ist DER MENSCH - Bistum Magdeburg

»SEHT, da
ist DER
MENSCH«
/
PROGRAMM
KÜNSTLER
#1
Lucas Foglia (geb. 1983) —
aus der Serie: A Natural Order, 2006—2010
Farbfotografie, C-Prints nach digitalen Vorlagen,
Leihgabe des Künstlers
Für die Fotoserie »A Natural Order« hat sich
der amerikanische Fotograf Lucas Foglia auf eine
Reise durch den Südosten der Vereinigten Staaten
begeben, um über einen Zeitraum von mehreren
Jahren das Leben von Menschen zu dokumentieren, die sich bewusst für ein Leben außerhalb
der Zivilisation und üblicher gesellschaftlicher
Normen entschieden haben. Die Motivation
dieser Menschen, eine autarke Lebensweise zu
führen — nahezu herausgelöst aus den Zwängen
der Industriekultur und in enger Bindung an die
Natur — ist vielseitig und reicht von ökologischen
Bedenken, religiösen Überzeugungen bis zu Sorgen
angesichts einer rezessiven Weltwirtschaft. Lucas
Foglia, der selbst auf einer kleinen Farm auf Long
Island, New York, in einer Familie aufwuchs, die Teil
der »back-to-the-land«-Bewegung der 1970er
Jahre war, schaffte es, getragen von einer Basis des
gegenseitigen Vertrauens, zu erfahren, worin die
typischen Momente des Lebens dieser Menschen
sichtbar werden und konnte so intime, scheinbar
simple und gleichzeitig eindrückliche Beobachtungen aus ihrem Alltag festhalten.
»A Natural Order« zeigt das Porträt eines
anderen Amerikas, das von Menschen gestaltet
wird, die ihr Leben an der Idee der Rückbesinnung
auf das Ursprüngliche ausrichten. Offen bleibt die
Frage, inwieweit ein Leben ähnlich dem der ersten
Menschen und frei von jeglichen zivilisatorischen
Einflüssen überhaupt möglich ist.
#2
Johanna Bartl (geb. 1956) — bewegen, 1993/1999
Video, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen
Magdeburg
30.04.—
12.06.2016
ÜBER DIE AUSSTELLUNG
Eine Kunstaustellung anlässlich des
100. Deutschen Katholikentages
Die Geschichte der Bilder vom Menschen
ist in der christlich-abendländisch geprägten
Kunst über Jahrhunderte die Geschichte der
religiösen Bilder. Christus- und Marienbilder,
Heiligen- und Stifterbildnisse, ihre Existenz ist
eingebettet in die Überlieferungen der christlichen Lehren und Glaubenspraktiken. »Du sollst
dir kein Bildnis machen«, heißt es bei Moses
(Ex 20,1-6); so predigt später der Zisterzienser
Bernhard von Clairvaux und so wiederholen
es die Reformatoren. Anders als im Judentum,
Zoroastrismus und Islam, die weder Darstellungen von Menschen noch Tieren in den
Synagogen und Moscheen kennen, bleibt das
Bild vom Menschen über lange Zeit eng mit dem
Christentum verbunden und die Darstellung des
Menschen ist über die Jahrhunderte hinweg im
Zentrum der Aufmerksamkeit geblieben.
Noch heute ist das Bild des Menschen eines
der zentralen Themen der Künstler. »Seht, so
ist der Mensch«: schwach wie Pilatus, ängstlich
wie Petrus, ungläubig wie Judas, ausgeliefert
wie Jesus; aber seht, auch so ist der Mensch:
gütig, liebend und allzeit hoffend. Das Bild dieses vielansichtigen Menschen unserer Zeit, der
immer anders ist, nie gleich, der viele Facetten
hat, der mal verletzlich ist und mal brutal, der
ein anderes Mal staunend und erkennend Gutes
tut: Das ist das Bild, das uns Künstler heute
vom Menschen zeigen.
Wir schauen auf unser eigenes Bild, das wir
nicht unbedingt gern sehen, und auf jene Bilder, die uns immer wieder begegnen, die sich
einspannen in das menschliche Leben zwischen
Geburt und Tod. Es sind Bilder, die emotional
und anrührend, anklagend und versöhnend
sind. Es sind Bilder, die immer wieder der
Frage nachgehen: Was macht den Mensch zum
Menschen?
