»SEHT, da ist DER MENSCH« / PROGRAMM KÜNSTLER #1 Lucas Foglia (geb. 1983) — aus der Serie: A Natural Order, 2006—2010 Farbfotografie, C-Prints nach digitalen Vorlagen, Leihgabe des Künstlers Für die Fotoserie »A Natural Order« hat sich der amerikanische Fotograf Lucas Foglia auf eine Reise durch den Südosten der Vereinigten Staaten begeben, um über einen Zeitraum von mehreren Jahren das Leben von Menschen zu dokumentieren, die sich bewusst für ein Leben außerhalb der Zivilisation und üblicher gesellschaftlicher Normen entschieden haben. Die Motivation dieser Menschen, eine autarke Lebensweise zu führen — nahezu herausgelöst aus den Zwängen der Industriekultur und in enger Bindung an die Natur — ist vielseitig und reicht von ökologischen Bedenken, religiösen Überzeugungen bis zu Sorgen angesichts einer rezessiven Weltwirtschaft. Lucas Foglia, der selbst auf einer kleinen Farm auf Long Island, New York, in einer Familie aufwuchs, die Teil der »back-to-the-land«-Bewegung der 1970er Jahre war, schaffte es, getragen von einer Basis des gegenseitigen Vertrauens, zu erfahren, worin die typischen Momente des Lebens dieser Menschen sichtbar werden und konnte so intime, scheinbar simple und gleichzeitig eindrückliche Beobachtungen aus ihrem Alltag festhalten. »A Natural Order« zeigt das Porträt eines anderen Amerikas, das von Menschen gestaltet wird, die ihr Leben an der Idee der Rückbesinnung auf das Ursprüngliche ausrichten. Offen bleibt die Frage, inwieweit ein Leben ähnlich dem der ersten Menschen und frei von jeglichen zivilisatorischen Einflüssen überhaupt möglich ist. #2 Johanna Bartl (geb. 1956) — bewegen, 1993/1999 Video, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg 30.04.— 12.06.2016 ÜBER DIE AUSSTELLUNG Eine Kunstaustellung anlässlich des 100. Deutschen Katholikentages Die Geschichte der Bilder vom Menschen ist in der christlich-abendländisch geprägten Kunst über Jahrhunderte die Geschichte der religiösen Bilder. Christus- und Marienbilder, Heiligen- und Stifterbildnisse, ihre Existenz ist eingebettet in die Überlieferungen der christlichen Lehren und Glaubenspraktiken. »Du sollst dir kein Bildnis machen«, heißt es bei Moses (Ex 20,1-6); so predigt später der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und so wiederholen es die Reformatoren. Anders als im Judentum, Zoroastrismus und Islam, die weder Darstellungen von Menschen noch Tieren in den Synagogen und Moscheen kennen, bleibt das Bild vom Menschen über lange Zeit eng mit dem Christentum verbunden und die Darstellung des Menschen ist über die Jahrhunderte hinweg im Zentrum der Aufmerksamkeit geblieben. Noch heute ist das Bild des Menschen eines der zentralen Themen der Künstler. »Seht, so ist der Mensch«: schwach wie Pilatus, ängstlich wie Petrus, ungläubig wie Judas, ausgeliefert wie Jesus; aber seht, auch so ist der Mensch: gütig, liebend und allzeit hoffend. Das Bild dieses vielansichtigen Menschen unserer Zeit, der immer anders ist, nie gleich, der viele Facetten hat, der mal verletzlich ist und mal brutal, der ein anderes Mal staunend und erkennend Gutes tut: Das ist das Bild, das uns Künstler heute vom Menschen zeigen. Wir schauen auf unser eigenes Bild, das wir nicht unbedingt gern sehen, und auf jene Bilder, die uns immer wieder begegnen, die sich einspannen in das menschliche Leben zwischen Geburt und Tod. Es sind Bilder, die emotional und anrührend, anklagend und versöhnend sind. Es sind Bilder, die immer wieder der Frage nachgehen: Was macht den Mensch zum Menschen? Bleibt der Mensch nach seinem Ableben im Datennetz erhalten? So könnte zum Beispiel die aktuellste