Lesen Sie im Interview, wie Nadine von Deetzen dieses schaffte.

Die ganze Familie
IM INTERVIEW
lung der Diagnose im Krankenhaus. Wir
konnten sehen, wie sie die Höreindrücke
wie ein Schwamm aufgesogen hat. Sie
hat schnell den Weg zur Lautsprache gefunden, so dass ihre Sprachentwicklung
förmlich explodierte. Oftmals war sie
auch erschöpft … An Tagen, wo es viel zu
Hören gab, war sie um 18.00 Uhr im Bett.
Jette mit ihrer Mama am ersten Schultag
NADINE VON DEETZEN
Wiefelstede
HÖRENDE MUT TER EINES ERTAUBTEN MÄDCHENS
>>> Nadine und Jörg von Deetzen wohnen mit ihren drei Kindern Jan, Jette
Helene und Joop in Wiefelstede (Niedersachsen). Jörg ist KFZ-Service-Mechaniker. Nadine, zurzeit Hausfrau und Mutter, ist gelernte Arzthelferin. Das
Familienleben änderte sich schlagartig, als ihre Tochter Jette Helene mit einer
Hörschädigung geboren wurde. Nadine von Deetzen startete mit der Unterstützung ihres Mannes durch und erreichte für ihre Tochter das Optimale.
Lesen Sie im Interview, wie Nadine von Deetzen dieses schaffte
Life InSight: Wie lange seid ihr
schon eine Familie?
Nadine von Deetzen: Seit fast 20 Jahren,
am 06.12.1996 hat unsere Beziehung
begonnen. Jan, unser erster Sohn kam
2005 auf die Welt, Jette Ende 2008, Joop
2012. Also wurden unsere Kinder jeweils
im Abstand von drei Jahren und drei
Monaten geboren (lacht).
LIS: Eure Tochter Jette ist hörgeschädigt. Wann wurde die Hörschädigung festgestellt?
NvD: Im November 2011, da war Jette
zwei Jahre und elf Monate alt.
28
I
Im Focus
I Life InSight®
LIS: Wurde ein Hörscreening
nach der Geburt gemacht?
NvD: Ja, das Hörscreening wurde gerade
eingeführt. Jette gehörte in der Ammelandklinik zu den ersten Kindern, die die
Untersuchung erhielten.
LIS: Als das Ergebnis auffällig
war. Wie habt ihr euch gefühlt?
NvD: Wir haben gar nichts gefühlt. Wir
wussten ehrlich gesagt nicht, was das ist.
Man sagte uns, dass wir in den nächsten
Wochen mit Jette zwecks eines Tests zum
Hals-Nasen-Ohrenarzt gehen müssen.
Weitere Informationen bekamen wir
nicht. Es war ja alles neu! Wir wurden
mehrere Male einbestellt. Jedes Mal
war der Test auffällig. Beim vierten Mal
hieß es: „Jette hört, gucken Sie mal, sie
reagiert. Machen Sie sich keine Sorgen.”
Ich hatte aber immer das Gefühl, da
stimmt was nicht. Einmal wegen der
ständigen Mittelohrentzündungen und
die Sprachentwicklung fehlte.
LIS: Wie erging es Jette während der Zeit?
NvD: Jette hat alles super gemeistert. Sie
bekam am Tag ihres dritten Geburtstages
Hörgeräte, einen Monat nach der Feststel-
LIS: Hat sich durch Jettes Hörschädigung euer Familienleben
geändert?
NvD: Wir mussten uns auf Jette
einstellen, weil
die Frage „Was?“
nach fast jedem
Satz, den wir
gesprochen haben,
kam. Und Jette
war fünf Jahre alt,
als sie bewusst
gemerkt hat,
dass sie ertaubt.
Die Hörkurven
Jette als Marienkäfer
wurden schlagartig schlechter.
Rechts von mittelgradig schwerhörig
zu an Taubheit grenzend, und links von
hochgradig schwerhörig zu taub. Wir alle
sind noch mehr zusammengerückt. Es
wird noch rücksichtsvoller miteinander
umgegangen. In Situation, in denen Jette
taub – also ohne Hörhilfen – ist, versuchen alle, ihr das zu geben, was sie
braucht. Gute Lichtverhältnisse, klares
Mundbild, Gebärden usw.
LIS: Ihr wart beim Förderzentrum für Hörgeschädigte (Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte, LBZH) in Oldenburg. Wie
wurdet ihr da beraten?
