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KULTURKONZEPT­
MAGIEN
Ende Jahr soll das Kulturkonzept für die Jahre 2017 bis
2022 dem Regierungsrat zum Beschluss vorliegen.
Derzeit arbeiten die Abteilung Kultur und das Aargauer
Kuratorium daran, neben einer Bestandesaufnahme
die Ziele und Schwerpunkte der kantonalen Kultur­
politik für die nächsten fünf Jahre so auszurichten,
dass die Ressourcen nachhaltig und wirkungsorientiert
eingesetzt werden können. Gespannt sind wir, wie
mit begrenzten finanziellen Mitteln und zunehmendem
Druck auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Verände­
rungen, wie etwa der Digitalisierung und der demo­
grafischen Entwicklung, eine möglichst lebendige Kultur
im Kanton zu fördern ist. Im Mai findet das zweite
Kulturforum statt, zu dem Kulturakteure aus den
verschiedensten Vereinen, Institutionen, Projekten
eingeladen sind.
Aufzuspüren, was noch nicht ist, und Freiräume für
Weiterentwicklungen und Veränderungen, die in der
Zukunft liegen, offenzuhalten, um Vielfalt zu sichern:
Darin liegen das Paradox und das Herausfordernde
an Kulturkonzepten überhaupt. Jazz zeigt dies auf.
Komposition und Improvisation, Plan und Unvorher­
sehbares … so nennt Steff Rohrbach, der über das
Hausquartett plus, das in der Reihe Schlumpf+ im Mai
auftritt, seine Spannbreiten. Die Praktiken des Jazz
zeigen auf, wie man gemeinsam zu einer eigenständigen
Ästhetik gelangen kann. Die freie Improvisation steht
da ganz im Vordergrund, komponierte Elemente die­
nen allenfalls als Bezugspunkte, vor denen Solistinnen
und Solisten Kreativität und ihr musikalisches Poten­
zial entfalten können, indem sie sich dialogisch auf ein
dynamisches, sich ständig weiterentwickelndes und
veränderndes Experiment einlassen.
Magie des Moments? Pascal Küng erwähnt im Beitrag
von Donat Kaufmann die «Magie des Moments», die
er fotografisch einzufangen versucht, wenn er Musike­
rinnen und Musiker an Konzerte oder zu Aufnahmen
begleitet. Es ist das Einmalige, das Geheimnis der Mu­
sik, das bei der Betrachtung seiner Foto­grafien ergreift.
Oder Neuland? Neuland betritt argovia philhar­
monic schon seit einiger Zeit und immer wieder mit
der «Serie Surprise» – ob im Aufschluss Meyerstollen
tief unter dem Bahnhof Aarau, in der Alten Reithalle
oder an den Rändern des Kantons. Diesen Monat tritt
das Orchester im Bäderquartier in Baden auf und
spielt den herkömmlichen Sälen Konkurrenz, letztes
Jahr sorgte «Mozart im Wald» in den Sandsteinhöhlen
Liebegg für Aufsehen. Zweifellos, auf der Suche nach
dem Paradies … um neues Publikum zu erreichen, was
bei dieser Offenheit und Frische gelingen mag.
Die Kunst machts vor. Diese Magie, diese Frische
wünschen wir dem neuen Kulturkonzept.
Porträt von Pascal Küng, Bremgarten. Foto: Celine Werdelis.
DIE
EIGENE
WAHR­heit
FORMU­
LIEREN
Ein Porträt über den
­Foto­grafen Pascal Küng anlässlich der Ausstellung
seiner Bilder zum KiFF Fest –
25 Jahre KiFF Aarau.
von Donat Kaufmann
Seite 24 –26
ALTHERGEBRACHT
MODERN
Improvisationsabend in der Reihe
Schlumpf+ mit dem Hausquartett.
von Steff Rohrbach
Seite 27
NEULAND
argovia philharmonic erobert die Alte Reithalle
in Aarau und das Bäderquartier in Baden.
von Elisabeth Feller
Seite 31– 33
FEDERLESEN
Rolf Keller und Thomas Pauli-Gabi über
das zukünftige kantonale Kulturkonzept
aufgezeichnet von Jacqueline Beck
Seite 22–23
BILDSCHIRM
NR
65
Susanne Keller
Seite 28 – 30
TAUCHSIEDER
von Dölf Keller
Seite 31
HIMMEL & HÖLLE
Gott im Wirtshaus
von Mirjam Richner
Illustration von Selina Kallen
Seite 34 – 35
Madeleine Rey, Redaktion
21
FEDERLESEN
Thomas Pauli-Gabi Das ist keine leichte
Aufgabe!
Rolf Keller Rolf Keller und
Thomas Pauli-Gabi über
das zukünftige kantonale
Kulturkonzept
Nachgefragt und aufgezeichnet
von Jacqueline Beck
Der Kanton Aargau erarbeitet
ein Kulturkonzept, das an das
revidierte Kulturgesetz von 2010
anknüpfen soll. Wie hat sich
dieses aus Ihrer Sicht bewährt?
Thomas Pauli-Gabi In meiner Wahrneh­
mung hat das Kulturleben im Aargau
insgesamt an Stärke und Ausstrah­
lung gewonnen. Das Gesetz hat Pro­
jekte dynamisiert, Schwerpunkte wie
die sogenannten Leuchttürme ver­
stärkt und insgesamt zu einem quali­
tativen Ausbau und einer Professio­
nalisierung in der Förderung, Pflege
und Vermittlung von Kultur geführt.
Wir wollen es nun aber genauer wis­
sen. Das Gesetz selber sieht vor, dass
nach spätestens sechs Jahren eine Be­
standsaufnahme vorgenommen wird.
Wir wollen damit die Schwachstellen,
aber auch besondere Stärken eruie­
ren, und uns im Weiteren überlegen,
wie wir auf die sich verändernden ge­
sellschaftlichen, politischen und wirt­
schaftlichen Rahmenbedingungen re­
agieren können.
