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Einleitung
Als wir uns vor zehn Jahren mit den Widersprüchen, Ungereimtheiten, Uneindeutigkeiten und damit auch mit den Paradoxien unserer
Gesellschaft zu beschäftigen begannen, waren Begriffe wie »Mediatisierung« und »Medialisierung«, die mittlerweile zum Gemeingut
avancierter Gegenwartsdiagnose gehören, noch nicht am Firmament wissenschaftlicher Fixsterne sichtbar.
Evidenzbasiert lässt sich mittlerweile festhalten, dass sich mediale Nutzungspraktiken geändert haben, dass die Durchdringung der
Gesellschaft mit Medien durch die Verbreitung von mobilen und
konvergenten Endgeräten sich intensiviert hat und dass Medien via
Social Media (wie Facebook, Twitter, WhatsApp, Instagram) in die
Alltags- und Lebenswelt sowie durch Prozesse der Konvergenz und
Komprimierung auch in Produktionsprozesse (Industrie 4.0) integriert werden.1 Moores »Law«2, nach dem sich im Durchschnitt
alle 18 Monate die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten verdoppelt, gibt nach wie vor den Takt
der digitalen Revolution an. Dies bedeutet, dass bei gleicher Größe
die Speicherkapazität stetig steigt bzw. dass bei gleicher Kapazität
die Kosten stetig sinken. Dies macht immer leistungsfähigere und
kleinere Chips und damit immer kleinere bzw. leistungsfähigere und
kostengünstigere Endgeräte möglich. Die Leistungsfähigkeit aktueller Smartphones hat fast das Niveau von Laptops vor zehn Jahren erreicht, die selbst wiederum zunehmend von Tablets ersetzt werden.
1
2
Das werden wir unten ausführlicher diskutieren.
Vgl. http://www.intel.com/pressroom/kits/events/moores_law_40th/.
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Einleitung
Dieses Buch geht von den Änderungen der Produktion, der Allokation und des Konsums von Gütern und Dienstleistungen, von
den Änderungen der Bedingungen der (öffentlichen) Kommunikation, der veränderten Rolle der Politik und jener der Organisation
und von den Veränderungen der Alltags- und Lebenswelt durch die
Möglichkeiten der kollektiven und individuellen Vernetzung und
durch das Vordringen von Medien in immer mehr kulturelle Bereiche und Praktiken aus. Keen (2015: 270) fasst zusammen: »Ob es uns
gefällt oder nicht, die digitale Welt verändert unsere Gesellschaft mit
atemberaubender Geschwindigkeit. Arbeit, Identität, Privatsphäre,
Gerechtigkeit und Miteinander, alles verändert sich in der vernetzten Gesellschaft.« Viel hat sich geändert, aber die Medien machen,
um eine frühe Metapher von Friedrich Krotz (2001: 264) aufzugreifen, beim Gesellschaftstanz noch immer die Musik. Und wie sie spielen – sie spielen zum Tanz auf für Wirtschaft, Kultur, Kunst, Wissenschaft, Sport, Alltagswelt und Politik. Es gibt kaum einen Bereich,
den die Veränderung der Medienlogiken nicht betrifft, kaum einen
Bereich, der von der Durchdringung mit Medien nicht betroffen ist.
Medien entscheiden zunehmend darüber, wie organisatorische Abläufe funktionieren, und unterwerfen letztlich alle gesellschaftlichen
Bereiche ihrer Logik. Dieser als Mediatisierung beschriebene, alle
Handlungsfelder und Sozialebenen übergreifende Prozess konkretisiert sich – ähnlich wie bei anderen Metaprozessen wie z. B. Globalisierung und Individualisierung – in Öffentlichkeit und Politik
ebenso wie in den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, aber auch in Identität und Alltag, in sozialen Beziehungen und
Geschlechterverhältnissen, in Erwerbsarbeit, Konsum und Lifestyle.
Davon ist in den empirischen und theoretischen Narrationen der
Mediatisierung ausführlich die Rede. Dieses Buch hat im Speziellen das Verhältnis von Medien und Kultur und dessen Veränderung
auf verschiedenen Ebenen zum Gegenstand. Aber haben sich durch
diese, im Folgenden noch intensiver zu rekonstruierenden, Prozesse
die basalen Strukturen geändert, ist Klarheit geschaffen, ist der Verlust der Orientierung geringer, ist die Komplexität gesunken, sind
die Widersprüche, die Ungereimtheiten und Uneindeutigkeiten
weniger geworden? Man kann wohl ebenfalls evidenzbasiert zu der
Auffassung kommen, dass dies nicht so ist – und ein Blick in die
rezente akademische Literatur zeigt, dass sich das Paradox als Meta­
pher und als Methode stärkerer Aufmerksamkeit erfreuen kann als
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je zuvor. Es bietet sich also – so meinen wir – an, den Paradoxien
der Mediatisierung nachzugehen und auszuloten, inwieweit sich das
Para­doxieren als (heuristische) Methode unter den Bedingungen
einer mediatisierten Lebenswelt als tauglich erweist.
Die wesentlichste Veränderung, der wir dabei nachgehen, besteht in der steigenden Relevanz, die Medien für unsere Gesellschaft
haben. Medien bestimmen die Wirklichkeit auf ganz bestimmte Art:
Medien bezaubern, Medien verzaubern, sie geben alles, und das jederzeit und fast überall. Medien verwandeln das Kinderzimmer in
einen multimedialen Abenteuerspielplatz, lassen das Wohnzimmer
zum Fenster zur Welt werden, ermöglichen Menschen ganz allein
Teil von allem zu sein, machen öffentliche Plätze zu Erlebniswelten, privatisieren die Öffentlichkeit und veröffentlichen die Privat­
sphäre, konvergieren in Tablet und Smartphone zum anytimeanywhere-­fun-­and-workplace, reichern unsere Realität in Form von
Navigations­sys­temen und augmented reality an, vermitteln Teilhabe, Teil­nahme, Beschäftigung, Kritik, Unterhaltung und weben
jenen Klang-, Bild- und Textkörper, aus dem unsere Wirklichkeit (je
nach Les­art: auch – oder: ausschließlich) besteht.