Frage nach dem Menschenbild lauten. Haben digitale Netzwelten nicht nur neue Realitäten geschaffen, sondern auch das Menschenbild profund verändert? Heute sind Christus- und Menschenbilder in der Kunst weit entfernt von religiösen Festlegungen und Bestimmungen. Sie sind vielmehr Zeugnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem neuen Bild des Menschen, wie es seit der Reformation Verbreitung fand. Die vielschichtige Bedeutung dieses Menschenbildes ermöglicht es uns heute zu erkennen, dass wir als freie Menschen in voller Verantwortlichkeit für unser Tun handeln und das Gerechtigkeit und Freiheit zu den wichtigsten Grundwerten der Menschheit gehören. Sie sind herzlich eingeladen, den zweiten Teil der Ausstellung vom 21. Mai 2017 bis 05. November 2017 im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg anlässlich des Reformationsjubiläums zu sehen. Veranstalter Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Kuratorin Dr. Annegret Laabs wissenschaftliche Assistentin Marjoleine Leoniek Leever www.mensch.kunstmuseum-magdeburg.de Der erste Eindruck ist das markante Geräusch der schlurfenden Schaufel, welche körperliche Arbeit verrät. Dieses Geräusch bestätigt sich im filmischen Bild, das in Nahaufnahme eine Schaufel zeigt, die den gleichförmigen Vorgang des Sandschaufelns wieder und wieder aufzeigt. Nicht erkennbar bleibt, wer die Schaufel in der Hand hält und wozu die Tätigkeit dient. Das unveränderliche Bild verweist allein auf den Vorgang selbst, der sich im Licht des Geschehens auf dem Film abgebildet hat. Ohne erkennbaren Zweck fällt der Vorgang auf sich selbst zurück, er bezeugt den Ablauf von physischer Arbeit als archetypisches Verhalten des Menschen gegenüber all den Dingen, die ihn umgeben und auf die er einwirkt. Auch wenn das Bild des Menschen, der die Schaufel bewegt — hier ist es die Künstlerin selbst — im Ausschnitt der Kamera fehlt, ist der Mensch anwesend und wird unverkennbar bezeugt. Dennoch, was wir sehen ist gefilmte Wirklichkeit und damit Bildwirklichkeit, in der sich die Dinge ausdehnen, ihren eigenen Rhythmus entwickeln und immer weiter stattfinden. #3 Ursula Neugebauer (geb. 1960) — en face, Kurfürstenstraße Berlin, 2013/14 Haare auf Museumskarton, Leihgabe der Künstlerin Im Mittelpunkt dieses Werkzyklus’ stehen die Gesichter von Frauen, die auf dem Straßenstrich der Berliner Kurfürstenstraße als Prostituierte arbeiten. Ursula Neugebauer porträtierte die Frauen anhand der Haare, welche sie ihr dafür zur Verfügung gestellt hatten. Ausgangspunkt für die Porträts waren zunächst Bleistiftskizzen, die die Künstlerin zunächst von den Frauen — zumeist in deren Arbeitspausen — in einem Café der christlichen Lebenshilfe anfertigte. So entstand eine vertrauensvolle Nähe und für die Porträtierten insbesondere die Erfahrung ganz anders als gewohnt als Mensch und nicht als Ware wahrgenommen zu werden. So schemenhaft die Porträts zuerst wirken, so detailliert sind sie bei näherer Betrachtung. Über die verschiedenen Farben, Strukturen und Längen der Haare hinaus, lassen sich aus deren Gewirr, nur vage angedeutet, individuelle Züge und Gesichtsausdrücke erkennen. Vor allem aber verleiht den Porträtierten das Material ihrer Haare eine besondere Präsenz, eine Aura, ähnlich einer Reliquie. Vergleichbar sind die Porträts auch den sogenannten »Haarbildern«, einer Tradition aus dem Bereich der Gedenkkultur, die vor allem vor der Erfindung der Fotografie als Erinnerungsstücke aus den Haaren von Familienangehörigen angefertigt wurden. Ursula Neugebauer verbindet die Andeutung des menschlichen Antlitz’, dem Ort emotionalen Ausdrucks, mit