Designthinking_mm112015

[Praxis]
P
DESIGN
THINKING
Der Medienkonsum wird immer mobiler. Aber welche Formate funktionieren auf dem
Handy? Unser Autor hat geschaut, wie Zeit Online seine Nutzer ins Design einbindet –
und durfte dabei sogar selbst experimentieren.
Von der Ideenskizze zum fertigen Format: Für den Relaunch hat Zeit Online Kartengeschichten entwickelt –
ein neues Erzählformat, das sich besonders für Handys eignen soll. Der Prozess begann mit Nutzergesprächen,
aus denen das erste Konzept entwickelt wurde – hier ein Entwurf.
Am Ende meiner Reise liegen die Karten
auf dem Tisch. So also finden Nachrichten
im mobilen Web mehr Leser: mit Kartenstapeln, „Story Cards“, klickbaren
Infokärtchen. Vorgemacht hat’s vox.com
aus den USA, in Deutschland zeigt nun
Zeit Online, wie es geht: „Wie funktioniert Asyl?“ steht auf einer blaugrauen
Karte, die zum Weiterklicken lädt.
13 Kärtchen mit kurzen Infos hat der
Stapel, manche sind wie ein Ratespiel:
„Wer darf einreisen?“, fragt Karte 4:
Feride aus Afghanistan oder Malek aus
Äthiopien? Eine andere Karte zeigt ein
Minivideo von einem Bombentreffer in
Syrien. Das Ganze ist schön bunt und
lässt sich in 90 Sekunden konsumieren.
So also will es der Leser am Smartphone.
Natürlich ist das nicht die ganze
Wahrheit, noch nicht einmal die halbe.
Wie vielschichtig (und oft widersprüchlich) die Bedürfnisse mobiler User sind,
fasst ein Satz zusammen, den Martin
Kotynek mir gesagt hat: „Die User
wollen am Handy beides, Tempo und
Tiefe.“ Kotynek ist stellvertretender
Chefredakteur bei Zeit Online und hat
sich mit der Frage so intensiv auseinandergesetzt wie kaum ein anderer in
Deutschland. Auf meiner Suche nach
neuen, mobilen Erzählformaten stand er
deshalb am Anfang und am Ende.
Alles fing damit an, dass er mich zu
Speeddating und Schokolade einlud.
„Neue Erzählformate für Smartphones
MEDIUM MAGAZIN
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Praxis. Design Thinking
Methode gelandet war, die dem großen
Relaunch von Zeit Online aus diesem
Herbst zugrunde liegt: exzessives,
spielerisches Entdecken und Entwickeln
durch Macher und Nutzer – kurz gesagt:
Design Thinking.
Design Thinking ist ein Modebegriff aus
dem Silicon Valley, der leider ein wenig
irreführend ist. Gedanken zum Design
macht sich schließlich jeder Zeitungsmacher und App-Entwickler. Dabei steht
das Konzept eigentlich für etwas, was die
wenigsten tun: nicht zuerst denken,
sondern zuerst zuhören, und zwar den
Nutzern. (Siehe Kasten rechts.)
So schlenderte ich in der Woche vor
dem Hamburger Praxisworkshop durch
einen Berliner Park und sprach Julia an.
Sie sah gut aus, hatte ein iPhone in der
Hand und stellte sich als eine 27 Jahre
junge Rechtsreferendarin heraus, die auf
ihrem Handy gerade eine längere Story
auf Zeit Online las. Das passte gut, denn
jeder Kursteilnehmer sollte vorab ein
Interview mit einem Nutzer führen:
Wann am Tag konsumierst du News am
Handy, wie lange, wo und warum? So
erfuhr ich unter anderem, dass sie fast
nur auf dem Handy liest und emotionale
1
2
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Geschichten mag. Diese Infos nahm ich
mit in den Workshop.
„Genauso haben wir auch intern
gearbeitet“, erzählt Kotynek einige Zeit
später in der geräumigen Redaktion von
Zeit Online, wo nahe des Potsdamer
Platzes rund 50 Mitarbeiter an der
digitalen Ausgabe arbeiten. Mehr als ein
Jahr lang haben die beiden hier mit ihren
Teams und ausgewählten Usern an dem
neuen Auftritt gefeilt, der Mitte September online ging. Häufig werden Websites
ohne die direkte Einbindung der Nutzer
und sogar ohne inhaltlichen Input der
relevanten Redakteure entwickelt. Bei
Zeit Online hatte es die letzte Überholung 2009 gegeben – und diesmal wollte
man alles anders machen.
