SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE Persephone und Demeter Ein Mythos wird neu entdeckt Von Ingrid Strobl Sendung: Donnerstag,, 12.05.2016 Redaktion: Anja Brockert Regie: Fr. Paulsen Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Die Manuskripte von SWR2 gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. 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Die Gipfel der Berge und die Tiefen des Meeres widerhallten vom Klang ihrer Stimme. Die Herrin, Demeter, vernahm sie. Scharfe Pein griff ihr ins Herz. Sie riss den Kopfschmuck vom Haar, und flog wie ein Vogel über Wasser und Erde auf der Suche nach ihrem Kind. O-Ton 1 (Angelika Greiwe-Krapohl) Ich sehe eine Mutter, die ihre Tochter schützen möchte, die sie vor der dunklen, bösen Unterwelt bewahren möchte. Und dann sehe ich eine Tochter, die gerne sich lösen möchte. Und vielleicht kommt Persephone die aggressive Art der Unterwelt und des Hades auch sehr zupass, weil sie anders von der Mutter sich gar nicht lösen könnte und dürfte. O-Ton 2 (Milena) Wenn ich´s jetzt aus heutiger Sicht interpretieren würde, würd ich schon denken, dass Persephone durchaus Gefallen vielleicht auch gefunden hat. Ich mein, sie ist die Tochter einer Göttin, und sie wird das nicht kennen, dieses Böse, dieses Mystische. Regie: Leise Musik, darüber: Ansage: Persephone und Demeter. Ein Mythos wird neu entdeckt. Eine Sendung von Ingrid Strobl. Regie: Leise Musik unter Erzählerin Erzählerin: Die Geschichte vom Raub der Persephone ist Teil von Homers Hymnus an Demeter, der zu den ältesten Werken der europäischen Dichtkunst gehört. Er ist Teil der 33 Homerischen Hymnen und stammt vermutlich aus dem sechsten oder siebten vorchristlichen Jahrhundert. Regie: Musik kurz frei, darüber: Zitator: Neun Tage lang irrte die Herrin Demeter auf der Erde umher, zwei brennende Fackeln in den Händen. Weder Ambrosia noch Nektar berührte sie in ihrem Schmerz, noch benetzte sie ihren Leib mit Wasser. Erzählerin: Persephone - im Mythos auch Kore, schlicht „das Mädchen“ genannt - ist die Tochter von Demeter, der Göttin des Korns und der Fruchtbarkeit. Hades, der Gott der Unterwelt, verliebt sich in Persephone und erklärt Zeus, dem höchsten der Götter 2 und Persephones Onkel, er wolle sie zur Frau. Zeus sagt weder ja noch nein und greift auch nicht ein, als Hades Persephone entführt und in sein Reich verschleppt. Demeter aber macht sich verzweifelt auf die Suche nach ihrer Tochter. Sonnengott Helios hat die Entführung beobachtet und verrät ihr schließlich, dass Hades ihr das Mädchen geraubt hat. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator: Noch viel schrecklicher befiel der Schmerz nun die Göttin. In ihrem Zorn gegen Zeus verließ sie die Versammlung der Götter und ging zu den Menschen. Sie ließ ihre Gestalt verkümmern, niemand erkannte sie, weder Mann noch Frau. Erzählerin: Demeter geht nach Eleusis. Sie zieht sich nun auch von den Menschen zurück. Verharrt einsam in ihrem Tempel. Spricht nicht mehr, isst nicht mehr, lässt die Erde verdorren. Regie: Leise Musik, darüber Zitator: Ein schreckliches Jahr schickte sie auf die alles ernährende Erde. Kein Samen konnte aus dem Boden sprießen, denn Demeter hielt alle Samen verborgen. Sie hätte das ganze Menschengeschlecht vernichtet mit böser Hungersnot. Und die Olympier hätten keine Verehrungen mehr erhalten und keine