NvD: Es war eher eine hörgerichtete
Links trägt Jette seit 2015 ein CI
Die „kleine” Jette
Frühförderberatung. Im Nachhinein
haben wir uns im Bezug auf Gebärdensprache schon mehr gewünscht.
zum Beispiel mit den Ämtern), nicht so
alleine, weil man sieht, bei den anderen
ist das genauso. Oft gibt es tolle Tipps.
IS: Habt ihr euch mit Jette gemeinsam für ein CI entschieden?
NvD: Jein. Der Pädaudiologe bzw. HNOArzt hatte uns schon erklärt, dass wir
nichts zu verlieren hätten. Wir haben
aber auch gemerkt, wie bewusst Jette
ihre Ertaubung wahrgenommen hat. Und
wir wollten ihr jede Chance aufs Hören
bzw. das WiederHören geben.
LIS: Wie ging es weiter?
NvD: Dann haben uns Gebärdensprachdozenten mit einer Gebärdensprachdolmetscherin besucht. Ich war auch auf
Karin Kestners Webseite und bekam
Anhaltspunkte, wie ich einen Hausgebärdensprachkurs beantragen muss. Dazu
kam die Beratung durch Wiebke Lüllmann. Nach Antragstellung hat es drei
Monate gedauert, bis Jettes Hausgebärdensprachkurs (HGK) nach dem ersten
Hilfeplangespräch im Februar 2015
bewilligt wurde. Unser Elternkurs wurde
abgelehnt. Wir haben mit Karin Kestner
und Wiebke Lüllmann Kontakt aufgenommen, die uns Mut gemacht haben,
weiter zu kämpfen. Unser Anwalt Herr
Kroll reichte Klage beim Verwaltungsgericht ein. Während dieses Verfahrens
stand ein Rechtsgutachten im Raum,
das das Jugendamt wohl veranlasst hat,
noch bevor ein Gerichtsbeschluss vorlag,
die Kostenzusage für ein halbes Jahr
auszusprechen. Das war sieben Monate,
nachdem wir den Antrag gestellt hatten!
Mittlerweile haben wir eine weitere Verlängerung unseres Eltern-Hausgebärdensprachkurses ohne Probleme bekommen.
LIS: Wie seid
ihr auf das
Lernen der Gebärdensprache
gekommen?
NvD: In der Beratungsstelle des
LBZHs habe ich
durch Zufall in dem
Jahresheft „Brücke“
den Artikel von den
Zwillingsmädchen
Annika und Marie mit Cochlear-Implantaten gelesen. Da ging es um einen Hausgebärdensprachkurs. Ich habe versucht
zur Mutter Kontakt aufzunehmen, um
mehr darüber zu erfahren.
LIS: War es schwierig an Informationen zu kommen?
NvD: Naja. Ich habe Audiotherapeutin
Wiebke Lüllmann angeschrieben und
wurde in die Facebook Gruppe „(Eltern-)
Gruppe hörgeschädigter Kinder“ aufgenommen. Dort habe ich mit einem
Posting gezielt nachgefragt und bekam
auch Antworten. Die Gruppe ist sehr
hilfreich. Man fühlt sich mit den ganzen
Hürden, die man meistern muss (wie
LIS: In welchem Umfang?
NvD: Für Jette und uns bekamen wir
zwei mal zwei Stunden die Woche. Als
der HGK begann, ist Jette förmlich aufgegangen, mit der Möglichkeit sich auch
ohne Hören zu verständigen.
LIS: Ist es leicht, Gebärdensprache zu lernen?
NvD: Wie jede andere Sprache ist sie
nicht einfach zu erlernen. Man kann auch
Life InSight ®
I Im Focus I 29
LIS: Jette ist schon eine Leserin
von Life Insight?
NvD: Ja, als ich die erste Ausgabe
bekommen habe, entdeckte sie auf der
Rückseite die Med-EL Werbung (Hersteller ihres Cochlear Implantats) und
vorne den Namen Life InSight als Fingeralphabet. Sie meinte dann sofort, dass
es ihre Zeitschrift ist und verschwand
damit in ihrem Zimmer, um sie in Ruhe
zu lesen. Toll findet Jette auch, wenn sie
andere Gehörlose, die sie kennt, dort auf
Fotos wiedersieht.
Bildunterschrift
Jettes Fingeralphabet
nicht Englisch von heute auf morgen. Es
braucht seine Zeit, aber es macht Spaß!
Oft mussten wir lachen. Zum Beispiel,
wenn ich die Gebärden für Milch als
Stöckelschuhe-Gebärde angewendet habe.
