Leseprobe - S.A.Marciniak

KAPITEL 4
Die »peinliche Befragung« ist nichts anderes als ein harmlos klingendes Synonym für die Folter, doch die Schmerzen, die ein Mensch dabei
ertragen musste, waren dieselben. Im Laufe der Jahrhunderte waren
die Methoden immer ausgefeilter und bestialischer geworden, und bei
der Lektüre überlieferter Folterberichte oder beim Anblick eines aufs
Übelste zugerichteten Körpers verlor man den Glauben daran, dass der
Mensch ein Abbild Gottes sein sollte. Ja, man fing sogar an, die Existenz eines Gottes in dieser Welt zu bezweifeln …
Die Déesse näherte sich mit hoher Geschwindigkeit.
Mit verhalten quietschenden Reifen hielt sie vor einem herrschaftlich wirkenden älteren Gebäude, dem man ansah, dass dessen Bauherren zu den »besser Betuchten« der Gesellschaft gehört haben
mussten. Es war das Elternhaus von Monsieur Galley, in dem nun
sein Bruder mit seiner Familie wohnte. Fast gleichzeitig schwangen
die Türen des Wagens auf. Christian und Charles sprangen heraus
und hetzten die Stufen zu dem imposanten Granitportal hinauf.
Christian betätigte die Klingelanlage an der schweren Eichentür.
Einige Augenblicke danach wurde sie von einer Frau im mittleren
Alter mit einem fragenden Blick geöffnet, da Christian und Charles
mit Sicherheit einen aufgeregten und etwas aufgelösten Eindruck auf
sie machten. Christian entschuldigte sich bei ihr, instruierte Charles
rasch mit wenigen Worten und stieg sogleich wieder in den Wagen,
um sich auf den Weg zu dem kleinen Haus von Fernandes Galley
am anderen Ende des Ortes zu machen. Er passierte das Ortsschild,
und wenige Sekunden danach konnte er das Dach des Hauses ausmachen. Die Dämmerung war bereits eingetreten und die Fensterläden waren geschlossen, doch an einigen Stellen drang Licht durch
die unregelmäßigen Schlitze nach außen. Gerade als er den Blinker
setzen wollte, registrierte Christian zu seiner Rechten einen grel79
len Blitz in allen Farbschattierungen, ungefähr 150 Meter entfernt
in der dort beginnenden Dünenlandschaft. Für den Bruchteil einer
Sekunde hoben sich die Umrisse der Dünen bizarr von dem diffusen Licht der Abenddämmerung ab. Es gab eine Detonation, und
kurz vor seinem Wagen spritzten Geröll, Erdklumpen und Asphaltstücke hoch. Die Windschutzscheibe splitterte und er konnte nichts
mehr sehen. Er riss das Lenkrad nach links und trat auf die Bremse,
das Heck brach aus und der Wagen schlitterte in den Straßengraben, ungefähr 100 Meter nach der Abzweigung des Feldweges, der
zu Monsieur Galleys Haus führte. Dort kam er zum Stehen, und
Christian öffnete die Fahrertür und ließ sich nach draußen fallen.
Währenddessen griff er nach seiner Dienstwaffe und ließ sich über
seine linke Schulter abrollen. Der Zweig eines Ginstergewächses zerkratzte ihm das Gesicht und das feuchte Gras durchweichte seine
Hosenbeine, als er in Deckung bleibend auf dem Boden entlangkroch. Er verweilte erst einmal regungslos ein paar Meter von seinem
Wagen liegend in der Stille der Dämmerung, um eventuelle Geräusche besser aufnehmen zu können. Das leise Zirpen einer Zikade,
die den nahenden Sommer wohl schon erahnte, erklang in der Stille,
ansonsten war nichts zu hören. Christian begann zu überlegen, wie
er nun weiter vorgehen sollte, und verfluchte seine Gedankenlosigkeit bezüglich des Schattens am heutigen Nachmittag. Hatten seine
Sinne also richtig funktioniert – und doch war er aufgrund des fortgeschrittenen Tages nicht mehr sensibel genug gewesen, die heraufziehende Gefahr richtig zu deuten und einzuordnen. Er verwünschte
seine Nachlässigkeit, doch es half nichts, er musste sich nun irgendwie aus dieser misslichen Lage befreien, und vor allem musste er
nach Monsieur Galley schauen.