Opfer, hätte Zeus sich nicht eines Tages besonnen. Regie: Musik verblenden mit Atmo 1: Schule, darüber: O-Ton 3 (Marlen) Ich find das schade, dass diese Mythen nicht mehr besprochen werden in der Schule. Weil ich find, das gibt einem auch so ´n Einblick, wie die Menschen damals gedacht haben. O-Ton 4 (Charlotte) Ich würd sagen, dass es recht schwierig ist für Leute wie uns, sich damit zu identifizieren. Aber, wenn man so ´n bisschen historischer drüber nachdenkt, ist es vielleicht wieder in anderen Aspekten interessant. Erzählerin: Charlotte, Mia, Marlen und Milena sind 16 und 17 Jahre alt, sie besuchen das Schiller-Gymnasium in Köln. Keine von ihnen hat bisher etwas gehört vom Raub der Persephone und anderen Mythen den Klassischen Altertums, weder in der Schule noch privat. Für diese Sendung haben sie den Mythos gelesen. O-Ton 5 (Mia) Man könnte da ne gute Geschichte für die Neuzeit vielleicht auch draus gewinnen. Mit ´nem Mädchen, das in der heutigen Zeit lebt und eben vieleicht entführt wird, von, 3 das ist ja sogar jemand aus der Familie, ja? Onkel? - Onkel! - Und allein das ist ja eigentlich auch immer wieder ein Thema, was heute auch wieder aktuell ist. Regie: Atmo Schule verblenden mit Musik, darüber: Zitator: Alle seligen Götter entsandte Zeus nun, um Demeter zu besänftigen. Doch keiner vermochte das Herz der Zürnenden zu bewegen. Nicht eher, schwor sie, wolle sie zulassen, dass die Erde wieder Früchte trage, als dass ihre Augen Persephone, die liebliche Tochter erblickten. O-Ton 6 (Angelika Greiwe-Krapohl) Als ich den Mythos gelesen habe, habe ich gedacht, kann diese Mutter ihre Tochter loslassen? Wird sie es schaffen, der Tochter zu vertrauen und sie auch in ihr eigenes Leben gehen zu lassen? Also, ich war auch ein bisschen misstrauisch, muss ich sagen. Gegen die Mutter, dass sie auch eigene Ziele und Zwecke verfolgt. Dass sie nicht ohne die Tochter leben möchte. Erzählerin: Angelika Greiwe-Krapohl ist Psychoanalytikerin und Familientherapeutin. Mädchen und junge Frauen, die in ihre Praxis kommen, leiden oft an einer Mutter, die sie festhalten will. Manche sind davon krank geworden. O-Ton 7 (Angelika Greiwe-Krapohl) Von Bulimie über eine Anorexie, also Erbrechen oder ich esse nichts mehr. Das kann eine Form der Abgrenzung sein. Dass also die Tochter versucht, die inneren Bilder, die Bindung zur Mutter durch das Erbrechen loszuwerden. Sich der Mutter zu entledigen. Auch der Aufträge der Mutter. Das ist wie ein Knäuel zu sehen. Erzählerin: Diese psychoanalytische Deutung zielt auf das Unbewusste. Und beansprucht viel Zeit, um das Knäuel zu entwirren. O-Ton 8 (Angelika Greiwe-Krapohl) Das ist sehr komplex. Oft steht dahinter eine erst mal stark wirkende Mutter, die dann doch instabil ist und die Tochter zur Stabilisierung braucht. Um sich selber auch aufzubauen oder um im Alltag zu funktionieren. Und das ist sehr subtil. Die Tochter als Trostobjekt, als narzisstische Spiegelung, als etwas, das mir zeigt, dass ich als Mutter es geschafft habe. Und die Tochter ein Stück auch Mittel zum Zweck ist. Dies aber nicht auf einer bewussten Ebene. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator: Ihr liebend Herz von Ärger erfüllt, saß Demeter am Wegesrand. Sie sah nun aus wie ein uraltes Weib, das nicht mehr gebären kann, noch den Kranz der Liebesgöttin empfangen. Erzählerin: 4 Der Mythos von Persephone faszinierte Dichter und Dramatiker aller Epochen. Einige inspirierte er auch, die Geschichte in ihre eigene Zeit zu übertragen. Die österreichische Schriftstellerin Barbara Frischmuth schrieb in den späten Achtzigerjahren eine Demeter-und-Persephone-Trilogie. Deren zweiter Band, "Über die Verhältnisse" erzählt von Frô, einer Persephone der heutigen Welt. Zitatorin: Mela hat Frô jeden Spielraum gelassen. "Du musst nur wollen", hat sie ihr gesagt. "Wo ein Wille ist, ist ein Weg, und was sonst noch dazu gehört, kann ich ermöglichen. Nur wissen musst du, was du willst." Frô hat sich alle Mühe gegeben mit dem wollen, sie ist nur nicht sicher, ob sie will, was sie wollen soll. Erzählerin: Mela, Fros Mutter ist eine gestandene Alleinerziehende und erfolgreiche SelfmadeFrau. Sie betreibt ein gutgehendes Restaurant im Regierungsviertel, in dem auch "der Chef" absteigt: der Bundeskanzler - der zugleich Frôs Vater ist. Mela hat ihre Tochter zur Selbständigkeit erzogen, sie bezahlt ihr Studium, lässt ihr viel Spielraum. Barbara Frischmuth: O-Ton 9 (Barbara Frischmuth) Mela macht das ja besonders klug, wie sie meint. Sie lässt der Fro so viel Freiheit, behandelt sie ja gar nicht so, als würde sie über sie bestimmen wollen. Und insgeheim denkt sie, dass sie dadurch sich das ersparen können wird, dieses Revoltieren der Frô. Erzählerin: Doch Frô wirklich freilassen, das will und kann Mela nicht. Am Weihnachtsabend zelebrieren Mutter und Tochter ihre Zweisamkeit. Und deren - scheinbare Unauflöslichkeit. Zitatorin: Das gemeinsame Essen, das Auspacken der Geschenke - gleichsam die Erneuerung eines Bundes, der Handschlag darauf, dass eine Trennung im Grunde nicht vorgesehen ist. Erzählerin: Doch dann verliebt sich Frô in Ayhan Heyn, halb Türke, halb Österreicher. Er lebt die meiste Zeit in der Türkei, führt undurchsichtige diplomatische Aufträge aus - und ist exakt das Gegenteil dessen, was sich die Mutter für ihre Tochter wünscht. Mela kann Fros Liebeswahl nicht akzeptieren: O-Ton 10 (Barbara Frischmuth) Ja, das ist dieses nicht akzeptieren können, dass die Tochter erwachsen wird, dass sie sich als eigene Göttin unter Anführungszeichen etabliert. Dass sie auch eben für eine gewisse Zeit eine ganz andere, sozusagen beinahe eine Gegenfigur zur Mutter wird. Erzählerin: 5 Barbara Frischmuth schildert in ihrem Roman sehr anrührend Mela-Demeters Verzweiflung. Sie spricht aber auch aus der Perspektive der Tochter, die ihr selbst nicht fremd ist. O-Ton 11 (Barbara Frischmuth) Ich hab ganz was Ähnliches gemacht. Ich bin auch mit nicht mal 19 mit einem Stipendium in die Türkei, obwohl die ersten Studenten bereits ermordet wurden auf offener Straße und klar war, dass ein Militärputsch kommt. Und meine Mutter hat es mir halt erlaubt, weil sie (lachend) gewusst hat, ich würd es auf jeden Fall tun. Erzählerin: Ihre Protagonistin Mela erlaubt es der Tochter nicht. Frô-Persephone folgt AyhanHades heimlich in die Türkei. Verschwindet, ohne der Mutter zu sagen, dass und wohin sie geht. Begleitet den Geliebten auf einer schwierigen Mission in den Bergen Kurdistans. Lässt sich neugierig auf die fremde Welt ein. Während Mela-Demeter zuhause in Wien außer sich ist vor Angst um sie. Wie Demeter an Zeus wendet sie sich an den "Chef", der, als Bundeskanzler, auch Chef des Geheimdiplomaten Ayhan ist. Regie: Leise Musik, darüber Dialog: Zitatorin: Wo ist der