Rolf Keller Das revidierte Gesetz hat
ja zum Glück Stärken des alten Geset­
zes übernommen, etwa das besondere
aargauische Modell für die Kulturför­
derung, mit einem unabhängigen Ku­
ratorium. Mir scheint es denn auch
wichtig, zu betonen, dass das Kultur­
konzept nicht als Reaktion auf eine
Krise erstellt wird. Im Gegenteil: Es
läuft eigentlich gut. Nun geht es dar­um,
die bewährten Massnahmen zu si­
chern und sie für die Jahre 2017 bis
2022 zu konkretisieren. Ein Kultur­
konzept ist stärker handlungsanlei­
tend, als es ein Gesetz sein kann. Wir
wollen eine noch verbindlichere und
transparentere Grundlage für die Kul­
turpolitik schaffen. Sie soll nicht nur
den Kulturschaffenden in der Praxis
dienen, sondern auch der Bevölkerung
aufzeigen, wie wir den gesetzlichen
Auftrag verstehen und umsetzen.
Als Grundlage erarbeitet das
Institut Interface einen Wirkungsbericht. Wie lässt sich die
­Wirksamkeit von Kultur messen?
22
Es ist klar, dass man die
Wirkung von Kultur und Kulturpolitik
schlecht evaluieren und belegen kann.
Wir haben aber den Vorteil, dass be­
reits 2009 eine Bevölkerungsbefra­
gung zu den kulturellen Institutionen
und zum Etikett «Kulturkanton» statt­
gefunden hat. Diese Befragung kön­
nen wir nochmals durchführen und
die Antworten vergleichen. Kennen
die Leute die Institutionen nun bes­
ser? Wissen sie genauer, was der Kan­
ton in Sachen Kulturpolitik und Kul­
turförderung macht? Repräsentative
Ergebnisse erwarten wir überdies von
einer Umfrage bei Gesuchstellenden
zu den Auswirkungen von Werkbei­
trägen und Atelieraufenthalten.
Thomas Pauli-Gabi Als wirkungsorien­
tierte Verwaltung haben wir Ziele und
Leistungsindikatoren definiert, über
die wir dem Grossen Rat in Jahresbe­
richten Rechenschaft ablegen. Diese
werden nun extern beurteilt. Wir ha­
ben auch die Kunden von Denkmal­
pflege und Archäologie zu ihrer Zu­
sammenarbeit befragt. Und schliess­
lich hat im November ein erstes
Kulturforum stattgefunden, an dem
Kulturschaffende ihre Erfahrungen,
Wünsche und Visionen einbringen
konnten.
Welche Erkenntnisse haben ­
Sie aus diesem ersten Forum
mitgenommen?
Rolf Keller Eine kleine Vorbemer­
kung: Ein Hauptzweck des Forums
war, den Prozess der Erarbeitung des
Kulturkonzepts in der Bevölkerung
breit abzustützen. Das Resultat soll
kein Verwaltungspapier sein, das auf
dem Bürotisch verstaubt, sondern da­
durch getragen sein, dass es von den
Kulturinteressierten mitentwickelt
wurde. Am Forum kamen denn auch
die unterschiedlichsten Aspekte zur
Sprache: Die einen sagten, man för­
dere zu wenig die Laienkultur. Andere
waren der Ansicht, dass ein zu star­
ker Schwerpunkt auf Historischem
liege und die aktuelle Kultur zu kurz
FEDERLESEN
komme. Dritte betonten gerade die
Wichtigkeit, das kulturelle Erbe zu
pflegen.
Thomas Pauli-Gabi In vielen Voten kam
zum Ausdruck, dass der Aargau eine
starke Kulturvermittlung aufgebaut
hat. Auch im kulturhistorischen Be­
reich hat man Elemente ausgemacht,
die den Aargau besonders auszeich­
nen: Vindonissa, Kaiseraugst, die
Schlösser oder die Bäderstadt Baden
möchte man als herausragende Ge­
schichts- und Vermittlungsorte wei­
terhin in den Vordergrund rücken.
Zudem wurde das Aargauer Kurato­
rium als wichtige staatsunabhängige
Institution hervorgehoben. Die Auf­
gabenteilung zwischen Regierungsrat
(Vergabe von Swisslos-Geldern) und
Kuratorium wird als vorbildlich er­
achtet. Als Schwächen wurden die
mangelnde Kooperation zwischen In­
stitutionen und Sparten genannt so­
wie die lückenhafte Einbindung der
zuziehenden Bevölkerung in das Kul­
turleben des Kantons.
Ist die Aufteilung der Kompetenzen zwischen SwisslosFonds und Kuratorium vor dem
Hintergrund der vom Parlament beschlossenen Kompensation von Budgetkürzungen
ebenfalls Gegenstand der
Diskussionen um das neue
Kulturkonzept?
Rolf Keller In Bezug auf das Kultur­
konzept weniger, weil die Verschie­
bung der Gelder eine vorübergehende
Erscheinung ist, wie wir nach wie vor
hoffen. Selbstverständlich haben wir
aber darüber diskutiert, und selbst­
verständlich waren wir dagegen. Nicht
aus finanziellen Gründen – durch die
Kompensation haben wir ja weiterhin
gleich viel Geld zur Verfügung –, son­
dern weil der Staat sich damit zu
­einem Teil aus seiner Verantwortung
zieht, sein Bekenntnis zur Kultur re­
lativiert. Wir haben jedoch konstruk­
tiv an einer Lösung mitgewirkt, und
es konnte eine Regelung dafür gefun­
den werden, dass Einschränkungen
des Swisslos-Gesetzes unsere Ver­
gabepraxis nicht tangieren.
Die Sparmassnahmen des
Kantons schaffen ein Spannungsfeld, das bei den Kulturschaffenden Ängste auslöst.
Wie gehen Sie damit um?
Rolf Keller Natürlich kommt Beun­
ruhigung auf, wenn man hört, mit
welchen Defiziten der Kanton in den
nächsten Jahren rechnet. Da er­
schrickt man zuerst einmal als Bür­
gerin oder Bürger. Am Kulturforum
im November kam kritisch zur Spra­
che, dass sich der Aargau zwar Kul­
turkanton nennt, mit seinen Ausga­
ben pro Kopf im interkantonalen Ver­
gleich aber nur an 19. Stelle liegt. Auf
politischer Ebene ist das Bewusstsein
dafür wenig vorhanden.
