1 Freitag, 29.04.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 29.04.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Norbert Meurs
Klanglich ungemein reizvolle Mischung
Heinrich Ignaz Franz von Biber
Imitatio
Ricercar Consort
Sophie Gent – Maude Gratton – Philippe Pierlot
MIRARE MIR 302
Mitreißender Enthusiasmus
Georg Philipp Telemann
Erik Bosgraaf – Ensemble Cordevento
Suiten und Konzerte für Blockflöte
BRILLIANT CLASSICS 95248
Toller Wurf, echte Bereicherung
Johannes Brahms
Complete Solo Piano Works
Geoffroy Couteau
la dolce volta LDV 174
Genuss des Vertrauten
Johannes Brahms
François Frédéric Guy
Complete Piano Sonatas
evidence 3149028 093025
Bravourös agierendes Orchester
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 7 E-Dur
Richard Wagner
„Das Liebesmahl der Apostel“
Staatskapelle Dresden
Christian Thielemann
Profil Edition Günter Hänssler PH 15013
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Dazu begrüßt Sie Norbert Meurs.
„Lieben Sie Brahms?“ – so lautete die Frage im gleichnamigen Roman von Françoise Sagan.
Brahms hatte lange keinen besonders guten Stand in Frankreich, und so hätten viele
Franzosen wohl eher mit „non“ geantwortet. Nun heißt es offenbar „Oui“ – denn gleich zwei
Pianisten haben sich an das gesamte Klavierwerk bzw. die Sonaten des Norddeutschen
gemacht: der junge Geoffroy Couteau und der nicht mehr ganz so junge François Frédéric
Guy. Ihre Auseinandersetzung mit Brahms wird im Mittelpunkt der heutigen Sendung stehen.
Dazu kommen außerdem Stücke von Biber, Schmelzer, Kerll u. a mit dem Ricercar Consort,
Flöten-Konzerte und Suiten von Telemann mit Erik Bosgraaf und dem Ensemble Cordevento
sowie Bruckners siebte Sinfonie und Wagners äußerst selten zu hörendes „Liebesmahl der
Apostel“ mit der Staatskapelle Dresden unter ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann.
Aber beginnen wir mit rebellischen Tönen: mit der Toccatina sopra Ribellione di Hungheria
von Alessandro Poglietti.
Alessandro Poglietti: Toccatina
Johann Kaspar Kerll: Der Steyrische Hirt
1:25
2:15
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Ein aberwitzig verrücktes Stück, genau genommen waren das gleich zwei: Die Cembalistin
des Ricercar Consorts Maude Gratton ließ die „Toccatina sopra Ribellione di Hungheria“ von
Alessandro Poglietti unmittelbar in den „Steyrischen Hirt“ von Johann Kaspar Kerll
übergehen – ein Capriccio, das weitestgehend auf den Intervallen basiert, die man auf einem
Hirtenhorn spielen konnte. Beides sind wunderbare Beispiele des sogenannten Stylus
phantasticus, den man im 17. Jahrhundert „als die freie Art der Instrumentalmusik“ rühmte.
Dem Komponisten wurden hier keine strikten Regeln auferlegt. Weder an Worte noch einen
Cantus firmus gebunden, konnte er – in Formen wie Fantasie, Ricercar oder Toccata – der
eigenen Vorstellungskraft folgen und an die Grenzen seiner Kunst gehen. Eine
Herausforderung auch für die Cembalistin, wie man hören konnte: Maude Gratton stürzt sich
mit einer wahren Wonne und improvisatorischem Elan in das scheinbare Chaos.
Die neue CD des Ricercar Consorts widmet sich mit Schmelzer, Biber und Kerll
herausragenden Virtuosen des 17. Jahrhunderts an den Höfen in Wien, Salzburg und
München. Vertreten ist zum einen kunstvolle Musik im imitatorischen Stil, wie sie zum
Beispiel von Kaiser Leopold I. geschätzt wurde. „Ihro Majestät verstehe den Contrapunct gar
wohl und aestimiere sehr die wohlfugierten Sonaten“, wusste sein Kapellmeister Johann
Heinrich Schmelzer zu berichten.
