Lutz Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, 2015

Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht
Stam
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B uc hre ze ns io n
Lutz Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, Mohr
Siebeck Verlag, Tübingen, 2015, 449 S., € 104,-.
Der Titel von Lutz Eidams Tübinger Habilitationsschrift hat
wie der Untersuchungsgegenstand selbst etwas Schillerndes:
Erklärtes Ziel ist es, Einflüsse eines kollektiven Begehungszusammenhangs auf die strafrechtliche Verantwortung des
Einzelnen zu untersuchen (S. 4 f.). Daraus ergibt sich, dass
das Werk nicht eine Generalthese enthält. Der Verf. untersucht vielmehr kritisch verschiedenste organisationsbezogene
Tatbestände und Zurechnungsprobleme, wobei er für eine
nicht generalisierende und zugleich individualbezogene Berücksichtigung des Organisationsgedankens plädiert. Damit
bereitet er ein breites Fundament für eine weitergehende
Diskussion der sich aus dem „Organisationsgedanken“ ergebenden Probleme. Obwohl Eidam sich vordergründig auf
Wirkungen zuungunsten des Täters beschränkt, dürfte sich
insbesondere seine „Entlastungsthese“ (dazu unten) erheblich
zugunsten des Täters auswirken.
Der Text gliedert sich in drei Abschnitte, in deren ersten
Eidam die untersuchten Organisationsformen in rechtmäßige
(z.B. Wirtschaftsunternehmen – S. 8 f.) und rechtlich zu
missbilligende („Unrechtssysteme“), letztere je nach der
Stärke ihres Zusammenschlusses in zufällige (z.B. Nebentäterschaft), einfache (z.B. Mittäterschaft) und verfasste (z.B.
kriminelle Vereinigungen) Unrechtssysteme (S. 9-12) unterteilt.
Seinen zweiten Abschnitt (S. 26-279) widmet er der kritischen Rekonstruktion des Organisationsgedankens im Strafrecht als Denkfigur zuungunsten des Täters, wobei er zwischen Strafbegründungen, Strafschärfungen und Zurechnungsfragen aufgrund des Organisationsgedankens unterscheidet und die jeweiligen Organisationsformen einer der
genannten Kategorien zuordnet.
Im dritten Abschnitt stellt Eidam Ansätze zur Lösung der
identifizierten Probleme bei der Aufteilung von Verantwortung zwischen mehreren Beteiligten, der Zurechnung von
individuellen Handlungen zu Kollektiven (und umgekehrt)
und organisationsbedingten Strafschärfungen vor.
Zunächst werden im Folgenden die Darstellungen des
zweiten Abschnitts nachgezeichnet, in dem Eidam die verschiedenen mit dem Organisationsgedanken zusammenhängenden Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausleuchtet. Den organisationsbedingten Strafbarkeitsvorverlagerungen (§ 4) der §§ 30 Abs. 2 Var. 3, 129 ff., 89b, 127
StGB steht er überzeugend kritisch gegenüber und legt das
Begründungsmuster für diese Normen frei: In bestimmten
Bereichen begründet nach Auffassung des Gesetzgebers
bereits das bloße Bestehen einer Organisation abstrakte Gefahren, denen er durch die Strafandrohung begegnen zu müssen meint. Zur Kategorie der personellen Ausdehnung von
Strafbarkeit rechnet Eidam die „Aufruhrdelikte“ (§ 121
StGB; § 27 WStG), die Beteiligung an einer Schlägerei
(§ 231 StGB) sowie Land- und schweren Hausfriedensbruch
(§§ 125, 124 StGB). Auch wenn man hier im Detail Kritik
üben kann (Sind § 121 StGB und § 27 WStG tatsächlich
deckungsgleich, obwohl § 121 StGB Leib und Leben, § 27
WStG hingegen lediglich die militärische Disziplin schützt?
Warum handelt es sich bei der Schlägerei nach § 231 StGB
um ein einfaches und kein zufälliges Unrechtssystem? Findet
dort tatsächlich eine Strafausdehnung statt, obwohl der Täter
für seine eigene Beteiligung bestraft wird?), ist Eidam in
seiner zentralen These zuzustimmen, dass abermals „argumentative Rechtfertigung [für die Ausdehnung, Anm. d. Rez.]
die […] Erwägung der Gefährlichkeit bestimmter menschlicher Organisationsformen“ ist (S. 73).