Design Thinking arbeitet nicht mit den
üblichen Umfragen oder Fokusgruppen.
„Stattdessen suchst du dir einen User
heraus und entwickelst Lösungen für
ihn“, erläutert Kotynek. „Wenn du am
Schluss alle diese Extrem-User abdeckst,
hast du ein Ergebnis, das sich für alle
eignet, in diesem Fall also ein digitales
News-Format.“ Den Übergang von der
Phase des Ideenfindens zum Bau und Test
von Prototypen beschreibt sein Mitspie3
4
Schritt für Schritt zu neuen Formaten:
Erste Storyboards entstanden, als Redakteure
und Designer darüber nachdachten, wie
Geschichten in Kartenform erzählt werden
können (1, 2). Dabei half die App Marvel (3). In
Workshops gingen die Entwickler von befragten
Nutzern aus (4), um für diese dann spielerisch
neue Formate zu erfinden (5, 6).
MEDIUM MAGAZIN #11/2015
FOTOS: ZEIT ONLINE/EDENSPIEKERMANN, HILMAR POGANATZ
gestalten“ hieß das Seminar, das Kotynek beim Reporter-Workshop in Hamburg anbot, und zwar gemeinsam mit
seinem Counterpart aus einer Agentur
für digitales Kommunikationsdesign. Das
klang ungewöhnlich, und genauso ging
es auch los. Denn statt mit Kommunikationsprofi Christian Hanke von Edenspiekermann über Audioslides, Multimediareportagen und Gamification zu
referieren, boten die beiden erst einmal
allen Teilnehmern kleine Tafeln Ritter
Sport an. Je nach Griff zu Marzipan,
Knusperkeks oder Haselnuss landeten
wir in verschiedenen Gruppen für das
folgende Spiel: „Wir wollen hier heute
neue Formate fürs Handy erfinden“,
sagte Kotynek in seinem freundlichen
Österreichisch. Dabei gehe es nicht um
Perfektion: „Ihr sollt loslästern, hektisch
sein und ganz schnell ganz viel schaffen.“ Ein Teilnehmer seufzte kurz auf:
„Das ist ja hier wie beim Speeddating!“
So entstehen also die journalistischen
Formate der Zukunft? Anscheinend
schon, zumindest bei Zeit Online, einem
der zehn größten deutschen Nachrichtenportale. Erstaunt stellte ich fest, dass
ich mitten in einem 1:1-Nachdreh der
P
Kartenspiel: Aus Scribbles entstand ein
klickbarer Prototyp, den Nutzer testeten.
Mehr als ein Jahr steckten die Entwickler in
den Prozess, an dessen Ende neue Formate
stehen wie der Kartenstapel ganz rechts.
ler Hanke als ein ständiges Öffnen und
Schließen: „Erst öffnest du den Fokus,
indem du dich durch Interviews in die
Zielgruppe hineinversetzt; dann schließt
du, fokussierst auf das eigentliche
Problem des Users; dann öffnest du dich
wieder und entwickelst sehr schnell eine
Menge möglicher Lösungen; daraus
pickst du dir dann ein, zwei Ideen raus,
aus denen du Prototypen baust – und
machst den Fokus am Ende wieder auf,
um sie zu testen.“
Wie viel Spaß Design Thinking machen
kann, habe ich beim Nachspielen in
Hamburg erlebt. Ich lande in der
Entwicklergruppe Haselnuss. Jeder
bekommt einen Extrakt aus dem Interview, das er vorher mit einem Nutzer
geführt hat. Dann bekommen wir ganze
acht Minuten pro User für unsere
„Ideation“-Phase. Um unseren Spieltrieb
noch weiter zu reizen, werfen Hanke und
Kotynek ein paar bunte Kärtchen dazu
mit weiteren Anforderungen, zum
Beispiel:
Erzählform: Einordnen
Tonalität: Intelligent
Ausdrucksform: Kurzvideo
Design Thinker nennen das „Serious
Gaming“. Vier Mal nacheinander fliegen
acht Minuten wilde Ideen durch die Runde: Instant-Interviews! Zu Themen wie
dem FIFA-Skandal! Ironisch soll es sein!