Thomas Pauli-Gabi Mit dem Kulturkon­
zept haben wir nun die Chance,
Transparenz über die vom Kanton auf­
gewendeten Mittel herzustellen. Da
die Finanzsituation des Kantons in
den nächsten Jahren angespannt
bleibt, ist es meines Erachtens noch
wichtiger, dass die Ressourcen in den
kantonseigenen Institutionen und in
der Förderung zielgerichtet und wirk­
sam eingesetzt werden.
Rolf Keller Wir haben immer betont,
dass die Erstellung des Kulturkon­
zepts keine Reaktion auf aktuelle oder
bevorstehende Sparübungen ist.
Meine Hoffnung ist es dennoch, dass
wir mit dem Papier klarer aufzeigen
können, weshalb es sich lohnt, für die
Kultur im Kanton Geld auszugeben.
Thomas Pauli-Gabi Wir möchten Debat­
ten darüber auslösen, wie das kultu­
relle Leben im Kanton vielfältig bleibt.
Es stehen Herausforderungen an, zu
deren Bewältigung die Kultur einen
wichtigen Beitrag leisten kann: zum
Beispiel für den Zusammenhalt in
­einer wachsenden und heterogenen
Gesellschaft. Wir gehen aktiv auf die
Medien zu, sodass der Verlauf und die
Ergebnisse dieses Prozesses eine grös­
sere Öffentlichkeit finden.
Der Bund hat Anfang Jahr seine
Kulturbotschaft vorgestellt.
Inwiefern dient sie als Weg­
weiser oder Vorbild für
das ­Aargauer Kulturkonzept?
Thomas Pauli-Gabi Sie sprechen einen
wichtigen Punkt an: Wir sind nicht
Pioniere in Sachen Kulturleitbild. Alle
grösseren Kantone und auch Städte
wie Aarau oder Baden haben schon
eines. Natürlich schauen wir sie genau
an, aber der Kulturkanton Aargau
tickt anders, sodass ein «Copy-andPaste» nicht infrage kommt.
Rolf Keller Die Hauptaussage der Bun­
desverfassung lautet, dass Kultur
­Sache der Kantone sei. In diesem Sinn
ist unser Kulturkonzept kein Nach­
vollzug von Massstäben, die auf Bun­
desebene definiert werden. Logischer­
weise tauchen gewisse Themen wie
Digitalisierung oder demografische
Entwicklung aber auf allen Ebenen
immer wieder auf.
Welches ist Ihre Vision für den
Kulturkanton?
Thomas Pauli-Gabi Wir sind mitten im
Prozess der Strategieentwicklung. Es
liegen noch ein paar Schritte vor uns,
bis wir dem Regierungsrat im Herbst
einen Vorschlag unterbreiten kön­
nen, wie sich die kantonale Kultur­
politik in den nächsten Jahren ent­
wickeln soll.
Rolf Keller Meine persönliche Vision
ist es, dass die gesellschaftliche Be­
deutung von Kunst und Kultur in der
Politik und Bevölkerung breiter ver­
standen wird.
Thomas Pauli-Gabi Das ist für mich ein
wichtiger Nutzen, den dieses Konzept
bringen soll. Wo wir den Kulturkanton
in fünf bis zehn Jahren sehen, ist eine
noch zu formulierende Perspektive.
Thomas Pauli-Gabi ist Leiter der
­Abteilung Kultur im Kanton Aargau.
Rolf Keller ist Präsident des Aargauer
Kuratoriums.
Jacqueline Beck ist freie Kultur­
journalistin.
23
24
Die eigene
Wahrheit
formulieren
und führen. Umgekehrt sucht er in den Musikern natur­
nahe Züge nachzuzeichnen.
Was Pascal heute unter dem Namen «Summer
Washed Out Photography» auf einer Website veröffent­
licht, begann vor sechs Jahren mit einem Zufall. In
seinem engen Freundeskreis formiert sich eine Band
mit kühnen Ambitionen. Al Pride sind jung und ziel­
strebig, im Visier haben sie die grossen Gesten der
Popmusik. Fasziniert von der Leidenschaft und Vision
dieser Band begleitet sie Pascal fortan mit der Kamera –
ohne als Fotograf je Erfahrungen gesammelt zu haben.
Es dauert nicht lange, bis er merkt, dass er beim Ar­
beiten nicht nur dem Medium Fotografie näherkommt,
sondern dabei ist, einen Teil der eigenen Identität
freizulegen. Je intensiver er sich mit seinen Motiven
auseinandersetzt, desto deutlicher erkennt er sich
selbst als wichtigen Teil davon. Aus dem Versuch der
Annäherung an sein Gegenüber wird allmählich eine
Annäherung an sich selbst.
In den vergangenen Jahren hat Pascal unzählige
nationale und internationale Künstler porträtiert. Al
Pride blieb bis heute sein Ankerpunkt. Was als Experi­
ment begann, ist heute eine feste Zusammenarbeit –
und eine enge Freundschaft. Letzten Herbst begleitete
Pascal Al Pride nach Schweden, wo die Band nahe
dem Küstendorf Hallavara ihr gleichnamiges Album
einspielte. Hört man sich durch den 50-minütigen
Wellengang und widmet sich dabei der fotografischen
Dokumentation, die dem Tonträger beiliegt und
von Pascal stammt, dann wird deutlich, wie selbstver­
ständlich und ungezwungen die Verständigung ist
zwischen Bild und Ton. Es scheint, als hätten sich mit
Hallavara die künstlerischen Dialekte zu einer gemein­
samen Sprache verbunden. Ganz im Sinne dieser
geteilten Vision stellt Pascal diesen Frühling bei ausge­
wählten Konzerten von Al Pride Fotografien aus, die
während der Zeit in Hallavara entstanden sind. So
auch am 27. Mai, wenn die Band anlässlich des Jubilä­
umsfests im KiFF in Aarau spielt.