der tatsächlichen physischen Anwesenheit ihrer Porträtierten und erzeugt damit eine wahre Realpräsenz der Frauen, die sie abbildet. #4 Tim Eitel (geb. 1971) — Minute, 2012 Öl auf Leinwand, Privatsammlung Tegernsee Chevelure (vue II), 2014 Öl auf Leinwand, Privatsammlung Cable, 2014 Öl auf Holz, Privatsammlung Menschen von hinten, von der Seite, im Nebel und aus der Ferne: die Dargestellten scheinen sich der bekannten Kategorie des Porträts ganz selbstbewusst entziehen zu wollen. Tim Eitels Bildsprache charakterisiert eine seltene Balance zwischen der Realität unseres gegenwärtigen Lebens und einer ungreifbaren und dennoch spürbaren Überzeitlichkeit. Die Koordinaten von Zeit und Raum fehlen, jedwede Vereinnahmung, ob ideologisch oder persönlich, ist getilgt und doch ergreift uns eine »heilige Andacht« angesichts des Menschen. #5 Monika Huber (geb. 1959) — aus der Serie: Einsdreissig, 2011—2013 Farbfotografie, Fine art print, Leihgabe der Künstlerin Monika Huber verfolgte wie viele Menschen im Frühjahr 2011 die Nachrichten vom Arabischen Frühling im Nahen Osten: Jubelnde Anti-GaddafiRebellen auf einem alten Pick-up filmen mit ihren Mobiltelefonen das Geschehen um sich herum. Ihre Bilder vom Sturz des libyschen Diktators gingen in allen wichtigen Nachrichtensendungen um die Welt. Etwa zur gleichen Zeit demonstrierten Menschen in Ägypten, dem Jemen, Bahrain, Jordanien und Syrien. Auch aus diesen Regionen erreichten unzählige Fotos und Filme von den Demonstrationen über Internet und Fernsehen Menschen in aller Welt. Die Fernsehbilder, die im Frühjahr 2011 die Nachrichten vom Arabischen Frühling im Nahen Osten begleiteten, waren der Auslöser für das Projekt »Einsdreissig«. Genau 1:30 min dauert für gewöhnlich ein Filmbeitrag in den »Tagesthemen« oder dem »Heute Journal«. Monika Huber fotografierte Nachrichtenbilder aus dem Fernsehen ab, druckte einzelne Ausschnitte auf Zeichenpapier aus und übermalte diese mit schwarz-weißen Farben. Auf ihren verfremdeten Bildern stehen die dargestellten Ereignisse symbolisch für die Flut an Nachrichtenbildern aus Krisengebieten, die täglich über die Zuschauer hereinbricht. Auch hier ähneln sich die Bilder zum Teil so sehr, dass sie austauschbar, ja beliebig werden. Selten lassen sich Quelle und Herkunftsort eindeutig identifizieren. Dem Zuschauer bleibt es allein überlassen, ob er ihrem Informationsgehalt vertraut oder nicht. Der Betrachter sieht sich mit Fragen konfrontiert. Welchen Informationswert haben Nachrichtenbilder? Wo beginnt die Realität? Wieviel menschliche Grausamkeit können wir täglich ertragen und weshalb? Die Antworten müssen wir selbst finden. #6 Robert Kunec (geb. 1978) — 1/1 Suicide Bomber, 2008 Glasfaser, Sammlung des Landes Sachsen-Anhalt als Dauerleihgabe an das Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Der Bildhauer Robert Kunec verhandelt in seinem Werk immer wieder Mechanismen von Fundamentalismus, Gewalt, Terrorismus und ihrer medialen Darstellung. So auch in seiner Arbeit »1/1 Suicide Bomber«. Hier beleuchtet er auf provokante Weise das Phänomen des Selbstmordattentats, indem er es scheinbar verharmlost. Zu sehen ist ein lebensgroßer Bausatz für einen Selbstmordattentäter, dessen Einzelteile man gleich einer Spielzeugfigur, bestehend aus Armen, Beinen, einem mit Sprengsätzen besetzten Torso, einem vermummten Kopf bis hin zum Maschinengewehr, herausbrechen und zusammenstecken könnte. Doch drängt sich in dem irritierenden wie eingängigen Bild die Frage nach der Willensfreiheit des Individuums auf. Die simple Bedienungsanleitung des Stecksystems versinnbildlicht die blinde