Bleibt der Mensch nach seinem Ableben im
Datennetz erhalten? So könnte zum Beispiel
die aktuellste Frage nach dem Menschenbild
lauten. Haben digitale Netzwelten nicht nur
neue Realitäten geschaffen, sondern auch das
Menschenbild profund verändert?
Heute sind Christus- und Menschenbilder
in der Kunst weit entfernt von religiösen Festlegungen und Bestimmungen. Sie sind vielmehr
Zeugnis einer intensiven Auseinandersetzung
mit dem neuen Bild des Menschen, wie es seit
der Reformation Verbreitung fand.
Die vielschichtige Bedeutung dieses
Menschenbildes ermöglicht es uns heute zu
erkennen, dass wir als freie Menschen in voller
Verantwortlichkeit für unser Tun handeln und
das Gerechtigkeit und Freiheit zu den wichtigsten Grundwerten der Menschheit gehören.
Sie sind herzlich eingeladen, den zweiten
Teil der Ausstellung vom 21. Mai 2017 bis 05.
November 2017 im Kunstmuseum Kloster Unser
Lieben Frauen Magdeburg anlässlich des Reformationsjubiläums zu sehen.
Veranstalter
Kunstmuseum
Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg
Kuratorin
Dr. Annegret Laabs
wissenschaftliche Assistentin
Marjoleine Leoniek Leever
www.mensch.kunstmuseum-magdeburg.de
Der erste Eindruck ist das markante Geräusch
der schlurfenden Schaufel, welche körperliche
Arbeit verrät. Dieses Geräusch bestätigt sich im
filmischen Bild, das in Nahaufnahme eine Schaufel
zeigt, die den gleichförmigen Vorgang des Sandschaufelns wieder und wieder aufzeigt. Nicht
erkennbar bleibt, wer die Schaufel in der Hand hält
und wozu die Tätigkeit dient. Das unveränderliche
Bild verweist allein auf den Vorgang selbst, der sich
im Licht des Geschehens auf dem Film abgebildet
hat. Ohne erkennbaren Zweck fällt der Vorgang
auf sich selbst zurück, er bezeugt den Ablauf von
physischer Arbeit als archetypisches Verhalten des
Menschen gegenüber all den Dingen, die ihn umgeben und auf die er einwirkt. Auch wenn das Bild des
Menschen, der die Schaufel bewegt — hier ist es die
Künstlerin selbst — im Ausschnitt der Kamera fehlt,
ist der Mensch anwesend und wird unverkennbar
bezeugt. Dennoch, was wir sehen ist gefilmte
Wirklichkeit und damit Bildwirklichkeit, in der sich
die Dinge ausdehnen, ihren eigenen Rhythmus
entwickeln und immer weiter stattfinden.
#3
Ursula Neugebauer (geb. 1960) —
en face, Kurfürstenstraße Berlin, 2013/14
Haare auf Museumskarton, Leihgabe der Künstlerin
Im Mittelpunkt dieses Werkzyklus’ stehen die
Gesichter von Frauen, die auf dem Straßenstrich
der Berliner Kurfürstenstraße als Prostituierte
arbeiten. Ursula Neugebauer porträtierte die
Frauen anhand der Haare, welche sie ihr dafür zur
Verfügung gestellt hatten. Ausgangspunkt für die
Porträts waren zunächst Bleistiftskizzen, die die
Künstlerin zunächst von den Frauen — zumeist in
deren Arbeitspausen — in einem Café der christlichen Lebenshilfe anfertigte. So entstand eine
vertrauensvolle Nähe und für die Porträtierten insbesondere die Erfahrung ganz anders als gewohnt
als Mensch und nicht als Ware wahrgenommen zu
werden. So schemenhaft die Porträts zuerst wirken, so detailliert sind sie bei näherer Betrachtung.
Über die verschiedenen Farben, Strukturen und
Längen der Haare hinaus, lassen sich aus deren
Gewirr, nur vage angedeutet, individuelle Züge
und Gesichtsausdrücke erkennen. Vor allem aber
verleiht den Porträtierten das Material ihrer Haare
eine besondere Präsenz, eine Aura, ähnlich einer
Reliquie.
Vergleichbar sind die Porträts auch den sogenannten »Haarbildern«, einer Tradition aus dem
Bereich der Gedenkkultur, die vor allem vor der
Erfindung der Fotografie als Erinnerungsstücke
aus den Haaren von Familienangehörigen angefertigt wurden. Ursula Neugebauer verbindet die
Andeutung des menschlichen Antlitz’, dem Ort
emotionalen Ausdrucks, mit der tatsächlichen
physischen Anwesenheit ihrer Porträtierten und
erzeugt damit eine wahre Realpräsenz der Frauen,
die sie abbildet.