Kerl! Zitator: Wieso Kerl? Zitatorin: Der Frô entführt hat. Zitator: Nicht möglich. Zitatorin: Er hat sie irgendwohin in den Orient verschleppt, ich glaube in die Türkei. Zitator: Bist du sicher, dass er sie entführt hat, ich mein, gegen ihren Willen? Zitatorin: Er muss sie verhext haben! Regie: Musik langsam weg Erzählerin: Doch anders als Hades im Mythos hat Ayhan Persephone-Frô nicht entführt. Er ist auch kein Pascha, er sieht in Frô eine gleichwertige Partnerin. Was Frô zu ihm hinzieht, sagt Barbara Frischmuth, ist ihr Bedürfnis nicht zu werden wie die Mutter: O-Ton 12 (Barbara Frischmuth) 6 Ihre Mutter, die Eigenständige, die Tüchtige, die alles organisiert, die alles in die Hand nimmt, die aber auch nicht so glücklich ist, wie man sich halt in diesem Alter von Frô Glück vorstellt. Erzählerin: Und so überlässt sie die Mutter ihrer Angst und in dem Glauben, Ayhan habe sie entführt. Und tut nichts, um sie eines Besseren zu belehren. Das ist, sagt Barbara Frischmuth, nicht nur ihrer Interpretation der Vorlage geschuldet, des PersephoneMythos. Als sie in der Türkei Orientalistik studierte, erfuhr sie nämlich: Eine Entführung muss nicht immer das sein, was sie scheint - und scheinen soll: O-Ton 13 (Barbara Frischmuth) Also zum Beispiel, ich kenne in der Türkei viele Fälle (lachend), vor allem unter den Kurden, wo Mädchen mit eigenem Einverständnis entführt werden, weil der Bräutigam, in den sie sich verliebt haben, die Mitgift nicht bezahlen kann. Bei Frô ist das ganz ähnlich. Die verliebt sich unendlich in diesen Ayhan, und es ist völlig klar, dass sie nicht daheim bleiben kann. Weil sonst hat sie die Mutter (lachend) im Genick, die versuchen wird, es zu verhindern. Und sie willigt, jetzt unter Anführungszeichen, ein, dass sie quasi entführt wird, weil sie weiß natürlich genau, wie ihre Mutter reagieren wird. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator: So entsandte Zeus nun Hermes, den Gott mit dem goldenen Stab, um Hades mit milden Worten zu überreden und Persephone empor ans Licht zu führen, damit die Mutter sie wiedersähe und ihr Zürnen beende. Hades, der Herr der Unterwelt, lächelte grimmig und tat, worum Zeus ihn bat. Zu Persephone sprach er: "Geh nun zu deiner dunkel gewandeten Mutter und bewahre mich freundlich im Herzen. Ich werde dir kein unwürdiger Gatte sein, bin ich doch der Bruder des Zeus.“ Erzählerin: Zum Abschied überreicht Hades Persephone einen Granatapfelkern. Sie nimmt ihn an, isst ihn und steigt in den Wagen, in dem Hermes sie zurück zur Mutter bringt. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator: Während sie sich umarmten, fragte schon Demeter die Tochter, ob sie bei Hades auch nicht Nahrung zu sich genommen hätte. Wenn ja, so müsse sie ein Drittel des Jahres unter der Erde verbringen, nur die anderen zwei Drittel dürfe sie bei der Mutter verweilen. Erzählerin: Persephone gesteht, dass sie einen Granatapfelkern gegessen hat. Behauptet aber, Hades habe sie dazu gezwungen. Regie: Atmo 1: Schule Erzählerin: 7 Die vier Kölner Gymnasiastinnen haben sich auch darüber Gedanken gemacht. War die Unterwelt für Persephone wirklich die Hölle? Und warum hat sie die Mutter belogen? O-Ton 14 (Charlotte) Ich könnte mir vorstellen, dass Persephone irgendwie darin verstrickt gewesen ist, das heißt, dass sie halt nicht so das Opfer war, sondern dass sie auch Gefallen an der