Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Germanistik
Der Studienkompass (3/11)
Von Sandra Richter
Sendung: Sonntag, 24. April 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2016
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Ansage:
Mit dem Thema: "Der Studienkompass", Teil 3, Germanistik. Wir bringen in der
SWR2 Aula eine Reihe, gedacht für Schülerinnen und Schüler, die das Abitur hinter
sich haben und die sich nun fragen: Was kommt jetzt? Was soll ich, wenn es auf die
Universität geht, studieren? Wir wollen bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Elf
Aula-Autorinnen und –Autoren geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was
man mitbringen muss, um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master
anfangen kann, wie das Studium genau aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer,
Chemie, Mathematik, Germanistik oder Physik. Alle Vorträge sind übrigens ab Ende
April auch online erhältlich. Informationen dazu finden Sie auf unserer Homepage:
www.swr2.de/studienkompass.
Heute geht es um Germanistik, Autorin in Professor Sandra Richter von der
Universität Stuttgart.
Sandra Richter:
Meine Eltern besaßen wenige Bücher. Darunter waren Thomas Manns
Buddenbrooks. Das Buch hat mich verblüfft, weil es mir gut lesbar schien – und es
doch manchmal unerklärlich blieb. In seinen Motiven, seinen Figuren und seinem
Handlungsverlauf: Was sollten etwa die vielen gelben oder verfallenen Zähne, die
immer wieder erwähnt wurden? Was war das für eine merkwürdige
Kaufmannsfamilie, in der keiner so recht Kaufmann sein wollte? Und wie rasant es
mit Wohlstand und Ansehen der Familie abwärts ging. Mich hat das Buch so sehr
erstaunt und auch verwirrt, das ich über seine Entstehung und die Möglichkeiten, es
zu verstehen, mehr wissen wollte. Ich hatte den Eindruck, dass da mehr vor sich ging
als in den Geschichten, die ich zuvor kannte. Diese waren zwar auch spannend, aber
doch eingängiger – und mit der Lektüre der Buddenbrooks plötzlich langweilig
geworden. Spannende, rätselhafte, eigentümliche Geschichten und die Freude
daran, ihnen soweit als möglich auf den Grund zu gehen – das war es, was mich zur
Germanistik trieb.
Die Germanistik beschäftigt sich mit gesprochener und geschriebener Sprache in
Text, Literatur, Lied, mit Bild-Text-Kombinationen, Film und neuen sowie neuesten
Medien bis hin zu Blog und App. Ältere Erscheinungsformen deutscher Sprache
werden dabei ebenso untersucht wie aktuelle.
Um das alles bearbeiten zu können, gliedert sich die Germanistik in mehrere
Teilfächer:
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Die Germanistische Mediävistik, das erste germanistische Teilfach, untersucht
Texte in alten deutschen Sprachstufen vom frühen Mittelalter (also von etwa
800 n. Chr.) bis in die frühe Neuzeit, also bis ins 16. Jahrhundert. Die
Mediävistik ist meistens stark kulturwissenschaftlich geprägt, d.h. sie schaut
nicht nur auf Literatur, sondern auf alle kulturell bedeutsame Dokumente in
Bild und Ton oder in Objektform, sofern diese überliefert sind.
Zu den Buddenbrooks hätte die Mediävistik auch etwas zu sagen. Sie kann zeigen,
inwiefern die Familiengeschichte der Buddenbrooks auf alten Traditionen der Hanse
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aufruht, die seit dem 12. Jahrhundert entstanden, und dass diese Tradition um 1900
– also bei Veröffentlichung der Buddenbrooks schon angegriffen oder zerstört ist.
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Das zweite Teilfach, die Neuere Deutsche Literatur, widmet sich literarischen
Texten von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart im europäischen und
globalen Kontext. Auch sie ist kulturwissenschaftlich offen, bezieht Bilder,
Töne, Objekte ein und nimmt größere sozial-, kultur- und ideenhistorische
Zusammenhänge in den Blick.