Ja, witzig informieren! Am Ende müssen
wir uns einigen, welcher Ansatz am
vielversprechendsten ist, dann wird
tiefer geschürft. Agentur-Profi Hanke
nennt das „Drilldown“: Innerhalb von
30 Minuten bauen wir einen Klick-Dummy unseres neuen Formats auf einem
Smartphone. Dazu nutzen wir dasselbe
Werkzeug wie Zeit Online: Die App
Marvel erlaubt, Scribbles blitzschnell
abzufotografieren und auf dem Handy zu
simplen Prototypen zu verbinden. Die
Marzipangruppe zum Beispiel präsentiert
am Ende ihr Format „Podpflanze“: Jeden
Tag kommentiert die Kunstfigur Günther, ein echter Ruhrpottproll, in Form
eines Bilderstapels das Zeitgeschehen –
von BVB bis Grexit. Je nach Zeichentalent der Designer geben die Prototypen
tatsächlich eine gute Idee, wie das
Format funktionieren würde.
Kotynek nennt das „nutzerzentrierte
Innovation“. Bevor er vom Print-Ressort
AUF EINEN BLICK
Design Thinking – so geht’s
Design Thinking ist eine strukturierte Innovationsmethode, die darauf setzt, Produkte
und Dienstleistungen zunächst aus Sicht des Konsumenten zu gestalten. Die Entwickler der Methode kommen aus dem Umfeld der Stanford University im kalifornischen
Silicon Valley und haben eine große Nähe zu Technologieführern wie Apple und
Google. Gelehrt wird die Methode an den sogenannten „d.schools“ in Stanford und
Potsdam, jeweils gesponsert von SAP-Gründer Hasso Plattner. Die kalifornische
Designschule definiert den Prozess der nutzerzentrierten Innovation in fünf Schritten:
1. EMPATHIZE
Die Empathiephase ist der Grundstein menschenzentrierten Designs. Designer
beobachten das Verhalten ihrer Nutzer in ihrem natürlichen Umfeld, führen qualitative
Interviews und versuchen, die relevanten Erfahrungen auch selbst zu machen.
2. DEFINE
Nun gewinnen die Designer erste Einsichten. Das explizite Problem wird genau
umrissen, vielleicht so fokussiert, dass man nur an einen Nutzer und ein Bedürfnis
denkt. Was braucht dieser Nutzer, und wie können wir es ihm geben?
3. IDEATE
Das Herz der Ideenfindung, das ungebremste Brainstorming. Das Ziel sind „radikale
Design-Alternativen“. Nach der Fokussierung auf das Problem wird der Blick jetzt
wieder weit geöffnet. Ziel ist eine große Menge neuer Ideen.
4. PROTOTYPE
Jetzt werden Ideen in physische Form umgesetzt, im Journalismus wären das etwa
(Klick-)Dummys. „Prototypen“ können aber auch Rollenspiele sein, Orte, Schnittstellen oder eine Wand mit bunten Karteikarten. In dieser Phase werden schnell viele
verschiedene Dinge ausprobiert und verworfen. Das Team lernt aus der Interaktion mit
den Prototypen, wohin das Design sich entwickeln könnte.
5. TEST
In der Testphase holen die Designer Nutzer-Feedback ein. Tests sollten so realistisch
wie möglich sein und möglichst Vergleiche zwischen Prototypen ermöglichen. Der
Designer hört mehr zu als er erklärt. Immer wieder springt er zurück in die PrototypePhase (oder sogar eine frühere Phase!) und verbessert das Design im Sinne des
Nutzers. (pog)
LINKTIPPS
http://dschool.stanford.edu/use-our-methods/
http://tinyurl.com/stanford-bootcamp
www.designthinkingblog.com/
www.designthinkingblog.com/design-thinking-chart/
http://tinyurl.com/stanford-Guide-designthinking
MEDIUM MAGAZIN
65
Praxis. Design Thinking
„Das Wichtigste war
Demut gegenüber den
Nutzerwünschen.“
Christian Hanke
wurden, gefiel es den Nutzern. „Dabei
war das Wichtigste, demütig zu sein
gegenüber den Nutzerwünschen“, sagt
Hanke: „Digitalprojekte scheitern ja
letztlich nie daran, dass sie nicht perfekt
sind, sondern daran, dass sie keiner
nutzt.“
Nutzer-Feedback kann anstrengend
sein. Als Hanke und Kotynek die Kartenstapel testen, wissen manche User nicht,
ob sie wischen oder klicken sollen – oder
sie halten die bunten Cards für ein
Werbeformat. „Da mussten wir mehrmals die Arbeit einer Woche in die Tonne
werfen“, erinnert sich Kotynek mit wohligem Schauern.