Schmelzer galt weithin als „der berühmte und fast vornehmste Violist in ganz Europa“, sein
Kollege Heinrich Ignaz Franz von Biber in Salzburg war kaum minder für seine Violinsonaten
bekannt, in denen er mit allen Mitteln der musikalischen Rhetorik und Affektdarstellung
arbeitete. Zudem besaß er wohl eine gehörige Portion Humor, die vor allem im Karneval gut
ankam und sich in einigen frühen Paradestücken der Programmmusik niederschlug. In den
Balletti Lamentabili zum Beispiel betrauert er das Ende des Karnevals, seine Battaglia ist ein
musikalisches Schlachtengemälde samt betrunkenen Soldaten und Kanonendonner. Und in
der Sonata Representativa ist ein ganzer Zoo versammelt, dessen Tiere jeweils einzeln
porträtiert werden. Nachtigall, CuCu, Fresch, also Frosch, Henn, Hann, Wachtel und Katz.
Früher wurde das Stück Biber zugeschrieben, der aber wohl nur mit einem Satz vertreten ist,
dem Musquetier Mars aus seiner Battagila. Eine damals nicht unübliche Anleihe, die sich
sein Kollege Johann Heinrich Schmelzer erlaubt hat. Wie der instruktive CD-Text ausführt,
stammt von ihm offenbar der Rest. Und es ist schon erstaunlich, wie wenig es braucht, um
diesen Zoo musikalisch ins Bild zu setzen: nicht mehr als eine Sologeige plus Continuo. Das
Ricercar Consort geht mit der gebotenen Delikatesse und einem feinen Sinn für Komik ans
Werk.
Johann Heinrich Schmelzer: Sonata Representativa
11:30
Die Sonata Representativa von Johann Heinrich Schmelzer, gespielt vom Ensemble
Ricercar. Ein Ausschnitt aus seiner neuen CD mit Werken außerdem von Biber und Kerll.
Was mir daran besonders gefällt, ist zum einen die klanglich ungemein reizvolle Mischung
der verschiedenen Stücke untereinander, zum andern, wie das Ensemble die empfindliche
Balance zwischen Drastik der Darstellung und musikalischem Fluss hält. Erschienen ist die
CD beim Label MIRARE.
Sie kennen das sicherlich: Seit etlichen Jahren klagt die Schallplattenindustrie über
vehemente Einbrüche des Markts, die die Pop-Musik freilich noch schwerer treffen als die
Klassik. Manche sehen sogar schon das Ende der CD. Doch während die Major-Labels ihre
Neu-Produktionen deutlich zurückfahren und nur noch aufs vermeintlich Publikumsträchtige
setzen, sind kleinere Firmen erstaunlicherweise so aktiv wie selten. Offenbar lohnt sich die
Produktion doch noch, wenn man auch Wagnisse eingeht und nicht allein auf große
Verkaufszahlen setzt.
Zu den höchst produktiven Labels gehört BRILLIANT CLASSICS, das seine CDs noch dazu
ausgesprochen günstig anbietet. (Man kann nur staunen über die Vielfalt und Masse der
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CDs, die im Lauf der Zeit in unserer Redaktion eintreffen, darunter etliche
Gesamtaufnahmen, etwa von Mozart, Bach, Schubert usw. usf.) Zum Teil handelt es sich um
vergriffene Lizenz-Aufnahmen anderer Firmen, mehr und mehr aber um Neuaufnahmen –
gerade im Bereich der älteren Musik, wo etliche Trouvaillen zu finden sind. Oft sind
dieselben Künstler und Ensembles zugange. Die Qualität freilich schwankt mitunter
beträchtlich, nicht nur in musikalischer, sondern auch in aufnahmetechnischer Hinsicht. Eine
CD, in der beides stimmt, möchte ich Ihnen nun vorstellen. Der niederländische Blockflötist
Erik Bosgraaf hat mit dem Ensemble Cordevento gerade die kompletten Suiten und
Blockflöten-Konzerte von Georg Philipp Telemann eingespielt. Hier eine Kostprobe, die
Gigue aus der Suite Es-Dur:
Georg Philipp Telemann: Suite Es-Dur, Gigue
1:55
Die Gigue aus der Suite für Flute pastorelle, Streicher und Basso continuo Es-Dur von Georg
Philipp Telemann. Was der allerdings unter der Hirtenflöte verstand, ist nicht ganz geklärt,
manche Forscher plädieren für eine Panflöte. – Wie auch immer, wir hörten Erik Bosgraaf,
einen der führenden Block-Flötisten der Niederlande und stilistisch ungewöhnlich breit
aufgestellt: Sein Repertoire reicht von Vivaldi bis zu Boulez oder auch dem Jazz. In Elan und
Spielfreude trifft er sich mit seinem historisch informierten Ensemble Cordevento, das sich
vor allem auf die Musik um 1700 spezialisiert hat.