Am Beispiel der Buddenbrooks illustriert: Die Neuere Deutsche Literatur untersucht
den Text im Blick auf seine Figuren, Handlungen und Kontexte wie die Ökonomie,
die Religion oder die Kunst. Senator Thomas Buddenbrook wirkt danach schon wie
eine Dekadenzerscheinung der Großväter- und Vätergeneration, ein Kaufmann, der
im Konkurrenzkampf der Moderne versagt. Großmutter Elisabeth Buddenbrook,
eigentlich eine elegante Dame von Welt, gibt sich im Alter pietistischen Vorstellungen
hin und schwächt das Vermögen der Familie durch großzügige Schenkungen. Hanno
Buddenbrook, der Sohn von Thomas, bringt es zu nichts mehr; er fantasiert nur am
Klavier, taugt weder zum Bürger noch zum Künstler, da er für nichts genügend
Ausdauer mitbringt. Die Buddenbrooks erzählen folglich eine großangelegte
Verfallsgeschichte, die sich über mehrere Generationen erstreckt. Der Roman
erscheint – je nach Untersuchungsschwerpunkt der Neueren Deutschen Literatur –
als Kaufmannsroman nach dem Kaufmannsroman, als (anti-)religiöser Roman, als
Künstlerroman ohne Künstler usw.
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Die germanistische Linguistik, das dritte Teilfach der Germanistik, untersucht
den Aufbau der deutschen Sprache vom Laut- und Schriftsystem über den
Satzbau bis zur Bedeutungsebene. Sie analysiert konkretes Sprachmaterial
der Fach- und Umgangssprache sowie der Dialekte des Deutschen. Die
Grammatik beispielsweise erschließt den Aufbau der deutschen Sprache im
Blick auf ihr Satzsystem. Sie fragt, wie man erkennt, dass Sätze miteinander
verknüpft sind. Die Semantik hingegen untersucht das Entstehen von
Bedeutung durch Sprache: Was meinen wir beispielsweise, wenn wir sagen,
dass es draußen Bäume gibt. Meinen wir dieselben Bäume oder hat jeder ein
bestimmtes Bild vom Baum im Kopf? Sprechen wir über Tatsachen oder bloß
Vorgestelltes?
Auch die Linguistik hat einiges zur Analyse der Buddenbrooks beizutragen. Der
Roman setzt nämlich unterschiedliche Sprachen und Sprachstufen ein: Hochdeutsch,
Französisch, Englisch, Italienisch, Niederdeutsch, baltische, schwäbische,
bayerischen Floskeln. Ein Beispiel, eine Mischung aus niederdeutscher Trivial- und
französischer Höflichkeitsformel: „Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère
demoiselle!“/ Ja, zum Teufel auch, das ist die Frage, mein sehr liebes Fräulein! Es
handelt sich um den zweiten Satz des Romans, den die Linguistik zum
Ausgangspunkt für eine einigermaßen komplexe Untersuchung des Textes nehmen
kann.
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Die Medienwissenschaft, das vierte Teilfach der Germanistik, fahndet nach
der medialen Verfasstheit von Sprache. Ihr besonderes Interesse gilt Film,
Fernsehen, den neuen und neuesten Medien. Zu diesem Zweck bedient sie
sich eines Methodenmixes aus den unterschiedlichen Teilfächern der
Germanistik sowie der Geschichts- und Kommunikationswissenschaft.
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Sie behandelt den Medienwechsel vom Buch zum Film und vergleicht die
unterschiedlichen Verfilmungen der Buddenbrooks: Von der Stummfilmfassung aus
dem Jahr 1923 bis hin zu Heinrich Breloers Kinofilm aus dem Jahr 2008 hat sich
einiges getan. Das Original, das gekonnt umgesetzt, aber auch erheblich gekürzt und
verändert wird, zählt – filmtypisch – weniger als das gefällige Ergebnis. Filme
wenden sich eben an ein größeres Publikum als die Literatur, und das hat Folgen für
die Inszenierung des Textes.
Professoren sind jedoch immer Spezialisten für das ein oder andere Teilfach. Zwar
kooperieren Kollegen aus den einzelnen Teilfächern gern, aber es gibt kaum
jemanden, der die gesamte Germanistik übersieht. Dazu ist das Fach zu groß und
unterschiedlich. Speziell Literaturwissenschaft und Linguistik haben sich in den
vergangenen 30/40 Jahren auseinander entwickelt. Die Linguistik tendiert stark zur
empirischen Analyse oder zur Analytischen Philosophie, während Literatur- und
Medienwissenschaft historisch ausgerichtet sind und sich auch mit den anderen
Künsten, mit Bild- und Tonwissenschaften befassen.