Gefolgschaft, die Instrumentalisierung des Subjekts durch religiösen Fanatismus und ideologische Manipulation sowie die damit verbundene Opferbereitschaft. Kunec stellt bildhaft die Frage nach der Rolle des Menschen hinter der Uniform und Maske: Inwiefern sind die religiösen oder politischen Überzeugungen von ihm selbst gewählt oder ist er doch nur eine Figur, die auf ihren nächsten Spielzug wartet? #7 Joel Sternfeld (geb. 1944) — aus der Serie: Stranger Passing, 1985—2001 Farbfotografie, C-Print, Leihgabe des Künstlers, Luhring Augustine, New York und Buchmann Galerie Berlin Über einen Zeitraum von 15 Jahren reiste Joel Sternfeld durch Amerika, um Menschen zu porträtieren. Ob ein Banker beim Abendessen, ein Teenager mit dem Einkaufswagen, ein Obdachloser, der sein Bettzeug in den Händen hält — es sind unspektakuläre Situationen, aus denen die intelligente und sensible Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Die Fotografien zeigen nicht nur unterschiedlichste soziale Gruppen und Milieus, sondern erzählen auch von divergierenden Lebensstilen und von einem Amerika, das stolz und individualistisch ist. Die Unterschiede, die diese Menschen voneinander trennen und die Ähnlichkeiten, die sie verbinden, werden in Joel Sternfelds zurückhaltender distanzierter Sichtweise zu einem sehr feinfühligen Porträt der Menschen unserer Zeit und erinnern an das Fotoprojekt, das August Sander in den 1920er Jahren unter dem Titel »Menschen des 20. Jahrhunderts« konzipierte und in dem er mehrere Hundert seiner Porträts von Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen zusammenstellte. #8 Sigalit Landau (geb. 1969) — Barbed Hula, 2000 Video, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Im Bild erscheint die Künstlerin selbst, völlig nackt, tanzend mit dem Hula-Hoop-Reifen um die Hüften am Strand zwischen Jaffa und Tel Aviv. Doch die grazile Bewegung des schönen, nackten Körpers wird je gestört durch das Herannahen der Kamera, die den Blick freigibt auf eine ganz andere Dimension der Szenerie. »Barbed Hula« — der Hula-Hoop-Reifen besteht aus Stacheldraht. Draht, der sich erbarmungslos in die glatte Haut des Körpers bohrt und grausame Wunden hinterlässt. Erzwungen durch die erotische Hüftbewegung des weiblichen Körpers werden die Wunden eben erst als schmerzvolle Gefahr diagnostiziert, im nächsten Moment zum Ornament einer längst in der Vergangenheit liegenden Selbstzerstörung. Das für den Betrachter kaum zu ertragende Bild der permanenten Selbst-Verletzung wird vor dem biografischen Hintergrund, der in Tel Aviv lebenden Künstlerin schnell zum schmerzvollen Statement einer im permanenten Krieg zwischen Israel und Palästina aufgewachsenen Generation. Die Gegensätze von Schmerz und Anmut, Elend und Grazie verbinden sich mit dem Symbolgehalt des Stacheldrahtes, den aus der christlichen Ikonographie bekannten Elementen der Ecce Homo Darstellungen und den ganz persönlichen Schmerzerfahrungen des Betrachters. Schließlich ist es auch die Frage nach der alten Opferthematik, nach den persönlichen Grenzen, danach, wo das Spiel endet und wo es in Gewalt umbricht. Wie eng ist der Raum des Widerstandes im politischen und sozialen Miteinander geworden? #9 Hans-Wulf Kunze (geb. 1955) — Porträt, 2000—2002 Farbfotografie, Pigmentdruck nach Farbnegativen, 2016, Leihgabe des Künstlers In der Serie »Porträt« nähert sich Hans-Wulf Kunze auf behutsame Weise jenem besonders fragilen Moment des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsensein. Kunze porträtiert die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen vor einem hellen Hintergrund, der die Aufnahme