Das deutsche Kriegsverbrechen im belgischen Dorf Roselies im August 1914 Der neueste Bd. 96 des Braunschweigischen Jahrbuchs für Landesgeschichte enthält unter anderem einen Artikel von Ole Zimmerman „Das Gefecht von Roselies am 22. August 1914“. Auf den 54 Seiten dieses Beitrages werden die Kriegshandlungen in und bei Roselies am 22 August 1914 ausführlich dargestellt. In dem Aufsatz von Ole Zimmermann werden die Tatsachen nicht beschönigt. Klargestellt wird auch, dass die Soldaten des Infanterieregiments 92 in Roselies und Tegne massive Kriegsverbrechen begangen haben. Damit habe sich das Infanterieregiment 92 eingereiht in die „unrühmliche Geschichte des deutschen Vormarsch durch Belgien“ Erfreulich ist, dass sich der Braunschweigische Geschichtsverein endlich etwas mehr mit deutscher Schuld unter Beteiligung von Tätern aus dem Braunschweiger Raum im 20. Jahrhundert beschäftigt. Zur Entstehungsgeschichte des Aufsatzes von Ole Zimmermann heißt es zu Beginn des 54-seitigen Aufsatzes: „Im Zuge der Vorbereitung einer Sonderausstellung über den Ersten Weltkrieg und seinen Folgen stießen Historiker des Braunschweigischen Landesmuseums im September 2013 in der Regimentsgeschichte des Braunschweigischen Infanterie-Regiments Nummer 92 auf die Textzeilen: … „Männer, Frauen und Kinder wurden aus den Häusern mit Gewalt herausgeholt. … Etwa 15 Schuldige ließ Leutnant Baron … im Morgengrauen erschießen. (…) Im Landesmuseum wurde eine Forschungsgruppe … mit dem Ziel gebildet, wenn möglich, die Hintergründe dieses Ereignisses aufzuarbeiten. Der vorliegende Aufsatz stellt die Ergebnisse der Recherche vor und bildet den Abschluss dieses Forschungsprojektes.“ Was aber fehlt: gab es nicht schon vor drei Jahren in Braunschweig eine Auseinandersetzung wegen des bisherigen Schweigens über dies erste ganz eindeutige Kriegsverbrechen Deutschlands? Gehörte nicht auch die Nachgeschichte des Verbrechens in Roselies zum Satzungsmäßigen Aufgabenbereich des Braunschweigischen Geschichtsvereins? Gewiss: zu militärischen Übergriffen war es schon immer in allen früheren Kriegen gekommen, von deutscher Seite auch in dem Krieg gegen Frankreich 1870/71. Zu einer klaren Grenzziehung dessen, was in Kriegen erlaubt ist, kam es aber erst in der Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907. So könnte man sogar sagen: das deutsche Kriegsverbrechen bei Roselies bildete den Auftakt für alle weiteren deutschen Kriegsverbrechen, sowohl im ersten Weltkrieg, dann auch im Weltkrieg von 1939-1943. Und weil das Verbrechen ungesühnt blieb (nicht einmal von den Historikern beachtet) ermunterte es geradezu, weitere Verbrechen zu begehen, bis schließlich zu den Verbrechen, die gegenüber den vielen Millionen polnischer und sowjetischer Kriegsgefangener in den Jahren 39-41 verknüpft worden. Vielleicht hätte es den Rahmen eines Aufsatzes in Umfang von 34 Seiten gesprengt oder hätte einen weiteren Aufsatz erfordert, wenn Ole Zimmermann in aller Ausführlichkeit auf die Nachgeschichte in Deutschland, insbesondere in Braunschweig eingegangen wäre. Doch hat er diese gleichfalls unrühmliche Geschichte, peinlich auch in punkto Bereitschaft zur Aufarbeitung völlig verschwiegen. Das Mindeste wäre eine Fußnote gewesen, nämlich mit etwa folgenden Hinweis: Die Braunschweiger Würdenträger und anderen Honoratioren, vor allem bei den in Braunschweig stationierten Truppen, später auch Bundeswehr, die maßgebenden Kommunalpolitiker usw. haben das Gefecht bei Roselies zum Anlass genommen, um eine vermeintlich positive Tradition zu pflegen. Schließlich wurde die positive Erinnerung an den deutschen „Kampfesgeist“ o.