Mediävistik und Neuere Deutsche Literatur hingegen teilen eine ganze Reihe von
Arbeitsfeldern: Rhetorik und Stilistik beschreiben und lehren Darstellungs- und
Wirkungsweisen von Sprache. Die Rhetorik geht davon aus, dass eine Rede
überzeugen will, und fragt sich, wie das geschieht. Sie analysiert zu diesem Zweck
u.a. Reden von Politikern – auch im Blick auf Gesten. Die Merkel-Raute, die Ruhe
und Ausgeglichenheit ausstrahlen soll, ist ein besonderer Gegenstand der
Forschung. Ästhetik, Poetik und Literatur hingegen befassen sich mit den 'schönen
Künsten', mit Dokumenten, die zumeist fiktional sind und den Anspruch erheben,
Kunst zu sein. Hier wird gefragt, ob solche Beschreibung überhaupt stimmt, ob
Literatur fiktional und Kunst sein muss. Die Interpretationstheorie und Methodologie
fragen nach dem Zustandekommen solcher Bedeutungszuschreibungen. Sie
vergleichen unterschiedliche Interpretationen z.B. der Buddenbrooks und fragen,
welche Interpretation den Text am besten erfasst.
Früher, als der Germanistik entstand, war das anders. Seit ca. 1830, gemeinsam mit
den politischen Bewegungen vor der 1848er-Revolution, formierte sich das Fach.
Man wollte die Geschichte und Gegenwart jener Nation erkunden, die politischerseits
eingefordert wurde. Parallel entstanden übrigens auch in England und Frankreich die
sogenannten Nationalphilologien. Auch sie folgten der zeittypischen Entdeckung der
Nation. Erste Germanisten tauchten auf und lehrten so ziemlich alles, was man mit
deutscher Sprache und Literatur verband. Sie sprachen und schrieben über
mittelalterliche Texte wie das Nibelungenlied und fahndeten – in der Nachfolge von
Johann Gottfried Herder, der Heidelberger Romantik und den Brüder Grimm – nach
Legenden und Märchen.
Zu ihren Interessen zählten besonders auch Ästhetik und Poetik. Die junge
Germanistik orientierte sich an der Systemphilosophie und ihren Überlegungen über
das Schöne. Im Falle Hegels galt es in der Philosophie als zeitgemäß reflektiert und
bereit "aufgehoben", wie er schrieb. Die germanistischen Schüler Hegels wollten
seine ästhetischen Überlegungen an der Wirklichkeit der Literatur und ihrer
Geschichte prüfen. Die Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen – das war ihre
Devise, nicht nur diejenige für Karl Marx. Häufig handelte es sich bei den ersten
Germanisten um revolutionäre Köpfe, dem Deutschen Bund waren sie politisch nicht
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genehm. Einige von ihnen emigrierten nach Frankreich, England oder in die USA –
sie exportierten die Germanistik sogleich. Im berühmten Harvard etwa begann die
Germanistik mit einem der entflohenen Revolutionäre: Karl Follen, der vor politischer
Verfolgung aus Gießen nach Cambridge Massachussettes flüchtete, wurde zum
ersten Lehrer des Deutschen ernannt.
Um 1900 erfand sich die Germanistik als Geisteswissenschaft neu. Sie
verwissenschaftlichte sich, indem sie sich an anderen Disziplinen orientierte. Die
Soziologie, die 'empirische' Psychologie – damals nannte man sie
Erfahrungsseelenlehre –, die Psychoanalyse, die Sprachphilosophie und Logik
waren im Entstehen begriffen. Germanistik wollte jetzt nicht mehr nur
deutschsprachige Quellen erschließen, edieren (also in die Form lesbarer Text
bringen), sondern an die neuen Wissenschaften anschließen: als
Literaturwissenschaft und bald auch als Sprachwissenschaft. Im Grunde begann die
Differenzierung des Faches in seine Teilfächer ungefähr zu diesem Zeitpunkt.