#4
Tim Eitel (geb. 1971) —
Minute, 2012
Öl auf Leinwand, Privatsammlung Tegernsee
Chevelure (vue II), 2014
Öl auf Leinwand, Privatsammlung
Cable, 2014
Öl auf Holz, Privatsammlung
Menschen von hinten, von der Seite, im Nebel
und aus der Ferne: die Dargestellten scheinen sich
der bekannten Kategorie des Porträts ganz selbstbewusst entziehen zu wollen. Tim Eitels Bildsprache charakterisiert eine seltene Balance zwischen
der Realität unseres gegenwärtigen Lebens und
einer ungreifbaren und dennoch spürbaren Überzeitlichkeit. Die Koordinaten von Zeit und Raum
fehlen, jedwede Vereinnahmung, ob ideologisch
oder persönlich, ist getilgt und doch ergreift uns
eine »heilige Andacht« angesichts des Menschen.
#5
Monika Huber (geb. 1959) —
aus der Serie: Einsdreissig, 2011—2013
Farbfotografie, Fine art print,
Leihgabe der Künstlerin
Monika Huber verfolgte wie viele Menschen
im Frühjahr 2011 die Nachrichten vom Arabischen
Frühling im Nahen Osten: Jubelnde Anti-GaddafiRebellen auf einem alten Pick-up filmen mit ihren
Mobiltelefonen das Geschehen um sich herum. Ihre
Bilder vom Sturz des libyschen Diktators gingen
in allen wichtigen Nachrichtensendungen um die
Welt. Etwa zur gleichen Zeit demonstrierten Menschen in Ägypten, dem Jemen, Bahrain, Jordanien
und Syrien. Auch aus diesen Regionen erreichten
unzählige Fotos und Filme von den Demonstrationen über Internet und Fernsehen Menschen in aller
Welt.
Die Fernsehbilder, die im Frühjahr 2011 die
Nachrichten vom Arabischen Frühling im Nahen
Osten begleiteten, waren der Auslöser für das
Projekt »Einsdreissig«. Genau 1:30 min dauert für
gewöhnlich ein Filmbeitrag in den »Tagesthemen«
oder dem »Heute Journal«. Monika Huber fotografierte Nachrichtenbilder aus dem Fernsehen ab,
druckte einzelne Ausschnitte auf Zeichenpapier
aus und übermalte diese mit schwarz-weißen
Farben. Auf ihren verfremdeten Bildern stehen
die dargestellten Ereignisse symbolisch für die
Flut an Nachrichtenbildern aus Krisengebieten,
die täglich über die Zuschauer hereinbricht. Auch
hier ähneln sich die Bilder zum Teil so sehr, dass sie
austauschbar, ja beliebig werden. Selten lassen sich
Quelle und Herkunftsort eindeutig identifizieren.
Dem Zuschauer bleibt es allein überlassen, ob er
ihrem Informationsgehalt vertraut oder nicht. Der
Betrachter sieht sich mit Fragen konfrontiert. Welchen Informationswert haben Nachrichtenbilder?
Wo beginnt die Realität? Wieviel menschliche Grausamkeit können wir täglich ertragen und weshalb?
Die Antworten müssen wir selbst finden.
#6
Robert Kunec (geb. 1978) —
1/1 Suicide Bomber, 2008
Glasfaser, Sammlung des Landes Sachsen-Anhalt
als Dauerleihgabe an das Kunstmuseum
Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg
Der Bildhauer Robert Kunec verhandelt in
seinem Werk immer wieder Mechanismen von
Fundamentalismus, Gewalt, Terrorismus und ihrer
medialen Darstellung. So auch in seiner Arbeit
»1/1 Suicide Bomber«. Hier beleuchtet er auf
provokante Weise das Phänomen des Selbstmordattentats, indem er es scheinbar verharmlost.
Zu sehen ist ein lebensgroßer Bausatz für einen
Selbstmordattentäter, dessen Einzelteile man
gleich einer Spielzeugfigur, bestehend aus Armen,
Beinen, einem mit Sprengsätzen besetzten Torso,
einem vermummten Kopf bis hin zum Maschinengewehr, herausbrechen und zusammenstecken
könnte. Doch drängt sich in dem irritierenden wie
eingängigen Bild die Frage nach der Willensfreiheit
des Individuums auf. Die simple Bedienungsanleitung des Stecksystems versinnbildlicht die blinde
Gefolgschaft, die Instrumentalisierung des Subjekts
durch religiösen Fanatismus und ideologische
Manipulation sowie die damit verbundene Opferbereitschaft.
