Elizabeth Harrower In gewissen Kreisen Elizabeth Harrower In gewissen Kreisen Roman Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alissa Walser Die Originalausgabe unter dem Titel In Certain Circles erschien 2014 bei Text Publishing, Australien. ISBN 978-3-351-03633-1 Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG 1. Auflage 2016 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2016 Copyright © Elizabeth Harrower 2014 Einbandgestaltung ZERO Werbeagentur, München Satz LVD GmbH, Berlin Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany Printed in Germany www.aufbau-verlag.de Teil eins »Ich höre Russell lachen.« Die Stimme seiner Mutter klang bedrückt, gequält. Zoe stand sofort von ihrem Liegestuhl auf und setzte sich aufs Geländer der Veranda. Sie schaute durch den Garten zum Tennisplatz hinunter, wo vier Gestalten zum Netz liefen und stehen blieben, um einen komplizierten Punkt der Spielregeln zu diskutieren. »So außergewöhnlich ist das nicht. Er lacht ziemlich oft. Und bringt mich oft zum Lachen.« Es war unmöglich, nicht zu lächeln. Zoe liebte ihn über alles. Doch der unnötige Kummer ihrer Mutter war ihr unangenehm: Derartiges lag ihr nicht. Immerhin war er am Leben – im Gegensatz zu vielen seiner Freunde war er unversehrt aus Kriegen zurückgekehrt. Zoe hatte im Abitur Geschichte gehabt und wusste, dass Männer immer schon aus Kriegen zurückgekehrt waren. Ihrer Mutter war das vielleicht nicht ganz klar. Normalerweise war das ein Grund zur Freude. Gewiss (auf einmal starrte sie deprimiert auf die vier, die jetzt in die Ecken des Platzes zurückrannten, als wären sie an einem Maibaum befestigt), gewiss, die Zeitungen hatten wochen- und monatelang Schreckliches berichtet, grauenhafte Fakten. Eine Weile hatte sie die Zeitungen versteckt, und alle hatten irritiert herumgerätselt und die Schuld auf den Nachbarshund geschoben, einen Cocker7 spaniel, der für solche Diebereien bekannt war. Dann sprach plötzlich keiner mehr über den Hund, und Zoe war klar, dass man sie beobachtet hatte, und sie gab es auf. Zeitungen verschwinden zu lassen war sowieso nicht so leicht. Ungefähr eine Woche lang war sie bei schönem Wetter im Mantel spazieren gegangen, den Arm krampfhaft an die Seite gepresst, der ganze Körper schweißüberströmt. Zoe warf ihrer Mutter einen verständnisvollen Blick zu. In den Jahren, in denen er weg gewesen war und man damit rechnen musste, dass er tot war, hatte sie sich äußerlich kaum verändert. Als sie ihn wiederhatte und ihre schlimmsten Phantasien nicht nur offiziell bestätigt, sondern noch übertroffen wurden, alterte sie sichtlich, welkte dahin, als wäre eine innere Stütze, irgendein geheimer Jungbrunnen verschwunden. Sie wurde stiller, blasser, puderte sich zu. Allen fiel das auf. Zoe hatte das Gefühl, ihre Erschütterung zu zeigen passe nicht zu ihrer Mutter. Es ließ sie schwächer wirken, sterblich. Zoe war überrascht und wütend. Jetzt spürte sie unter ihrer Hand den warmen Stein der Säule, auf dem das Dach der Veranda ruhte. Sie war in diesem Haus zur Welt gekommen. Unten auf dem Platz ging das Spiel weiter. Mrs Howard verfolgte das Spektakel aus der Ferne mit dem Entsetzen einer einstigen Spitzenspielerin. »Dein armer Vater«, murmelte sie. »Die denken wohl, sie tun ihm einen Gefallen. Ich glaube, ich kann das nicht länger mit ansehen.« Nachdem Russell seiner Familie wieder Leben eingehaucht hatte, indem er lebendig zurückgekehrt war, hatte er seinen Eltern nur noch Sorgen und Enttäuschungen beschert. Denn er lehnte all die Aktivitäten ab, die sie für 8 passend hielten. So griff er zum Schläger, noch ehe seinem Vater klar war, dass nun gespielt werden sollte. »Hättest du doch gespielt und nicht die Kleine. Du weißt wenigstens in etwa, worum es geht.« Mrs Howard erhob sich aus dem niedrigen Bambussessel. »Ich hole uns was Kaltes zu trinken. Dann haben sie einen Grund, aufzuhören.