In der NS-Zeit war die Germanistik als nationale Philologie besonders geneigt,
politisch korrumpiert zu werden. Nicht selten war jetzt von Blut und Boden und
nationalem Führungsanspruch zu lesen, je nachdem, ob ein Parteigänger oder ein
politisch gemäßigter Kopf das Wort führte. Die jüdischen Germanisten, ja: die
bessere Germanistik emigrierte, so sie konnte. Nach 1945 mussten führende Nazis
ihr Amt aufgeben; die Mehrzahl der Fachkollegen in Deutschland bewegte sich in
einer politischen Grauzone. Oft wusste man nicht, wer Parteimitglied gewesen war
oder verschwieg es bewusst. Von Aufarbeitung der NS-Zeit im Fach war zunächst
keine Rede. Bezeichnend dafür ist die späte Entdeckung des in den
Nationalsozialismus schwer verstrickten Hans Ernst Schneider. Schneider war SSHauptsturmführer, Abteilungsleiter im persönlichen Stab des Reichsführer SS und
von 1940 bis 1942 in den Niederlanden tätig gewesen. Dort hat er u.a.
Laboreinrichtungen für die Menschenversuche in Dachau beschlagnahmt. Nach dem
Krieg promovierte sich Schneider unter dem Namen Hans Schwerte in der
Bundesrepublik, habilitierte und erhielt eine Professur – als linksliberaler
Vorzeigegermanist und später Rektor der Rheinisch-Westfälischen Technischen
Hochschule Aachen. Erst im Jahr 1995 wurde seine Identität erkannt. Fachkollegen,
die Schneider/Schwerte schon vor 1945 begegnet sein mussten, hatten ihn offenbar
fünfzig Jahre lang gedeckt.
Der Fall erstaunt. Denn schon in den 1960er-Jahren trug das Schweigekartell an sich
nicht mehr: Eine neue Germanistengeneration klagte die alte an, persönlich wie
methodisch. Ab jetzt sollte ein anderer Wind wehen. Politisch engagiert, methodisch
reflektiert – so sah sich die neue Germanistik. Sie krönte sogenannte Methoden. Wie
die Großvätergeneration um 1900 orientierte man sich an anderen Disziplinen,
erfand die sozialgeschichtliche, feministische, psychoanalytische usf.
Literaturanalyse. Die Linguistik hingegen spaltete sich jetzt in ein sozial engagiertes,
empirisches Lager und in ein analytisches, dass sich der Sprachtheorie widmete.
Hier ging es beispielsweise um die Frage, ob Menschen prinzipiell ähnliche
grammatische Strukturen kennen, die sie nur je nach Sprache unterschiedlich
ausbilden.
Heute will die Germanistik in der Regel keine großen gesellschaftlichen Probleme
mehr lösen, jedenfalls nicht im Alleingang. Vielmehr geht sie davon aus, dass sie
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erstens so ziemlich alles über ein (in Österreich, in der Schweiz und in
Deutschland) unverzichtbares Kommunikationsmittel und Kulturgut weiß oder
wissen könnte. Wer würde schon die Bedeutung der Buddenbrooks für die
deutsche Geschichte und Gegenwart und damit auch die Bedeutung ihrer
Untersuchung in Abrede stellen? Wer würde auf die Analyse deutscher
Sprache verzichten wollen?
Zweitens leistet die Germanistik einen Beitrag zu den Wissensansprüchen der
Geisteswissenschaften, mitunter auch in Kooperation mit ganz anderen
Disziplinen. Beispielsweise fragt die Germanistik nach dem Verhältnis von
Text und Bild. So versuchten Flugblätter der Frühen Neuzeit, die nicht
alphabetisierte Bevölkerung über Hygiene aufzuklären, um die Pest
einzudämmen – mit Wort und Bild. Die Germanistik erörtert ausgehend von
diesen Flugblättern, dass Text und Bild zusammengehören und erst die
Verbindung beider Medien eine Deutung ermöglicht.
Die Germanistik hilft drittens auch, aktuelle Probleme zu bearbeiten.