Beim Design-Workshop in Hamburg
blieb für solche Gedanken keine Zeit. Als
Hanke nach 30 Minuten Turbo-Entwicklung eine Art Schiffshorn ertönen lässt,
ist unser Format fertig: Es heißt
„Between“ und soll helfen, zwischen den
Zeilen zu lesen. Jede Woche bringt es ein
Video zu einem aktuellen Thema und
unterfüttert es per Split-Screen mit
kritischen Infos. So könnte oben Sepp
Blatter erzählen, warum bei der FIFA alles
ganz sauber läuft, während unten Infos
und Grafiken helfen, das Gesagte ironisch
zu unterwandern.
Wie ich später in Berlin erfahre, haben
sich die echten Entwickler für viel
simplere Formatschablonen entschieden:
Die Kartenstapel eben, die man wahlweise mit Text, Bildern oder Videos befüllen
kann. Aber die hatten ja auch ein halbes
Jahr Zeit, ihr Design zu überdenken, und
nicht bloß eine halbe Stunde.
LINKTIPPS
Neues Format: Kartenstapel
Wie funktioniert Asyl?: http://www.zeit.de/
gesellschaft/zeitgeschehen/2015-08/
eisenhuettenstadt-asylbewerber-fluechtlingede-maiziere
Wie wird man US-Präsident?: http://www.
zeit.de/politik/ausland/2015-09/uspraesident-werden
Fünf Jahre Griechenland-Krise: http://www.
zeit.de/wirtschaft/2015-09/griechenlandschuldenkrise-fuenf-jahre-karten-geschichte
B wie Boss: http://www.zeit.de/digital/
games/2015-09/games-glossarcomputerspiele-begriffe
Neues Format: Live-Dossiers
Flüchtlinge in Deutschland: http://www.zeit.
de/gesellschaft/fluechtlinge-in-deutschland
Griechenland-Krise: http://www.zeit.de/
politik/ausland/griechenland-linkesexperiment
Prototyping per App
Die Software: https://marvelapp.com/
Entwurf „Podpflanze“: https://marvelapp.
com/9ghi88#6552930
Entwurf „Between“: https://marvelapp.
com/1j7af7g
HILMAR POGANATZ
ist freier Journalist, Entwickler und Dozent
in Berlin.
[email protected]
FOTOS: NINA LÜTH
Investigation in die Chefredaktion der
Digitalausgabe wechselte, verbrachte er
ein Jahr als Stipendiat im Silicon Valley.
„Dort habe ich gesehen, dass dort viele
Start-ups und Technologiekonzerne
damit arbeiten.“ Zurück in Deutschland,
machte sich Kotynek gemeinsam mit
Hanke Gedanken, wie Zeit Online die
Nutzer miteinbeziehen kann in die
Neuausrichtung.
Wie sehr die Leser dies schätzen, zeigte
bereits der Start: „Wir haben innerhalb
von einem Tag 500 Bewerbungen
bekommen von Leuten, die unentgeltlich in dieses Panel wollten“, erinnert
sich Kotynek. Die 50 Auserwählten
wurden dann zu einer geschlossenen
Facebook-Gruppe eingeladen, um
Alpha- und Beta-Versionen zu bekommen und sich auch untereinander
austauschen zu können.
Zu den frühen Erkenntnissen gehörte,
dass Menschen in Themen denken, nicht
in Artikeln. Inspiriert von den StoryStreams auf Vox Media fassen die neuen
„Live-Dossiers“ auf Zeit Online daher
alle wichtigen Artikel und Infos zu
aktuellen Themen wie der Flüchtlingskrise zusammen. „Die User haben das
Bedürfnis, eine unübersichtliche
Nachrichtenlage einzuordnen und einen
Überblick zu bekommen“, sagt Hanke.
Daraufhin entstanden mit Papier, Schere
und App erste Entwürfe, die die Leser
aber gar nicht verstanden. Erst als die
Dossiers mit faktischen Einleitungen,
Zusammenfassungen und strikt chronologischen Reihenfolgen versehen
Aus Spiel wird Ernst: Auf dem App-Workshop in Hamburg lernte unser Autor, wie man simple Klick-Dummys baut (l.). Zeit Online band
Nutzer in diesen Prozess über eine Facebook-Gruppe ein (Mitte). Dabei entstanden Formate wie die neuen „Live-Dossiers“ (r.): Hier
können Nutzer die Entwicklungen eines Themas in chronologischer Reihenfolge verfolgen.