ä. mit dem Namen Roselies-Kaserne gewürdigt. Hier müssten weitere Einzelheiten folgen: … Wurde diese Art Tradition nicht auch durch Braunschweiger Oberbürgermeister aufgepäppelt? Zwar hatten sich als kritisch verstehende Bürger schon vor etwa 25 Jahren den Verein Andere Geschichte gegründet. Warum war aber keins der Mitglieder (dabei beruflich tätige Historiker im Vorstand) auf die Idee gekommen, was es mit dem Namen „Roselies-Kaserne“ auf sich habe? Und ob es vielleicht etwas mit dem deutschen Militarismus zu tun haben könnte, dass niemand (weder die Politiker, noch die Historiker, noch die Braunschweiger Geschichtslehrer und die Gedenkstätten) sich jahrelang nicht an solche Dinge erinnern wollten. Zurück zu dem Braunschweigischen Jahrbuch: Herausgegeben wird das Jahrbuch „im Auftrage des Braunschweigischen Geschichtsvereins“. Und das Jahrbuch, Bd. 96 wird „herausgegeben von Brage Bei der Wieden“. Dr. Brage Bei der Wieden ist Direktor des Staatsarchiv Wolfenbüttel. Auch die früheren Jahrbücher wurden immer von dem jeweiligen Direktor des Staatsarchivs herausgegeben. Das führt zu der interessanten Frage: Was ist denn dieser Geschichtsverein für eine Vereinigung? Die Antwort: Den Kern des Vereins bilden die Archivare. Vor allem die Archivare des Staatsarchivs Wolfenbüttel, dazu regelmäßig auch der Leiter des Stadtarchivs Braunschweig (zurzeit: Dr. Henning Steinführer). Bei dem Braunschweigischen Geschichtsverein handelt es sich um einen Verein e.V. Als solcher ist er anderen Vereinen steuerrechtlich und in der Unabhängigkeit anderen Vereinen völlig gleichgestellt – theoretisch. Die Praxis ist, vor allem bei der Finanzierung der Vereinsarbeit, ganz anders. Wie sich aus der Chronik des Geschichtsvereins (S. 257-260) ergibt, betrug der jährliche Mitgliedsbeitrag in den Jahren 1994 - 2015 unverändert 21 €. Erst in der Mitgliederversammlung am 16.4.2015 (unter Leitung des Vorsitzenden Dr. Brage Bei der Wieden im Blauen Saal im Schloss auf 30 € festgesetzt. Der Kassenwart scheint eine gute Hand in der sparsamen Verwendung seiner Mittel zu haben. Dabei fallen auf den ersten Blick ziemliche, doch irgendwie zu bestreitende Ausgaben an: Die Mitglieder erhalten das Braunschweigische Jahrbuch regelmäßig kostenlos. Dazu müssen bei Vortragsveranstaltungen des Vereins die Saalmieten (unter anderem Roter Saal und Blauer Saal im Braunschweiger Schloss, Schloss in Wolfenbüttel usw.) bezahlt werden, wenn dank guter Beziehungen die Räume unentgeltlich zur Verfügung stellen. Zuständig für die Vergabe zumindest des Blauen und des Roten Saals ist wohl das Stadtarchiv Braunschweig. Aufwendungen für die Geschäftsführung des Vereins fallen wohl kaum an. Denn die gesamte Arbeit (einschließlich des Equipments) wird im Staatsarchiv geleistet. Ähnlich strukturiert sind allerdings wohl die Vereine im Umkreis von anderen Staatsarchiven. Ausweislich der Chronik des Geschichtsvereins (S. 257) wurde das Jahrbuch mit 9.997,55 € bezuschusst. Die direkte und indirekte Förderung