Als sich Pascal später an diesem Abend im Royal
auf den Heimweg machen will, bin ich gerade in eine
Debatte verwickelt. Aus dem Augenwinkel sehe ich,
wie er sich uns vorsichtig nähert. Als er bemerkt, dass
mein Gegenüber dabei ist, zu einem feurigen Plädoyer
auszuholen, bleibt er unvermittelt stehen. Als drohe
er den Funkenschlag, die Magie des Moments, zu
verhindern, wartet er geduldig das Ende der ausschwei­
fenden Ansprache ab. Erst als mein Gegenüber ver­
stummt, um endlich tief durchzuatmen, tritt Pascal zu
uns hin. Die Geste ist eine Analogie zu den Fotogra­
fien, deren Zurückhaltung immer auch eine Form der
Anteilnahme ist.
Ein Porträt über den Fotografen
Pascal Küng anlässlich der Ausstellung
seiner Bilder im KiFF
von Donat Kaufmann
Immer wieder hält Pascal für einen kurzen Augenblick
inne, fährt sich mit den Fingern durch das blonde
Haar und lässt den Blick über die Fassade des gegen­
überliegenden Gebäudes schweifen, als hinge irgendwo
dort das gesuchte Wort. Er wählt sie mit Bedacht,
die Wörter – insbesondere dann, wenn er über seine
Fotografie spricht.
Ich sitze mit Pascal auf einer Treppe hinter dem Kulturlokal Royal in Baden. Durch die Wände dringt dumpf
und regelmässig der Bass. Im ehemaligen Kino findet
gerade das Musikfestival «Fest Gefahren» statt, ein
gemeinsames Projekt zweier umtriebiger Badener ­Veranstaltungsgruppen. Als Fotograf begleitet Pascal
beide seit mehreren Jahren durch ihre Konzertabende.
Er porträtiert Künstlerinnen, Künstler und Orte, das
Publikum, die Menschen hinter der Kulisse. Seine Bilder
sind es, die nach den Anlässen ins kollektive Gedächt­
nis der sozialen Medien eingehen. Konzerte als gestei­
gerte Form des Musikerlebnisses üben auf ihn eine
grosse Faszination aus. «Wichtig ist mir, die Lebens­
nähe der Musik zu spüren», sagt er. Wenn er merke,
dass ein Konzert einer straffen Dramaturgie folge und
lediglich der Unterhaltung diene, verliere es die Anzie­
hungskraft. Was er suche, sei die Natürlichkeit im
Ausdruck, und diese bedinge eine gewisse Zufälligkeit.
In Anlehnung an den Reiz des Einmaligen spricht
er immer wieder auch von der «Magie des Moments».
Jeder Augenblick formuliere seine eigene Wahrheit.
Als Fotograf begegnet Pascal dieser mit einer Mischung
aus Wagemut und Vorsicht. Seine Porträts blenden
nicht; die Farben sind weich, aber gesättigt. Viele Bilder
haben gleichzeitig einen klaren Fokus und eine träu­
mer­ische Unschärfe, sind prägnant, ohne zwanghaft
­deutlich zu werden. In diesem Wechselspiel von Nähe
und Distanz öffnen sich Vorstellungsräume, die dem
Betrachter seine ganz eigene Perspektive auf die «Magie
des Moments» erlauben. Dass neben dem musikalischen
Funkenschlag auch die unberührte Natur zu Pascals
wichtigsten Motiven zählt, fügt sich ins Bild eines um­
sichtigen jungen Mannes mit einem feinen Sensorium,
einem geschärften Bewusstsein für seine Umgebung –
und einem Hang zum leidenschaftlich Verträumten.
Dass sich die Motive gegenseitig inspirieren, liegt auf
der Hand. Wann immer Pascal zu Streifzügen durch
die Natur aufbricht, lässt er sich von Musik begleiten
Pascal Küng und Donat Kaufmann haben sich vor den Bühnen
der Badener Kulturlokale kennen und schätzen gelernt. Sie
teilen die Vorliebe für das Wortlose in der Musik und standen
sich bei Konzerten auch schon gegenüber – als Musiker und
als Fotograf.
25
Seite 24: Küste bei Hallavara (oben),
Al Pride, Album Show Case
­«Hallavara» im Casino Bremgarten,
Februar 2016 (unten).
Seite 26: Al Pride in Hallavara.
Pascal Küng begleitete die Band
bei den ­Aufnahmen zu «Hallavara
nach Schweden.
Fotos: Pascal Küng, Summer Washed
Out Photography,
www.summerwashedout.ch
26
Althergebracht modern
Improvisationsabend in der Reihe
Schlumpf+ mit dem Hausquartett
von Steff Rohrbach
Komposition und Improvisation, das Festgelegte und das
Unerwartete, die Wiederholbarkeit und das Einmalige,
der Plan und das Unvorhersehbare, das Abgeschlossene
und der offene Himmel – die Spannweite im Jazz
ist ein weites Feld. Dabei sind alle Varianten möglich
und auf der Bühne zu hören: vom vollkommen ausge­
schriebenen Programm bis zur sogenannt freien Im­
provisation und sämtlichen Kombinationen dazwischen.
Die Improvisation stellt – entgegen der landläufigen
Meinung – das Ursprüngliche in der Musik dar: Schon
Kinder improvisieren ganz natürlich, die Volksmusik
mit ihren starken Improvisationselementen existiert
auch ohne Noten seit Jahrtausenden und in Weltge­
genden, die von der Zivilisation unberührt sind. Damit
nicht genug: Auch aufgeschriebene Musik entstammt
häufig einer Improvisation oder einer Melodie, die ab­
sichtslos und wie zufällig aus dem freien Spiel entsteht.
Und wer meint, es gebe in der Klassik keine Improvi­
sation, täuscht sich: Für einen Musiker der Barockzeit
wäre es kaum nachvollziehbar, dass die Interpretation
von Kompositionen derart im Mittelpunkt von Kon­
zertleben und Musikausbildung steht wie heute. Über
Bach und die Kunst der Improvisation gibt es ganze
Bücher. «Komponieren aus dem Stegreif», die «freie
Fantasie», Verzierung und Ornamentierung erlebten
in der Renaissance und im Barock ihre Hochblüte und
waren bis in die Romantik zentrale Elemente sowohl
kirchlicher wie weltlicher Musik. Mozart und vor allem
Beethoven, aber auch
Chopin oder der Kompo­
nist und Organist Anton
Do 12. Mai 19.30
Druckerei Baden
Bruckner waren grosse
«Someday my Prince
Meister der Improvisation
Will Come»
– sie bezog sich damals
Hausquartett plus:
allerdings vor allem auf
Christoph Grab
den solistischen Bereich.