Kunec stellt bildhaft die Frage nach der Rolle
des Menschen hinter der Uniform und Maske:
Inwiefern sind die religiösen oder politischen
Überzeugungen von ihm selbst gewählt oder ist er
doch nur eine Figur, die auf ihren nächsten Spielzug
wartet?
#7
Joel Sternfeld (geb. 1944) —
aus der Serie: Stranger Passing, 1985—2001
Farbfotografie, C-Print, Leihgabe des Künstlers,
Luhring Augustine, New York und
Buchmann Galerie Berlin
Über einen Zeitraum von 15 Jahren reiste
Joel Sternfeld durch Amerika, um Menschen zu
porträtieren. Ob ein Banker beim Abendessen, ein
Teenager mit dem Einkaufswagen, ein Obdachloser,
der sein Bettzeug in den Händen hält — es sind unspektakuläre Situationen, aus denen die intelligente
und sensible Beschreibung der amerikanischen
Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden ist.
Die Fotografien zeigen nicht nur unterschiedlichste soziale Gruppen und Milieus, sondern
erzählen auch von divergierenden Lebensstilen und
von einem Amerika, das stolz und individualistisch
ist. Die Unterschiede, die diese Menschen voneinander trennen und die Ähnlichkeiten, die sie verbinden, werden in Joel Sternfelds zurückhaltender
distanzierter Sichtweise zu einem sehr
feinfühligen Porträt der Menschen unserer Zeit und
erinnern an das Fotoprojekt, das August Sander
in den 1920er Jahren unter dem Titel »Menschen
des 20. Jahrhunderts« konzipierte und in dem er
mehrere Hundert seiner Porträts von Menschen
unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und
Berufsgruppen zusammenstellte.
#8
Sigalit Landau (geb. 1969) — Barbed Hula, 2000
Video, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen
Magdeburg
Im Bild erscheint die Künstlerin selbst, völlig
nackt, tanzend mit dem Hula-Hoop-Reifen um
die Hüften am Strand zwischen Jaffa und Tel Aviv.
Doch die grazile Bewegung des schönen, nackten
Körpers wird je gestört durch das Herannahen der
Kamera, die den Blick freigibt auf eine ganz andere
Dimension der Szenerie. »Barbed Hula« — der Hula-Hoop-Reifen besteht aus Stacheldraht. Draht,
der sich erbarmungslos in die glatte Haut des
Körpers bohrt und grausame Wunden hinterlässt.
Erzwungen durch die erotische Hüftbewegung des
weiblichen Körpers werden die Wunden eben erst
als schmerzvolle Gefahr diagnostiziert, im nächsten
Moment zum Ornament einer längst in der Vergangenheit liegenden Selbstzerstörung.
Das für den Betrachter kaum zu ertragende
Bild der permanenten Selbst-Verletzung wird vor
dem biografischen Hintergrund, der in Tel Aviv
lebenden Künstlerin schnell zum schmerzvollen
Statement einer im permanenten Krieg zwischen
Israel und Palästina aufgewachsenen Generation.
Die Gegensätze von Schmerz und Anmut, Elend
und Grazie verbinden sich mit dem Symbolgehalt
des Stacheldrahtes, den aus der christlichen
Ikonographie bekannten Elementen der Ecce
Homo Darstellungen und den ganz persönlichen
Schmerzerfahrungen des Betrachters. Schließlich
ist es auch die Frage nach der alten Opferthematik,
nach den persönlichen Grenzen, danach, wo das
Spiel endet und wo es in Gewalt umbricht. Wie eng
ist der Raum des Widerstandes im politischen und
sozialen Miteinander geworden?
#9
Hans-Wulf Kunze (geb. 1955) —
Porträt, 2000—2002
Farbfotografie, Pigmentdruck nach Farbnegativen,
2016, Leihgabe des Künstlers
In der Serie »Porträt« nähert sich Hans-Wulf
Kunze auf behutsame Weise jenem besonders fragilen Moment des Übergangs von der Kindheit zum
Erwachsensein. Kunze porträtiert die Jugendlichen
bzw. jungen Erwachsenen vor einem hellen Hintergrund, der die Aufnahme ganz auf die abgebildete
Person konzentriert und so aus jeglichem sozialen
Umfeld herauslöst. Dank der mehr oder weniger
bewussten Selbstinszenierung der Porträtierten
dokumentieren die Bilder ganz individuelle und
angesichts der eigenen noch unbestimmten gesellschaftlichen Position zwischen Unsicherheit und
Stolz schwankende Persönlichkeiten.