des Geschichtsvereins mit öffentlichen Mitteln wäre grundsätzlich zu begrüßen, wenn da nicht die traditionelle Rückwärtsgewandtheit des Geschichtsvereins wäre. Natürlich gehört der Blick in die Vergangenheit untrennbar zur Aufgabe von Historikern und Archivaren. Politisch und vergangenheitspolitische neutrale Historiker und Archivare dürfen, wenn sie die Ausgewogenheit wahren wollen, den Blick nicht so sehr in früheren Jahrhunderten kleben lassen, wie dies aber seit jeher bei dem Braunschweigischen Geschichtsverein der Fall ist. Wobei der Geschichtsverein immer im Gleichschritt mit der jeweils dominierenden Vergangenheitspolitik geht, manchmal noch sogar in jahrzehntelangem Nachklapp. Besonders starke Wurzeln in einer gar nicht so rühmlich Vergangenheit hatte der Geschichtsverein noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschlagen. Ein Anlass für den Geschichtsverein, seine Forschungen der eigenen Geschichte zur widmen. Da gibt es einen interessanten Namen: Dr. Friedrich A. Knost: Knost war Vizepräsident des im Jahre 1934 gegründeten Reichssippenamt, das mit der Letztentscheidung (Abstammungsbescheid) über den Grad der Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse“ oft Herr über Tod und Leben war. Auch rechtspolitisch hatte er sich als Experte zum „Rassenrecht“ hervorgetan. Friedrich A. Knost ist Mitverfasser des Kommentars (von Bernhard Lösener und Friedrich A. Knost): Die Nürnberger Gesetze über das Reichsbürgerrecht und den Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Näheres zu Friedrich A. Knost bei Wikipedia (Eintrag Friedrich August Knost) in Ausführlicher ein Text „Friedrich A. Knost von Jürgen Kumlehn, in: www.NS-Spurensuche.de in Braunschweig Wenn der Braunschweigische Geschichtsverein sich doch einmal mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen wollte, braucht er allerdings gar nicht so weit zurückzuschauen. Beispielsweise könnte er in dem vom Geschichtsverein als Bd. 60 herausgegebenen Braunschweigischen Jahrbuch von 1979 nachlesen. Dort würde er auf Seite 181 einen Beitrag des Archivars (im Staatsarchiv Wolfenbüttel) Joseph König finden: „Präsident a.D. Dr. Friedrich A. Knost zur Vollendung des 80. Lebensjahres: Der Braunschweigische Geschichtsverein nahm eine Studienfahrt in die Gegend von Minden, Osnabrück und Herford zum Anlass, seinem langjährigen Vorsitzenden und Ehrenmitglied in Osnabrück durch eine kleine Abordnung seine besonderen Glückwünsche auszusprechen (…). Präsident Knost hat sich über die ihm aus dem Braunschweiger Raum zugegangenen zahlreichen Glückwünsche sehr gefreut und nimmt lebhaft an allen Nachrichten aus seinem alten Amtsbezirk Anteil. Er ist auch noch für den Bundesverband der deutschen Standesbeamten tätig. Über den dienstlichen Werdegang Knost‘s unterrichten vor allem die Aufsätze von (es folgen die Titel einiger völlig unverfängliche Aufsätze, natürlich ohne irgendeine Erwähnung der Funktionen Knost‘s in der NS-Zeit. In den Jahren 1931-1944 erschienen von F. A. Knost nicht weniger als 340 gezeichnete Beiträge in der Zeitschrift „Das Standesamt“, darunter viele größere Aufsätze.