Germanistik interessiert sich für die Geschichte der Ökologie, für die Semantik
der Nachhaltigkeit und ihre Bearbeitung in Texten und Bildern. Was gäbe
besser über den Verfall der Umwelt Auskunft als literarische Texte, die – wie
Durs Grünbeins Lyrik – über das morgendliche Graubraun Ostberlins vor der
Wende handeln? Die Germanistik befasst sich mit Flüchtlingen, mit
Exilliteraturen und mit denjenigen, die zuvor nicht schrieben, über sich zu
erzählen haben. Viele Autoren waren selbst Exilanten, Asylsuchende. Die
Nobelpreisträgerin Herta Müller, geboren im Banat Rumäniens und von der
Geheimpolizei Securitate verfolgt, ist nur das prominenteste Beispiel.
Allerdings wäre es engstirnig und kurzsichtig, eine Wissenschaft wie die Germanistik
an ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu bemessen. Gute Wissenschaft braucht Zeit,
um etwas zu Tage zu fördern, was gerade nicht im Tagesgeschehen aufgeht.
Journalisten und Publizisten sind notorisch näher am täglichen Geschäft der
Informationen und Meinungen. Wissenschaft mag darauf reagieren, sollte aber
immer und vor allem auch das im Blick behalten, was gerade nicht en vogue ist. Was
vergessen oder abgelegt scheint, kann plötzlich zum Problem werden – und dann
braucht es Spezialisten, die sich auskennen. Mindestens ebenso wichtig ist, dass wir
nur Neues lernen, wenn wir über den Tellerrand hinausblicken, mit Muße und ohne
Ansprüche an die Effizienz und Effektivität unserer Arbeit. Irrwege sind notwendig.
Und diejenigen der Germanistik sind sogar vergleichsweise billig.)
Aus diesen Gründen ist die Aufgabe von Wissenschaft die langfristige, nüchterne,
ausgewogene Einschätzung auch drängender Fragen. Beispielsweise war es in den
1960er- und 70er-Jahren unchic, sich mit der Literatur des deutschsprachigen
Ostens zu befassen, das barocke Trauerspiel, das in Schlesien, dem kulturellen
Zentrum des 17. Jahrhunderts, stattfand, ausgenommen. Heute hat der Osten wieder
Konjunktur: weil politische Probleme neue Aufmerksamkeit auf Osteuropa und
darüber hinaus lenken. Hier steht in Frage, ob wir gemeinsame kulturelle Wurzeln
haben, welche das sind und was darauf gründet. Gerade heute ist es wieder wichtig
zu wissen, dass es im 18. Jahrhundert enge Verbindungen zwischen dem Alten
Reich und Russland gab, dass sich russische Bildungsanstalten nach dem Vorbild
der deutschen Gymnasien und Hochschulen gründeten und manche Zarin dem
deutschen Hochadel entstammte. Die Auffassung, dass Russland kulturell einer
anderen Hemisphäre angehöre, lässt sich auf diese Weise leicht als Mythos
entlarven.
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Wer Germanistik studieren möchte, braucht das, was Studierende aller
Fachrichtungen benötigen: Neugier, Denkbereitschaft und Hosenboden.
Vorausgesetzt werden das Abitur, die gründliche Kenntnis der deutschen Sprache
und ein großes Interesse an ihr. Außerdem unverzichtbar ist eine Lese- und
Wahrnehmungslust, die beim Aufstehen beginnt und mit dem Schlafengehen endet.
Was nicht heißt, dass man nicht auch vom Lesen und Gelesenen, vom Gesehenen
und Gehörten träumen darf. Je nach Vorliebe der einzelnen Studierenden und ihrer
Professoren sind Freude an methodischen Fragen und Interpretationsproblemen, an
'gutem' Schreiben und Sprechen wichtig. Ich formuliere hier bewusst offen. Das Fach
hat in dieser Hinsicht keine Standards oder dergleichen. Im Gegenteil: Es gibt sehr
unterschiedliche Gruppen und Grüppchen, die ihre Vorlieben pflegen und sich
einander erst nach und nach annähern. Grob gesprochen: Die einen neigen mehr
der Kulturwissenschaft, die anderen eher der Textarbeit zu – was sich allerdings
nicht ausschließt! Ich meine, dass Germanistik, die etwas zu sagen haben will,
beides tun und können muss.
