Naming the Nation: Praktiken der Namensgebung im Spannungsfeld von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Collegium Carolinum, Forschungsinstitut für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei, München; Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München, 04.02.2016–05.02.2016. Reviewed by Marina Schütz Published on H-Soz-u-Kult (April, 2016) Naming the Nation: Praktiken der Namensgebung im Spannungsfeld von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft Sprache ist in nationalstaatlichen Kontexten eng mit der Konstruktion von Identität verknüpft. Die Festlegung auf eine einheitliche oder vereinheitlichte sprachliche Norm ist oft ein ausschlaggebender Aspekt beim Prozess der Nationenbildung und somit zugleich ein ideologisches, politisches und kulturelles Projekt. Da in der Forschung bislang vor allem die Sprachenpolitik nationalisierender Imperien gegenüber ihren linguistischen Minderheiten im Fokus stand, betrachtete der von MARTINA NIEDHAMMER (Collegium Carolinum) und DANA V. SUFFRIN (LMU München) organisierte Workshop Benennungspraktiken und deren Akteure in und außerhalb Europas, um zu einer Erweiterung dieses Bildes beizutragen. MARION DOTTER (Wien) spannte in ihrer Untersuchung der Bilingualität Südtirols einen Bogen zwischen der Frühen Neuzeit und dem faschistischen Italien Mussolinis. In der Handelsstadt Bozen, einer gemischtsprachigen Schwellenregion, galt es, zwischen deutsch- und italienischsprachigen Händlern zu vermitteln. Dieser Notwendigkeit trug der im 17. Jahrhundert eingerichtete Merkantilmagistrat Rechnung, indem er für rechtliche, institutionelle, aber auch sprachliche Gleichstellung der beiden Gruppen sorgte; so erfolgte die Rechtsprechung in beiden Sprachen. Doch im Kontext der Nationenbildung im 19. Jahrhundert und des italienischen Faschismus wurden diese Gesetzgebungen revidiert und Südtirol schrittweise italianisiert“. Dotters Vortrag konnte so” mit auf die Rolle hinweisen, die Sprache bei der SchafDer Workshop war in vier Panels untergliedert. So fung einer nationalen, uniformen und damit einsprachiwurde im ersten Panel betrachtet, wie linguistische Ver- gen Identität spielte. schiedenheit verhandelt wurde. JOHANNES CZAKAI (Berlin) sprach über die im 19. Jahrhundert in Europa entDas zweite Panel befasste sich mit der Frage, welche standene Gesetzgebung zur Vereinheitlichung der Nach- Rolle Sprache und die Benennung von Orten in kultunamen jüdischer Untertanen. Er warf die Frage auf, ob die rell und traditionell heterogenen Peripherien spielte. HÜGesetzgebung, die Juden das Führen bürgerlicher Nach- SEYIN I. ÇIÇEK (Erlangen / Nürnberg) verwies in seinamen vorschrieb, eher emanzipatorischen oder repres- nem Vortrag auf die große Bedeutung der Sprache für siven Charakter besessen hatte. Noch entscheidender als den türkischen Nationalismus. Dies zeigte er am Beispiel diese in der Literatur häufig anzutreffende Gegenüber- der Zeitschrift Tercüman“ (= Dolmetscher), die im 19. ” stellung sei jedoch, so Czakai, die pragmatische Funktion, Jahrhundert von dem krimtatarischen Intellektuellen İsdie dieser Gesetzgebung zugekommen sei: sie habe zu ei- mail Gaspıralı in osmanischer und russischer Sprache ner Systematisierung und Vereinheitlichung der Verwal- herausgegeben worden war. Entgegen der verbreiteten tung beigetragen. Dieser Optimierungsprozess der fis- Ansicht, Gaspıralı hätte so zur Verständigung beider Bekalischen und administrativen Kontrolle über die Ein- völkerungsgruppen auf der Halbinsel beigetragen, konnwohner eines Staates ist in den größeren Zusammen- te der Vortrag zeigen, dass die Zeitschrift und deren Überhang der Staatenwerdung einzubetten. Sprache hatte in setzungsstrategien dazu beitrugen, eine türkische Identidiesem Fallbeispiel eine rationalisierende und machtsi- tät und Tradition auf der Krim (und damit außerhalb des chernde Funktion für den Staat. Osmanischen Reichs) zu konstruieren. 