Sie unterscheiden sich nur minimal in der
Ausführung/Bewegung. Wichtig ist natürlich, die Gebärdensprache so oft wie
möglich anzuwenden. Auch der Kontakt
zu anderen Gehörlosen ist wichtig.
LIS: Gefallen euch die Hausgebärdensprachkurse?
NvD: Die Kurse gefallen uns sehr gut. Es
gibt eine gute und offene Kommunikation mit den Dozenten. Es wird auf unsere
Wünsche eingegangen. Ich freue mich
über die Möglichkeit, dadurch mit Jette
und anderen tauben Menschen besser
kommunizieren zu können. Interessant
ist, dass ich jetzt mit mehr Gebärdensprachkompetenz einige Dinge kritischer
betrachte. Zum Beispiel was es bedeutet,
Gebärdensprache zu können und dass
das allein nicht ausreicht, um als Dolmetscher zu arbeiten.
LIS: Wie ist die Beziehung zwischen dir und Jette, seit ihr mit
Gebärdensprache angefangen
habt?
NvD: Unsere Beziehung ist noch intensiver geworden. Jette fordert die Unterstützung, die sie durch die Gebärdensprache
bekommt, regelrecht ein. Das gibt Jette
Sicherheit.
30
I
Im Focus
I Life InSight®
LIS: Ihr seid Mitglied im Bundeselternverband gehörloser Kinder
geworden?
NvD: Ja, wir möchten auch an der Jahrestagung 2016 in Duderstadt teilnehmen.
Viele neue Eindrücke mitnehmen und
Jette und unseren
Jungs zeigen, dass
es noch mehr
Kinder gibt, die
so besonders sind
wie Jette. Wir
erwarten interessante Vor­t räge,
den Kontakt zu
anderen gehörlosen Personen und
natürlich freuen
wir uns auf den
Austausch mit
Frohe Ostern!
anderen betroffenen Eltern.
LIS: Beschreibt einen typischen
Tag vom morgendlichen Aufstehen bis zum Schlafen­gehen?
NvD: Ok, der Alltagswahnsinn bei den
von Deetzens: Um 6:10 Uhr klingelt der
Wecker. 6:30 Uhr heißt es: Aufstehen!
6:40 Uhr Jan, Jette und Joop wecken.
Essen vorbereiten für Jörg und dann für
die Kinder, Frühstück, Papa Tschüss
sagen, bei Bedarf den Kindern helfen.
Brote und Trinken einpacken, Technik
(Hörgerät und CI anlegen). Um 7:40 Uhr
die Kinder zur Schule und zum Kindergarten fahren. Danach weiter zu Terminen wie Hausgebärdensprachkurs oder
aufräumen, Wäsche waschen, Garten
machen usw. Mein Ziel ist es, alles fertig
zu haben, bevor die Kinder zurück sind.
12:50 Uhr Kinder abholen, Mittagessen,
Austausch, Hausaufgaben machen. Dann
warten Hobbys, Verabredungen, Arzttermine, Hausgebärdensprachkurs für Jette
usw. Um 18:00 Uhr Abendbrot. 19:15
Uhr ist Bett-geh-Zeit mit den klassischen
Ritualen, Gebärden mit Jette, „Gute
Nacht sagen“ für alle. Die Kinder sind
hoffentlich um 20:15 Uhr endlich im Bett.
Dann ist Feierabend und Zeit für Jörg
und mich.
LIS: Jette ging in einen Integrationskindergarten im Ort. Eingeschult wurde sie in der Regelschule. Wie war die erste Zeit?
NvD: Für Jette war die erste Zeit anstrengend, aber ich denke genauso wie für andere Kinder. Sie hatte eine Schulbegleitung, eine CODA, in den ersten Wochen
an ihrer Seite, die ihr Sicherheit gegeben
hat. Jetzt, da sie
sich eingefunden
hat und alles zur
Routine geworden
ist, kommt sie super alleine zurecht.
Jette ist selbstbewusst, zielstrebig
und mittendrin.
Neulich beim
Elternsprechtag
hat die Lehrerin bestätigt, wie gut sie
alleine klarkommt.
Die Lehrerin ist erstaunt, wie schnell
sie mit dem Fingeralphabet lesen kann.
Wenn die Lehrer mal das Einsetzen der
FM-Anlage vergessen haben, fordert
Jette das selbstbewusst ein.
LIS: Hatte die Schule Vorbehalte,
ein hörgeschädigtes Kind aufzunehmen bzw. konnte sie entsprechende Vorkehrungen (z. B.
Raum, Akustik) treffen?