Sodann wendet sich der Verf. im Rahmen der Strafschärfungen aufgrund von Organisationsstrukturen (§ 5) schwerpunktmäßig dem Bandenbegriff und hier § 244 Abs. 1 Nr. 2
StGB als sog. Konvergenzdelikt zu. Als Rechtfertigung für
die Strafschärfung sieht er bei den einfachen Bandendelikten
(ohne Mitwirkungserfordernis) die Organisationsgefahr, bei
den Konvergenzdelikten hingegen zusätzlich die Ausführungsgefahr an. Überzeugend kritisiert er deshalb die Rechtsprechung, die „das Erfordernis einer Mitwirkung faktisch
mit einer bandenmäßigen Begehung [an sich, Anm. d. Rez.]
gleichsetzt“, wegen eines Verstoßes gegen das „Verschleifungsverbot“ aus Art. 103 Abs. 2 GG (S. 116). In diesem
Zusammenhang hätte es sich angeboten, auch den Bezug zum
eng verwandten Feld der organisierten Kriminalität (wie auch
immer man diese näher bestimmen mag) herzustellen, zumal
der Gesetzgeber gerade in diesem Bereich massive Strafschärfungen und weitgehende Eingriffsbefugnisse vorsieht.
Die folgenden Ausführungen (§ 6) widmen sich dem Organisationsgedanken als Leitlinie für die Zurechnung/
Zuschreibung von strafrechtlichem Unrecht und zwar als
Zurechnung zulasten des Individuums einerseits und des
Kollektivs andererseits. Beim Problem der Kausalität von
Gremienentscheidungen, insbesondere in Fällen überbedingter Erfolge, entwickelt Eidam, dass man Probleme (anders als
die Rspr.) nicht „vergröbernd“ durch eine mittäterschaftliche
Zurechnung der Handlungen der einzelnen Gremienmitglieder, sondern mit der herrschenden Lehre durch das Abstellen
auf den „Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt“ lösen sollte
(S. 135). Im Kapitel zu Täterschaft und Teilnahme geht es
zunächst um die Mittäterschaft (insb. mit Blick auf den Versuch), und Eidam wendet sich abermals „mit einem mahnend
erhobenen Finger gegen Zurechnungsvereinfachungen und
-abschleifungen“ (S. 156). Das Konzept einer Gesamttat (also
die Fiktion einer Gesamttat, an der sich alle Mittäter beteiligen) verwirft er wie die herrschende „Gesamtlösung“ im
Bereich der Versuchsstrafbarkeit, womit Eidams Verständnis
der Mittäterschaft im Sinne der sog. strengen Tatherrschaftslehre deutlich wird.
Als Ergebnis der folgenden instruktiven Ausführungen
zur mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft
(S. 157-176) zeigt sich, „dass besondere Organisationsstrukturen, die man im Falle der Organisationsherrschaft wohl
zweifelsohne den verfassten Unrechtssystemen zuschlagen
muss, bei der Figur der mittelbaren Täterschaft kraft organisierter Machtapparate noch einige ungelöste Fragen mit sich
bringen“ (S. 176). Dem geht die (bereits geäußerte) Kritik an
einer vergröbernden Betrachtungsweise voraus, „die […] so
verlockend wirkt, weil Beweisschwierigkeiten […] aus dem
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Weg geräumt werden können“ (S. 167). Der Vorschlag, de
lege ferenda, die Organisationsherrschaft als eigene Täterschaftsform gesetzlich zu regeln und von der mittelbaren
Täterschaft abzukoppeln (S. 172), überzeugt.