Die Faszination und besondere Qualität dieser Bilder entsteht durch eine vertrauensvolle
Beziehung zwischen Fotograf und fotografierten
Personen, wie sie für die Porträtfotografie ideal ist.
Ausschließlich diese ermöglicht es, eine konzentrierte Momentaufnahme von ungewöhnlicher Nähe
einzufangen.
#10
Jochen Gerz (geb. 1940) — der Eintrag, 2002/03
Edition Sandmann und Haak 12/12
Leuchtkasten, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben
Frauen Magdeburg
Von Jochen Gerz kennt man Denkmäler, die in
Interaktion mit den Menschen entstanden, Aktionen, in denen er die Grenze zwischen Künstler und
Betrachter auflöst. Doch auch die Sprache ist immer im Zentrum seiner Kunst geblieben. Die kleine
hinterleuchtete Tafel zeigt den fiktiven Lexikoneintrag »Barbar«, wie er einem etymologischen Wörterbuch der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts
entnommen sein könnte. Doch beim Lesen stutzt
der Betrachter über den Zusammenhang: »Barbar:
griechisch für Mensch, der sich von Moral blenden
lässt«? Nein, der Barbar wird in unserem Sprachgebrauch abfällig in der Bedeutung »roh-unzivilisiert,
ungebildet« verwendet und für die Griechen war
er Bezeichnung für jene, die des Griechischen nicht
mächtig waren, also für alle Fremden.
Die Neuschöpfung des Lexikoneintrages als
Umkehrung der Bedeutung durch den Künstler wird
erst durch die Zuordnung des Wortes »Deutschland« endgültig aufgelöst: Nicht mehr die anderen
sind die Barbaren, sondern jene, die im Sinne
vermeintlich gültiger Moralvorstellungen handeln.
Nun werden sie der »Barbarei« angeklagt. Kunst ist
bei Jochen Gerz immer eine Aufforderung und eine
Mahnung: »Meine Kunst hat mit Handeln zu tun«,
sagt der Aktionskünstler über seine Arbeit und natürlich will Gerz mit seiner Kunst provozieren und
aufrütteln. Wenn er sagt: »Ich finde, man merkt
uns zu wenig die Kunst an.«
#11
Bjørn Melhus (geb. 1966) — Sometimes, 2002
5-Kanal-Videoinstallation, Leihgabe des Künstlers
In »Sometimes« untersucht Bjørn Melhus die
menschlichen Bewusstseinsebenen zwischen
Realität und Fiktion. Vier sehr ähnliche Charaktere,
alle vom Künstler selbst verkörpert, versammeln
sich um eine sprechende Lichtquelle aus fünf auf
dem Boden aufgestellten Monitoren und beginnen
angesichts einer abstrakten Bedrohung Fragen an
ein imaginäres Gegenüber in ihrer Mitte zu stellen.
Erst zaghaft, dann stärker beginnt der Dialog: »Wo
ist die Welt, it´s all right? … Es ist unmöglich — das
Einzige, was ich kenne, ist Jesus Christus … und die
Hölle, die nicht? ... es ist unmöglich … niemals …
Jesus Christus, we are in trouble — sometimes …«.
All diese Wortfetzen der Ratlosigkeit hören wir von
dem jungen Mann im Schlafanzug mit dem Plüschteddy in der Hand — einem, der nicht erwachsen
werden kann, oder will? Wir wissen es nicht und
doch, es beschleicht uns Unbehagen — wir können
nun nicht mehr ordnen, was wir sehen: Gut oder
Böse, Schön oder Hässlich?
Es ist eine Bedrohung, die durch nichts fassbar
scheint, die aus der Schönheit der Katastrophe
ebenso, wie aus der Unbestimmtheit lebt, in der
sich das Ungeheuerliche nähert, um sofort wieder
zu verschwinden, und an dessen Ende alles Fiktive
aufgefangen scheint in der realen stimmlichen
Vereinigung der vier Charaktere im Ritual eines
gemeinsamen Überlebenskampfes, der die
Menschheit eint.