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MEDIUM MAGAZIN #11/2015
P
INTERVIEW: HILMAR POGANATZ
„Sobald ein Format interaktiv
ist, springt der User drauf an“
Die Entwickler von Zeit Online über Nutzertests im Restaurant, extreme UserGewohnheiten und das Aufatmen der Redakteure.
14 Monate hat Zeit Online in die Neuentwicklung seiner Website und das Erfinden neuer
mobiler Formate investiert. Nach dem Relaunch sprach „medium magazin“ mit den
Machern über ihren ungewöhnlich nutzernahen Entwicklungsansatz. Martin Kotynek
ist stellvertretender Chefredakteur und war
federführend für den Relaunch von Zeit Online. Christian Hanke hat als Partner und
Creative Director den Prozess für die Agentur
Edenspiekermann verantwortet.
Ich habe gehört, dass ihr für den Relaunch
ziemlich häufig essen gegangen seid. Seid ihr
eigentlich eher App-Tester oder RestaurantTester?
Martin Kotynek: Das war rein beruflich. Also
es stimmt schon: Für den Relaunch war ich
gut 20 Mal mit Nutzern essen, aber es ging
nicht ums Essen, sondern um unsere User.
Ein Abendessen war die perfekte Gelegenheit,
um in Ruhe über ihre Bedürfnisse beim Nachrichtenkonsum zu sprechen.
Klingt ziemlich intensiv, wart ihr immer zu
zweit essen?
Kotynek: Es waren oft mehrere Redakteure
und Entwickler dabei. Und manchmal haben
die Nutzer auch noch jemand mitgebracht.
Privatleben hattest du dann wohl kaum noch –
dafür hast du aber zig verschiedene Berliner
Restaurants ausprobiert?
Kotynek: Wir waren anfangs meist im selben
Lokal, später haben wir die User aussuchen
lassen, wo wir hingehen.
Das alles natürlich nur, um korrektes Design
Thinking zu betreiben …
Kotynek: … um einen intensiven Austausch
mit unseren Usern zu ermöglichen.
Christian Hanke: Mich hat beeindruckt, dass
du im Schnitt drei bis vier Stunden pro Woche
mit Benutzern verbringst. Im Entwicklungsprozess macht das einen Riesenunterschied,
wenn aus der Chefredaktion ein so starkes
Engagement kommt.
Kotynek: Das hat er mir noch nie gesagt!
Hanke: Ernsthaft: Das ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Denn wir als Agentur können
immer nur bis zu einer bestimmten Grenze
sagen: Wir müssen testen, testen, testen! Usertesting ist halt ein Teamsport – und da müssen alle mitmachen.
Wurde das viele Testen nicht irgendwann
eintönig?
Hanke: Nein, das war total vielfältig. Ich habe
zum Beispiel gelernt, dass die Älteren die
Homepage wie eine To-do-Liste empfinden,
auf der sie jeden einzelnen Beitrag anschauen,
bewerten und abhaken müssen.
Kotynek: Kein User war gleich! Da gab es
Nutzer wie die beiden Studenten Marlon und
Salomon, die uns auf Facebook folgen, aber
noch nie auf unserer Homepage waren. Weil
Facebook deren Homepage ist. Diese Leser
muss man ganz anders ansprechen als jemanden wie Anath, die um die 60 ist und unseren
Newsletter abonniert hat. Nach dem Frühstück setzt sie sich an ihren PC, klickt jeden
Link einzeln an und kehrt danach immer
wieder zurück zum Newsletter.
Hanke: Und dann gab es Leute, die nur über
die Homepage kommen. Richard zum Beispiel,
der Politik/Ausland gebookmarkt hat und das
am Tag 30, 40 Minuten liest, alles am Handy.
„Empathie“, das klingt so weinselig. Gab’s
nicht auch mal Streitgespräche?
Kotynek: Doch, gerade wenn es um inhaltliche Fragen ging, etwa in der GriechenlandKrise, da waren die Leute teilweise sehr meinungsstark. Es waren ja oft Kollegen mit essen,
die über diese Themen berichten. In den
meisten Fällen war es aber sehr erfreulich und
konstruktiv.