Anschließend befasst sich Eidam mit dem Problem der
„Kettenteilnahme“. Die Kettenanstiftung sieht er als Anstiftung zur Haupttat (und nicht zur Anstiftung) an und argumentiert, „[m]an würde das Bild der Kettenanstiftung unzulässig
simplifizieren, wenn man lediglich auf zwei nacheinander in
der Kette folgende haupttatferne Glieder schaut und zwischen
ihnen die notwendigen Strafbarkeitsvoraussetzungen einer
Anstiftung konstruiert“ (S. 181). Man müsse vielmehr „auch
die am Ende der Kette begangene Haupttat mit in den Blick
nehmen“. Dass das mit der überzeugenden herrschenden
Lehre, die für die Anstiftung einen offenen geistigen Kontakt
fordert, nicht in Einklang zu bringen ist, sieht Eidam selbst
und postuliert: „Für jedes Glied der Anstiftungskette muss
man also eine qualifizierte Verbindung zur Haupttat herstellen, wenn man hier eine Anstifterstrafbarkeit bejahen will“
(S. 183). Das geltende Recht sieht er hierfür jedoch als ungeeignet an und hält (etwas resigniert) fest, dass nur derjenige
sicher Anstifter sei, „von dessen Willen der Haupttäter seinen
Entschluss abhängig macht“, was „für die Herausforderungen
des modernen Wirtschaftsstrafrechts allerdings eine indiskutable Lösung“ sei (S. 184). Die Kettenbeihilfe hält er (aufgrund niedrigerer subjektiver Anforderungen) dagegen für
weniger problematisch und für ein „geeignetes Instrumentarium zur Aufarbeitung strafrechtlich relevanter Organisationsstrukturen“ (S. 187).
Im Anschluss widmet sich Eidam dem Durchgriff auf die
Hintermänner von Organisationsstrukturen mittels der Unterlassensstrafbarkeit. Den Gedanken einer allgemeinen Organisationsherrschaft des Geschäftsherrn lehnt er ab, weil Betriebsinhaber und Leitungspersonen nicht „in eine Reihe mit
Eltern, Lehrern, Strafvollzugsbeamten und militärischen
Aufsichts- und Autoritätspersonen“ gestellt werden könnten,
insbesondere weil moderne Unternehmensstrukturen heute
weniger autokratisch seien (S. 205). Mit letzterem hat Eidam
sicher Recht, während man an ersterem (zumal seit dem Abschied vom „besonderen Gewaltverhältnis“, auf das Eidam
gleichwohl abstellt) zweifeln kann. Überzeugend ist es hingegen, bei den erstgenannten Personen an die neben dem
Herrschaftsmerkmal bestehende besondere Pflichtenstellung
anzuknüpfen (S. 205). Solange eine solche für den Geschäftsherrn nicht besteht, ist Eidam zuzustimmen, dass „eine
auf personeller Herrschaft begründete Garantenstellung von
Betriebsinhabern im Ergebnis nicht haltbar ist“ (S. 207).
Überzeugend (anders) beurteilt Eidam die Verantwortung des
Geschäftsherrn infolge Herrschaft über Gefahrenquellen, die
er so organisieren muss, dass „die Gefahr einer Rechtsgutverletzung weitestgehend beseitigt wird“ (denn aus der Herrschaft über den gefährlichen Gegenstand folgt eine Stellung
als Überwachergarant), womit er „die neue Modevokabel
Compliance ins Spiel“ bringt (S. 209 ff.).
Nun befasst sich Eidam mit der Unrechtszurechnung an
das Kollektiv, wobei er zwischen holistischen (nicht auf
einzelne Individuen, sondern den Verband an sich abstellenden) und reduktionistischen (an die jeweils handelnden Indi-
viduen anknüpfenden) Ansätzen unterscheidet und letztere in
Zurechnungs- und aggregative Modelle unterteilt (S. 245250). Hauptsächlich beschäftigen ihn die schon länger geforderte Einführung eines Verbandsstrafrechts und die Frage,
inwiefern ein Verband überhaupt schuldhaft handeln bzw.
ihm Schuld zugeschrieben werden kann. Letzteres verneint
er, weil ein „auf normativer Ansprechbarkeit beruhender
Schuldbegriff“ nicht auf Verbände anwendbar sei (S. 258).