(Tenorsax), Andreas
Das Improvisieren
Tschopp (Posaune),
Christoph Baumann
im Kollektiv wurde erst
(Klavier), Hämi Hämmerli
im 20. Jahrhundert durch
(Bass), Tony Renold
den Jazz aus den USA
(Schlagzeug)
mit seinen Formschemata
Siehe Seite 13.
und Harmoniefolgen
möglich, mit Schönbergs
Entwicklung der Zwölftontechnik (um 1920), der
Entdeckung der Klangfarbe und später mit dem Ein­
bezug und der Emanzipation des Geräusches als
­Gestaltungsmittel. Ende der Fünfzigerjahre verkündete
der Altsaxofonist Ornette Coleman: «Lasst uns Musik
spielen – und nicht ihren Hintergrund.» Mit Hinter­
grund meinte er den bis dahin allgemein gültigen Bezugsrahmen der Jazzimprovisation, der seit der Entstehung
dieser Musik als unumstösslich galt: den elementaren
Aufbau eines Stücks, die Abfolge von Thema – Impro­
visation – Thema, die Preisgabe von Tonalität und
durchlaufendem Metrum. Damit einher ging im Jazz
ein Prozess, der bald auch gesellschaftlich folgte –
die Zerstörung von Hierarchien und gültigen Normen,
die eng verbunden ist mit der Jahreszahl 1968.
Die Reihe des Musikers, Komponisten und Pädago­
gen Martin Schlumpf basiert auf dem Kontext von
Improvisation und Komposition: «Ziel der Konzertreihe
ist es, Werke in einen historischen Beziehungsrahmen
zu stellen, der von der Gegenwart in die Vergangen­heit
und zurück neue Bedeutungen und Assoziationen
ermöglichen soll.» Improvisation kann bedeuten: Ein
Thema spontan zu variieren, ohne festgelegten Plan
einen solistischen «Ausflug» zu unternehmen, und sie
kann spontaner Monolog oder musikalisches Gespräch
der Beteiligten sein. Die freie Improvisation meint,
dass im Voraus keinerlei Abmachungen bestehen –
­wobei «frei» trotzdem nicht heisst, dass alles möglich
wäre: Jeder Schritt definiert den Folgenden. Der Jazz
lebt häufig von beiden Elementen gleichermassen, von
der Notation einer Musik und der Improvisation. Nicht
selten vollzieht sich die Improvisation aber auch in
einem vorgegebenen konzeptionellen Rahmen – und
genau dies beabsichtigt Martin Schlumpf im nächsten,
zweiteiligen Konzert, das aus einer offeneren und
einer vom Komponisten etwas klarer strukturierten
Hälfte bestehen wird. Dabei richtet sich Martin
Schlumpfs Konzept ganz auf die Lokalität und die
Musiker und Instrumente des Abends: Das Hausquar­
tett von Christoph Baumann und Hämi Hämmerli –
der Pianist und der Bassist arbeiten seit über 30 Jahren
zusammen – bewegt sich offen und frei in traditio­
nellem Material und spielt auch mal einen Standard.
Ihr Quartett mit Christoph Grab am Saxofon und
Tony Renold am Schlagzeug liebt es aber auch, Themen
in einem Prozess zu bearbeiten und in dramaturgisch
grössere Bögen mit unbekannten Destinationen zu
fassen. Hinzukommen wird in der Druckerei Baden mit
Andreas Tschopp ein wunderbarer Posaunist. Damit
hat Martin Schlumpf eine ganze Hand voll erstklassi­
ger Musiker zur Verfügung, die prädestiniert sind,
seine Vorstellungen umzusetzen und das Publikum auf
eine berührende Reise mitzunehmen.
Steff Rohrbach schreibt für verschiedene Medien über Jazz,
gelegentlich auch über Kulturpolitik. Er lebt in Basel.
27
Bildschirm
SCHWANENSEE
«Meine Kunst ist eine Materialisierung eines poetischen
Gedankennetzes», so nennt Susanne Keller ihr künstle­
risches Vorgehen. Es ist ihr wichtig, einen poetischen
Klang einzubringen. Ihre Arbeit soll einen verschlüssel­
ten Charakter und einen optischen und akustischen
Reiz besitzen. Momentan arbeitet sie an der siebenteili­
gen Werkserie, den «Choreografischen Objekten». Die
erste Inspiration dazu ist eine schriftliche/bildliche
Handnotiz von einer Tanzchoreografie. Das abgebildete
Werk «Schwanensee» ist das zweite, über zwei Meter
hohe, mit Akustik (sieben einzelne Tonspuren verteilt
im Werk) bestückte Objekt. Es geht um den Tod und das
Leben, den schwarzen und den weissen Schwan, um Zer­
splitterung und kurzweilige Harmonie, die sich im ex­
plosiven Chaos verliert und wieder neu generiert wird.
Im Zimmermannhaus in Brugg präsentiert die Künst­
lerin unter anderem eine Auswahl aus dem Werkzyklus
«Bebilderungs-Bühnen». «Das Wachsfiguren-Kabinett»
ist ein Objekt mit symbolträchtiger Bildsprache und ein­
geflochtenen Textfragmenten, die einen geheimnisvollen
Hinweis zu dem Theaterstück geben, das sich nur in den
Gedanken der Betrachterinnen und Betrachter erahnen
lässt. Susanne Keller
Susanne Keller, *1980, studierte bildende Kunst an der
ZHdK. Ihr Schaffen ist vielfach ausgezeichnet.
Bis 12. Juni sind Werke von ihr im Zimmermannhaus Brugg
ausgestellt und während des Figura Festivals (14.–19. Juni)
in Schaufenstern in der Badener Innenstadt. Siehe Seite 38.
www.sk.panter.ch
Susanne Keller
«Schwanensee», aus der Serie «Choreografische Objekte»
2/7, H 2,1 m, B 2,2 m, T 2 m, 2014/15.