« »Bei der Hitze hätte ich sofort einen Sonnenbrand gekriegt.« Zoe berührte ihre blasse Wange. »Anna ist auch hell.« »Sie bekommt wahrscheinlich trotzdem Farbe. Viele helle Typen werden braun.« Zoe gähnte und fuhr sich mit den Fingern noch einmal über ihr glattes weißes Gesicht. »Wer spielt heute schon noch Tennis. Ihr könntet da unten einen Eins-a-Pool bauen. Das wär doch was.« Das sagte sie nicht zum ersten Mal. »Sei nett, falls sie raufkommen, solang ich in der Küche bin. Du weißt ja, Anna ist eine arme Waise.« Zoe gab einen unbeschreiblichen Laut des Ekels von sich. Sie warf den Kopf herum und schien sich gar nicht mehr fassen zu können. »Eine Waise! Und wenn schon, ihr Bruder ist auch Waise, und du kannst nicht so tun, als müsse man ihn bemitleiden.« Mit einer eleganten schwungvollen Bewegung stand sie neben ihrer Mutter an der Tür und lächelte ihr ins Gesicht, ungeduldig, flehentlich, voller Temperament, aber wohlwollend, neckend, doch auch verletzlich. »Warum spielst du nicht?« Ihre Stimme klang sanft, fast zärtlich. »Ich habe keine Puste mehr.« »Soll ich dir helfen? Ich hole die Getränke. Setz du dich hin.« »Ich habe genau im Kopf, was ich will. Wenn ich dich 9 brauche, rufe ich.« Mrs Howard sah ihre Tochter bewundernd und liebevoll an, berührte ihre Schulter und ging ins Haus. Zoe legte sich wieder hin, blickte über den Garten und die Lorbeerbäume hinweg dorthin, wo ihr Vater, ihr Bruder und die beiden Waisen, die ihr Bruder vor kurzem aufgelesen hatte, in der Sonne herumsprangen. Ob der Ausdruck, der sich erst seit kurzem in ihrem Gesicht zeigte, ihren strahlenden Augen geschuldet war oder der Form ihres Mundes oder ihrem Wesen, konnte bis jetzt weder ihre Mutter sagen noch Zoe selbst: Sie war erst siebzehn. Zoe war in dem quadratischen Steinhaus nördlich von Sydney Harbour aufgewachsen. Schon früh hatte sie von ihren Eltern und deren Freunden gelernt, dass sie bemerkenswert war. Es gab einen riesigen Garten. Und Leute ihres Formats, die ihr Gesellschaft leisteten. Am Ende der kurzen Straße mit den alten Häusern in den vor langer Zeit angelegten Gärten befand sich ein weißer, geschwungener Strand mit Felsblöcken, Felsenpools, sanften Wellen, Muscheln, Kieseln, feinem Sand. Sie hatte schwimmen gelernt, noch ehe sie laufen konnte. Einmal, auf einem Schulausflug, hatten sie die Überbleibsel aus der alten Kolonialzeit besichtigt. Im Wartezimmer eines Gerichtsgebäudes ritzte ein Mädchen ihre Initialen in einen rauchgeschwärzten Stuhl. Alle hatten sich in einer Schlange aufgestellt, um die Zellen zu besichtigen: die Eisenteile, die den Verurteilten an Hals und Beinen hingen, in einer anderen Welt, einer Fiktion, an die sie nicht im Geringsten glaubten. Die Schülerin mit dem Messer wurde auf frischer Tat ertappt. »Ah! Patricia hat soeben kommenden Generationen mitgeteilt, an welchem Tag sie hier war. Ist ja auch wahn10 sinnig interessant! Ein so herausragendes Mädchen wie Patricia.« Das Mädchen murmelte etwas. Ihre Schulkameraden schwiegen. Der ziemlich genervte Lehrer sagte: »Ihr taugt doch alle nichts.« Konnte es etwas Schlimmeres geben? Vor allem, da es nicht einmal der Wahrheit entsprach. Zoe gehörte zu denen, deren Eltern in Zeitungen und Magazinen als »bekannte Persönlichkeiten« galten. Ihre Mutter und ihr Vater waren Biologen. Sie hatten Lehrbücher geschrieben und andere für normale Leser, die im Ausland veröffentlicht waren. Sie waren weit herumgekommen. Sie wurden zu öffentlichen Diskussionen eingeladen. Sie wurden interviewt und fotografiert und standen auf einer Liste von Leuten, deren Meinungen über alles und jedes, von Kriminalität bis Mayonnaise, für die ganze Stadt von Interesse zu sein hatten. Mrs Howard galt als das exemplarische Beispiel einer Frau, die eine erfolgreiche Karriere mit einem