Das ist durchaus kritisch gemeint. Die Germanistik ist einerseits ausgesprochen
stabil. Ihr Gegenstand bzw. ihre Gegenstände sind unverzichtbar. Da kann man sich
einiges erlauben, könnte man meinen. Schon deshalb sieht sich das Fach gern als
permanent gefährdet an. Es wähnt sich in der Krise. Dieses Phänomen tritt
verdächtig oft im Zusammenhang mit Germanistentagen auf. Es handelt sich dabei
um öffentliche Ereignisse, wo Fachkollegen, der sogenannte Nachwuchs und
interessierte Nicht- oder Ex-Germanisten aufeinandertreffen. Anlässlich von
Germanistentagen fragen die Medien gern: Was treibt die Germanistik nun wieder?
Das ist eine legitime und wichtige Frage. Es ist gut, dass sie Missstände anklagen,
spannende Erkenntnisse hervorheben und das Fach in die Öffentlichkeit rücken.
Denn so stabil ist die Germanistik nun auch nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man
ihren Zustand weltweit anschaut. Die sogenannte Auslandsgermanistik befindet sich
in Frankreich, England und den USA auf dem absteigenden Ast. Deutsch gilt hier als
altbacken und schwierig. Die Studierendenzahlen nehmen ab. Anders verhält es sich
in Afrika und China. Hier nimmt das Interesse am Deutschen zu, auch aus
verständlichen ökonomischen Gründen.
Das Studium im Ausland sieht entsprechend anders aus als im Inland. Im Inland ist
die Beherrschung des Deutschen sowie zwei weiterer Fremdsprachen
Voraussetzung des Studiums. Man muss ja auch vergleichend arbeiten können. Das
Deutsche allein zu betrachten, wäre wenig sinnvoll.
Germanistik kann – je nach dem universitären Angebot – mit so ziemlich allen
Fächern kombiniert werden, die Germanistik ausgenommen. In der Regel studiert
man im BA und Lehramt Germanistik ein weiteres Hauptfach oder zwei Nebenfächer.
Das BA-Studium ist sechs Semester lang und umfasst mindestens die drei Teilfächer
Mediävistik, Neuere Deutsche Literatur und Linguistik. Lehramtsstudierende müssen
außerdem Erziehungswissenschaft studieren. Praktika gehören zu jedem
Studiengang. Sie können u.a. in der Öffentlichkeitsarbeit eines Unternehmens oder
in der Schule absolviert werden.
Die ersten beiden Semester führen in die grundlegenden Techniken
wissenschaftlichen Arbeitens und in den Methodenkern der Teilfächer ein. Im
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weiteren Verlauf des Studiums werden die Techniken, Fähigkeiten, Fertigkeiten
vertieft; parallel sollen sich Studierende historisches Wissen zur Entwicklung der
deutschen Sprache und Literatur aneignen. Spätestens ab dem dritten Semester ist
größere Selbständigkeit gefragt. Die Module sind oft relativ weit gefasst, so dass früh
eigene Schwerpunkte gesetzt werden können. Ein Modul in unserem Studiengang ist
beispielsweise mit dem Titel "Literatur im Kommunikationsprozess" versehen. Das
kann viel bedeuten. Die Spannbreite reicht vom Geschichtenerzählen auf
mittelalterlichen Marktplätzen bis hin zu Literatur und Literaturmarketing in der
Gegenwart. Für die BA-Arbeit, die im sechsten Semester geschrieben wird (im
Lehramt ist es das achte Semester), wählen alle Studierende in Absprache mit den
Prüfern ein eigenes Thema, sie setzen einen erkennbaren Schwerpunkt, in der Regel
in einem der germanistischen Teilfächer. Begleitend zum fachlichen Studium
erwerben alle Studierende Schlüsselqualifikationen etwa im Präsentieren ihrer
Arbeitsergebnisse.