Telemann hatte sich das Blockflötenspiel übrigens in früher Jugend selbst beigebracht, was
seine tiefe Zuneigung für das Instrument erklärt wie auch seinen originellen Umgang mit ihm.
In der a-Moll-Suite für Altblockflöte, Streicher und Basso continuo kombiniert er italienischen
und französischen Stil. Die Ouvertüre hat alle Merkmale des französischen Vorbilds: der
Beginn gravitätisch, voller Pathos, mit höfischen Punktierungen und Verzierungen; der
zweite Teil fugiert und schnell, mit konzertierenden Solopassagen der Flöte nach Art des
italienischen Konzerts. Angeblich hatte Telemann etwas gegen pure Virtuosität! Erik
Bosgraaf und das Ensemble Cordevento können sich aber über einen Mangel an
„Schwierigkeiten und krummen Sprüngen“, wie Telemann das einmal formulierte, nicht
beschweren. Warum auch? Sie stellen sich den Herausforderungen mit Spielfreude und
mitreißendem Enthusiasmus.
Georg Philipp Telemann: Suite a-Moll, Ouvertüre
8:40
Die Ouvertüre zu Telemanns Suite für Altblockflöte, Streicher und Basso continuo a-Moll, die
Erik Bosgraaf und das Ensemble Cordevento in aller Opulenz und Klangpracht entfalten. Ich
denke, sie macht Lust auf mehr von dieser CD mit sämtlichen Blockflöten-Konzerten und
Suiten des Komponisten. Zu haben ist sie bei BRILLIANT CLASSICS.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs, heute mit Norbert Meurs.
Ausgerechnet aus Frankreich kommen gerade zwei bemerkenswerte Neuaufnahmen von
Brahmsschen Klavierwerken. Wie gesagt, ist das alles andere als selbstverständlich, gibt es
doch bei unseren Nachbarn eine lange Tradition ausgeprägter Abneigung gegen den
Norddeutschen – von den Impressionisten bis hin zu Boulez. Debussy zum Beispiel erkannte
Brahms generös das Monopol der Langeweile zu, Boulez fand ihn einfach nur akademisch.
So verwundert es eigentlich nicht, dass französische Interpreten um Brahms ziemlich lange
eher einen großen Bogen machten.
Und nun das: Gleich zwei Pianisten widmen sich Herzstücken seines Oeuvres. François
Frédéric Guy den drei Klaviersonaten, Geoffroy Couteau sogar dem gesamten SoloKlavierwerk – von den frühen Sonaten, über die Variationszyklen bis zu den späten
Klavierstücken – eine gewaltige Herausforderung, umfasst sie doch tatsächlich die Musik
eines Lebens. Der Mittdreißiger Couteau hat u. a. bei Michel Beroff und Eric le Sage studiert
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und gewann 2005 den Brahms-Wettbewerb. Mittlerweile hat er einige CDs eingespielt,
Chopin, Scriabin, den Zeitgenossen Rodolphe Bruneau-Boulmier, dessen gesamtes
Klavierwerk er sich mit François Frédéric Guy geteilt hat. Die Beiden dürften sich also gut
kennen.