glücklichen Familienleben vereinte. Wann immer dieses Phänomen illustriert werden sollte, dachten Journalisten und Verleger und wahrscheinlich alle anderen in der Stadt sofort an Mrs Howard. Glaubte man den Büchern, so war Sydney eine der größten Städte der englischsprachigen Welt. Und an diesem Ort – in Sydney, das in den Zeitungen ständig angepriesen wurde – besetzten Zoes Mutter und Vater ziemlich herausragende Positionen; kannten alle; wussten immer, wohin und bei wem man sich sehen lassen sollte; wussten, wer auf seinem Gebiet der jeweils Beste war; wussten, wie man um etwas bittet und wie man sich revanchiert. Und genau diese Eltern, die von Außenstehenden für etwas Besonderes gehalten wurden, hatten Zoe beigebracht, dass sie ihnen in allem noch weit überlegen war, einfach weil sie sie selbst 11 war. Sie und Russell bekamen sehr viel Aufmerksamkeit, was auf Russell, der von Anfang an sein eigenes Ding gemacht hatte, nie eine Wirkung hatte. Zoe hielt Aufmerksamkeit und Lob für ganz normal, als gehörten sie zur öffentlichen Versorgung wie Strom und fließendes Wasser. Sie war berauscht von dem Interesse, das man an ihr zeigte, und sie hielt es für völlig berechtigt. Der Welt überdrüssig wie eine internationale Berühmtheit und so selbstbewusst, dass sie sich durch kaum eine Meinung beeindrucken ließ, siebzehn Jahre alt, furchtlos – so sah sie den drei Dilettanten zu, wie sie die Nerven ihres Vaters auf dem Tennisplatz massakrierten. Ihr Vater. Clive Howard. Dr. Howard. Warum war er nicht Farmer geworden. Sein Gesicht wirkte bäuerlich. Auf eine Hacke gestützt, gab er ein stimmiges Bild ab. Ihre Mutter fühlte sich wohl auf dem Land. An Feiertagen spielte sie Pionierin und zog einen Schwung Scones aus einem alten Ölofen. Sie besuchten entfernte Verwandte auf einer Schaffarm, Hunderte von Meilen von der Stadt entfernt. Ihr Vater ging reiten. Ihre Mutter gärtnerte und plauderte. Die Farm glich einem luxuriösen Camp mitten in der Wüste, doch sie passten hierher, wirkten völlig natürlich. Draußen im Busch wirkte ihr Stadtleben wie eine künstliche Rolle, die man ihnen willkürlich übergestülpt hatte, eine Rolle, über die sie unbewusst seufzten. Sie waren nett und klug und hatten es weit gebracht, doch sie waren naiv, dachte Zoe, und im Vergleich zu Russell hatten sie vom wirklichen Leben keine Ahnung. Höchstens von Würmern, Seesternen und Fliegen. Und ja, das Wort treu liebend beschrieb sie auch. Treu liebend. Zoe erkannte, dass ihr eigenes Leben deswegen so idyllisch verlief, doch spürte sie seit einigen Jahren den 12 Druck eines zu warmen, engstirnigen elterlichen Interesses an ihrem zukünftigen Liebesleben. Wenn die Eltern dem so hoffnungsvoll entgegenblickten, dann vertrug sich das nicht mit Zoes Selbstverständnis als eigenständiger Persönlichkeit. Das ist ja beinahe voyeuristisch, dachte sie und spürte den starken Wunsch ihrer Eltern, sie zu beraten, dabei zu sein, einbezogen zu werden. »Zo! Ich komme nicht durch.« Mrs Howard stand mit einem Tablett in der Hand neben ihrer auf dem Rücken liegenden und offensichtlich abwesenden Tochter. »Oh!« Liegestühle wurden hin und her geschoben, bis die halbe Terrasse verbarrikadiert war. Zerknirscht trug Zoe das schwere Tablett zum Tisch, begutachtete Gläser, Eis, Fruchtsaft und die verschiedenen Flaschen. »Ich habe über Eltern und Waisen nachgedacht.« Sie lächelte ihr zu: Ihr zierliches Gesicht mit den hellgrauen Augen war, wenn sie ganz still hielt, wirklich bezaubernd, und in Aktion konnte es regelrecht schön sein. Ihr immer wieder erstaunliches Lächeln ließ jeden, dem es galt, innehalten und sich heimlich eingestehen, dass ihm soeben eine unerwartete Gnade oder Weihe zuteilgeworden sei. Ihre Mutter hielt also einen Moment inne, sie hatte sich nie an diese verwirrend unterschiedlichen und sehr direkten Blicke gewöhnt. »Bei Waisen denkt man immer an Märchen.