Unterwelt findet und vielleicht auch an demjenigen, der sie dahin entführt hat. Erzählerin: Hat sie deshalb den Granatapfelkern gegessen? Weil sie wusste: dann kann ich zurückkehren? O-Ton 15 (Marlen) Ich weiß nicht, ob es ihr bewusst war, was sie da macht. Man könnte vielleicht das auch so interpretieren, dass sie ein bisschen naiv war, also dass sie´s nicht wusste. Weil, die kam ja auch aus gutem Hause, und vielleicht wurde sie immer sehr gut behandelt, und dann hat sie's vielleicht halt einfach gemacht, weil in dem Moment war´s halt richtig so. O-Ton 16 (Mia) Ich könnte mir vorstellen, dass sie es wusste und einfach ne Art Ausbruch aus ihrem Alltag vielleicht versucht hat, dass sie etwas ausprobieren wollte, was ja auch man heute an vielen Jugendlichen sieht, wenn man zum Beispiel sich den Drogenkonsum anschaut. Regie: Atmo Schule langsam weg Erzählerin: Persephone hat, seit Homer erstmals von ihr erzählte, Dichter, Maler und Musiker inspiriert; Mythenforscher und Psychoanalytiker haben sich auf ihre Spuren begeben. In der Odyssee und anderen Werken der Antike wird sie meist als Göttin der Unterwelt dargestellt, als Herrscherin, die Besucher des Hades freundlich durch ihr Reich führt. Odysseus zeigt sie die Seelen bedeutender Frauen. Herkules und Psyche hilft sie, schwierige Aufgaben zu bestehen. "Sie war stets anwesend", schreibt die Jungianische Psychoanalytikerin Jean Shinoda Bolen ironisch. "Es war nie ein Schild an der Tür: ´Bin nachhause gegangen zu Mama.`" Auch die Althistorikerin Beate Wagner-Hasel von der Universität Hannover hat sich mit dem Mythos beschäftigt. Und mit seinen Deutungen. O-Ton 17 (Beate Wagner-Hasel) Das hat was zu tun mit dem Lebenszyklus eines Mädchens oder einer Frau. Denn das thematisiert der Mythos: Den Übergang von der Kindheit, Jugend hin zur erwachsenen Frau. Und das Zusammenleben dann mit dem Ehemann in einem neuen Haushalt. Erzählerin: Historisch belegbar ist für das Leben im Griechenland des 7. und 6. vorchristlichen Jahrhunderts nicht viel, aber es gibt Hinweise: Vasenbilder, Statuen, Wandgemälde, ein paar Schriften. Und die Mythendichtungen mit all den Widersprüchen zu dem, 8 was man über das Alltagsleben der Epoche annimmt. In Bezug auf Persephone irritiert zum Beispiel die zeitliche Dimension: O-Ton 18 (Beate Wagner-Hasel) Nämlich dass nach dieser Rückkehr bestimmt wird, dass sie ein Drittel des Jahres in der Unterwelt bei Hades ist. Und zwei Drittel des Jahres in der Sphäre des mütterlichen Umfeldes, also bei der Mutter bleibt. Und da kommt eine agrarmagische Dimension hinein. Das passt nicht zu einem normalen Leben einer Frau, dass sie wieder zwei Drittel des Jahres zurückkehrt in einen elterlichen Haushalt. Erzählerin: Demeter ist die Göttin des Getreides, der Feldfrüchte. Persephone ist die Göttin der Unterwelt, doch auch sie wird auf antiken Bildnissen mit Ähren in den Händen dargestellt. Beide Göttinnen sind mit dem agrarischen Zyklus verbunden. Im 19. Jahrhundert plagte die Mythenforscher die Frage: Was haben diese beiden Göttinnen mit dem Ackerbau zu tun? Das war doch die Domäne der Männer. Es musste also eine symbolische Deutung gefunden werden: O-Ton 19 (Beate Wagner-Hasel) Und die symbolische Deutung sah man so, dass Persephone das Korn repräsentiert, das Saatkorn, das in die Erde versenkt wird. Und dann, wenn sie zurückkehrt, das Sprießen des