#12
Jannis Kounellis (geb. 1936) — Senza Titolo, 2012
Mäntel auf Eisenblech, Kunstmuseum Kloster Unser
Lieben Frauen Magdeburg
Trotz seiner scheinbaren Abwesenheit steht der
Mensch im Werk des griechischen Künstlers Jannis
Kounellis im Mittelpunkt. Seine Arbeit von 2012
zeigt nicht den Menschen selbst, wohl aber Spuren
seiner Existenz. Die schwarzen Mäntel sind durch
grobe Nähte miteinander verbunden, fest verzurrt
zu einem Geflecht, das die darunterliegenden Eisenplatten eng umspannt. Der Mantel repräsentiert
den Menschen in seiner Abwesenheit, er bildet
seine Hülle und ist Zeichen seiner Identität. Die
Individualität, die der Mantel für gewöhnlich seinem
Träger verleiht, löst sich im Nebeneinander der sich
wiederholenden Formen und Farben auf. Nicht das
Individuum steht im Mittelpunkt der Betrachtung,
sondern der Mensch allgemein.
Auch in den Eisenplatten, die von den Mänteln
umschlossen werden und nur an manchen Stellen
zwischen ihnen hindurchschimmern, findet sich das
menschliche Maß. Zusammen sind sie 2 m hoch und
1,80 m breit und haben somit die Dimensionen eines Doppelbettes. Jene Größe ist für Kounellis eine
universelle, sie repräsentiert den Menschen — als
individuelles wie als soziales Wesen. Die Metaphorik
führt uns die Bedingungen des Menschseins vor
Augen: Eingebunden in soziale Gefüge sind wir Normen, Werten und Erwartungen gesellschaftlicher
Zusammenhänge fast unweigerlich ausgeliefert.
#13
Peter Bräunig ( geb. 1980),
Grit Bümann (geb. 1981), Ansgar Frerich (geb. 1977)
— Fluchtpunkt-Perspektiven, 2016
Sound-Video-Installation, 12-teilig,
Leihgabe der Künstler
Ein beeindruckendes Klangbild und zwölf
Porträts in Lebensgröße, die uns ihre Geschichten
von Flucht und Vertreibung, aber auch von ihren
großen Hoffnungen erzählen: Für die im Januar
2016 entstandene Bild-Toninstallation »Fluchtpunkt-Perspektiven« hat Grit Bümann Menschen,
die aus ihrer Heimat fliehen mussten, nach ihren
Hoffnungen und Träumen, nach ihren Ängsten und
nach ihren seelischen Verwundungen befragt.
Zu Wort kommen all jene, die in den letzten
70 Jahren ihre Heimat verlassen haben, von der
90jährigen Umsiedlerin, über die griechische
Einwanderin, den Familienvater, der 1989 mit seiner
Familie die DDR verließ bis hin zu jenen, die in den
letzten Jahren aus Kriegsgebieten kamen und in
Deutschland eine neue Heimat gefunden haben.
Entstanden ist eine Bild-Tonfolge, die beispielhaft
zeigt, wie Künstler heute die vielfältigen Facetten
des modernen Menschenbildes in der Verantwortlichkeit des Einzelnen beschreiben.
#14
Walter Schels (geb. 1936) —
Noch mal leben vor dem Tod, 2004
Schwarzweißfotografie, 2016,
Leihgabe des Künstlers
In diesem Bild-Text-Zyklus nähern sich die
Journalistin Beate Lakotta und der Fotograf Walter
Schels auf würdevolle und behutsame Weise dem
in unserer heutigen Gesellschaft weitestgehend tabuisierten Thema Tod. Hierfür baten sie Menschen
unterschiedlichen Alters, sie auf ihrem letzten
Lebensweg begleiten zu dürfen. Entstanden sind
eindringliche, bewegende Schwarzweißporträts,
fern von Voyeurismus und Dramatik. Den Fokus
auf das Gesicht gesetzt, zeigen je zwei Fotografien
die Menschen lebend und einmal unmittelbar
nach dem Tod. Ergänzend zu den Doppelporträts
erzählen die Texte von den unterschiedlichen
Lebens- und Sterbensgeschichten und geben einen
intimen Einblick in die Hoffnungen und Ängste der
Menschen und ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Unvermeidlichen.
Walter Schels gelingt es mit dieser Serie zu
zeigen, dass das letzte Bild des Menschen sehr wohl
das des Toten sein kann und macht so den Tod,
dieses uns alle erwartende und dennoch gesellschaftlich verdrängte Schicksal, als Teil des Lebens
sichtbar.