Und wie hat das Nutzer-Feedback online
funktioniert über die Facebook-Gruppe?
Kotynek: Gut. Aber nachdem wir ihnen eine
Frage in der Facebook-Gruppe gestellt haben,
haben viele User lieber E-Mails geschrieben
oder angerufen, als zu posten.
Was waren eure ersten Erkenntnisse?
Kotynek: Eins unserer ersten Feedbacks war:
Sobald ein Format interaktiv ist und die User
selbst den Gang der Geschichte mitbestimmen
können, begeistert es sie mehr. Wenn sie also
eine Choice-Card drehen können; die Karten
einer Geschichte in eine eigene Reihenfolge
bringen können; oder wenn sie Fragen beantworten können. Manchen hilft das auch,
am Ball zu bleiben bei einem Thema, weil
viele Nutzer aufmerksamer bleiben, wenn sie
sich von Karte zu Karte wischen können.
Klassische Porträts oder Analysen lassen wir
deswegen natürlich nicht fallen – aber wir
machen vielleicht zusätzlich noch einen Kartenstapel oder ein Live-Dossier.
Hanke: Und schließlich dürfen wir nicht vergessen: Redakteure sind auch User. Als wir
die neuen Formate präsentiert haben, habe
ich bei den Redakteuren so ein richtiges Aufatmen verspürt. Endlich haben sie mehr
Spielraum und können ihre Geschichten neu
und anders erzählen. Nutzerzentriert Erzählspielraum zu ermöglichen, dazu ist Design
Thinking wie geschaffen.
Heißt es nicht immer, dass die Leute am Handy nur Häppchen wollen?
Kotynek: Wir haben herausgefunden, dass
das gar nicht stimmt: Unsere User lesen
Geschichten am Handy, die so lang sind
wie die Dossiers in der gedruckten „Zeit“.
Hanke: Solche Nutzungsdaten liefern aber
zunächst mal nur eine Hypothese. Design
Thinking bedeutet, dass man danach
auch versucht zu verstehen,
warum die Leute so handeln – und dazu muss
man mit ihnen reden. Analyse plus
Die Designdenker: Christian Hanke
Empathie – das ist
von Edenspiekermann und Martin
das Geheimnis.
Kotynek von Zeit Online.
MEDIUM MAGAZIN
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Inhalt #11/2015
IMPRESSUM
DROHT UNS EIN
RECHTSRUCK?
TITEL
14 Ein Selbstversuch: Hetzen auf Facebook und die
Reaktionen darauf.
Joel Bedetti
medium magazin
Unabhängige Zeitschrift für Journalisten
30. Jg., Nr. 11/2015
Gegründet von Sebastian Turner
18 Umfrage: Was Kollegen und Kolleginnen als das
Gebot der Stunde für die Medien sehen.
Chefredakteurin
Annette Milz (V.i.S.d.P., Frankfurt/Main)
Jens Twiehaus, Annette Milz
Redaktion
Katy Walther (FfM), Daniel Bouhs, Dr.
Anne Haeming, Daniel Kastner, Thomas
Strothjohann, Jens Twiehaus (Berlin),
Senta Krasser (Köln), Carolin Neumann
(Hamburg), Ulrike Langer (Seattle)
19 Standpunkt: Klare Kante und ein dickes Fell
Autoren
Joel Bedetti, Silke Burmester, Julian
Heck, Sven Heitkamp, Anton Hunger,
Norbert Küpper, Peter Linden, Carl
Wilhelm Macke, Hilmar Poganatz, Lars
Radau, Torsten Schäfer, Stefan
Schirmer, Jan Schlüter, Inge Seibel,
Stephan Seiler, Peter Stawowy, Udo
Stiehl, Frank Stier, Bernd Stössel, Anja
Tiedge
Redaktion
Im Uhrig 31, 60433 Frankfurt am Main
Tel. 069/95 29 79-44, Fax -45
E-Mail: [email protected]
www.mediummagazin.de
#twitter@mediummagazin
www.facebook.com/mediummagazin
Verlag und Medieninhaber
Johann Oberauer GmbH
Postanschrift: Postfach 11 52,
83381 Freilassing
Zentrale: Fliederweg 4,
A-5301 Salzburg-Eugendorf
Tel. +43/6225/27 00-0, Fax -11
Stellenanzeigen/Anzeigenverwaltung
Birgit Baumgartinger (Leitung)
Tel. +43/6225/27 00-43, E-Mail:
[email protected]
Produktion
Daniela Schneider (Leitung), Martina
Hutya, Sabrina Weindl
Abo- und Vertriebshotline
Tel. +43/6225/27 00-41, Fax -44
E-Mail: [email protected]