Diese Wirklichkeit ist nicht völlig beliebig konstruierbar, aber sie
ist je nach ökonomischen, politischen, sozialen, technischen, professionellen, ethischen – kurz: kulturellen – Standards in die eine
oder andere Richtung »dehnbar«, sie ist »elastisch«. Diese Standards
variieren freilich je nach kultureller Prädisposition.
In der Medienkultur, die im Mittelpunkt dieses Buches steht, sind
Medien und Kultur ein und dasselbe. In der Medienkultur, die wir
als globale Vergleichskultur (aber nicht als global akzeptierte Kultur) begreifen, als Kultur, die sich auf Kultur bezieht, und als Kultur,
die diese kulturellen Bezüge medial vermittelt herstellt, gibt es keine
gesellschaftliche Wirklichkeit jenseits medialer Kommunikation.
Die Medien sind in dieser Kultur der Angelpunkt der kollektiven
Selbstbeobachtung. Die Medien lassen sich beim Beobachten beobachten und sie beobachten die Beobachter beim Beobachten. Dieser
Angelpunkt der Beobachtung ist aber weder einheitlich noch verfügt
er über jene überlegene Einsicht und Vernunft, die man anderen
Systemen der Selbstbeobachtung von Gesellschaften wie etwa dem
Markt, der Verfassung, dem Schicksal, dem göttlichen Wirken zuschreiben kann. Nicht mehr die unsichtbare Hand des Marktes, die
Prinzipien der Verfassung oder ein unsichtbarer Gott bringen Ruhe
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Einleitung
in die Unruhe und können als ordnende Regel trotz aller Abweichungen und Ausnahmen hinter allem vermutet werden. Die Medien machen sichtbar, dass die Ausnahme nicht die Regel bestätigt,
sondern dass die Ausnahme die Regel selbst ist.
Dadurch erscheint die medial vermittelte Welt auch uneinheitlich, widersprüchlich, ja chaotisch und paradox, denn etwas kann
zugleich so und anders sein, etwas kann zutreffen, obwohl es nicht
zutrifft. Es fransen die ehemals vertrauten Ränder aus und die einstigen Unterschiede werden ununterscheidbar. Die Mitte ist plötzlich
überall und damit nirgends. In der Medienkultur kommt es auf den
Blickwinkel und Standpunkt an. Von ihnen hängt ab, ob etwas ist
oder nicht, ob etwas so ist oder ganz anders, ob etwas der Fall ist
oder nicht, ob etwas gilt oder nicht. Der mit diesen Entwicklungen
verbundene Verlust der Ordnung und der Orientierung3 wird in der
Medienkultur durch die Medien selbst kompensiert. Die Ordnung,
die Medien schaffen, ist in sich paradox: Sie beseitigt ein selbst geschaffenes Chaos und schafft Ordnung durch Unordnung. Wie in
einem magischen Prozess liegt auch dieser Verwandlung in und
durch Medien ein allgemein bekanntes Geheimnis zugrunde: Man
weiß, dass man nicht weiß, wie es funktioniert, man ahnt aber auch,
dass man es gar nicht wissen will, weil es sonst nicht mehr funktionieren würde. Aufklärung durch Verklärung, Relationalität statt
Ratio­nalität und Imagination statt Reflexion scheinen die Imperative der Medienkultur zu sein.
Unsere Diskussion dreht sich deshalb auch nicht so sehr um den
ontologischen Nachweis dessen, was diese Veränderungen sind
(etwa wie weit Mediatisierung in bestimmten Bereichen fortgeschritten ist), sondern mehr um die Frage, wie diese Prozesse möglich sind und was die Folgen dieser Prozesse sind. Wir suchen dabei
nicht nach dem Eindeutigen und Klaren, sondern nach den Uneindeutigkeiten und Widersprüchen, die diese Prozesse eben auch
(wenn auch nicht exklusiv) zur Folge haben. Deshalb werden wir
das Paradox als Kategorie der Analyse und als Heuristik verwenden.
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Wie ihn Wilke (2001, 2002, 2003) als Verlust der Ordnung der Territorien, der
Ordnung des Wissens und als Verlust der Ordnung der Nationalstaaten beschreibt; ob als Unsicherheit, Précarité, Incertezza, Insecurity bezeichnet oder als
Unbehagen paraphrasiert: siehe etwa Glotz (2000), Ferguson (2001), Soros (2001),
Forrester (2001), Mies (2001), im Kontext von Web 2.0 etwa Burke (2014), Keen
(2015) (unter dem Terminus disruptive Technologie).
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Nach grundlegenden Betrachtungen über die Mediatisierung, das
Wesen des Paradoxen und sein Verhältnis zur Wissenschaft wollen
wir das Konzept der Entfaltung von Paradoxien auf die Mediatisierung von Wirtschaft, von Politik, von Organisationen, von Medien
selbst anwenden. Fragen nach Individualität und Identität, nach der
conditio humana, stehen am Abschluss dieser Diskussion. Ein Ausklang hat das Paradox als Projekt (der Lebensführung oder auch nur
der Reflexion) zum Inhalt.