#15
Christian Boltanski (geb. 1944) —
Souvenir de Jeunesse, 2001
Installation, vierteilig, Bildtafeln, Eisenträger,
Lampen, Leihgabe der NORD/LB Kulturstiftung
Unter dem Titel »Souvenir de Jeunesse« — Erinnerung an die Jugend — beleuchtet der Künstler,
wie in vielen seiner Werke, die Fähigkeit des Menschen, sich aktiv zu erinnern. Auf von kleinen Lampen schwach erleuchteten Tafeln sind zahlreiche
Schwarzweißfotografien zu sehen, wie sie in ihrer
Amateurhaftigkeit und Schnappschussästhetik
in jedem Familienalbum zu finden sind. Hinweise
auf die Identität der abgebildeten Personen gibt
es nicht, sodass sich der Verdacht aufdrängt in
ein privates Archiv zu blicken. Die Imagination des
Betrachters wird augenblicklich in Gang gesetzt:
Sind es die Spuren der Kindheit und Jugend des
Künstlers oder werden mithilfe der Vermischung
von eigenen und fremden Fotos Familiengeschichten sogar fingiert? Der Künstler lockt so den
Betrachter auf eine bewusst gelegte Fährte, ohne
jedoch Antworten zu geben. Gerade durch diese
Offenheit, verweist der Künstler den Betrachter
auf sich selbst und seine eigene Erinnerung.
Christian Boltanski verdeutlicht in vielen seiner
Werke, wie unmittelbar die menschliche Erinnerungsfähigkeit an Bilder geknüpft ist, durch die sich
das Vergangene und Erlebte vergegenwärtigt und
er beschreibt sogleich die Suche nach Vergangenheit als menschliches Bedürfnis, als Suche nach
sich selbst.
#16
Timm Ulrichs (geb. 1940) —
The End, Augenliedtätowierung, 1970/16.05.1981
Schwarzweißfotografie, Fine art print,
Leihgabe des Künstlers
Der »Totalkünstler« Timm Ulrichs geht nicht
selten von seinem eigenen Körper aus, den er
von Beginn an als den »Rohstoff« seiner Kunst
versteht. Für eine Fotoarbeit lässt er sich 1970 die
Worte »The End« auf das rechte Augenlid tätowieren. Es sind Worte, die wir aus dem Abspann
von Filmen ebenso wie als Liedtitel der Band »The
Doors« kennen. Wenn sich das Augenlied zum
allerletzten Mal schließt, dann ist der Film, wie das
Leben zu Ende.
Fragilität und Gefährdung, Tod und Auslöschung
der menschlichen Existenz sind immer wieder
zentrale Themen des Aktionskünstlers. So wie
die Zielscheibe auf seinem Körper (1974) oder die
Straßenpflaster aus Schädeldecken (1978), soll auch
»The End« den Gedanken an den Tod mit ins Leben
hineinnehmen, um stellvertretend dafür zu stehen,
dass unser Leben fragil und endlich ist, auch wenn
wir es nicht stets vor Augen haben wollen.
#17
Michael Meier (geb. 1982),
Rico Scagliola (geb. 1985) —
Double Extension Beauty Tubes, 2010
10-Kanal-Audio-Video-Installation,
Leihgabe der Künstler
Unter dem ausdrucksstarken Titel »Neue
Menschen« veröffentlichten die Schweizer Fotografen Michael Meier und Rico Scagliola 2011 einen
Fotografieband, der ein eindrucksvolles Porträt
der aktuellen Jugendgeneration zeigt. Diese ist
als erste mit den digitalen Medien aufgewachsen
und zeichnet sich, geprägt von den Bildwelten des
Internets, durch ein starkes Bewusstsein für Bilder
und die Lust an der fotografischen Selbstinszenierung aus. Über zwei Jahre haben die Künstler Teenager begleitet, sich in deren Leben eingefühlt und
sie aus dieser Innenperspektive heraus fotografiert
und gefilmt.
Entstanden ist ein Archiv von mehr als tausend
Fotografien und Videos, die im Rahmen dieser
raumgreifenden 10-Kanal-Audio-Video-Installation
präsentiert werden. In verdichteter Form bietet
diese Installation nicht nur einen Einblick in die
Fülle an Ausdrucksformen der aktuellen Jugendkulturen, sondern macht vor allem deutlich, dass sie
alle das selbstbewusste Posieren vor der Kamera
und das Wissen darum, sich selbst in Szene zu
setzen, verbindet. Das eigene Abbild wird so zur
neuen Lebensrealität, die es ermöglicht Wünsche
und Sehnsüchte auszuleben. Wie keine andere
Generation zuvor, setzen diese Jugendlichen den
Fokus auf das eigene Ich, das sich im Spiegel der
Bilder zu formen und zu dehnen scheint, um sich in
der Welt zu verorten.