Mit großem Tempo entwickelt sich aber ein weiteres Arbeitsgebiet, das zwischen
Schlüsselqualifikation und Hauptstudium angesiedelt ist: die digitale Aufbereitung,
Erschließung und Analyse von Texten, Bildern, Tönen (kurz: Digital Humanities
genannt). Das ist ein wichtiges Feld, denn alle Fächer müssen sich mit den
Gegebenheiten des Digitalen Zeitalters auseinandersetzen: mit neuen und vielen
Daten, die es wissenschaftlich zu bearbeiten gilt. Für Germanisten bedeutet das,
dass sie plötzlich schnell Zugang zu vielen entlegenen Quellen haben. Diese würden
sie liebend gern gründlich und in großer Zahl untersuchen. Dabei helfen die Digital
Humanities in vielfacher Hinsicht: durch die digitale Erschließung kultureller Objekte
und durch digitale Werkzeuge (sogenannte tools), mit denen sich solche Objekte
untersuchen lassen. Daraus folgt jedoch nicht, dass das Lesen, Betrachten, Hören
und Interpretieren entfiele. Im Gegenteil: Durch die neuen Daten und Möglichkeiten
wird alles noch komplizierter! Wir müssen erst einmal klären, was untersucht wird,
wie es untersucht und annotiert wird – und was die möglichen Ergebnisse überhaupt
bedeuten können. Auch Germanisten werden künftig lernen müssen, mit Statistiken
und Graphen umzugehen. Germanisten, die zugleich Informatik studieren, sind
gesucht.
Denn Qualifikationen wie diese helfen allen weiter: denjenigen, die noch einen MA
absolvieren oder gleich einem Beruf nachgehen wollen. Viele Germanisten werden
Lehrer, und es braucht gute Lehrer! Doch steht Lehramtsstudierenden der
Germanistik noch mehr offen: Stiftungen, museumspädagogische Dienste oder auch
die Lektorate des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes, die
Studienabsolventen in die Welt vermitteln, setzen gern auf Studierende mit
Lehramtsabschluss. Denn diese bringen die notwendigen pädagogischen
Kompetenzen mit.
Zahlreiche Germanisten zieht es auch in die Öffentlichkeitsarbeit, die Publizistik, in
Verlage, Theater und Literaturhäuser, Archive oder Bibliotheken. Sie werden
Pressesprecher, Journalisten, Lektoren, Dramaturgen, Kulturmanager, Archivare
oder Bibliothekare (wobei man für letzteres im Prinzip eine Zusatzausbildung
brauchen). Denkbar wäre darüber hinaus, im Ausland einen Master of Business
Administration zu erwerben und mit einem geisteswissenschaftlichen Studium in
Unternehmen, in das Beratungs- oder Bankingbusiness einzusteigen. In Deutschland
sind solche Studienverläufe leider unüblich. Die weiterführenden Studiengänge
setzen oft schon ein Fachstudium voraus – was bedauerlich ist! Sinnvoller wäre eine
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so große Offenheit, wie sie etwa in England gang und gäbe ist. Die erzeugt mental
beweglichere Hochschulabsolventen als bei uns. Aber auch in Deutschland gilt: Wer
ein herausragendes Germanistik-Studium abschließt und sich frühzeitig auch in der
Wirtschaft orientiert, der kann sich ohne weiteres im Business bewerben und durch
ein 'training on the job' und entsprechende Crash-Kurse in der Ökonomie weit
kommen. Ein entsprechendes zweites Hauptfach im Bereich der Ökonomie,
Informatik, Mathematik, Physik, Chemie oder entsprechende Nebenfächer helfen, die
Perspektiven über das Fach uns seine Tätigkeitsfelder hinaus zu erweitern.
Zu den berühmten Germanisten der Gegenwart zählen nicht nur Autoren wie Hans
Magnus Enzensberger, der die Literatur und ihren Betrieb mit immer neuen Ideen
begeistert, sondern auch Moderatoren wie Thomas Gottschalk, Jürgen von der
Lippe, Frank Plasberg. Auch Gertrud Höhler, Professorin für Literaturwissenschaft,
gehört dazu. Sie ist eines der wenigen deutschen Beispiele für eine Doppelkarriere,
zunächst in der Wissenschaft, dann als Beraterin in der Wirtschaft. Sie war u.a. für
die Deutsche Bank und den Chemiekonzern Ciba tätig.
Germanisten sind Generalisten und Spezialisten zugleich – und das sind ihre
Stärken. Germanisten lesen viel, schnell, können Texte, Bilder, Töne in Rekordzeit
verarbeiten, historisch und systematisch denken, schreiben und reden. Sie sind
spezialisiert auf komplexe Fälle deutscher Sprache und Kultur – die einfachen
werden sie auch lösen können.