Druck
Druckerei Roser, Salzburg
04
Jan Schlüter
20 Lageberichte: Reaktionen in Dresden & Passau
und Konzept-Beispiele im Regionalen
Katy Walther, Thomas Strothjohann,
Senta Krasser, Jens Twiehaus, Annette Milz
23 Leitlinien: Die 15 Gebote der VRM-Zeitungen.
24 Wie „Vice“ das Flüchtlingsthema covert – und
damit Erfolg bei Jungen hat. Thomas Strothjohann
26 Interview: Psychologe Jens Lönnecker über die
Medien in der Polarisierungs-Gefahr. Annette Milz
RUBRIKEN
6
BERUF UND MEDIEN
Journalisten helfen Journalisten. Carl Wilhelm Macke
SCHWERPUNKT ALTER & ZUKUNFT
28 Zu Besuch bei Ponkie (89), der KritikerLegende der Münchner AZ
Senta Krasser
32
Sechs 50+ Portraits 8
Digitale Perlen. Spectrm, Recherchescout
und Straight Magazin
Julian Heck
10
Neue Studien für Medienmacher 35
Ulrike Langer
12
Regionales Schaufenster. Interessante
Medienprojekte mit Nachahmungswert.
Katy Walther, Inge Seibel
Carolin Neumann
Cordt Schnibben über das Altern
3 7
Der Teenie-Versteher von RTL2,
Christian Ehrig
Jens Twiehaus
3 8
Wie das „Main-Echo“ auf ältere
Redakteure setzt.
Katy Walther
40
Marion Kopmann von „Masterhora“
über Chancen mit 50+
Annette Milz
42 Ist die Mitarbeiter-KG noch zeitgemäß?
Eine Insider-Bilanz des „Spiegel“-Modells Wolfgang Kaden
70
Kiosk. Markt für Freie, u. a. „Brigitte Wir“,
„Zeit Spezial: Mein Job Mein Leben“.
Bernd Stössel
72
PR-Personalien. Die (Seiten-)Wechsel in
der Branche. Katy Walther
74
Die Hunger-Kolumne. Die Erfahrung des
Alters – eine Mär? Anton Hunger
46
76
Personalien. Köpfe und Karrieren.
Jens Twiehaus
Frühaufsteher. Die Gewinner des
Deutschen Radiopreises 2015
Inge Seibel
48
Bulgarien. An der Grenze
79
Aufgestiehlt. Sprachspitzen von
5 0
80
Terminal. Fragebogen: Georg Löwisch
Paul Ronzheimer. „Ich bin kein Missionar“
(Reporter-Serie, Teil 13)
Stephan Seiler
Udo Stiehl
Frank Stier
MEDIUM MAGAZIN #11/2015
FOTOS: CHRISTIAN OHDE, THOMAS PRITSCHET, ALESSANDRA SCHELLNEGGER
Anzeigen- und Medienberatung
Sonja Koutny (Leitung)
Tel. +43/6225/27 00-37
E-Mail: [email protected]
Stephan Köstlinger
Tel. +43/6225/27 00-31
E-Mail: stephan.koestlinger@oberauer.
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Leipzig
Die Extras in dieser Ausgabe: 24 Seiten über Dresden und Leipzig
und als Beilage die 16-seitige Journalisten-Werkstatt „Wie Sätze
wirken“, Teil 2 unserer Trilogie „Gesamtkunstwerk Text“.
Wenn die Werkstatt fehlt: Extrabestellungen via vertrieb@
mediummagazin.de oder am besten gleich ein „medium
magazin“-Abo, in dem die Werkstätten enthalten sind.
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Ginze
Datt &
ANJA RESCHKE spricht
Klartext in unserem Interview
mit Silke Burmester in der
„Journalistin 2015“
PONKIE ist 89 und schreibt
immer noch Kritiken für die AZ.
K L E I N G E D RU C K T ES
Schwerpunktthema
Zukunft & Alter, Seite 28
Kopflos
EXTRAS
PRAXIS
6 2
Design Thinking. Welche Formate
funktionieren auf dem Handy? Wie „Zeit
Online“ ein Design für die mobile Nutzung
entwickelte.