1 H-Net Reviews Der Vortrag von MARINA KLYSHKO (München) befasste sich mit der Benennung von Orten in der russischchinesischen Grenzregion. Aus der Expansion des russischen Reiches im ausgehenden 19. Jahrhundert ergab sich die Notwendigkeit, sich die neu gewonnenen Territorien kulturell anzueignen, um somit den eigenen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Auch hier kam Sprache, genauer: der Benennung von Orten in russischer oder chinesischer Sprache, eine wesentliche Rolle zu. Ukrainisch sollte nun zugunsten der russischen Sprache zunehmend aus dem sowjetischen Alltag entfernt werden. Das vierte Panel behandelte den Staat Israel als Fallstudie für den Zusammenhang von Sprache, Namensgebung und Nation. AMIT LEVY (Jerusalem) untersuchte in seinem Vortrag die Art und Weise, in der die arabische Sprache in der militärischen Folklore verwendet wurde. Der zur jüdischen Untergrundorganisation Hagana gehörige paramilitärische Palmach bestand während der 1940er überwiegend aus Einwanderern der ersten Generation oder deren Kindern. Levy zeigte auf, welche Funktion die Verwendung arabischsprachiger Elemente in Erzählungen oder Liedern hatte. Einerseits sollte durch sie eine Verbindung zur ortsansässigen Bevölkerung sowie zu Eretz Israel konstruiert und artikuliert werden, andererseits sollten diese Rückgriffe auf lokales“ Vokabular ” auch die Konstruktion einer neuen hebräischen Identität vorantreiben. Im dritten Panel wurde der Zusammenhang zwischen Sprache und Wissenschaft behandelt. DANA V. SUFFRIN (München) wies auf die zentrale Rolle, die die Einführung des modernen Hebräisch bei der Konstruktion einer jüdischen Identität im Zionismus gespielt hatte, hin. Der Vortrag beleuchtete die Bedeutung botanischer Nomenklatur in neuhebräischer Sprache. Durch die Erforschung Palästinas und durch die hebräische Benennung der lokalen Flora eigneten sich die zionistischen Forscher ihren Untersuchungsgegenstand gleichsam an. So sollte eine historische und emotionale Verbindung der jüdischen DOMINIK PETERS (München) betrachtete hebräiEinwanderer mit dem Altneuland konstruiert und damit sche Toponyme auf der Sinai-Halbinsel, die von 1967 einhergehend die fehlende politische Macht der Zionisbis 1982 von Israel besetzt worden war. Da der Sinai ten kompensiert werden. kein Kerngebiet biblischer Mythologie ist, konnte bei der MARTINA NIEDHAMMER (München) sprach über Benennung der neugegründeten jüdischen Siedlungen Projekte, die die jiddische Sprache standardisieren und kaum Rückbezug auf die Bibel genommen werden. So modernisieren sollten. In der Zwischenkriegszeit arbeite- wurde nach Alternativen gesucht, um die jüdischen Siedten zwei konkurrierende Institutionen in großer geogra- lungen zu benennen. Peters beschrieb die Versuche der phischer Nähe an diesem Vorhaben: das Jiddische Wis- israelischen Regierung, eine Verbindung des jüdischen senschaftliche Institut (YIVO) in Vilna sowie die jüdische Volkes mit der Halbinsel Sinai zu konstruieren, die sich in Sektion an der Belarusischen Akademie der Wissenschaf- den Namen der neuen Orte widerspiegelte: man schöpfte ten in Minsk. Zwar traten beide Einrichtungen aus unter- aus einem Fundus, der von archäologischen Funden bis schiedlichen Motivationen heraus für die Standardisie- zu israelischen Volkshelden reichte. rung und Modernisierung der jiddischen Sprache ein und Der Vortrag von JAMILA ELNASHEF (Tel Aviv) beverfolgten hierbei unterschiedliche Herangehensweisen; handelte die Integration muslimisch-arabischer Lehredie Schaffung eines akademisch-wissenschaftlichen Vokabulars nahm jedoch in beiden Fällen eine zentrale Rolle rinnen in das jüdische Bildungssystem im heutigen Israel. Diese würden nach Teilhabe an gesellschaftlichen und bei der Sprachenarbeit ein. kulturellen Prozessen in der jüdischen Gesellschaft streEbenfalls auf den Aspekt der Wissenschaftssprache ben und zumeist Arabisch unterrichten. Elnashef ging konzentrierte sich JAN SURMANN (Marburg), am Bei- vor allem der Frage nach, welche Auswirkungen die zwispiel der ukrainischen Sprache im 20. Jahrhundert. Er schen den beiden Kulturen vermittelnde Position der erläuterte die sowjetische Politik der Minderheitenför- Lehrerinnen auf deren Selbstbild und Identität hat. Am derung ( korenizacija“), die eine Förderung der ukraini- Beispiel kulturell bedingter Sprachmuster, die vor allem ” schen Sprache und Kultur anstrebte. Dieses Ziel sollte vor die jüdische Geschichte betrafen, wurde die Dichotomie allem durch die Erstellung von Wörterbüchern und die des jüdischen und des palästinensischen Narrativs deutFormung einer naturwissenschaftlichen Terminologie in lich. ukrainischer Sprache erreicht werden. Als sich die PoliDie Abschlussdiskussion wurde von PAVLA ŠIMKOtik der Sowjetunion änderte und die Ukrainisierung“ zu” VÁ und CHRISTOFFER LEBER (beide München) eröffnet nehmend als ukrainischer bürgerlicher Nationalismus“ ” und moderiert. Šimková und Leber arbeiteten vier zenbezeichnet wurde, änderte sich auch die Sprachpolitik. trale Linien für die Untersuchung des Zusammenhangs 2 H-Net Reviews von Sprache und Nationalstaat heraus. Erstens ist dies die Top-Down-Perspektive, die in der Forschung bisher eine zentrale Rolle einnahm. Die Politik eines Staates in Bezug auf die Sprache oder die Benennung von Individuen