ganz auf die abgebildete Person konzentriert und so aus jeglichem sozialen Umfeld herauslöst. Dank der mehr oder weniger bewussten Selbstinszenierung der Porträtierten dokumentieren die Bilder ganz individuelle und angesichts der eigenen noch unbestimmten gesellschaftlichen Position zwischen Unsicherheit und Stolz schwankende Persönlichkeiten. Die Faszination und besondere Qualität dieser Bilder entsteht durch eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Fotograf und fotografierten Personen, wie sie für die Porträtfotografie ideal ist. Ausschließlich diese ermöglicht es, eine konzentrierte Momentaufnahme von ungewöhnlicher Nähe einzufangen. #10 Jochen Gerz (geb. 1940) — der Eintrag, 2002/03 Edition Sandmann und Haak 12/12 Leuchtkasten, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Von Jochen Gerz kennt man Denkmäler, die in Interaktion mit den Menschen entstanden, Aktionen, in denen er die Grenze zwischen Künstler und Betrachter auflöst. Doch auch die Sprache ist immer im Zentrum seiner Kunst geblieben. Die kleine hinterleuchtete Tafel zeigt den fiktiven Lexikoneintrag »Barbar«, wie er einem etymologischen Wörterbuch der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts entnommen sein könnte. Doch beim Lesen stutzt der Betrachter über den Zusammenhang: »Barbar: griechisch für Mensch, der sich von Moral blenden lässt«? Nein, der Barbar wird in unserem Sprachgebrauch abfällig in der Bedeutung »roh-unzivilisiert, ungebildet« verwendet und für die Griechen war er Bezeichnung für jene, die des Griechischen nicht mächtig waren, also für alle Fremden. Die Neuschöpfung des Lexikoneintrages als Umkehrung der Bedeutung durch den Künstler wird erst durch die Zuordnung des Wortes »Deutschland« endgültig aufgelöst: Nicht mehr die anderen sind die Barbaren, sondern jene, die im Sinne vermeintlich gültiger Moralvorstellungen handeln. Nun werden sie der »Barbarei« angeklagt. Kunst ist bei Jochen Gerz immer eine Aufforderung und eine Mahnung: »Meine Kunst hat mit Handeln zu tun«, sagt der Aktionskünstler über seine Arbeit und natürlich will Gerz mit seiner Kunst provozieren und aufrütteln. Wenn er sagt: »Ich finde, man merkt uns zu wenig die Kunst an.« #11 Bjørn Melhus (geb. 1966) — Sometimes, 2002 5-Kanal-Videoinstallation, Leihgabe des Künstlers In »Sometimes« untersucht Bjørn Melhus die menschlichen Bewusstseinsebenen zwischen Realität und Fiktion. Vier sehr ähnliche Charaktere, alle vom Künstler selbst verkörpert, versammeln sich um eine sprechende Lichtquelle aus fünf auf dem Boden aufgestellten Monitoren und beginnen angesichts einer abstrakten Bedrohung Fragen an ein imaginäres Gegenüber in ihrer Mitte zu stellen. Erst zaghaft, dann stärker beginnt der Dialog: »Wo ist die Welt, it´s all right? … Es ist unmöglich — das Einzige, was ich kenne, ist Jesus Christus … und die Hölle, die nicht? ... es ist unmöglich … niemals … Jesus Christus, we are in trouble — sometimes …«. All diese Wortfetzen der Ratlosigkeit hören wir von dem jungen Mann im Schlafanzug mit dem Plüschteddy in der Hand — einem, der nicht erwachsen werden kann, oder will? Wir wissen es nicht und doch, es beschleicht uns Unbehagen — wir können nun nicht mehr ordnen, was wir sehen: Gut oder Böse, Schön oder Hässlich? Es ist eine Bedrohung, die durch nichts fassbar scheint, die aus der Schönheit der Katastrophe ebenso, wie aus der Unbestimmtheit lebt, in der sich das Ungeheuerliche nähert, um sofort wieder zu verschwinden, und an dessen Ende alles Fiktive aufgefangen scheint in der realen stimmlichen Vereinigung der vier Charaktere im Ritual eines gemeinsamen Überlebenskampfes, der