Hilmar Poganatz
67
„Sobald ein Format interaktiv ist, springt
der User drauf“. „Interview mit den
Entwicklern von „Zeit Online“ Martin
Kotynek und Christian Hanke
Hilmar Poganatz
6 8
Layouttipp. „Brigitte Wir“
(bitte drehen Sie „medium magazin“
dazu einfach um)
Norbert Küpper
16 Seiten Journalisten-Werkstatt
„Wie Sätze wirken“ von Peter Linden
Aus dem Inhalt: Die Bewegung im Satz /
Die Kamera im Satz / Der fremde Satz /
Chefsache Einstieg / Starke erste Sätze.
S P E C I A L U M W E LT
5 6
60
Wie es grünt in den Medien. Das Thema
Umwelt hat keine Konjunktur in deutschen
Redaktionen, das Thema Nachhaltigkeit
und Green Economy aber umso mehr. Was
macht den Unterschied aus?
Lockere Schreibe gefragt. Benjamin
Reuter, Gründer von WiWo Green, über
erfolgreiche internationale Nachhaltigkeitsportale.
Torsten Schäfer
„Journalistin 2015“
NDR-Frontfrau Anja Reschke über Hass,
Emotionen und Objektivität Silke Burmester / 33 Frauen vom Fach: Was Chefredakteurinnen der Fachpresse umtreibt Annette
Milz, Inge Seibel / Netzwerkerinnen: Das neue
Duo von Netzwerk Recherche e.V. Julia
Stein und Cordula Meyer Anja Tiedge 24 Seiten Dresden & Leipzig intern Die Nu-Sager / Frau Wille baut um ... beim
MDR/ SZ: Innovatorin im Osten / Umbruch
in Leipzig bei der LVZ / Onlinefunker Detektor FM / Medien-Promis über Dresden und
Leipzig und ihre Lieblingsorte.
ist schlimmer als beinlos. Sollte
man meinen, hatten wir auch
gedacht, bis wir diese Meldung
in „Horizont“ lasen: „Das herrenlose Bein-Paar in den ´Tagesthemen“ sorgte gut eine Woche
lang für Gesprächsstoff, ehe die
ARD am Wochenende das Geheimnis lüftete: Die Moderatoren
der ´Tagesschau zeigen künftig
Bein.“ Und in China fällt ein Sack
Reis um. Nachrichten, die die
Welt gerade jetzt sicher braucht.
Womit wir doch wieder bei
Kopflos wären. Liebe Leute bei
ARD aktuell: Wenn Ihr schon die
Aufmerksamkeit des Zuschauers
vom Hirn auf die Hose lenken
wollt und die Rede von Tiefdruckgebieten damit eine ganz neue
Wendung bekommt, dann ändert
bitte schön auch gleich die Ansage: „Tiefschau“ statt „Tagesschau“.
Wir halten es da lieber mit dem
Kopf und zeigen deshalb gerne
die Portraits unserer Autoren.
Wer uns aber trotzdem Beine
machen will, kann uns gerne
schreiben oder mailen an [email protected]. Am
besten erreichen Sie das aber
mit einem Vollabo. Kostet auch
nur 54 steuerlich absetzbare Euro
im Jahr (plus Zustellkosten) Beratung inklusive. Und Sie
verpassen keine Ausgabe mehr.
Wenn Sie sich beeilen, kommen
Sie garantiert in den Genuss der
Ausgabe 1-2016 mit den „Journalisten des Jahres 2015“ und
der 16seitigen „Werkstatt“ mit
den Gewinnern des European
Newspaper Award 2015 (die
Journalisten-Werkstatt ist im
Abo inbegriffen). Eine Mail an
vertrieb@medium­maga­zin.de
oder Bestellung über newsroom.
de/shop genügt. Wir freuen uns
auf Sie und Ihren Kopf.
Annette Milz
MEDIUM
05
magazin für journalisten
#11/2015
EURO 10,–
mediummagazin.de
EURO 10,– · Postfach 1152, 83381 Freilassing · ISSN 0178-8558 · Y9072 E · Foto: T. Koehler
HALTUNG GEFRAGT
Das Flüchtlingsdrama polarisiert Deutschland.
Was Journalisten jetzt schaffen müssen.
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Special „Journalistin 2015“
Werkstatt „Wie Sätze wirken“
24 Seiten „Leipzig & Dresden intern“