“ Dazu ein Hinweis: Aufgabe der Standesämter, gerade auch im Dritten Reich, war auch, die Identität der Bürger hinsichtlich etwaiger jüdischer Vorfahren festzustellen. Nach 1945 war F. A. Knost neben einer Fülle von anderen Ämtern, langjährig der Präsident des niedersächsischen Verwaltungsbezirks Braunschweig. Siehe auch www.ns-spurensuche.de Zurück zum Inhalt des Braunschweigischen Jahrbuchs Bd. 96: Lesenswert (und eigentlich im Inhalt nicht zu bekritteln) ist der Aufsatz „Zur Kriegsbilanz der Landesregierung Braunschweig im Zweiten Weltkrieg: Menschen Verluste, Zerstörungen und Kriegsopfer in Überblick“, verfasst von dem Archivrat a.D. Dieter Lent (bis zu seiner Pensionierung langjähriger Archivar im Wolfenbütteler Staatsarchiv). Mit großer archivarische“ Es ist noch heute erschütternd, welches Leid den deutschen Soldaten und Hinterbliebenen, auch die Schmerzen der Verwundeten, darunter einbeinig amputierte, zweibeinig amputierte und auch einige 3-gelenkig amputierte deutsche Soldaten hinnehmen mussten. Dazu das, was bei der Eroberung der Ostprovinzen und Ostdeutschlands durch die Russen geschehen ist, durch die Russen, die „in den Ostprovinzen 100.000 Menschen umbrachten und 1,4 Millionen Frauen vergewaltigten“. Dieter Lent lässt keine Zweifel an dem verbrecherischen Charakter des von Hitler vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkriegs. Nur ganz etwas hängt sein Herz noch an den „altüberlieferten“ klassischen Soldatentugenden wie Einsatzwille, Opfermut, Tapferkeit, Härtekult, Vaterlandsliebe, Kameradschaft und Pflichterfüllung, die vielleicht stärker als in anderen Armeen wirksam waren (S. 165). Und er verweist auf das Wort von Jakob Burkhardt, wonach der Krieg über allem Elend des Irdischen (auch) eine positive Seite habe, weil ein Volk seine volle Nationalkraft nur im Krieg gegen andere Völker kennenlernen kann (S. 189), wobei Dieter Lent sich von diesem Lob wieder distanziert von diesem Lob wieder distanziert. Übrigens: Wie wenig sich die deutschen Soldaten auch westlich von Roselies an die klassischen Soldatentugenden (S. 165) gehalten hatten, dafür gibt es außer der Geiselerschießung bei Roselies eine Menge anderer Beispiele: Soldaten des dritten Bataillons zwangen Zivilisten dazu, vor der Truppe als menschlicher Schutzschild herzulaufen (gehören solche Unmenschlichkeiten heute nicht zu den Praktiken des Islamischen Staates?) Und was hat es mit „Pflichterfüllung“ zu tun, wenn die Soldaten des IR 92 auf flüchtende Zivilisten schossen? Und in Häusern plünderten und Häuser in Brand steckten, bis die dadurch verursachten Rauchwolken sogar der eigenen Gruppe die Sicht nahm! Vielleicht könnte ein auf der Höhe der Zeit im 20. und 21. Jahrhundert stehender Historiker auch zur Kenntnis nehmen, dass es der „klassischen Soldatentugenden, wie Einsatzwillen, Opfermut, Tapferkeit, Härtekult, Vaterlandsliebe, Kameradschaft und Pflichterfüllung“ nicht mehr bedarf, wenn die in ihren Bombenflugzeugen geschützten Piloten aus 8.000 m Höhe Bomben abwerfen, ohne noch unterscheiden zu können, ob und inwieweit dadurch nur die feindlichen Soldaten und nicht vielleicht auch viele Zivilisten getroffen werden. Und erst recht sind die klassischen Soldatentugenden völlig überflüssig, wenn der Abschuss einer Rakete aus einer in Somalia fliegenden militärischen Drohne durch den Knopfdruck eines in einem klimatisierten Raum in Arizona behaglich sitzenden Amerikaners ausgelöst werden kann.
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