« Zoe rückte die Gläser auf dem Tablett in eine Reihe. »Hand in Hand tauchen sie aus dem Wald bei uns auf, geheimnisvoll, vernachlässigt, schmutzig. Ich kannte bislang keine einzige Waise.« »Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt«, meinte ihre Mutter. »Wenn ich an manche meiner Studenten denke, wird mir klar, dass du ein sehr behütetes Leben führst.« 13 »Ach ja?« Zoe lachte ungläubig. Sie, die Schulsprecherin, die Herausgeberin der Schülerzeitung, auf die sich das ganze Redaktionsteam verließ. Sollte das heißen, dass man ihr all das nur aus purer Philanthropie angetragen hatte? Und das Segeln? Hatte sie da draußen im Hafen nicht mehr Rennen gewonnen als alle anderen Mädchen ihres Alters? Sie ging regelmäßig zu Konzerten. Sie kannte sich ziemlich gut mit Filmkameras aus und mit Autos sogar besser als ihr Vater. Sie war eine gute Köchin. Mit den wenigen Jungs, die sich für Politik interessierten, hatte sie an Versammlungen jeder Couleur teilgenommen, und aus Texten kannte sie die Propheten und ihre Anhänger. Sie hatte Millionen von Büchern gelesen. Und obwohl sie wunschlos glücklich war, war ihr schon als Kind ganz von selbst die Armut in den Straßen aufgefallen. Gedanklich hatte sie sich mit alldem beschäftigt. Abrakadabra! Weg mit dem Elend! In einer Mischung aus Spiel und Pflichtgefühl verwandelte sie in ihrer Phantasie Menschen und Häuser. Je älter sie wurde, desto schwieriger wurde das Verwandeln. Doch sie hatte geholfen, Geld für wohltätige Zwecke zu sammeln, und vor zwei oder drei Jahren hatte sie mit einer Kirchengruppe wochen- und monatelang alte Menschen besucht, die allein wohnten. Sie bestand nur aus Tugenden! Und dann verlor sie für lange, lange Zeit Russell, der doch ihr Ein und Alles war. »Ich soll ein behütetes Leben führen?«, wiederholte sie verunsichert. »Wo ich ständig auf Achse bin, im Vergleich zu deinen Studenten.« »Ruf die anderen, Zoe, bevor das Eis schmilzt und alles lauwarm ist.« Zoe tat es mit einigem Widerstreben. »Ich meinte«, Mrs Howard setzte sich und strich sich ein 14 paar Haare aus dem Gesicht, »im Vergleich zu Russell und den beiden Waisen.« »Ach, komm. Russell und dieser Typ sind älter als ich. Da werde ich auch anders sein.« Auch wenn sie weiterhin keinen Krieg kannte und kein Gefängnis, keine Folter und keinen Hunger, wie sie hoffte. Als Russell in ihrem Alter oder jünger gewesen war, hatte die Erfahrung ihn nicht verschont – er war ernsthaft krank geworden, und zwei seiner engsten Freunde waren umgekommen. Sie hatten an einem Tag im Herbst an einem menschenleeren Strand gebadet, und die drei Jungs waren in eine starke Rippströmung geraten und wurden bis über die Landzunge hinausgetrieben. Russell war von einer riesigen Welle ohnmächtig auf einen Felsen gespült und von einem Fischer gerettet worden. Die Leichen der beiden anderen Jungs hatte man nie gefunden. Zoe wurde berichtet, was geschehen war. Aber für sie war nur wirklich, was sie selbst miterlebte: Russels Schock, Russels Schmerz. »Da kommen sie.« Mrs Howard begann die Gläser zu füllen. Wenn sie sich, wie kürzlich, nicht gut fühlte, behielt sie es für sich und ging zum Arzt. Sie war eher gelassen und tat übertriebene Empfindlichkeit als neurotisch und geschmacklos ab. Sie war bestrebt, unter allen Umständen eine glatte, gesellige Oberfläche zu wahren, und wenn sie sich mal weniger gut fühlte, war das kein Grund, es zu ändern. In diesem Moment setzte sie alles daran, dass sich Russels doch recht unnahbarer Freund Stephen Quayle und dessen kleine Schwester willkommen fühlten, und sie beobachtete, wie sie den Steinweg aus dem Garten heraufkamen. Leuchtend rosa Oleanderblüten lagen in Halbkreisen, wie gespiegelt, unter den Bäumen. Starker Wind hatte die Blumen in der Nacht zu Boden gedrückt. 15
© Copyright 2024 ExpyDoc