Stuhl, Holz, Papier, Karton, Bilder, Fundgegenstände, Text,
Spiegel, Acryl, Lackfarbe, Räder, sieben MP3-Player.
Seite 28: Rückseite, Seite 29: Vorderansicht,
Seite 30: Detailansichten
30
Neuland
Tauchsieder
Zum bedingungslosen
Grundeinkommen
argovia philharmonic erobert
die Alte Reithalle in Aarau
und das Bäderquartier in Baden
von Dölf Keller von Elisabeth Feller
Am 5. Juni 2016 kommt die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» zur Abstimmung. Dabei wird
davon ausgegangen, dass jeder Erwachsene 2500 Franken im
Monat erhält und jedes Kind 625 Franken.
Selbst wenn ich ein solches Grundeinkommen bekäme,
würde ich weiterarbeiten.
So stelle ich meine Arbeitskraft als freiwilliger Mitarbeiter
im Regionalen Pflegeheim Baden zu Verfügung. Jede Woche
einmal betreue ich alte Leute in diesem Heim. Ich arbeite
auch sehr gerne kreativ, darum gehe ich einmal in der Woche
ins Ausdrucksmalen in die Behindertenwerkstatt ARWO in
Wettingen. Ein weiteres Projekt von mir ist das «Rock4Handicap», ein Rockfestival für alle, eine Begegnung für Menschen
mit und ohne Handicap. Mein Wunsch ist es, mit diesem Festival alle Menschen zusammenzubringen und Brücken zu bauen, um Hemmungen und Vorurteile abzubauen.
All das ist ja auch Arbeit, nur werde ich dafür nicht bezahlt.
Darum wäre für mich ein solches bedingungsloses Grundeinkommen ein absolut paradiesischer Zustand. Für mich als behinderten Menschen wäre das nicht schlecht, da ich nur eine
ausserordentliche Rente bekomme statt einer ordentlichen.
Diese beiden Begriffe muss ich kurz erklären: Eine «ordentliche» Rente der IV hat zugut, wer vor Eintritt der Invalidität
Beiträge entrichtet hat an die AHV / IV. Die Höhe der ordentlichen Rente hängt dann vom durchschnittlichen Einkommen
ab, auf dem Beiträge entrichtet worden sind. Eine «ausserordentliche» Rente erhalten diejenigen, die invalid waren, bevor
sie beitragspflichtig geworden wären. Also alle Geburts- und
Frühbehinderten, zu diesen zähle ich leider auch. Sie haben
deshalb keine «ordentliche» IV-Rente zugute. Ihnen wird dafür
vom Gesetz eine «ausserordentliche» (das heisst beitragsunabhängige) Rente gewährt, die zurzeit einem Betrag von 1567
Franken pro Monat entspricht.
Somit besteht keine Gleichberechtigung, da diese ausserordentlichen Renten ziemlich unter dem Durchschnitt der ordentlichen Renten liegen. Hinzu kommt noch, dass sie nur bei
einem Wohnsitz in der Schweiz ausbezahlt wird, eine zusätzliche Diskriminierung für uns Frühbehinderte.
Deshalb wäre für uns Geburts- und Frühbehinderte das bedingungsloses Grundeinkommen eine wunderbare Idee! Ich
werde ein grosses, dickes JA einlegen in die Urne! Und Sie?
Aber soll auch ein Bankdirektor oder ein Manager ein solches Grundeinkommen erhalten? Mit einem Jahressalär von
ca. 20 Millionen oder mehr? Nein! Das möchte niemand, dass
diese «armen» Millionäre auch noch durchgefüttert werden
müssen. Denn sie und ihre Steueranwälte kennen jeden Trick,
um möglichst wenig Steuern zu bezahlen.
Wo ist das Paradies? Der Blick zum Himmel nützt nichts,
denn von oben sind keine Aufschlüsse zu erwarten.
Weshalb auch, wenn das Paradies ganz nahe liegt – im
Bäderquartier von Baden. Das ist nicht wahr, werden
Sie einwenden. Doch. Dort wird im Mai und Juni am
Ende eines 90-minütigen Rundgangs durch das Hotel
Verenahof der letzte Satz aus Mahlers 4. Sinfonie
und damit der Gesang der Sopranistin erklingen: «Wir
geniessen die himmlischen Freuden.» «Dann befinden
wir uns im Paradies», sagen jene Musikfreunde, die
Erwin Steins höchst selten gespielte Kammermusik­
fassung dieses Werks schon gehört haben. Wer sie
noch nicht kennt, wird ihr bald im Zusammenklang
mit noch mehr klassischer Musik im Projekt «Auf der
Suche nach dem Paradies» begegnen können. Der
«Verenahof» fungiert dabei als Sehnsuchtsort, der von
16 Musikerinnen und Musikern des argovia philhar­
monic, der Schauspielerin Verena Buss sowie maximal
150 neugierigen Besuchern pro Abend bespielt wird.
«Musik gehört zum
Kurhotel einfach dazu»
Wer ist auf die Idee gekommen, das einstmals pracht­
volle Kurhotel erneut, vielmehr letztmals zu beleben?
Der Badener Schauspieler und Regisseur Walter Küng
sowie der argovia-philharmonic-Intendant Christian
Weidmann. Küng hatte dem angeschlagenen, morbideleganten Bäderquartier schon 2008 mit «Hotel offen»
Reverenz gezollt – mit grossem Publikumsecho. Dieses
interdisziplinäre Projekt kannte Christian Weidmann
nicht – das Bäderquartier hingegen schon. Dieses hatte
er im Rahmen einer Führung kennengelernt, wobei
ihn vor allem der Saal im «Limmathof» beeindruckte.
Er habe sich damals überlegt: «Darin könnten wir
doch für unsere Abonnenten etwas stattfinden lassen.
­Beispielsweise eine Lesung mit Walter Küng – und
dazu Musik. Denn diese gehört zu einem Kurhotel
einfach dazu.»