Ihm schwante Fürchterliches.
Es fing allmählich an zu regnen, und mit dem lauter werdenden
platschenden Geräusch der dicken Tropfen trat das Zirpen der Zikade immer mehr in den Hintergrund, bis es völlig erstarb. Langsam
und in Gedanken vor sich hin fluchend, robbte Christian am Rand
des Feldweges entlang in die Richtung des Hauses. Vorsichtig griff
er nach seinem Handy, um die Bereitschaft des Polizeipräsidiums
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zu informieren. Wegen des inzwischen heftiger werdenden Regens
und der zunehmenden Dunkelheit konnte er sich nur schwer auf der
Tastatur zurechtfinden. Schließlich gelang es ihm, die Nummer richtig einzugeben, und das Freizeichen signalisierte ihm, dass die Verbindung zustande gekommen war. Nach schier endlosen Sekunden
nahm jemand den Hörer ab, und Christian schilderte das Vorgefallene umgehend in knappen und präzisen Worten. Nachdem er geendet
hatte, fragte er nach, ob der Beamte alles verstanden hätte. Er konnte
die Atemgeräusche im Lautsprecher hören. Der Beamte wiederholte
ebenso knapp die soeben vernommenen Anordnungen, dann unterbrach Christian die Verbindung.
Er überlegte sich, ob er Charles anrufen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, da es unter diesen Umständen wichtiger
war, wenn dieser dort blieb und mit Monsieur Galleys Bruder Samuel das Haus bewachte und somit die offensichtlich wichtigen Unterlagen des Großvaters. Langsam richtete er sich auf, um einen Blick
in die Richtung der Straße zu riskieren. Alles war menschenleer, und
er beschloss, in geduckter Körperhaltung auf das Haus zuzulaufen.
Als er sichtlich erschöpft an der Haustür angekommen war, bemerkte er, dass diese aufgebrochen worden war. Holzsplitter und Glas lagen auf dem Fußboden im Eingangsbereich verstreut. Umgeworfene Möbelstücke versperrten den Weg, und die Telefonleitung kurz
über der Sockelleiste zu seiner Linken war aus der Wand herausgerissen worden. Die ganze Szenerie war in das schwache Licht von
den umgefallenen Stehlampen getaucht, deren Lichtkegel nun waagrecht über dem Boden zu schweben schienen. Vor wenigen Stunden
standen sie noch dekorativ an Ort und Stelle und verbreiteten eine
angenehm heimelige Atmosphäre. Kein Vergleich zu der nun verstörenden Situation, wie er sie hier nun vorfand.
Christian stand auf, die Pistole im Anschlag, und bewegte sich
vorsichtig durch den Raum, vorbei am Kamin und auf den Küchenbereich zu, als er in einiger Entfernung erneut eine Detonation wahrnahm. Kurz danach krachte es fürchterlich im Gebälk des Hauses, er
wurde von einem herabfallenden Holzstück getroffen und stürzte zu
Boden. Er wollte wieder aufstehen, doch seine Beine versagten ihm
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den Dienst, ihm wurde schwarz vor den Augen. Während er zusammensackte, registrierte er noch den schmerzhaften Aufprall seiner
Kniescheiben auf dem harten Steinboden und dass ihm die Pistole
entglitt. Dann verlor er das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, war die gesamte Umgebung von
Scheinwerfern hell erleuchtet. Er bemerkte umherlaufende Polizeibeamte, er sah das Blaulicht eines Polizeiautos, eines Krankentransporters und eines Feuerwehrwagens. Er selbst lehnte an einem Stein
am Straßenrand in der Höhe der Abzweigung, an der sein Wagen
vorher fast unkontrolliert vorbeigeschlittert war. Die Abenddämmerung war unterdessen so weit fortgeschritten, dass man von der Straße her sehen konnte, wie der glutrote Sonnenball kurz davor war, in
die Wasserlinie des Atlantiks zu tauchen.