Dass es für die Verhängung einer Verbandsstrafe eines
Schuldmoments bedürfe, begründet er mit der seines Erachtens ansonsten bestehenden Gefahr einer Ausstrahlung auf
das Individualstrafrecht (was man anzweifeln kann). Aufgrund „logisch-systematischer Brüche zwischen den Sanktionen des Kriminal- und Ordnungswidrigkeitenrechts“ gelangt
er sodann zu dem Schluss, dass eine „Sanktionierung“ ausschließlich im Wege der Gewinnabschöpfung (d.h. auch nicht
im Wege der Verhängung eines Bußgelds) stattfinden solle
(S. 275 f.), was wegen des Fehlens einer Abschreckungswirkung aber abzulehnen ist.
Im dritten Abschnitt (S. 283-402) stellt der Verf. schließlich seinen Versuch einer Theorie des Organisationsgedankens im Strafrecht vor. Hochinteressant ist die von ihm vorgestellte (auf dem Konzept der kollektiven Intentionalität
fußende) „Entlastungsthese“ (§ 8 – S. 297-304), nach der bei
einer Handlung, die nur aufgrund einer Einbindung in ein
Kollektiv erklärbar ist (plastisches Beispiel: das gemeinsame
Tragen eines Klaviers), die Verantwortung jedes Einzelnen
geringer ausfallen kann. In diesem Fall „liegt […] die Annahme nahe, dass von dort, wo die gesamte Unrechtszuschreibung stattfindet – der individuellen Ebene – Teile der
Verantwortung dorthin, wo überhaupt keine Unrechtszuschreibung stattfindet – der kollektiven Ebene –, abfließen
kann“ (S. 298). Dabei warnt er jedoch vor einer „Vernebelung individueller Verantwortung durch die Hervorhebung
kollektiver Verantwortung“ (S. 306). Vor dem Hintergrund
dieser Gedanken wird die kritische Haltung des Autors gegenüber einem Verbandsstrafrecht nachvollziehbar, weil es
dort „überhaupt nicht um einen Zusammenhang zwischen
individueller und kollektiver Verantwortung geht, sondern
um die radikale und einseitige Etablierung von Strafbarkeit in
der kollektiven Dimension“ (S. 306). Ihm geht es dagegen
um ein „aufgeklärtes Austarieren von Verantwortungsspähren“ (S. 306), weil es „dort, wo kollektive Handlungen offensichtlich vorliegen, […] nicht bei der allein individuellen
Perspektive bleiben“ kann und darf (S. 307). Nun gewinnt
auch die im zweiten Abschnitt vorgenommene Zuordnung
bestimmter Delikte zu einzelnen Unrechtssystemen an Bedeutung, weil Eidams Gedanke „erst eingreifen kann, wenn
mindestens die Schwelle eines einfachen Unrechtssystems
erreicht wird“ (S. 309), was einleuchtet. Denn eine kollektive
Handlung liegt nicht vor, wenn mehrere bloß zufällig das
Gleiche tun. Eine „offene Stelle“ für die Wirkungen der Entlastungsthese sieht der Autor auf Ebene der Strafzumessung
(im weitesten Sinne). An dieser Stelle hätte man sich aufgrund der hohen Plausibilität der These weitere Ausführungen zu ihren konkreten Wirkungen gewünscht, insbesondere
in welchen Konstellationen und wie genau sich der kollektive
Begehungszusammenhang auf die Strafzumessung auswirken
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kann (etwa: nur strafmildernd oder auch strafschärfend?; nur
bei Makroverbrechen oder auch bei kleineren Organisationszusammenhängen?). Ohne Erörterung dieser Fragen lässt
Eidam den Leser etwas ratlos zurück.