Nach einer hochgelobten Aufnahme der späten Klavierstücke kam Couteau von Brahms
nicht mehr los. Im Booklet bemerkt er: „Die Werke erhellen einander. Die Fragen, die
manche von ihnen aufwerfen, findet man in anderen Werken beantwortet.“
Konsequenterweise misst er daher den ganzen Brahmsschen Kosmos aus. Beginnen wir
scheinbar am Rande, aber eigentlich dann doch wieder mitten drin: mit einem der
ungarischen Tänze:
Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 2
2:45
Geoffroy Couteau mit Brahms‘ zweitem Ungarischen Tanz. Wunderbar frei mit
ausgeprägtem, aber völlig natürlich wirkenden Rubato, die Vivace-Zwischenteile fahren
hinein wie die spontanen Einfälle eines Primas. Und das ist charakteristisch für Couteaus
Brahms-Spiel insgesamt: die Freiheit und Spontaneität, wie auch das ausgeprägte Gespür
für die unterschiedlichen Tonfälle. Man meint ja oft den Brahmsschen Klaviersatz nur allzu
gut zu kennen: mit seiner Vorliebe für Terzen und Sexten, für den vollen, akkordischen Satz,
der den Pianisten einiges abverlangt, bisweilen aber auch etwas Kraftmeierisches hat und
auf die Dauer ein wenig einfarbig wirken kann. Couteau hat sich offenbar vorgenommen,
diese vertraute Fassade aufzubrechen. Wie ihm das gelingt, wollen wir einmal im Vergleich
mit seinem Kollegen François-Frédéric Guy hören – und zwar am Beispiel des ersten Satzes
aus der C-Dur-Sonate op. 1. Zunächst François Frédéric Guy.
Johannes Brahms: Sonate Nr. 1 C-Dur op. 1, 1. Satz (Ausschnitt)
2:55
Und nun das Gleiche gespielt von Geoffroy Couteau.
Johannes Brahms: Sonate Nr. 1 C-Dur op. 1, 1. Satz (Ausschnitt)
2:50
Die Themen-Exposition aus dem ersten Satz der C-Dur-Sonate von Johannes Brahms.
Zuerst in der Neuaufnahme von François-Frédéric Guy, dann in der von Geoffroy Couteau.
Das erste, was einem auffällt, ist vermutlich der deutlich unterschiedliche Klang. Guy bietet
eine in jeder Hinsicht brillante Interpretation, mit offenem, stets klingendem Ton in
unterschiedlichsten Abstufungen. Couteau dagegen beginnt eher gedeckt, fast neutral. Der
Anfang, der an den von Beethovens „Hammerklaviersonate“ erinnert, hat bei ihm wenig
Strahlendes. Das ändert sich erst mit dem lyrischen Seitensatz, den er förmlich aufblühen
lässt. Deutlich freier im Umgang mit dem Tempo, leuchtet Couteau jeden Winkel der
Komposition aus, entdeckt dabei immer neue, unerwartete Details. Während sich Guy auf
die strukturellen Entwicklungen – zumal der Abläufe im Großen – konzentriert, betont
Couteau den durchaus rhetorischen Charakter, den dieser Satz hat, und der sich nicht
zuletzt in den zahlreichen Anweisungen zu Tempo und Affektgehalt niederschlägt. Er fragt
unablässig nach dem Warum und bringt die Musik zum Sprechen, er erzählt eine
„Geschichte“, die einen immer weiter hineinzieht. Bei ihm lernt man einen Feuergeist mit
einem Faible für Phantastik kennen und versteht sofort, warum Brahms ein begeisterter
Leser der romantischen Dichter war. Nicht umsonst unterzeichnete er die Sonate mit
Johannes Kreisler junior – eine Anspielung auf die Romangestalt von E. T. A. Hoffmann.
Bei Guy dagegen begegnet uns – um es zugespitzt zu sagen – ein ehrwürdiger alter
Bekannter, der einem nicht viel Neues erzählt, obwohl das pianistisch gesehen auf höchstem
Niveau geschieht. In einem Satz wie dem Andante aus der f-Moll-Sonate hat er freilich die
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Nase eindeutig vorn. Denn obwohl Couteau hier von der schönsten Liebesmusik neben dem
„Tristan“ spricht, ist davon eindeutig mehr bei Guy zu hören:
Johannes Brahms: Sonate Nr. 3 f-Moll op. 5, 2. Satz (Ausschnitt)
5:55
Eine der innigsten Liebesmusiken, der langsame Satz aus der f-Moll-Klaviersonate von
Johannes Brahms. Wunderbar gespielt von François –Frédéric Guy. Der Ausschnitt zeigt
noch einmal die hohen Qualitäten seiner Brahms-Interpretation, die sich nahtlos in die
klassische Aufführungstradition des Komponisten einreiht.