Getreidekornes. Erzählerin: Doch diese Deutung, stellten Wissenschaftler fest, stimmte nicht mit dem agrarischen Zyklus in Griechenland überein. Hier wurde im Herbst gesät, im Frühling geerntet, und im heißen, dürren Sommer lag die Erde brach. Demnach hätte Persephone mehr als vier Monate in der Unterwelt zubringen müssen. O-Ton 20 (Beate Wagner-Hasel) Und da kam ein Vertreter der anthropologischen Schule um James Frazer, namens Cornford auf die Idee, Persephone als Personifikation des Saatkornes zu deuten, das nach der Ernte in unterirdischen Getreidebehältern oder in Gruben aufbewahrt wird. Und dann zur Zeit der Aussaat wieder hervorgeholt wird im Herbst. Und dieser Aufenthalt des Saatkorns in unterirdischen Behältern, das passt wiederum zu dem, was der Mythos erzählt, also zu dem Drittel des Jahres. Das wird auch heute zum Teil noch vertreten, diese Position. Die macht einigen Sinn. Aber natürlich deckt sie nicht alle Facetten des Mythos ab. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator: In ihren Herzen vereint, sich erbauend an Seele und Geist, verbrachten so Mutter und Tochter den Tag. Hinzu kam Hekate und wurde Persephone fortan zur weisen Gefährtin. Demeter ließ nun wieder die Frucht auf den Feldern sprießen. Schwer bedeckte sich mit Halm und Blüte die Erde. Erzählerin: Hekate war die Göttin der „Drei Wege“, der Kreuzungen, Schwellen und Übergänge, die Wächterin der Tore zwischen den Welten. Und die alte Göttin der Unterwelt - die 9 Persephone in deren neue Aufgabe einführen konnte. Im 19. Jahrhundert wurde der Persephone-Mythos auch erstmals mit der Theorie des Matriarchats verbunden. 1861 legte der Schweizer Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen sein Standardwerk "Das Mutterrecht" vor. Das inspirierte Mitte des 20. Jahrhunderts den britischen Schriftsteller Robert von Ranke-Graves (Aussprache: Robert und Ranke deutsch, Graves engl.) sich mit dem Matriarchat zu befassen und in diesem Zusammenhang mit dem Persephone-Mythos. Auch er versucht eine agrarmagische Deutung. In seiner "Griechischen Mythologie" schreibt Ranke-Graves. Zitator: Kore, Persephone und Hekate waren eindeutig die dreifaltige Göttin in ihrer Gestalt als Mädchen, Nymphe und altes Weib. Das war zu einer Zeit, als nur Frauen die Mysterien des Ackerbaus ausübten. Kore steht für grünes Getreide, Persephone für die reife Ähre und Hekate für das geerntete Korn. Erzählerin: Die Althistorikerin Beate Wagner-Hasel kann dieser Interpretation nicht folgen: O-Ton 21 (Beate Wagner-Hasel) Es gibt die verschiedenen Lebensphasen der Frau, und die tauchen in dem Mythos auf: Das junge Mädchen, die junge Frau: Persephone. Die erwachsene Frau, die Mutter: Demeter. Und Hekate, das ist die Göttin der Drei-Wege. Allerdings gibt es in der ganzen Mythologie keine dreigestaltige Göttin. Das ist christlicher Glaube von der Dreifaltigkeit, der hat mit den antiken Mythen überhaupt nichts zu tun. Erzählerin: Die Entführung Persephones durch Hades steht laut Ranke-Graves für die gewaltsame Machtübernahme der olympischen Götter. Sprich: Für die Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat. Jahrzehnte später übernahmen Feministinnen diese These und verknüpften sie mit Bachofens Vorstellung von einem frühzeitlichen Matriarchat. O-Ton 22 (Beate Wagner-Hasel) In den Matriarchatsvorstellungen spielt der Demeterkult eine prominente Rolle, weil man