Ebenfalls sehr bedenkenswert sind die Ausführungen zu
einem aggregativen Zurechnungsansatz (§ 9 – S. 336-349):
Könne man bei einer kollektiven Tat nicht „auf einzelne
Taten der jeweils Betroffenen [abstellen], die im Gesamtkontext kollektiver Ereignisse aus dem kollektiven Geschehen
heraustrennbar sind und nach herkömmlichen Zurechnungsmethoden alleine einer oder mehreren Personen zurechenbar
sind“ (S. 341), liege es nah, den jeweiligen Beteiligten nicht
als Täter, sondern nur als Teilnehmer an der kollektiven Tat
anzusehen (S. 336-342, insb. S. 339). Das sei mit Blick auf
den Gedanken der kollektiven Intentionalität gerechtfertigt:
Nicht jeder Träger für sich, sondern nur die Gruppe als Ganzes trage das Klavier, und jeder Einzelne nehme am Tragen
lediglich teil. Das führe dazu, dass es zu Taten kommen könne, bei denen es keinen Täter, sondern nur Teilnehmer gebe.
Eine Eingrenzung solle dieses Konzept dadurch erfahren,
dass „die kollektive Haupttat […] auf individueller Ebene zu
ermitteln und gleichsam zusammenzusetzen“ sei, „man das
individuelle Tun deshalb so genau wie möglich“ ermitteln
und am Ende zur kollektiven Handlung vereinigen müsse
(S. 343). Ob diese Idee einer „Haupttat ohne […] Täter“
(S. 341) mit den geltenden §§ 25 ff. StGB vereinbar ist, bedarf jedoch der weiteren Diskussion.
Zum Schluss (§ 10) wendet sich Eidam zur allgemeinen
Überprüfung der zur Verschärfung des individuellen Ansatzes bei Organisationsbezügen angeführten Begründungszusammenhänge, kurz: der Frage nach der Legitimität von
Strafschärfungen aufgrund von Organisationsbezügen. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass das Grundgesetz
an verschiedenen Stellen Rechte gewährleistet, sich (im weitesten Sinne) zu vereinigen, sodass es zur (zumal strafrechtlichen) Beschränkung dessen einer Legitimation bedarf
(S. 351-356). Die „Straftaten zur Absicherung administrativer
Organisationsverbote“, die dem Staatsschutzstrafrecht zuzuordnen sind, sieht der Verf. insofern nicht als legitim an, weil
diese mit der „politischen Hygiene“ kein legitimes Rechtsgut
schützten (S. 361). Anders sei dies nur, wenn von den Organisationen Gefahren für „elementare Bestandsbedingungen
des Staates“ ausgingen (S. 359), was „in einer politisch stabilen Zeit wie der heutigen“ (S. 361) aber nicht der Fall sei
(was man in Zeiten internationaler Finanz-, Umwelt- und
Flüchtlingskrisen sowie terroristischer Bedrohungen jedoch
ernsthaft in Zweifel ziehen kann).
Anhand der §§ 129 ff. StGB und § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB
zeigt der Autor, dass es sich bei der organisationsbedingten
„Gefährlichkeit“, die diese Tatbestände rechtfertigen soll,
regelmäßig um abstrakte Gefahren handelt. Je weiter eine
Angriffshandlung von einer Rechtsgutsverletzung entfernt sei
(wobei die abstrakte weiter als die konkrete Gefahr entfernt
sei), desto zurückhaltender müsse das Strafrecht eingesetzt
werden, wobei auch die jeweils geschützten Rechtsgüter zu
berücksichtigen seien („Angriffsparadigma“ – S. 372-374).
So dürfe die Bildung einer Organisation, die auf die Begehung von Straftaten gegen Leib und Leben gerichtet sei, wohl
pönalisiert werden, eine solche zur Begehung von Ehrdelikten hingegen nicht (S. 374). Dass nach geltendem Recht die
Bildung einer Organisation teilweise schwerer bestraft werde
als die Begehung der beabsichtigten Taten (so bei den
§§ 129 ff. StGB), das beschriebene Stufenverhältnis dort also
nicht bestehe, widerlege – so Eidam nachvollziehbar – nicht
das Angriffsparadigma, sondern zeige vielmehr gerade dessen „kritisches Potenzial“: Fehler seien eher in den entsprechenden Regelungen als im Angriffsparadigma zu suchen
(S. 375). Die im Bereich der abstrakten Gefährdungsdelikte
ohnehin bestehende Gefahr der Bestrafung „Unschuldiger“
(z.B. die Bestrafung des Brandstifters nach § 306a StGB, der
sich vergewissert hat, dass keine Gefahr für Menschen besteht) werde durch die Gefahr der Erfassung nur am Rande
einer Organisation Stehender noch gesteigert (S. 377-382).