Lädt Guy sozusagen zum Genuss des Vertrauten ein, regt sein Kollege Couteau an. Er geht
mit seinen Hörern auf Entdeckungsfahrt, konzentriert sich auf die Klangrede dieser Musik
und vor allem ihre Farben. Das ist vielleicht am Verblüffendsten: Er spürt in Brahms, dem
man oft eher ein Grau in Grau nachgesagt hat, einen Klangkünstler erster Ordnung auf.
Einen Virtuosen unterschiedlichster Anschlagsarten mit Sinn für raffinierte Facetten und
Schattierungen. Hört man die sechs CDs mit sämtlichen Solo-Klavierwerken der Reihe nach
durch, ist man einfach verblüfft von dem Reichtum und der unerhörten Vielfältigkeit dieses
Kosmos. Dass nicht alles gleich überzeugend gelungen ist, ist dabei wohl nicht zu
vermeiden, fällt aber kaum ins Gewicht.
Hier noch ein Ausschnitt, der die Klangkünstler Brahms-Couteau besonders eindrücklich
vorführt: der Schluss der Händel-Variationen op. 24.
Johannes Brahms:
6:25
Variationen und Fuge über ein Thema von Georg Friedrich Händel B-Dur op. 24,
Variation XXV
Der Schluss der 25 Variationen plus Fuge über ein Thema von Händel B-Dur von Johannes
Brahms. Es spielte Geoffroy Couteau. Seine Gesamtaufnahme ist ein toller Wurf, eine echte
Bereicherung der Brahms-Diskographie. Erschienen ist sie bei la dolce volta. Die
Neuaufnahme der Sonaten mit François-Frédéric Guy kam bei evidence heraus.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Kommen wir damit zur Dresdner Staatskapelle. Seit
einigen Jahren hat es sich die Stuttgarter Firma Hänssler zur Aufgabe gemacht hat, die
Rundfunkschätze des Orchesters zugänglich zu machen. Die neueste Folge der Edition mit
der beachtlichen Nummer 38 gilt zwei Aufführungsmitschnitten aus der ersten Spielzeit der
Ära Thielemann. Und sie zeigen, dass der einen sehr ausgeprägten Sinn für Symbolik
besitzt. Als Thielemann 2009 kurzfristig mit Bruckners Achter eingesprungen war, soll es
zwischen ihm und dem Orchester so gefunkt haben, dass er umgehend zum Chefdirigenten
gewählt wurde. So eröffnet er seither jede Spielzeit mit einer Bruckner-Sinfonie. 2012, in
seiner ersten Saison, war das die siebte. Ähnlich symbolträchtig auch der zweite Mitschnitt:
„Das Liebesmahl der Apostel“ von Thielemanns Vorgänger Richard Wagner am Ort der
Uraufführung, der Frauenkirche. Wagner schrieb diese biblische Szene, die das
Pfingstwunder zum Inhalt hat, 1843 für das allgemeine Männergesangfest in Dresden. Dazu
reisten Chöre aus dem ganzen Königreich an, so dass in der Frauenkirche sage und
schreibe 1200 Männerstimmen zusammen fanden, dazu ein Orchester von 100 Instrumenten. Für damalige Verhältnisse beispiellos! Das Ganze war auch unglaublich wirkungsvoll in
Szene gesetzt: ein dreifach geteilter Chor auf einem großen Podest im Kirchenschiff, ein
weiterer Chor hoch oben in der begehbaren Kuppel, das Orchester schließlich – unsichtbar
für das Publikum – hinter dem Altar. Dies war insofern besonders effektvoll, als die ersten
20 Minuten des Werks allein dem Chor vorbehalten sind und das Orchester erst im
dramaturgisch entscheidenden Moment, der Ausgießung des Heiligen Geistes, einsetzt.