das Matriarchat gegründet hat auf die Mutterrolle. Und ein Frauenbild, was da drin steckt, ist die Vorstellung, dass man Frauen nur über ihre Mutterschaft definiert. Und nicht über ihre tätige Arbeit als Produzentin von Getreide und Korn, als Produzentin von handwerklichen Produkten. Und das finde ich viel wichtiger sich anzuschauen, als zu suchen nach irgendwelchen urtümlichen, ursprünglichen in der Steinzeit vollzogenen Praktiken. Erzählerin: Ihre eigenen Forschungen bringen Althistorikerin Beate Wagner-Hasel zu dem Schluss: Die Vorstellung, im antiken Griechenland seien Frauen unterdrückt, ins Haus verbannt und vollkommen recht- und machtlos gewesen, stimmt vermutlich nicht. Auch wenn Hades im Mythos die Persephone gewaltsam entführt und Zeus ihn gewähren lässt. O-Ton 23 (Beate Wagner-Hasel) 10 Da darf man sich natürlich keine Illusionen machen, das ist eine gewalttätige Gesellschaft. Da gab´s Krieg, ständig. Es gab Versklavung von Frauen, Frauen wurden vor allem versklavt, weil sie als Spinnerinnen begehrt waren. Erzählerin: Doch Hades spricht Persephone als „Despoina“ an, als Herrin. Und diesen Titel und die entsprechende Funktion gab es auch in der realen altgriechischen Gesellschaft. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator: Kein unwürdiger Gatte werde ich dir sein unter den Unsterblichen. Herrschen wirst du, wann immer du hier bist, über alle Lebewesen und die größte Ehre genießen unter den Göttern. Atmo 1: Schule O-Ton 24 (Charlotte) Was mir auch besonders gut an der Geschichte gefällt, ist, dass es wirklich mal um Göttinnen geht. Also, es geht um zwei Frauen. Und wenn man sich dann den Mythos genau anguckt, dann merkt man, was für ne Bedeutung solche Göttinnen auch hatten. Wenn man grade bedenkt, dass damit der Jahreszeitenwechsel erklärt wird, was ja wirklich Bedeutung hat, und dass das eben Göttinnen verursachen und nicht Götter. Erzählerin: Die Psychoanalytikerin und Familientherapeutin Angelika Greiwe-Krapohl sieht im Mythos von Persephone und Demeter vor allem die Geschichte einer notwendigen Trennung. O-Ton 25 (Angelika Greiwe-Krapohl) Die Loslösung von der Mutter ist deswegen so wichtig, um ein eigener Mensch zu werden, ne eigene Persönlichkeit auszudifferenzieren. Ja, überhaupt zu wissen, wer bin ich und was möchte ich im Leben. Unabhängig von meiner Mutter, auch unabhängig von meinem Vater. Und das ist ein langer und schmerzhafter Prozess. Und ja, vielleicht muss die Tochter dann so einen sehr krassen Weg gehen und auch einen sehr provokanten, um zu zeigen, ich muss meinen eigenen Weg finden. Weil das wird auf jeden Fall einen Konflikt geben. Und dieser Konflikt kann eine Brücke schlagen, um die Trennung erst mal überhaupt in Gang zu bringen. Erzählerin: Persephone, vermutet die Therapeutin, wusste, was es bedeutet, wenn sie den Granatapfelkern isst, den Hades ihr reicht. Und hat es vielleicht gerade deshalb getan: O-Ton 26 (Angelika Greiwe-Krapohl) Weil sie gerne bei Hades bleiben möchte und die Unterwelt auch nicht gänzlich verlassen will. Weil, vielleicht gibt es dort Bereiche, Erfahrungen mit sich selbst, die sie sonst mit der Mutter nicht machen kann. Nicht vielleicht, da bin ich sicher! Die kann sie mit der Mutter nicht machen. 