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I KULTUR · KRITIK · KONTROVERSEN I
MAI · NR. 52 · 7.5. – 3.6.2016 · 3,00 EURO · www.muenchner-feuilleton.de
SPOT SEITEN 2–3
Das Münchner Bierherz und der
König von Haidhausen
Zum runden Jubiläum des Reinheitsgebotes zeigen das Stadtmuseum und das Jüdische Museum
alles, was man über Herstellung
und Konsum, Geschichte und
Gegenwart des edlen Gerstensaftes
wissen muss.
Bierfilzl von Brauereien und ZoiglWirtschaften | © Jüdisches Museum München
BILDENDE KUNST SEITEN 4–8
Helden mit Hörnern
Im Rosenheimer Lokschuppen
informiert eine faszinierende und
unterhaltsame Ausstellung über die
historische Wikinger-Kultur und ihr
Fortleben in populären Legenden.
Grafik: Monika Huber
FILM SEITEN 9–13
Entdecke den Wolf in dir
Philip Koch zersetzt in seiner bösironischen Komödie »Outside the
Box« die Absurditäten unserer Leistungsgesellschaft.
Für das robuste Gespräch
BÜHNE SEITEN 17–21
Motocross statt Theater
Sogar das gab’s beim Festival »Radikal jung« im Volkstheater. Immer
mehr Regisseure verweigern sich
der traditionellen Bühnenform. An
den Kammerspielen stellte Matthias
Lilienthal die nächste Spielzeit vor.
MUSIK SEITEN 22–26
Urban Brass in Alcatraz
Keno Langbein, Rapper der Münchner Band Moop Mama, erklärt im
Interview, warum Blasmusik und
Hip-Hop so hervorragend harmonieren.
LITERATUR SEITEN 27–31
»Man kann auch optimistisch
leben«
Ein Gespräch mit Hans Pleschinski,
der im Mai seinen sechzigsten Geburtstag feiert, über den Reichtum
des Lebens und die Wunden, die wir
davontragen, über sein neuestes
Buch mit den Lebenserinnerungen
von Else Sohn-Rethel und die Geister der Vergangenheit.
IMPRESSUM SEITE 22
MÜNCHNER FEUILLETON
Breisacher Straße 4, 81667 München
Telefon: 089 48920971
Ehrlichkeit und Klarheit im Umgang miteinander sollten als Qualität die
Kommunikation im Alltag prägen. Mit schrillen Debatten bis zum Shitstorm hat das nichts zu tun.
Ein Plädoyer für die Streitkultur mit Niveau.
CHRIS SCHINKE
Die Krisen unserer Zeit haben es an sich, dass
sie nicht einfach irgendwann enden. Sie münden nur – eine nach der anderen – in die
nächstgrößere Katastrophe. Das Krisenhafte ist
somit zum Dauerzustand geworden, und das
hat etwas mit uns angestellt. Ablesen lässt sich
das an unseren öffentlichen Debatten, die sich
heute zu großen Teilen in den Sphären des
Internets und in den sozialen Netzwerken
abspielen. Diese Debatten sind schrill im Ton
und werden mit Mitteln geführt, die sich deutlich von jenen unterscheiden, wie sie einst ein
wohldefinierter publizistischer Rahmen vorgegeben hat. Der Ton ist in Zeiten der Social Networks ein giftiger geworden.
Und um dieses Gift an den Tag zu bringen,
bedarf es nicht einmal mehr hitziger Debatten
über Griechenland, Terrorismus, Migrationskrise oder Böhmermann-Gedichte, bereits
geringfügige Anlässe führen in Kommentarspalten zuverlässig zur totalen Entgleisung.
Der Hass der Geifernden ist allgegenwärtig.