die Menschheit eint. #12 Jannis Kounellis (geb. 1936) — Senza Titolo, 2012 Mäntel auf Eisenblech, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Trotz seiner scheinbaren Abwesenheit steht der Mensch im Werk des griechischen Künstlers Jannis Kounellis im Mittelpunkt. Seine Arbeit von 2012 zeigt nicht den Menschen selbst, wohl aber Spuren seiner Existenz. Die schwarzen Mäntel sind durch grobe Nähte miteinander verbunden, fest verzurrt zu einem Geflecht, das die darunterliegenden Eisenplatten eng umspannt. Der Mantel repräsentiert den Menschen in seiner Abwesenheit, er bildet seine Hülle und ist Zeichen seiner Identität. Die Individualität, die der Mantel für gewöhnlich seinem Träger verleiht, löst sich im Nebeneinander der sich wiederholenden Formen und Farben auf. Nicht das Individuum steht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern der Mensch allgemein. Auch in den Eisenplatten, die von den Mänteln umschlossen werden und nur an manchen Stellen zwischen ihnen hindurchschimmern, findet sich das menschliche Maß. Zusammen sind sie 2 m hoch und 1,80 m breit und haben somit die Dimensionen eines Doppelbettes. Jene Größe ist für Kounellis eine universelle, sie repräsentiert den Menschen — als individuelles wie als soziales Wesen. Die Metaphorik führt uns die Bedingungen des Menschseins vor Augen: Eingebunden in soziale Gefüge sind wir Normen, Werten und Erwartungen gesellschaftlicher Zusammenhänge fast unweigerlich ausgeliefert. #13 Peter Bräunig ( geb. 1980), Grit Bümann (geb. 1981), Ansgar Frerich (geb. 1977) — Fluchtpunkt-Perspektiven, 2016 Sound-Video-Installation, 12-teilig, Leihgabe der Künstler Ein beeindruckendes Klangbild und zwölf Porträts in Lebensgröße, die uns ihre Geschichten von Flucht und Vertreibung, aber auch von ihren großen Hoffnungen erzählen: Für die im Januar 2016 entstandene Bild-Toninstallation »Fluchtpunkt-Perspektiven« hat Grit Bümann Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, nach ihren Hoffnungen und Träumen, nach ihren Ängsten und nach ihren seelischen Verwundungen befragt. Zu Wort kommen all jene, die in den letzten 70 Jahren ihre Heimat verlassen haben, von der 90jährigen Umsiedlerin, über die griechische Einwanderin, den Familienvater, der 1989 mit seiner Familie die DDR verließ bis hin zu jenen, die in den letzten Jahren aus Kriegsgebieten kamen und in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Entstanden ist eine Bild-Tonfolge, die beispielhaft zeigt, wie Künstler heute die vielfältigen Facetten des modernen Menschenbildes in der Verantwortlichkeit des Einzelnen beschreiben. #14 Walter Schels (geb. 1936) — Noch mal leben vor dem Tod, 2004 Schwarzweißfotografie, 2016, Leihgabe des Künstlers In diesem Bild-Text-Zyklus nähern sich die Journalistin Beate Lakotta und der Fotograf Walter Schels auf würdevolle und behutsame Weise dem in unserer heutigen Gesellschaft weitestgehend tabuisierten Thema Tod. Hierfür baten sie Menschen unterschiedlichen Alters, sie auf ihrem letzten Lebensweg begleiten zu dürfen. Entstanden sind eindringliche, bewegende Schwarzweißporträts, fern von Voyeurismus und Dramatik. Den Fokus auf das Gesicht gesetzt, zeigen je zwei Fotografien die Menschen lebend und einmal unmittelbar nach dem Tod. Ergänzend zu den Doppelporträts erzählen die Texte von den unterschiedlichen Lebens- und Sterbensgeschichten und geben einen intimen Einblick in die Hoffnungen und Ängste der Menschen und ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Unvermeidlichen. Walter Schels gelingt es mit dieser Serie zu zeigen, dass das letzte Bild des Menschen sehr wohl das des Toten