Ein Rettungssanitäter kümmerte sich um die Abschürfungen und
eine große Platzwunde an seiner rechten Schädelseite, und Christian
nahm den süßlichen Duft seines Blutes wahr, das ihm in den Hemdkragen gelaufen war, und versuchte, ein paar verständliche Laute
hervorzubringen.
»Bitte jetzt nicht sprechen, Monsieur le Commissaire«, sagte der
Rettungssanitäter neben ihm, »wir müssen erst Ihre Wunde am Kopf
reinigen und nähen. Sprechen können Sie danach immer noch genug, denn es stehen anscheinend jede Menge Fragen vom Polizeichef an.«
Christian schaute sich um und bemerkte, dass überall im Gelände und um das Haus herum Mitarbeiter der Polizei unterwegs waren. Einige von ihnen hatten weiße Plastikanzüge und Handschuhe
an. Dann fiel sein Blick auf seine geschändete Déesse, und er nahm
sich vor, sie in Zukunft wirklich nicht mehr für dienstliche Angelegenheiten zu verwenden, wenn er das Gefühl hatte, dass Gefahr im
Verzug war. Auch machte er sich Vorwürfe, dass er nicht bei Monsieur Galley geblieben war, nachdem er diesen Schatten aus den Augenwinkeln zu sehen geglaubt hatte. Er hätte ja Charles anrufen und
ihm sagen können, dass er hier bleiben würde, und dieser wäre dann
eben mit seinem Fahrrad zu Monsieur Galleys Elternhaus gefahren.
Doch wie so oft im Leben war man auch hier erst hinterher schlauer,
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und die endlosen Vorwürfe, die man sich dann machte, verschlimmerten die Situation nur noch. Nun hieß es, das Beste daraus zu machen und zu hoffen, dass man beim nächsten Mal für solche Überlegungen etwas sensibler und empfänglicher sein würde.
Während Christian so seinen Gedanken nachhing, wurden seine Verletzungen gereinigt, genäht und zum Teil, dort wo es ausreichte, mit Steristrips versorgt. Als der Rettungssanitäter die Instandsetzung seines malträtierten Gesichtes beendet hatte, suchte Christian
sein Handy in den verschiedenen Taschen seines Mantels, doch die
Suche blieb erfolglos. Plötzlich schob sich eine kräftige Männerhand
in sein Gesichtsfeld, auf deren flach ausgestreckter Handfläche, einem Eclair gleich, sein Handy lag. Er erhob seinen Kopf und verzog
dabei das Gesicht, da die Nachwirkungen des Schlages auf denselben
nun deutlich zu spüren waren.
»Richten Sie sich bitte nur langsam auf, mein lieber Monsieur
le Commissaire«, hörte er eine Stimme sagen, die er mit etwas Verzögerung als die des Polizeichefs identifizieren konnte. Dieser kam
aus der nördlichen Bretagne, aus Saint-Malo, und war, nachdem sein
Vorgänger in den Ruhestand gegangen war, erst vor etwa zwei Jahren
hierher versetzt worden, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er die Zusammenarbeit mit Charles aufgenommen hatte.
Christian hatte zu seinem Vorgesetzten, nüchtern betrachtet, ein
eher zurückhaltendes und etwas distanziertes Verhältnis. Ganz anders, als er es dem Vorgänger seines jetzigen Chefs gegenüber gepflegt hatte. War jener eher ein Charakter, der ohne viele Umschweife seine Meinung sagte und einen Ton pflegte, der frei und
geradeheraus war, so nahm es der Neue mit der sogenannten politischen Korrektheit viel zu genau. Er pflegte eine eher unterwürfige
Art der Diplomatie, was Christian als störend und nervend empfand.