Gegenüber der von ihm instruktiv referierten Theorie der
Massenpsychologie (S. 383-389), nach der der Einzelne (metaphorisch gesprochen) in einer Masse aufgehen könne, die
dann wiederum ein eigenes (enthemmtes) Wesen bilde, zeigt
sich Eidam aufgrund ihrer generalisierenden Tendenz skeptisch und warnt davor, „den Systemzusammenhang einseitig
hervorzuheben und so die individuelle Ebene zu verschleiern“ (S. 393), eine Warnung, die sich durch die gesamte
Arbeit zieht. Da aber „nicht in letzter Konsequenz auszuschließen [sei], dass es unter Berücksichtigung aller individueller Gegebenheiten bei einem Kollektiv von Menschen zu
dynamisch wirkenden Gruppenkräften kommen kann […],
die […] eine gesteigerte Gefährlichkeit nach sich ziehen
können“, seien dem Gesetzgeber „gewisse Wertungs- und
Einschätzungsspielräume“ eröffnet (S. 393). Voraussetzung
hierfür seien jedoch „Plausibilität und Konzeptstimmigkeit“ –
solange diese nicht widerlegt seien, dürfe der Gesetzgeber
sich hierauf stützen. Das sei, worin ihm zuzustimmen ist,
„erst einmal nicht viel, gleichwohl aber immerhin doch ein
Schutz vor gewissen Grenzüberschreitungen“ (S. 395). Aus
den Überlegungen der Massenpsychologie schließt er (trotz
seiner Skepsis dieser gegenüber, was jedoch kein Widerspruch ist), dass es sich bei zufälligen Unrechtssystemen
nicht um eine psychologische Masse handeln könne, sodass
Strafschärfungen nicht an diese anknüpfen dürften (S. 396 f.).
Dass eine Gefahr umso eher bestehen kann, je höher die Zahl
der Gruppenmitglieder ist und dies der Eindämmung der
Strafbarkeit im Falle einfacher Unrechtssysteme (etwa der
Bandenstrafbarkeit) dienen könne (S. 396-399), überzeugt.
Eine den Täter benachteiligende Wirkung verfasster Unrechtssysteme ist mit Eidam deshalb erst dann zuzulassen,
wenn diese ein „[b]esonderes Risikopotential aufgrund stabiler Organisation und organisierten Einsatzes […] im Gleichklang mit organisationsspezifischem Wir-Gefühl und einem
der Rechtsordnung klar widersprechendem […] Zweck“
aufweisen (S. 399).
„All das ist ein Anfang. Viel mehr ist von allgemeiner
Warte wohl auch nicht zu leisten, sondern kann […] nur in
einer detaillierten Auseinandersetzung mit Detailproblemen
zu Tage gefördert werden“ (S. 402). Damit beendet Eidam
seine Überlegungen – und darin ist ihm zuzustimmen: Das
Werk leistet kein umfassendes Konzept zum Umgang mit
organisationsbezogenen Delikten. Dies ist jedoch weder das
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Ziel der Arbeit, noch erscheint es überhaupt möglich – zu
unterschiedlich sind die Regelungszusammenhänge und die
dahinter stehenden Probleme. Eidam zeigt jedoch mit beeindruckendem Tiefgang die vielfältigen Probleme und Lösungsansätze auf, die sich aus organisationsbezogenen Handlungen ergeben, und tritt mit Nachdruck für einen Individualbezug und gegen jede Verallgemeinerung ein. Damit hat
Eidam eine beeindruckende Grundlage für die Diskussion
einer Vielzahl spannender Probleme gelegt, und es bleibt
abzuwarten, ob die bedenkenswerten Ansätze, insbesondere
seine „Entlastungsthese“ aber auch der „aggregative Zurechnungsansatz“ und das „Angriffsparadigma“, in der Diskussion den wünschenswerten breiteren Raum einnehmen werden.
Akademischer Mitarbeiter Dr. Fabian Stam, Potsdam
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