Wem das so sehr gefällt, dass er sich zutraut, an der Universität zu bleiben, ist zu
beglückwünschen. Er oder sie hat vielleicht sein Hobby zum Beruf gemacht. Zugleich
aber gilt hier wie in vielen anderen Fächern: per aspera ad astra / durch das Raue zu
den Sternen – es ist ein harter, steiniger Weg. Wobei die Sterne unsicher sind. Zwar
haben wir aus wissenschaftspolitischen Gründen eine ganze Reihe Stellen für kurze
Zeit zu vergeben, aber an langfristig verfügbaren Stellen hapert es. Der Bund
nämlich durfte bislang nicht in langfristige Stellen an den Unis investieren und die
Länder, die Träger der Universitäten sind, können es nicht. Entsprechend ist die
Konkurrenz speziell um dauerhafte Anstellungen groß. Um eine Professur in der
Neueren Deutschen Literatur bewerben sich derzeit zwischen 80 und 150
Kandidaten.
Das ist ein Risikospiel: Anwärter auf eine Professur müssen eine Doktorarbeit
verfassen, Kontakte im Fach knüpfen, sich auf Tagungen herumzeigen und solche
organisieren, lehren, sich an der universitären Selbstverwaltung beteiligen, Drittmittel
einwerben, ein zweites Buch schreiben, das oft noch als Habilitation in einem
anspruchsvollen Verfahren verteidigt werden muss. Dabei wird man leicht 40 Jahre
alt – für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu alt. Wenn es mit einer Professur nicht
klappt, sind die Aussichten für das eigene Berufsleben entsprechend schlecht.
Gelegentlich gelingt jenseits der Universität eine Karriere in der außer-universitären
Forschung: in Archiven, Bibliotheken, Museen wie etwa dem Deutschen
Literaturarchiv Marbach, das für die Germanistik außerordentlich wichtig ist – und
nicht nur für sie. In Marbach liegen die Nachlässe der meisten wichtigen deutschen
Autoren und Philosophen – und von dort geht schon deshalb eine hohe Dynamik für
das Fach selbst aus. Archive und Bibliotheken haben im Prinzip des Zeug dazu, die
Max-Planck-Institute, also die Zentren ambitionierter Forschung, in der
Literaturwissenschaft zu werden. Einige von diesen Einrichtungen haben sich – wie
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das Deutsche Literaturarchiv – auf den Weg dorthin begeben. Sie stellen nicht nur
Quellen zur Verfügung, sondern stoßen selbst Forschung darüber an. Die
Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen universitärem und außeruniversitärem
Bereich sind längst nicht ausgelotet.
Die Germanistik ist ein sich rege entwickelndes und kontroverses Fach. Ein Fach
zwischen den Fächern mit erstaunlich klarer eigener Identität. Ein Fach zwischen
notwendigem Luxus und luxuriöser Notwendigkeit. Ein großartiges Geschenk für all
diejenigen, die sich dort tummeln dürfen, sei es als Studierende oder als Lehrende.
Die Buddenbrooks stehen dabei nur als pars pro toto, als Teil fürs Ganze dessen,
was die Kultur deutscher Sprache zu bieten hat. Im Grunde ist an der Germanistik
nur eines problematisch: Am Ende eines Studiums weiß man, was sich außerdem zu
lesen, zu sehen, zu hören lohnt – und ahnt, dass ein Leben dafür nicht ausreicht.
(Nächster Studienkompass: Sonntag, 8. Mai, 8.30 Uhr)
*****
Sandra Richter studierte politische Wissenschaft, Germanistik, Philosophie und
Kunstgeschichte an der Universität Hamburg, wo sie sich später am Fachbereich
Sprach-, Literatur und Medienwissenschaft habilitierte. Ihrer Professur am King's
College in London folgte zunächst die Ernennung zur Direktorin des Institut für
Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart, danach zur Direktorin des Stuttgart
Research Centre for Text Studies. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Deutsche und
Vergleichende Literaturwissenschaft von 1600 bis in die Gegenwart/German and
Comparative Literature until the present times, Wissens-, Ideen-, Begriffs- und
Metapherngeschichte/History of knowlegde, ideas, concepts and metaphors,
Interkulturelle Germanistik/Intercultural German Studies.
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