Dabei bewegt sie sich in poetischen Bildern immer
nah an der Schnittstelle zwischen dem Sichtbaren
und dem Unsichtbaren.
In alltäglichen Situationen begegnen sich Menschen auf Straßen und Plätzen der Städte und sind
doch weit davon entfernt, so etwas wie zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Der selten
verwendete englische Begriff »Mismeetings«
(Martin Buber) drückt die Situation einer verfehlten
wirklichen Begegnung zwischen Menschen aus. Sie
wurde zum Thema dieses Films, für den Kassandra
Wellendorf über 20 Tage hinweg an der zentralen
Bushaltestelle in Kopenhagen das Verhalten von
wartenden Passanten beobachtete. Einerseits sind
es Nervosität, Hektik, Neurasthenie, die unser
Lebensgefühl zu Beginn des 21. Jahrhunderts
intensiver als je zuvor bestimmen, die in den urbanen Zentren ein Gefühl pulsierenden Lebens bei
ständiger Beschleunigung erzeugen. Andererseits
fühlen sich Menschen nach wie vor nirgends so
einsam und verlassen wie in der Anonymität großer
Städte. »Invisible« ist die filmische Auseinandersetzung mit diesem Spannungsverhältnis, das aus
physischer Nähe und sozialer Distanz der Menschen
zueinander entsteht.
VERANSTALTUNGEN
04.05.2016,
19:00 Uhr
»Der Mensch und das Gesetz. Die 10 Gebote
versus das Grundgesetz — Gedanken zur Aktualität
der 10 Gebote als ethische Grundlage für die Menschen unserer Zeit.«
Referent: Winfried Schubert, Präsident des
Oberlandesgerichts in Naumburg i.R.
11.05.2016,
19:00 Uhr
Filmprogramm: »Augenblicke — 2016«,
10 Kurzfilme zum Thema Mensch (alle Titel auf der
Homepage), ein Projekt der Deutschen Bischofskonferenz — Bereich Kirche und Gesellschaft
anschl. Diskussion und Ausstellungsrundgang
17.05.2016,
19:00 Uhr
»Menschsein als Mann und Frau oder?«
Referentin: Claudia Leide, Familienreferentin
Bistum Dresden-Meißen
24.05.2016,
19:00 Uhr
»Himmelsleiter«
Eine Erzählung von Ludwig Schumann, Schriftsteller, mit Musik von Uwe Kropinski, Gitarrist Berlin
26.05.2016,
14:00 Uhr
Ausstellungsrundgang mit
Marjoleine Leoniek Leever, wissenschaftliche Assistentin der Ausstellung
27.05., 28.05., 29.05.2016,
jeweils 14:00 Uhr
Ausstellungsrundgang mit
Dr. Annegret Laabs,Kuratorin der Ausstellung
27.05.2016,
19:00 Uhr
Oper Leipzig, Rang, 2.OG
Gespräch zur Ausstellung mit
Dr. Petra Bahr, Leiterin der Hauptabteilung Politik
und Beratung der KAS, Berlin
Dr. Herbert Fendrich, Bischöflicher Beauftragter
für Kirche und Kunst des Bistums Essen
Prof. Monika Grütters MdB, Staatsministerin für
Kultur und Medien, Berlin
Dr. Annegret Laabs, Direktorin Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg
Eine Ausstellung des
gefördert von der Beauftragten der
Bundesregierung für Kultur und Medien
aufgrund eines Beschlusses des
Deutschen Bundestages
gefördert von:
Erzbistum Berlin, Bistum Dresden-Meißen,
Bistum Erfurt, Bistum Görlitz und Bistum
Magdeburg
#18
Kassandra Wellendorf (geb. 1966) —
Invisible, 2005
Video, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen
Magdeburg
Der öffentliche Raum und wie wir uns darin
verhalten, Nähe und Distanz zum anderen, intensive Gefühle und Empfindungen sind Themen, die
Kassandra Wellendorf für ihre Filme wählt.
weitere Informationen:
www.mensch.kunstmuseum-magdeburg.de