Darüber hinaus war auch sein voller Name etwas eigenartig, viel zu
lang und zu kompliziert, als dass er einem leicht über die Zunge gehen würde: Maurice-Greggory Darrousien. Wer hatte schon so einen Namen? Die Leute im Präsidium nannten ihn daher lediglich
den »Chef« oder »Polizeichef«, wenn sie sich über ihn oder sein Verhalten unterhielten. Allzu oft war er unsicher und Christian gegen83
über im Rahmen der Ermittlungen nicht immer ganz loyal. Es kam
gelegentlich vor, dass er sich von verschiedenen Lokalpolitikern der
Gegend beeinflussen ließ und Christian dann am liebsten den jeweiligen Fall entziehen würde. Dies geschah meistens dann, wenn die
Ermittlungen in eine Richtung liefen, die so manchem dieser oftmals korrupten Gestalten nicht ganz gefiel, oder wenn einer von ihnen sogar selbst auf unbequeme Weise in die Ermittlungen mit einbezogen wurde. An erster Stelle stand hier Jean-Claude Graff, der
Bürgermeister von Saint-Guénolé. Er war in diesem Zusammenhang
die unangenehmste Erscheinung. Unverschämt, raffgierig und korrupt bis in die Haarwurzeln. Christian wurde schon des Öfteren von
ihm persönlich vorgeladen und abgemahnt und wünschte sich daher einen etwas selbstsichereren und mit mehr Courage ausgestatteten Vorgesetzten. Auf wundersamer Art und Weise wurde JeanClaude jedoch immer wieder zum Bürgermeister von Saint-Guénolé
gewählt, und Christian war sich sicher, dass an den Tagen der Wahl
und auch im Vorfeld davon an den entscheidenden Stellen die Gelder flossen, um das Ergebnis in eine für Jean-Claude vorteilhafte
Richtung zu lenken. Auch in diesem Zusammenhang blieb sein Vorgesetzter oftmals meinungslos, einsilbig und verschlossen, und nicht
selten hatte Christian das Gefühl, dass dieser ebenfalls auf der Gehaltsliste von diesem oder so manch anderer »Politgröße« der hiesigen Gegend stand.
Nun beugte sich jedoch dieser undurchsichtige Mensch über
Christian – wie ein Vater, der nach seinem Sohn sah, der bei den
ersten Gehversuchen hingefallen war, und diesem fürsorglich wieder auf die Beine helfen wollte. Als Christian stand, drehte sich alles um ihn herum, sodass er sich erst einmal an seinem Vorgesetzten festhalten musste. In seinem Schädel hämmerte seiner Meinung
nach eine riesige Maschine. Unsicher und noch völlig benommen
sah er sich etwas ungläubig um und starrte dann mit verschwommenem Blick in die Runde. Und was er da sah, konnte er im ersten Augenblick gar nicht so richtig fassen.
In Höhe der Stelle, an der sein Wagen ins Schleudern geraten
war, war der Asphalt der Straße buchstäblich weggerissen und zum
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Teil auch zu unförmigen Klumpen verschmolzen. Große Erdbrocken
mit schwarz versengten Grasnarben waren auf dem noch erhaltenen
Straßenbelag verteilt. Es lag ein schwefelhaltiger Geruch in der Luft,
und Rauchschwaden waberten durch die beginnende Nacht. Als er
sich zu Galleys Haus umdrehte, folgte eine weitere Überraschung.
Das halbe Dach war abgedeckt, und das verkohlte Gebälk des Dachstuhles wurde von den Scheinwerfern, die inzwischen ringsherum
aufgestellt worden waren, grell erleuchtet. Das lieblich anzusehende
kleine Anwesen von Monsieur Galley hatte sich in ein grotesk wirkendes Kriegsszenario verwandelt.
»Mein Gott«, entfuhr es Christian, als er den Blick schweifen ließ,
»was ist denn hier geschehen?«
»Tja, da staunen Sie, mein lieber Dabert«, entgegnete der Polizeichef mit einem süffisanten Lächeln. »Es scheint so, als würden Sie
mit Ihrer Vorgehensweise einige Leute sehr nervös machen.«
»Aber wir stehen doch erst am Anfang. Wir haben im Moment
nur vage Anhaltspunkte, nichts Konkretes oder gar Handfestes«, entgegnete Christian und sah sich noch einmal ungläubig um.