11 Erzählerin: Doch warum sagt sie dann der Mutter, Hades habe sie dazu gezwungen? O-Ton 27 (Angelika Greiwe-Krapohl) Das sichert ja wieder die Beziehung zur Mutter und wendet den Konflikt mit der Mutter nochmal ab. Den Konflikt mit der Mutter einzugehen, zu sagen, ja, ich hab mir das vielleicht sogar ein bisschen gewünscht, oder, ich hab auch selber ne Meinung dazu, und Willen, und deswegen hab ich das auch gegessen, diesen offenen Konflikt einzugehen, das braucht sehr viel Selbstbewusstsein, was zu dem Zeitpunkt vielleicht noch nicht da war. Erzählerin: Doch der Konflikt und die Trennung sind nötig, damit die Tochter zu einer eigenen Persönlichkeit finden kann. Und er kann sich letztlich auch positiv auf die Mutter auswirken: O-Ton 28 (Angelika Greiwe-Krapohl) Die Mutter würde durch einen durchlebten Trennungsprozess auch in eine nächste Phase eintreten, also vielleicht in eine reifere Stufe ihres eigenen Frauseins. Es könnte eine Art Befreiung für Mutter und Tochter sein. Regie: Atmo 1: Schule, darüber Erzählerin: Am Schillergymnasium in Köln sprechen die Schülerinnen noch weiter über Persephone. Milena beschäftigt die Bedeutung der Unterwelt. O-Ton 29 (Milena) Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Seele zweigeteilt ist, in gut und böse. Und dass Persephone eben dadurch einerseits die Unterwelt sein kann. Aber auch dafür sorgen kann, dass alles wieder fruchtbar wird, dadurch dass ihre Mutter die Pflanzen wieder wachsen lässt. Aus der heutigen Sicht stellt man die Unterwelt ja eher als negativ dar, grade auch durch die Wissenschaft, weil das was ist, was man nicht fassen kann, weil das was Unbewusstes ist. Und deshalb muss man vielleicht auch Exkurse starten in die eigene Persönlichkeit, um vielleicht dabei dann auch zu wachsen. Regie: Atmo Schule langsam weg O-Ton 30 (Angelika Greiwe-Krapohl) Als Therapeutin oder Therapeut glaube ich, dass es sehr klug ist und auch sehr sinnvoll, wenn ich meine eigene Geschichte gut kenne. Und dazu gehört natürlich auch, sagen wir, die Unterwelt ist ein Symbol für die schmerzhaften, die wütend machenden Erfahrungen. Wenn ich die selber gut kenne und auch nochmal ein Stück in der Lehranalyse selbst durchlebt habe, bin ich, denk ich, doch sehr gut in der Lage, zu verstehen, was ein Patient oder eine Patientin durchmachen muss. Regie: Leise Musik, darüber: 12 Zitator: Gern flogen die Rosse, und schnell bewältigten sie die große Entfernung. Hermes ließ sie dort halten, wo Demeter vor ihrem Tempel weilte. Auf sprang sie beim Anblick der Tochter. Persephone flog ihr, den Wagen verlassend, von der anderen Seite entgegen. Den ganzen Tag verbrachten sie, einander mit Liebe umgebend. Regie: Musik noch einmal kurz frei! ***** Literaturangaben: Homer: Hymn 2 to Demeter, englische Übersetzung und Herausgeber: Hugh G. Evelyn-White, Online Edition: perseus catalog: http: //www.perseus.tufts.edu/hopper/text;jsessionid=4D0B2A01B7EC4F462C3D1BEC8C A28EB8?doc=Perseus%3atext%3a1999.01.0138%3ahymn%3d2 Homer: Hymnus 2, An Demeter, in: Homerische Hymnen, München und Zürich, herausgegeben von Anton Weiher, Artemis Verlag Beate Wagner-Hasel: Die Getreidegöttinnen Demeter und Persephone, in: Archaiologia kai technes, Band 68, S. 38-47, 1998 Barbara Frischmuth: Über die Verhältnisse, Aufbau Taschenbuch Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Rowohlts Enzyklopädie Jean Shinoda Bolen: Göttinnen in jeder Frau. Psychologie einer neuen Weiblichkeit, Heyne Verlag 13
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