oder Orten steht in engem Zusammenhang mit der Funktionsweise staatlicher Administration oder des ideologischen oder praktischen Umgangs mit linguistischen Minderheiten. Zweitens kann der Umgang mit Sprache oder Namensgebung, aus einer Bottom-Up-Perspektive heraus betrachtet, zur Emanzipation dieser Minderheiten führen oder zumindest als Mittel auf dem Weg dahin dienen. Drittens stehen Sprache und Namensgebung in engem Zusammenhang mit der Konstruktion kultureller und nationaler Identität und besitzen damit ein hohes emotionales Potential. Durch die Vereinheitlichung von Sprache oder die Verwendung einer einheitlichen sprachlichen Norm kann eine gemeinsame Identität geschaffen und artikuliert werden. Viertens wurde herausgearbeitet, dass Prozesse der Namensgebung oder sprachliche Aspekte eine zentrale Rolle bei der Konstruktion einer nationalen Vergangenheit spielen. Dies wurde besonders deutlich an der Fallstudie zum Zionismus bzw. zum Staat Israel. Panel 1: Empires I – Negotiating Linguistic Difference Moderation: Caterina Schürch (LMU München) Johannes Czakai (Freie Universität Berlin): The Modern State and the Names of Jews (1787-1849). Marion Dotter (Universität Wien): The Merkantilmagistrat of Bolzano as Representative of a Bilingual South Tyrol? The South Tyrolian Language Policy between Habsburg Absolutism and Mussolini’s Fascism. Panel 2: Empires II – Naming in the Peripheries Moderation: Ulrike Lunow (LMU München) Hüseyin I. Çiçek (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): The Importance of Language for Turkish Nationalism. Marina Klyshko (LMU München): The Russian Colonization of the Far East and the Origin of Geographical Names in the Russian-Chinese Borderland. Keynote Lecture: Peter Burke (Cambridge): The Cultural History of Naming Panel 3: When Language meets Science Moderation: Henriette Müller-Ahrndt (LMU MünEinige der eben genannten Aspekte gingen implizit chen) auch aus der Keynote Lecture des Workshops hervor, die von PETER BURKE (Cambridge) gehalten wurde. BurDana v. Suffrin (LMU München): Naming the Unkke konzentrierte sich in seinem Vortrag besonders auf nown: Hebrew Biology and the Creation of a Scientific den Akt der Namensgebung bei Orten, Straßen, Plätzen Language. und Personen. Obzwar der Vortrag aufgrund seiner Fülle Martina Niedhammer (Collegium Carolinum): “alts iz an Beispielen aus dem alltäglichen Leben geeignet war, far unz vikhtik”: The Impact of Folklore on Yiddish SciInteresse zu wecken, so führte er den TeilnehmerInnen entific Language. des Workshops doch zuvorderst die Notwendigkeit vor Augen, analytisch und trennscharf an die Thematik herJan Surmann (Herder-Institut Marburg): Ruthenianzugehen. Zu diesem Ergebnis kamen die Teilnehme- an, Ukrainian, Russian: (Re-)writing Ukrainian Scientific rInnen auch in der abschließenden Diskussion. Eine ge- Language in the Long 1920s. lungene Beschäftigung mit Sprache und Namensgebung Panel 4: Case Study Israel – Naming and Narion Builim Kontext des Nationalstaates hat die empirische Arbeit am historischen Fallbeispiel mit einer sorgfältigen analy- ding Moderation: Dana v. Suffrin (LMU München) tischen Herangehensweise zu verknüpfen. Zudem muss auf Quellenebene in noch höherem Maße, als dies in den Amit Levy (Hebrew University of Jerusalem): “Taleinzelnen Beiträgen stellenweise der Fall war, zwischen king Like Them, Walking Like Them, Acting Like Them”: staatlich verankerter Sprachpolitik und dem praktischen The Use of Arabic in Palmach Folklore. Making of“ einer Sprache unterschieden werden. Den” noch kann der Workshop, der inhaltlich eine große geoDominik Peters (LMU München): Nomen est omen: graphische und epochale Bandbreite abdeckte, als ver- A Toponymy of Sinai Peninsula between 1967 and 1982. dienstvoller erster Schritt auf diesem Wege gewertet werJamila Nashef (Tel Aviv University): “Passing” Betden. ween Two Spaces – Language, Ethnicity and NationaKonferenzübersicht: lism: Muslim-Arab Female Teachers in Jewish Schools. Einführung: Martina Niedhammer (Collegium CaroAbschlussdiskussion: Impulse Statements von Pavla linum) und Dana v. Suffrin (LMU München) Šimková und Christoffer Leber (beide LMU München) 3 H-Net Reviews If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Marina Schütz. Review of , Naming the Nation: Praktiken der Namensgebung im Spannungsfeld von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. April, 2016. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=46813 Copyright © 2016 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact [email protected]. 4
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