»Trotzdem sind Sie, so nehme ich an, auf der richtigen Spur.
Denn wenn Sie nicht so dicht dran wären, würden diese Leute nicht
zu solch drastischen Mitteln greifen.«
»Was meinen Sie mit ›diesen Leuten‹?«, fragte Christian. »Meinen Sie, dass es mehrere sind?«
»Um es genau zu sagen, es sind mindestens zwei. Kommen Sie
einmal mit«, sagte der Polizeichef, drehte sich um und schritt zügig auf einen Tisch zu, der etwas abseits von dem Getümmel aufgestellt war.
Während Christian dem Polizeichef folgte, sah er flüchtig auf die
Uhr und stellte mit Entsetzen fest, dass es schon kurz vor 21 Uhr war.
Das bedeutete, dass seit dem Anschlag fast eineinhalb Stunden vergangen waren, in denen er wohl die meiste Zeit bewusstlos gewesen
war. Das erklärte auch, warum die Aufräumarbeiten und die Spurensuche im und rund um das Haus von Monsieur Galley schon in vollem Gange waren und dass es anscheinend schon die ersten Erkenntnisse gab, die er sogleich zu Ohren bekommen sollte.
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»Darf ich vorstellen, das ist Monsieur Boudeuse«, sagte der Polizeichef und wies mit diesen Worten auf einen Herrn im fortgeschrittenen Alter, der an einem erkalteten Zigarillo herumlutschte, jedoch
äußerst agil, sportlich und sehnig wirkte. Er entsprach mit seiner
durchtrainierten Gestalt, dem sonnengebräunten Gesicht und der
tiefen Stimme so sehr der Verkörperung eines Elitesoldaten – zumal
er auch noch in der vollen Montur eines ausgedienten Kampfanzuges der Legion steckte –, dass Christian am liebsten ein Foto von ihm
gemacht hätte. Dieser Mensch hatte wohl zu viele der einschlägigen
Computerspiele hinter sich gebracht oder aber einen Schaden davongetragen, weil er die letzten zehn Jahre mit dem Studium schlechter Fernsehserien verbracht hatte, dachte Christian bei sich.
Der Polizeichef bemerkte den etwas amüsierten Blick von Christian und fuhr fort. »Monsieur Boudeuse war sein ganzes Leben bei
der Fremdenlegion, er ist Waffenexperte und kennt alles, womit die
erlauchte Gattung der Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und das Lebenslicht
ausgeblasen hat. Seitdem er im Ruhestand ist, hilft er uns gelegentlich in speziellen Dingen, wenn wir im Rahmen der Ermittlungen
mit etwas außergewöhnlichen Umständen konfrontiert werden.«
Auf dem Tisch lagen verschiedene kleine Metallstücke. Einige
waren länglich und spitz zulaufend, andere wiederum waren sternförmig und hatten die Zacken eines mittelalterlichen Morgensterns.
»Monsieur Boudeuse, bitte erklären Sie dem Commissaire, womit wir es hier sehr wahrscheinlich zu tun haben.« Die Stimme des
Polizeichefs klang plötzlich verhalten und geheimnisvoll, und Christian war gespannt, was nun folgen würde.
»Diese Metallstücke, meine Herren«, begann Monsieur Boudeuse, »sind meiner Meinung nach Schrapnellstücke eines Panzerraketengeschosses. Und nach den ersten Untersuchungen der Bruchkanten sowie des metallurgischen Aufbaus mit unserem bescheidenen
Mikroskop hier vor Ort bin ich mir sicher, dass wir es mit einer sogenannten Raketenpanzerbüchse 54 zu tun haben.«
Er nahm eines der Bruchstücke hoch, sodass die Umstehenden es
im grellen Scheinwerferlicht betrachten konnten.
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»Wir fanden diese Schrapnellstücke im Holz des Dachstuhles.