sein kann und macht so den Tod, dieses uns alle erwartende und dennoch gesellschaftlich verdrängte Schicksal, als Teil des Lebens sichtbar. #15 Christian Boltanski (geb. 1944) — Souvenir de Jeunesse, 2001 Installation, vierteilig, Bildtafeln, Eisenträger, Lampen, Leihgabe der NORD/LB Kulturstiftung Unter dem Titel »Souvenir de Jeunesse« — Erinnerung an die Jugend — beleuchtet der Künstler, wie in vielen seiner Werke, die Fähigkeit des Menschen, sich aktiv zu erinnern. Auf von kleinen Lampen schwach erleuchteten Tafeln sind zahlreiche Schwarzweißfotografien zu sehen, wie sie in ihrer Amateurhaftigkeit und Schnappschussästhetik in jedem Familienalbum zu finden sind. Hinweise auf die Identität der abgebildeten Personen gibt es nicht, sodass sich der Verdacht aufdrängt in ein privates Archiv zu blicken. Die Imagination des Betrachters wird augenblicklich in Gang gesetzt: Sind es die Spuren der Kindheit und Jugend des Künstlers oder werden mithilfe der Vermischung von eigenen und fremden Fotos Familiengeschichten sogar fingiert? Der Künstler lockt so den Betrachter auf eine bewusst gelegte Fährte, ohne jedoch Antworten zu geben. Gerade durch diese Offenheit, verweist der Künstler den Betrachter auf sich selbst und seine eigene Erinnerung. Christian Boltanski verdeutlicht in vielen seiner Werke, wie unmittelbar die menschliche Erinnerungsfähigkeit an Bilder geknüpft ist, durch die sich das Vergangene und Erlebte vergegenwärtigt und er beschreibt sogleich die Suche nach Vergangenheit als menschliches Bedürfnis, als Suche nach sich selbst. #16 Timm Ulrichs (geb. 1940) — The End, Augenliedtätowierung, 1970/16.05.1981 Schwarzweißfotografie, Fine art print, Leihgabe des Künstlers Der »Totalkünstler« Timm Ulrichs geht nicht selten von seinem eigenen Körper aus, den er von Beginn an als den »Rohstoff« seiner Kunst versteht. Für eine Fotoarbeit lässt er sich 1970 die Worte »The End« auf das rechte Augenlid tätowieren. Es sind Worte, die wir aus dem Abspann von Filmen ebenso wie als Liedtitel der Band »The Doors« kennen. Wenn sich das Augenlied zum allerletzten Mal schließt, dann ist der Film, wie das Leben zu Ende. Fragilität und Gefährdung, Tod und Auslöschung der menschlichen Existenz sind immer wieder zentrale Themen des Aktionskünstlers. So wie die Zielscheibe auf seinem Körper (1974) oder die Straßenpflaster aus Schädeldecken (1978), soll auch »The End« den Gedanken an den Tod mit ins Leben hineinnehmen, um stellvertretend dafür zu stehen, dass unser Leben fragil und endlich ist, auch wenn wir es nicht stets vor Augen haben wollen. #17 Michael Meier (geb. 1982), Rico Scagliola (geb. 1985) — Double Extension Beauty Tubes, 2010 10-Kanal-Audio-Video-Installation, Leihgabe der Künstler Unter dem ausdrucksstarken Titel »Neue Menschen« veröffentlichten die Schweizer Fotografen Michael Meier und Rico Scagliola 2011 einen Fotografieband, der ein eindrucksvolles Porträt der aktuellen Jugendgeneration zeigt. Diese ist als erste mit den digitalen Medien aufgewachsen und zeichnet sich, geprägt von den Bildwelten des Internets, durch ein starkes Bewusstsein für Bilder und die Lust an der fotografischen Selbstinszenierung aus. Über zwei Jahre haben die Künstler Teenager begleitet, sich in deren Leben eingefühlt und sie aus dieser Innenperspektive heraus fotografiert und gefilmt. Entstanden ist ein Archiv von mehr als tausend Fotografien und Videos, die im Rahmen dieser raumgreifenden 10-Kanal-Audio-Video-Installation präsentiert werden. In verdichteter Form bietet diese Installation nicht nur einen Einblick in die Fülle an Ausdrucksformen der aktuellen Jugendkulturen, sondern