Es musste wohl so sein, dass der Schauspieler den
Intendanten ansprach und damit nicht eine Lesung,
sondern ein Musiktheater-Projekt anschob, das auch
überraschende Seiten des argovia philharmonic offen­
baren will. Dieses zeigt sich im stillgelegten «Verena­
hof» nicht als grossbesetzter, sinfonischer Klang­
körper, sondern als Kammermusik-Ensemble. Die
Absicht: «Einerseits wollen wir uns öfter als früher
sowohl räumlich wie inhaltlich neu präsentieren»,
betont Christian Weidmann, «andererseits wollen wir
mit anderen Sparten zusammenarbeiten.»
Dölf Keller leidet seit seiner Geburt an einer Cerebral­
parese. Er ist Initiator und Organisator von Rock4Handicap
und zurzeit Redaktionsmitglied Happy Radio. Er lebt in
Wettingen.
31
8., 10., 13. und 14. Mai
«Tanzträume»,
u. a. mit Schwanensee
20., 21., 24., 25., 26., 27., 28. und 31. Mai
sowie 1. und 2. Juni, jeweils 20 Uhr
«Auf der Suche nach dem Paradies»
in Baden, Bäderquartier
Siehe Seite 16
23., 24. und 25. Juni, jeweils 20.30 Uhr.
«4x4 Ephemeral Architectures»
mit Gandini Juggling in Aarau, Alte Reithalle
20., 21., 24., 26., 27. und 28. August
«L’Histoire du Soldat», Aarau, Alte Reithalle
32
Gerade weil es überraschen will, hat das argovia
­philharmonic die «Serie Surprise» lanciert. In diese
fügt sich das Projekt «Auf der Suche nach dem Para­
dies» bestens ein. Das Orchester will also nicht nur
mit seinen beliebten Abo-Reihen punkten, «sondern
ebenso sehr mit kleineren Formaten an Orten von
hohem emotionalem Wert, zu denen auch das Bäder­
quartier zählt», unterstreicht Weidmann.
Als Partner im Zirkus
Damit will argovia philharmonic sein Profil schärfen
und Präsenz markieren, was der Intendant so auf den
Nenner bringt: «Wir müssen im Aargau sichtbar sein» –
im Juni dann auch als wendiger, stilsicherer Partner
im Zirkus. Wie bitte? «Richtig. Zirkus.» Präziser:
«cirqu’5 – 4 × 4 Ephemeral Architectures». Der Titel
mutet kryptisch an. Aber dann wird im Gespräch
rasch klar, um was es sich handelt – eine Produktion,
die beim zweiten Festival für zeitgenössischen Zirkus
in der Alten Reithalle in Aarau gezeigt wird.
Für das Programm und den Betrieb der Sommer­
bespielung ist seit Mitte 2014 das Theater Tuchlaube
mit seinem Leiter Peter-Jakob Kelting zuständig. Er war
es auch, der Weidmann auf das von Roman Müller
initiierte, 2015 erstmals durchgeführte kleine Festival
cirqu’4 aufmerksam machte. «Ganz ehrlich: Unter
zeitgenössischem Zirkus konnte ich mir nicht sehr
viel vorstellen», bekennt der Orchesterintendant. Das
ändert sich, als er gemeinsam mit Roman Müller die
Vorstellung «4 × 4 Ephemeral Architectures» mit
Gandini Juggling in Baden-Baden besucht. Rückbli­
ckend spricht Christian Weidmann «von einer Sensa­
tion. Tanz in Kombination mit Jonglage und das
­technisch derart perfekt – das ist fast unbegreiflich.»
Die Freude des Intendanten ist unübersehbar. Nicht
verwunderlich, schliesslich war er einst als Ballett­
manager am Opernhaus Zürich tätig.
Als der Vorschlag kommt, musikalisch mit Gandini
Juggling in der Alten Reithalle zusammenzuspannen,
sagt er sofort zu. Also werden im Juni neun argoviaphilharmonic-Mitglieder im Halbrund um die virtuosen
Artisten der Truppe positioniert sein; sie werden
klassische Musik spielen und – analog zum Projekt in
Baden – auch in Aarau neue künstlerische Pfade betre­
ten. Apropos: argovia philharmonic kommt in der
Saison 2016/17 wiederum in die Alte Reithalle. Dann­
zumal mit sieben Instrumentalisten für Igor Strawins­
kys «L’Histoire du Soldat» – diesem Schaustück mit
einer richtig guten Geschichte, mit raffinierten Figuren
und einer hinreissenden Musik.
Elisabeth Feller war viele Jahre Redaktorin bei der Aargauer
Zeitung. Heute schreibt sie für verschiedene Printmedien.
Sie lebt in Wettingen.
Fotografien: T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf
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Himmel & Hölle
Gott im Wirtshaus
von Mirjam Richner
Die Gespräche verstummen abrupt, Blicke werden ge­
tauscht oder aber verschämt gesenkt, gestandene Män­
ner erstarren in unbeabsichtigt lächerlichen Posen, und
sogar die Flammen des Kaminfeuers scheinen die ver­
spielte Lebendigkeit eingebüsst zu haben, als Gott das
Wirtshaus betritt.
«Bier!», verlangt er mit tiefer, tragender Stimme vom
Barmann, ehe er sich an den einzigen freien Tisch in der
Nähe des Feuers setzt. Langsam schmelzen die Eis­
klümpchen im Bart; der vordere Teil des karierten Lei­
nenhemdes ist bereits durchnässt.
Wenn er sich sorgfältig kleiden und das Haar pflegen
würde, wäre er ein imposanter Mann.
Als hätte Gott meine Gedanken gehört, blickt er kurz
in meine Richtung, nicht unfreundlich, eher prüfend.
Der Barmann bringt das Gewünschte.
Gott nimmt das Bierglas vom Untersatz und schiebt
diesen von sich. Der Tisch ist bereits von etlichen ein­
getrockneten Ringen gezeichnet, und ich frage mich, ob
der Besitzer des Wirtshauses eines Tages von Gott Scha­
denersatz verlangen würde. Oder ihn die Tischplatte ab­
schleifen und neu wachsen liesse – immerhin sagt man
Gott gute Schreinerfähigkeiten nach.