Das gesamte Gebälk ist perforiert mit solchen Bruchstücken. Es ist
also kein Wunder, dass der Dachstuhl so zugerichtet wurde, wenn
man bedenkt, dass diese Waffe dafür gebaut wurde, um auf einer
Reichweite von über 100 Meter eine Durchschlagsleistung von 150
bis 220 Millimeter zu erreichen, und das bei reinem, vergüteten
Stahl, wohlgemerkt.«
»Moment einmal, wollen Sie damit sagen, dass mit einer Panzerfaust auf mich geschossen wurde?«, fragte Christian.
»Nein, mein lieber Commissaire, nicht mit einer Panzerfaust,
sondern mit dem großen Bruder davon. Eine Panzerfaust können
Sie nur einmal abschießen, während solch eine Raketenpanzerbüchse, auch Panzerschreck genannt, immer wieder von Neuem von hinten mit Munition bestückt werden kann wie ein normales Geschütz,
verstehen Sie? Wir nehmen an, dass mindestens zwei Schüsse abgefeuert wurden. Der erste galt Ihnen, und der nächste oder die beiden nächsten wurden gezielt in den Dachstuhl von Monsieur Galleys
Haus gelenkt, aber daran arbeiten wir noch.«
»Gut«, entgegnete Christian, »›diese Leute‹, wie sie sie nennen,
schrecken also vor nichts zurück, weil wir anscheinend mit unseren
Erkenntnissen weiter sind, als uns selbst das klar ist. Aber, Monsieur
Boudeuse, sie tun so geheimnisvoll, als wäre diese Raketenwaffe etwas Besonderes. Ich denke, Leute mit genügend krimineller Energie
können sich diese Dinge durchaus beschaffen, wenn sie die dafür nötigen Quellen kennen.«
»Diese hier nicht«, sagte Monsieur Boudeuse und blickte mit der
Entschiedenheit eines alten Fremdenlegionärs in die Runde, was
Christian einen kalten Schauer bescherte, der ihm langsam vom Nacken bis in den Lendenwirbelbereich hinunterlief.
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Christian etwas gereizt und
rollte mit den Augen, denn er hatte nach diesem Tag keinerlei Lust
auf derartige Katz-und-Maus-Spielchen. Außerdem, überlegte er
bei sich, gehört dieser entschiedene und einschüchternde Blick, der
im Grunde genommen ziemlich lächerlich wirkt, mit Sicherheit zur
Standardausbildung von Offizieren der Fremdenlegion. Soll er mei87
netwegen einsamen Hausfrauen damit imponieren, aber mir nicht,
dachte Christian weiter und überließ Monsieur Boudeuse wieder die
Plattform, sich wichtig zu machen. Dieser bemerkte den genervten,
etwas zornigen und auch abwertenden Blick von Christian und bemühte sich, schneller zur Sache zu kommen.
»Die Raketenpanzerbüchse 54 wurde im Jahr 1943 für die deutsche Wehrmacht konstruiert. Mit ihr war es möglich, die gesamte
sowjetische und alliierte Panzermaschinerie erfolgreich und mit –
im wahrsten Sinne des Wortes – durchschlagender Wirkungskraft
zu bekämpfen. Während des Afrikafeldzuges wurden mehrere amerikanische Bazookas erbeutet und zur weiteren Untersuchung nach
Berlin geschickt. Auf der Basis dieser Erkenntnisse wurde diese Waffe entwickelt, im Frühjahr 1944 an die Truppe ausgeliefert und kam
unter anderem bei der Invasion der Alliierten in der Normandie im
Juni 1944 sowie beim weiteren Rückzug der Deutschen hier bei uns
in Frankreich zum Einsatz. Man kann diese Waffe nicht irgendwo
kaufen, und es gibt auch heute kaum noch existierende Exemplare
davon. Die einzigen mir bekannten Exemplare kann man im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, im Imperial War Museum in
London und in einigen weiteren Museen dieser Welt betrachten, die
sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges befassen. Aber kaufen, sozusagen auf dem Schwarzmarkt an der nächsten Straßenecke,
nein, kaufen können Sie so etwas nicht, denn die Produktion dieser
Waffe kam in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges zum Erliegen und wurde danach in dieser Form auch nicht mehr aufgenommen. Um es genau zu sagen: Diese Waffe einschließlich der Munition, mit der auf Sie geschossen wurde, ist also ziemlich genau siebzig
Jahre alt. Verstehen Sie?«
Mit einem triumphierenden Lächeln und zufrieden mit sich
selbst lehnte sich Monsieur Boudeuse an einen Baumstamm und begutachtete mit süffisantem Gesichtsausdruck die ihm gegenüberstehende »Schulklasse« einschließlich des Polizeichefs.