Dabei bleiben Verbalinjurien im Netz für die
Hetzenden oftmals alles andere als folgenlos:
Ein bierseliger Wirtshausspruch, zum Tweet
geronnen, kann den Verfasser heute ins soziale
Aus befördern, ein tendenziöser FacebookKommentar gar den Job kosten. Die Folgen
nicht akzeptablen Handelns sind in diesem
hyperöffentlichen Raum unmittelbarer, als sie
es in Wirklichkeit, im »wahren« Leben auch
nur annäherungsweise sein könnten. Allein die
Geschwindigkeit ihrer Verbreitung wäre zu
Offline-Zeiten nicht möglich gewesen. Auch ist
das Netz heutzutage beileibe kein anonymer
Raum mehr, Facebook besteht bei seinen Nutzern auf Klarnamen. Das scheint Hetzer aber
nicht abzuhalten. Im Gegenteil, sie pöbeln weiter, beleidigen, ja, erniedrigen. Oft trifft es
dabei Personen, die im Licht der Öffentlichkeit
stehen, besonders häufig Frauen, die sich mit
einer unaussprechlichen sexualisierten Gewalt
konfrontiert sehen. Eine Gewalt, bei der immer
zu befürchten steht, dass sie sich von der
Sphäre des Wortes in die der Tat verlagert.
Die von ihren Schöpfern im Silicon Valley
beschworene Kultur grenzenloser Vernetzung
ist in der Wirklichkeit vor allem eine des Ressentiments. Nirgendwo sonst finden Antisemitismus, abstruse Verschwörungstheorien und
Rassismus unverhohleneren Ausdruck als in
den Niederungen der sozialen Netzwerke. Nirgendwo artikulieren sie sich unverhohlener.
Aber wie konnte es dazu kommen?
Es gab da doch einmal eine Utopie, die
vorsah, dass wir dereinst alle schrankenlos
kommunizieren werden, basisdemokratisch
und frei. Müssen wir uns von diesem Ideal verabschieden?
Keineswegs, aber wir müssen dringend
reden. Und zwar über die neuen Voraussetzungen unserer Debattenkultur. Denn der Troll,
das sind nicht immer nur die anderen – die
Intoleranten, Pegidas und Donald Trumps dieser Welt. Oft sind wir es selbst, ohne es zu merken. Dabei sollten wir uns in Achtsamkeit
üben. Denn jeder Einzelne kann heute entscheiden, wie weit er die Polarisierung im Netz
treiben will. Die Voraussetzung des Shitstorms
ist jene giftige Tonalität, zu der viele beitragen,
die nicht zu den Hetzern zählen. Aber auch sie
lassen sich durch Posten, Liken und Sharen
hinreißen – zu Sarkasmus und vermeintlich
witzigen Posts in Kommentarspalten. Der Troll
schließlich fühlt sich durch diese Mehrheit
berufen, vom Leder zu ziehen. Was er in die
Gegenwart der Netzöffentlichkeit zu blöken
pflegt, würde er vermutlich keinem Menschen
ins Gesicht sagen. Was die Sache aber nicht
besser macht. Denn hinter jedem Bildschirm,
jedem Handydisplay sitzt nun mal ein anderer.
Einer, der vielleicht gerade seinen Blick
abwendet, weil er nicht aushält, was ihm in
dem Moment an Spott und Häme entgegenschlägt.
Soll das aber nun heißen, dass im Netz
nicht mehr leidenschaftlich diskutiert werden
darf, aus Rücksicht auf Befindlichkeiten? Nein,
heißt es natürlich nicht. Es bedeutet aber
eines: dass wir in Zeiten, in denen sich das Virtuelle und das Reale bis zur Ununterscheidbarkeit annähern, beginnen das Internet endlich so ernst zu nehmen wie unsere sogenannte
wahre Welt. In der Sache dürfen, ja, müssen
unsere Debatten hart und schonungslos
geführt werden – nur so lässt sich ideologischen Verhärtungen vorbeugen, nur so entsteht ein lebendiger Disput jenseits der
Beschränktheit unserer Filterblasen. Es darf
nur eines nicht vergessen werden: Der am
anderen Ende des Bildschirms ist niemals nur
ein User. ||
Im Netz: www.muenchner-feuilleton.de