macht vor allem deutlich, dass sie alle das selbstbewusste Posieren vor der Kamera und das Wissen darum, sich selbst in Szene zu setzen, verbindet. Das eigene Abbild wird so zur neuen Lebensrealität, die es ermöglicht Wünsche und Sehnsüchte auszuleben. Wie keine andere Generation zuvor, setzen diese Jugendlichen den Fokus auf das eigene Ich, das sich im Spiegel der Bilder zu formen und zu dehnen scheint, um sich in der Welt zu verorten. Dabei bewegt sie sich in poetischen Bildern immer nah an der Schnittstelle zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. In alltäglichen Situationen begegnen sich Menschen auf Straßen und Plätzen der Städte und sind doch weit davon entfernt, so etwas wie zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Der selten verwendete englische Begriff »Mismeetings« (Martin Buber) drückt die Situation einer verfehlten wirklichen Begegnung zwischen Menschen aus. Sie wurde zum Thema dieses Films, für den Kassandra Wellendorf über 20 Tage hinweg an der zentralen Bushaltestelle in Kopenhagen das Verhalten von wartenden Passanten beobachtete. Einerseits sind es Nervosität, Hektik, Neurasthenie, die unser Lebensgefühl zu Beginn des 21. Jahrhunderts intensiver als je zuvor bestimmen, die in den urbanen Zentren ein Gefühl pulsierenden Lebens bei ständiger Beschleunigung erzeugen. Andererseits fühlen sich Menschen nach wie vor nirgends so einsam und verlassen wie in der Anonymität großer Städte. »Invisible« ist die filmische Auseinandersetzung mit diesem Spannungsverhältnis, das aus physischer Nähe und sozialer Distanz der Menschen zueinander entsteht. VERANSTALTUNGEN 04.05.2016, 19:00 Uhr »Der Mensch und das Gesetz. Die 10 Gebote versus das Grundgesetz — Gedanken zur Aktualität der 10 Gebote als ethische Grundlage für die Menschen unserer Zeit.« Referent: Winfried Schubert, Präsident des Oberlandesgerichts in Naumburg i.R. 11.05.2016, 19:00 Uhr Filmprogramm: »Augenblicke — 2016«, 10 Kurzfilme zum Thema Mensch (alle Titel auf der Homepage), ein Projekt der Deutschen Bischofskonferenz — Bereich Kirche und Gesellschaft anschl. Diskussion und Ausstellungsrundgang 17.05.2016, 19:00 Uhr »Menschsein als Mann und Frau oder?« Referentin: Claudia Leide, Familienreferentin Bistum Dresden-Meißen 24.05.2016, 19:00 Uhr »Himmelsleiter« Eine Erzählung von Ludwig Schumann, Schriftsteller, mit Musik von Uwe Kropinski, Gitarrist Berlin 26.05.2016, 14:00 Uhr Ausstellungsrundgang mit Marjoleine Leoniek Leever, wissenschaftliche Assistentin der Ausstellung 27.05., 28.05., 29.05.2016, jeweils 14:00 Uhr Ausstellungsrundgang mit Dr. Annegret Laabs,Kuratorin der Ausstellung 27.05.2016, 19:00 Uhr Oper Leipzig, Rang, 2.OG Gespräch zur Ausstellung mit Dr. Petra Bahr, Leiterin der Hauptabteilung Politik und Beratung der KAS, Berlin Dr. Herbert Fendrich, Bischöflicher Beauftragter für Kirche und Kunst des Bistums Essen Prof. Monika Grütters MdB, Staatsministerin für Kultur und Medien, Berlin Dr. Annegret Laabs, Direktorin Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Eine Ausstellung des gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert von: Erzbistum Berlin, Bistum Dresden-Meißen, Bistum Erfurt, Bistum Görlitz und Bistum Magdeburg #18 Kassandra Wellendorf (geb. 1966) — Invisible, 2005 Video, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Der öffentliche Raum und wie wir uns darin verhalten, Nähe und Distanz zum anderen, intensive Gefühle und Empfindungen sind Themen, die Kassandra Wellendorf für ihre Filme wählt. weitere Informationen: www.mensch.kunstmuseum-magdeburg.de
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