Das Werk ist heute so gut wie vergessen, und wenn man es hört, ahnt man auch warum. Um
es so zu sagen: Der a cappella-Satz war nun doch nicht so sehr Wagners Sache, außerdem
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gemahnen die Chöre schon verdächtig an die des „Parsifal“ oder „Tannhäuser“, ohne
allerdings auch nur im entferntesten deren Wirkung zu erzielen – vielleicht fehlte Wagner hier
einfach der Gegenpol der sündigen Sexualität, um den Chören die nötige Dringlichkeit und
Zerknirschtheit zu geben.
Das Konzert zum 200. Geburtstag des Komponisten konnte zwar mit dem Aufwand der
Uraufführung nicht ganz mithalten, aber immerhin wurden nicht weniger als sieben Chöre
aus Dresden, Brünn, Prag und Leipzig aufgeboten, samt 12 Bässen für die Apostel. Wobei
man, historisch durchaus informiert, Wagners Aufstellung in der Frauenkirche übernahm.
Und siehe da: Auch diesmal war das Publikum schier überwältigt. Hören wir die
dramaturgisch entscheidende Passage – die Ausgießung des Heiligen Geistes, beginnend
mit den „Stimmen aus der Höhe“.
Richard Wagner: „Das Liebesmahl der Apostel“
5:45
„Die Masse will Massen“, hat Schumann einmal gesagt. Im Fall von Wagners „Liebesmahl
der Apostel“ ging die Rechnung voll auf – sowohl bei der Uraufführung als auch im
Jubiläumskonzert zu Wagners 200. Geburtstag in der Dresdner Frauenkirche. Christian
Thielemann leitete da diverse Chöre und die Staatskapelle Dresden.
Ungleich größeres künstlerisches Gewicht hat der andere Live-Mitschnitt auf dieser DoppelCD: Bruckners siebte Sinfonie. Auch dieses Stück könnte ja durchaus dazu verleiten, mit
dem riesigen Orchesterapparat zu protzen. Nicht so Thielemann. Er dröselt penibel das
Stimmgeflecht auf und animiert sein bravourös agierendes Orchester über weite Strecken zu
reinster Kammermusik. Sorgsam modelliert er jede Melodie, lässt die einzelnen Stimmen
hervortreten, kostet ihre unterschiedlichen Farben aus. Gerade die empfindlichen Übergänge
gewinnen dadurch eine im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Magie. Dazu kommt, dass
Thielemann das Stück weder dramatisiert noch das Blockhafte hervorkehrt, wozu sich
manche Dirigenten durch die bei Bruckner so typischen Generalpausen veranlasst fühlen.
Stattdessen lässt er die Musik strömen, so dass sich im Verlauf ein unablässiger Sog
entwickelt. Das setzt nicht nur einen langen Atem voraus, sondern vor allem die Fähigkeit,
weiträumig zu disponieren. Dabei vertraut Thielemann ganz auf die inneren Kräfte der Musik,
so dass selbst die massiven Höhepunkte nichts aufgesetzt Äußerliches haben. Bei dieser
Aufführung am 2. September 2012 wäre man nur allzu gern dabei gewesen. Hier der
Schluss des ersten Satzes.
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 E-Dur, 1. Satz (Ausschnitt)
8:40
Spannend, ja exemplarisch! Das war der erste Satz aus der siebten Sinfonie E-Dur von
Anton Bruckner, mit der Christian Thielemann 2012 seinen Einstand als Chefdirigent der
Sächsischen Staatskapelle Dresden gab. Der Live-Mitschnitt ist gerade bei Hänssler Profil
erschienen.
Und das war für heute auch der SWR2 Treffpunkt Klassik mit Neuen CDs. Die genauen
Angaben zu den vorgestellten Aufnahmen finden Sie wie immer auf unserer Internetseite
www.swr2.de. Dort können Sie die Sendung nachlesen und auch noch eine Woche lang
nachhören. Am Mikrophon verabschiedet sich damit Norbert Meurs. Hier geht es jetzt weiter
mit dem Kulturservice und den neuesten Nachrichten.