Einige Biertröpfchen sickern in den Bart, als Gott
trinkt, und vermischen sich mit dem schmelzenden Eis.
Die Gespräche werden zögerlich wieder aufgenom­
men; das Lachen klingt gekünstelt, die Gesten sind zu
ausladend, die Sprache zeigt sich bar aller Kraftausdrü­
cke, die Worte kreisen um Belanglosigkeiten. Gelegent­
lich huschen verstohlene Blicke zum Tisch Gottes.
Geistesabwesend dreht Gott das Bierglas mit der lin­
ken Hand um die eigene Achse.
Ich erhebe mich, gehe zu Gottes Tisch und frage, ob
ich mich setzen dürfe. Ohne vom Bier aufzuschauen,
macht Gott eine fahrige Handbewegung, die wohl eine
Aufforderung zum Platznehmen sein soll.
Er zuckt die Achseln und sagt: «Ich bin heute nicht
in Gesprächslaune.»
«Sind Sie bedrückt?», frage ich.
Erneutes Achselzucken. Schweigen. Nach einer Weile
streckt mir Gott die Hand entgegen, ohne mir in die
­Augen zu blicken.
«Lass uns einander duzen. Gott», stellt er sich vor.
«Markus», sage ich.
«Ich weiss.»
«Weisst du alles über mich?» Ich muss an intime Mo­
mente denken, und Röte steigt mir in die Wangen.
«Ich könnte alles über dich wissen. Wenn ich wollte.»
Es fällt mir auf, dass Gottes Stimme rau klingt, als wäre
er Kettenraucher oder würde zumindest mit einem zu­
sammenwohnen, oder als wäre er seit Jahrzehnten Lead­
sänger einer Rockband.
Die Worte versetzen mir einen Stich und beruhigen
mich zugleich.
«Das heisst», frage ich, «dass du dich nicht für mich
interessierst?»
Gott hebt den Kopf. Die Augen sind von einem inten­
siven Blau, das gut zu einem Westernhelden aus einer
Hollywood-Produktion gepasst hätte. Die Stirn ist er­
staunlich glatt für Gottes Alter, möglicherweise hat er
Zugang zu Pflegeprodukten, die man nur in den grossen
Metropolen erhält.
«Schau dich doch mal um!», fährt er mich überra­
schend heftig an. «Wie soll ich mich für jeden Einzelnen
interessieren?»
Er scheint noch etwas hinzufügen zu wollen, schüt­
telt dann aber nur resigniert den Kopf.
Ein eisiger Schauer rinnt mir über den Rücken, wäh­
rend sich im Magen gleichzeitig eine wohlige Wärme
ausbreitet.
Ich möchte Gott tausend Dinge fragen.
Zum Beispiel, ob er Lieblingsmenschen habe, ob
Energy-Drinks tatsächlich Nierenschäden verursachen,
ob er Linkshänder sei, Bier lieber aus der Flasche oder
der Dose trinke, schon mal Battlefield Vietnam gespielt
habe, Kaviar möge, ob ihm Spiegeleier immer perfekt
gelängen, er die Motorradprüfung gemacht habe, Biogra­
fien lese, Mitglied beim WWF sei, welches seine Lieb­
lingsfarbe sei, ob er alle Sprachen und Dialekte der Welt
verstehe, unter der Dusche singe (und wenn ja: welche
Lieder?), auch ab und zu mal sündige, wie es um seine
Selbstdisziplin stehe (Süssigkeiten? Alkohol? Zigaret­
ten? Drogen?) und was er zu Nietzsche sagen würde,
wenn dieser noch am Leben wäre (zum Beispiel «Nietz­
sche ist tot»?).
Stattdessen schweige auch ich und drehe das Glas.
Doch nun schleichen sich Worte über die Lippen, fast
ohne mein Zutun, ich kann sie nicht halten:
«Das mit Judas Ischariot –», sage ich, zögere, fühle
mich aber schliesslich ermutigt von Gottes Schweigen,
«ich meine, einer musste ja die Drecksarbeit erledigen,
damit der Plan aufgeht. Wo ist Judas jetzt? In der Hölle?»
Schalk blitzt in Gottes Augen. Sein Gesicht erhellt
sich zu einem bubenhaften Grinsen; es ist, als würden
wärmende Sonnenstrahlen durch einen dunklen, wolken­
verhangenen Himmel brechen. Gottes Lachen klingt
warm, doch ein Hauch von Hysterie schwingt darin mit:
«In der Hölle? Nein, in der Erde!»
Dann, mit einem Schlag, blickt er wieder todernst.
Er wendet den Kopf ab und starrt sorgenvoll ins Feuer.
Kaum bewegt er die Lippen, als er murmelt: «Judas,
ein Rädchen im Getriebe. Wie Bruder Eichmann.»
Ich betrachte Gottes Profil. Die Nasenpartie – der
leicht konvexe Nasenrücken und die fehlende Einbuch­
tung an der Nasenwurzel – erinnert mich an jene von
Javier Bardem.
Mirjam Richner, 1988 in Aarau geboren, lebt in Unterent­
felden. Sie veröffentlicht seit 2009 Kurzgeschichten. 2010
­erhielt sie den Förderbeitrag vom Aargauer Kuratorium, 2012
nahm sie an den Tagen der deutschsprachigen Literatur in
Klagenfurt teil. Im Januar 2016 erschien ihr erstes Buch
«Bettlägerige Geheimnisse» als Teil der Collection Montagnola
von Klaus Isele.
Illustration: Selina Kallen, www.selka.ch
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BADEN TANZT. ÜBERALL! FREITAG 13. UND SAMSTAG 14. MAI 2016
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des Bundesamts für Kultur:
Sonntag, 29. Mai 2016, 17 Uhr
Stadtkirche Zofingen
Sprecherin: Miriam Japp
Moderation: Martina Kuoni
DI, 3. Mai, 19.15 Uhr, Aargauer Literaturhaus
Reservation/Details: www.aargauer-literaturhaus.ch
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Foto: Mario del Curto
Leta Semadeni und
Antoinette Rychner
Foto: Mario del Curto
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Vokalensemble opus 48 Zofingen
Leitung
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Fax 056 460 77 70
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