und Sätze tauchen wieder auf. Manche Deklination holpert, manche Konjugation
knirscht, aber ansonsten – geht’s. So fühlt es sich vermutlich an, wenn man seit
Jahrzehnten wieder aufs Fahrrad steigt: nicht ganz sattelfest, aber froh, dass man's
noch kann; etwas, das man mal mühelos beherrscht hat. Meine Muttersprache hat
zwar das Sterbekleid an, aber sie ist – wie das Luxemburgische - an einen
Traditionsstrom angeschlossen, der fast tausend Jahre alt ist und – im Fall des
Letzebuergeschen - wohl noch lange stabil bleiben wird. Ganz so, als könne die
Gegenwart sich im Rückspiegel der Vergangenheit erkennen.
Geräuschmusik
ENDE
23