»Dies bedeutet also«, begann Christian, der sich nun wieder voll
im Griff hatte und auch als Erster die Worte des Waffenexperten verdaut hatte, »dass wir es hier mit Leuten zu haben, die im Besitz von
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zum Teil schweren Waffen mit verheerender Wirkung sind und die
sich auch nicht scheuen, diese einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen.«
»Exakt«, erwiderte Monsieur Boudeuse. »So wie es aussieht, müssen Sie damit rechnen, dass im Laufe der Ermittlungen noch so manche Überraschung auf Sie zukommt.«
»Wie kommen diese Leute zu solchen Waffen?«, fragte der Polizeichef in die Runde. »Und warum gerade Waffen aus dem Zweiten
Weltkrieg?«
»Sie müssen wissen«, begann Monsieur Boudeuse, »dass nach
Abzug der Deutschen die ganzen ehemaligen besetzten Gebiete mit
Waffen geradezu gespickt waren. Die Bevölkerung nahm sich davon, was sie meinte gebrauchen zu können, Gewehre, Pistolen, Munition, Granaten und was weiß ich noch alles. Viele Familien haben
diese Dinge über Jahrzehnte einfach behalten und niemals abgegeben, obwohl die Behörden dazu mehrfach aufgerufen hatten, und
so standen ganze Arsenale in den Scheunen und auf den Dachböden herum. Ich könnte mir vorstellen, dass sich einige dieser illegalen Sammlungen bis zum heutigen Tag noch irgendwo befinden, und
mit ein klein wenig Sachkenntnis kann man diese Dinger auch einsatzbereit halten, einschließlich der Munition.«
»Bis zum heutigen Tag?« Christians Frage war mehr ein Gemurmel, das er an sich selbst gerichtet hatte.
»Bis zum heutigen Tag!«, wiederholte Monsieur Boudeuse, der
ihn dennoch gehört hatte, und legte dabei besonderen Wert auf die
Betonung des Wortes »heutigen«.
»Was, Granaten?« Der Polizeichef machte ein erschrockenes Gesicht. »Wofür sollte denn ein Durchschnittsmensch, um Gottes willen, eine Granate gebrauchen können?«
»Schon einmal etwas von Dynamitfischen gehört?«, fragte Monsieur Boudeuse. »In diesem Fall natürlich Granatfischen, wenn ich
das einmal so bezeichnen darf.«
Gerade als der Polizeichef noch etwas entgegnen wollte, kam
ein junger Mann in einem weißen Kunststoffoverall mit langsamen
Schritten auf die Gruppe zu. Christian erkannte ihn sofort, da er der
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engste Mitarbeiter von Madame Bonnaire war und oft mit ihr zusammen die Spuren an einem Tatort aufnahm.
»Wir wären dann so weit, Chef, die Leute von der Spurensicherung haben ihre Arbeit beendet, und Sie können sich die Sache nun
in aller Ruhe einmal ansehen. Aber es ist kein schöner Anblick«, berichtete er und drehte sich anschließend langsam wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Er ließ sich von einem seiner Kollegen eine Zigarette geben, um diese gemächlich und mit Bedacht zu
rauchen. Man sah ihm an, dass er unter starker Anspannung stand
und sich so schnell wie möglich wieder beruhigen wollte.
Der Polizeichef bedankte sich und wandte sich zu Christian um.
»Mein lieber Dabert, nun kommen wir zu dem wirklich ekelhaftesten Augenblick dieses Tages. Ich wünschte, ich könnte Ihnen dies
in Ihrem Zustand nun ersparen, aber das ist nun mal nicht so.«
»Bitte kommen Sie mit«, fügte er noch hinzu, und sie folgten dem
Mitarbeiter im weißen Overall um das Haus herum in den Garten.