NvD: Versprochen wurde uns viel,
gemacht wurde nichts! Ich habe immer
wieder nachgefragt, genervt und Jettes
Rechte eingefordert. Was die Akustik
betrifft, werden wir bis heute noch
vertröstet. Wir müssen aber auch ehrlich
sagen, dass Jette eine tolle Klassenlehrerin hat. Das Fingeralphabet wird im
Unterricht beim Erlernen der Wörter von
ihr gebraucht.
HGK mit eigenem Dozenten
Jette gebärdet „Unterstützung”
LIS: Wenn es schwierig wird,
würdet ihr an die Förderschule
für Hörgeschädigte wechseln?
NvD: Wenn die Verständigung schwieriger wird, würden wir für sie einen Antrag auf Beschulung mit Gebärdensprachdolmetscherin stellen. Später, wenn Jette
gut lesen kann, kann sie entscheiden, ob
sie mit Schriftdolmetschern dem Unterricht folgen möchte. Aber hier schauen
wir auf Jette und was die Bedürfnisse
sind. Sie hat viel Freude in der Klasse
und die Schule macht ihr Spaß. Sie ist
sehr motiviert, Neues zu lernen. Wir
stehen mit der Förderschule für Hörgeschädigte durch den mobilen Dienst und
der Beratungsstelle des Bundesverbandes
gehörloser Kinder im Kontakt und solange es gut geht, möchten wir Jette die
Regelbeschulung natürlich ermöglichen.
LIS: Schildert eure guten und
schlechten Erfahrungen, die ihr
mit eurem hörgeschädigten Kind
erlebt habt.
NvD: Es nervt uns wirklich, dass alle
Personen, die Jette sehen, sagen: „Wieso,
was hat sie denn? Die hört doch. Die hat
doch nichts…“ Immer wieder muss man
sich erklären. Und man muss für alle
Rechte, die Jette hat, kämpfen – egal ob
Amt, Schule, Krankenkasse usw. Es gibt
Situationen, in denen ich sagen muss:
„Sie ist zwar taub, aber nicht dumm.“
LIS: Krankenkasse?
NvD:Wir haben einen Antrag auf Lichtsignalanlage gestellt. Wir mussten einen
Widerspruch schreiben, um es so zu
bekommen, wie wir es beantragt hatten.
Als die Lichtsignalanlage eintraf, waren
alle Kinder aufgeregt und haben sich
über das Blitzen sehr gefreut. Der große
Bruder wollte auch eine Blitzlampe im
Zimmer haben. Jette war ganz stolz.
Das musste Jette ihren Freundinnen
Name:
von Deetzen
unbedingt erzählen und versetzte sie ins
Staunen. Sowas finden sie alle cool.
Vorname:
LIS: Jette trägt ein Cochlea
Implantat. Wie war deine Erfahrung im Bezug auf CI und Gebärdensprache, als du Gehörlosen
begegnet bist?
NvD: Es gibt Gehörlose, die sich für Jette
gefreut haben, dass sie damit hören kann.
Andere Gehörlose standen dem kritisch
gegenüber und meinten, die Operation
wäre zu gefährlich. Es gab aber auch CITräger, die gesagt haben, dass sie keine
Gebärden braucht, da sie mit CI hören
kann. Andere waren anderer Meinung.
Für uns ist der Weg mit Gebärdensprache
der richtige. Jette liebt die Gebärden. Sie
benutzt zum Beispiel das Fingeralphabet,
um Wörter zu erlesen. Wir gebärden zu
Hause, um Ihr die nötige Hörentlastung
zu geben, diese fordert sie auch ein.
Geburtsort:
Nadine
Wiefelstede
Wohnort:
Wiefelstede
Beruf:
Arzthelferin
Hobbys:
Meine Kinder
Lebensmotto:
Normal kann jeder,
ich kann das anders.
Schwäche:
Schuhtick, Handtaschen,
Tattoo und Piercing!
Stärke:
Kämpfen
LIS: Was sind eure Wünsche
und Zukunftspläne?
NvD: Das alles so positiv weitergeht,
Jette sich weiterhin so positiv und selbstbewusst entwickelt.
LIS: Welche Träume möchtet ihr
euch unbedingt erfüllen?
NvD: Neues Auto, tolle Reise mit allen
Kindern … Nein, mal ehrlich: Wir wünschen uns einfach, dass alle zufrieden
sind. Wir lieben alle drei so, wie sie sind,
hörend oder nicht.
Interview: Redaktion
Bilder: Familie von Deetzen privat
Beim Gebärden-Plätzchen backen
Life InSight ®
I Im Focus I 31