Dieser war von Scheinwerfern hell erleuchtet, sodass die Bepflanzung bizarre, unheimliche Schatten auf die Hausmauer warf. Zum
zweiten Mal an diesem Tag schritt Christian an dem mächtigen Eukalyptusbaum vorbei, ließ die großen Hortensien links und rechts
hinter sich und wandelte wie in Trance über den gepflegten Rasen.
Während sie im zügigen Tempo durch den Garten gingen, wandte
sich der Polizeichef zu Christian und bat ihn, Monsieur Boudeuse
seinen theatralischen Auftritt zuverzeihen.
»Sie können mir glauben, dieser Mann ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet: Sie zeigen ihm das Fragment eines Projektils, und er
sagt Ihnen, wer das wann und wo abgefeuert hat. Er ist der Beste, den
wir für solche Dinge haben.«
»Wahrscheinlich kennt er auch noch die Schuhgröße und den
Kontostand von dem Schützen«, erwiderte Christian genervt, und
sie gingen schweigend weiter. In seinem Schädel wummerte es wie
in einer Betonmischmaschine, und er hatte nun wirklich keine Lust,
sich die Lobhudeleien über andere Leute anzuhören.
Der Weg führte sie in den hinteren Teil des Gartens, wo sich der
Bunker befand, an dessen Tür Christian vor wenigen Stunden schon
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einmal gestanden und diese verschlossen vorgefunden hatte. Wie
ein dämonischer Schlund stand nun der Eingang des Bunkers offen. Auch das Innere des Bunkers war hell erleuchtet. Der intensive
Lichtstrahl drang ins Freie hinaus, sodass die vom Boden aufsteigenden Nebelschwaden zu sehen waren. Einige Mitarbeiter, ebenfalls in
Overalls, drehten sich zur Seite. An ihrem Gesichtsausdruck war zu
erkennen, dass sie soeben Dinge gesehen hatten, die nicht von dieser Welt waren.
Der Mitarbeiter, der vorausgegangen war, trat als Erster über die
Türschwelle, dicht gefolgt vom Polizeichef und von Christian. Dieser musterte abermals die massive Stahltür und stellte fest, dass sie
fast 20 Zentimeter dick war und aufgrund der Konstruktion mit dem
ebenfalls neuen Türrahmen den Bunkerraum tatsächlich wohl nahezu hermetisch von der Außenwelt abriegeln konnte. Feuchte, kühle und modrige Luft empfing sie. Niemand sprach etwas, und man
konnte die Atemzüge jedes Einzelnen hören, begleitet vom Geräusch
der Wassertropfen, die von der Decke klatschend in die Pfützen auf
dem Granitboden fielen. Auf einer kleinen Plattform kam die Gruppe zum Stehen – es war, als wollte keiner von ihnen den nächsten
Schritt wagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging es weiter. Einige
Stufen folgten, und in Christian kam der Gedanke auf, in den Hades hinabzusteigen. Einen Moment standen sie am untersten Stufenabsatz, bis sich die Augen an das grelle Scheinwerferlicht gewöhnt
hatten, das den Raum erleuchtete. An der Decke waren einige alte
Lampen angebracht, die ebenfalls brannten, was jedoch aufgrund
der grellen Ausleuchtung der Räumlichkeiten nicht ins Gewicht
fiel. Ringsherum standen hölzerne Weinregale, die übervoll mit Flaschen bestückt waren, und auf dem Boden Holzkisten mit Wein unterschiedlicher Jahrgänge aus nahezu allen Regionen Frankreichs.
In einer Nische befanden sich zwei bequeme Stühle mit Armlehnen
an einem kleinen Tisch aus Teakholz, darauf zwei schwere Messingleuchter mit fast ganz heruntergebrannten Kerzen sowie eine verrußte Öllampe. Dies, so konnte man daraus schließen, war sicherlich der Ort, an dem so manch lustiger Abend zweier Weinkenner
stattgefunden hatte.
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