Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Willi Bleicher
Widerstandskämpfer und Gewerkschafter
Von Hermann G. Abmayr
Sendung: Freitag, 29. April 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
OT 01 Willi Bleicher:
Das erste, was ich in Buchenwald erlebte, war, dass ich von der politischen Abteilung
vernommen wurde. Da kamen all diese Zugänge und mussten dort stehen. Und da
wurde jeder einzelne gefragt, weshalb er hier sei. Und dann sagte der eine, er wisse
es nicht, warum er hier wäre. Und dann wurde er derartig geprügelt, mit dem Kopf an
die Wand geschlagen; er brach zusammen.
Ansage:
"Wer nicht kämpft, hat schon verloren" – Willi Bleicher: Widerstandskämpfer und
Gewerkschafter". Eine Sendung von Hermann G. Abmayr.
OT 02 Willi Bleicher:
Und dann wurden wir ins Lager geführt. Und im Lager wurde uns gesagt: "Ihr seid
nicht mehr im Gefängnis hier, nicht im Sanatorium. Da ist der elektrische Zaun. Wer
glaubt, es nicht durchhalten zu können, der möge doch in den elektrischen Zaun
gehen. Dann wird alsbald Feierabend sein." So wurden wir empfangen und wurden
dann über den Appellplatz in die Baracken gejagt.
Sprecher:
Was Willi Bleicher hier erzählte, hat sein ganzes Leben geprägt: Der
Widerstandskämpfer aus Stuttgart war Häftling im Konzentrationslager Buchenwald.
Dort riskierte er sein Leben, um ein Kind zu retten. Später wurde er einer der
bedeutendsten Funktionäre der Industriegewerkschaft Metall und verhandelte mit
Managern, die im Nationalsozialismus überzeugte SS-Männer gewesen waren.
Willi Bleicher führte 1963 den ersten großen Arbeitskampf in der jungen
Bundesrepublik, in Baden-Württemberg. Vielen Gewerkschaftern gilt er bis heute als
Vorbild. Oft zitieren sie ihn mit einem Satz von Bertold Brecht, den er gerne in seine
Reden eingebaut hat: "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon
verloren." Die Stadt Stuttgart verlieh Willi Bleicher 1979 ihre höchste Auszeichnung:
die Bürgermedaille. Manfred Rommel, der damalige Oberbürgermeister, sagte, in
Bleicher verbinde sich "das Charisma des Arbeiterführers mit der Vernunft des
Sachkundigen und der Menschlichkeit dessen, der mehr Unmenschlichkeit ertragen
musste, als andere".
Willi Bleicher kommt am 27. Oktober 1905 in Stuttgart-Bad Cannstatt zur Welt. Sein
Vater arbeitet als Schlosser "beim Daimler", wie die Schwaben sagen, im Werk
Untertürkheim. Willi macht Anfang der 20er-Jahre eine Bäcker-Lehre, was er später
gerne verschweigt, denn es zieht ihn, nach der Gesellenprüfung, zu den
selbstbewussten Metallern. Zumindest für kurze Zeit kann er bei Daimler arbeiten, als
Hilfsarbeiter in der Gießerei.
OT 03 Willi Bleicher:
Ich habe damals verdient, ich glaube 52 oder 53 Pfennige die Stunde, bei schwerster
Arbeit. Da gab es keine Hitzezulage oder Gießereizulage oder sonst irgendwas. Wir
haben 10 Stunden gearbeitet. Wir haben eine halbe Stunde Mittagspause gehabt. Da
gab es keine Kantine. Das Essen wurde dann von der Essensträgerin, das heißt, die
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Mutter kochte das Essen zu Hause und dann wurde das in so einen Behälter
eingepackt, es wurde dann zum Werk gefahren.
Sprecher:
Das erzählte Willi Bleicher 1973 dem Journalisten Klaus Ullrich, der eine Biographie
über ihn verfassen wollte. Es ist das mit Abstand offenste und umfassendste
Interview mit Bleicher. Ullrich, der beim Süddeutschen Rundfunk gearbeitet hatte,
kannte den Gewerkschafter von Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfen. Bevor er
die Biographie schreiben konnte, starb Ullrich. Der SWR strahlt erstmals Teile seines
Interviews aus.
Musik "Brüder zur Sonne zur Freiheit" (1. Strophe"):
"Brüder zur Sonne zur Freiheit,
Brüder zum Lichte empor.
Hell aus dem dunklen Vergangenen
leuchtet die Zukunft hervor."
Sprecher:
In den Zwanzigerjahren ist der Erste Mai noch nicht arbeitsfrei. Doch Willi Bleicher
erlebt schon als Kind, dass es ein besonderer Tag ist, der "Kampftag der
Arbeiterklasse", wie viele Linke ihn nennen. Man organisiert Umzüge, es wird gefeiert
und gesungen. "Brüder zur Sonne zur Freiheit" zum Beispiel, das beliebteste
Arbeiterlied nach dem Ersten Weltkrieg.
Musik "Brüder zur Sonne zur Freiheit" (2. Strophe):
Seht, wie der Zug von Millionen
endlos aus Nächtigem quillt..."
Sprecher:
Während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre ist Willi Bleicher meist
arbeitslos, wie viele junge Männer damals. Sechs Millionen Menschen müssen
stempeln gehen, um Unterstützung zu bekommen, die zum Sterben zu viel ist – und
zum Leben zu wenig.
Bleicher prangert die soziale Ungerechtigkeit der Weimarer Republik an. Schon als
17-Jähriger engagiert er sich bei der Kommunistischen Jugend – dem
Jugendverband der KPD. Die Arbeitslosigkeit greift in den Krisenjahren immer weiter
um sich. Während sich viele Betroffene ins Private zurückziehen, depressiv werden
oder ihren Frust mit Alkohol zu ertränken suchen, nutzt Bleicher die Zeit für politische
Arbeit und um sich politisch zu bilden.
OT 04 Willi Bleicher:
Ich weiß keine Stunde in dieser Zeit, die ich verplempert hätte. Im buchstäblichen
Sinne verplempert. Tanzstunden waren nicht drin. Wir sind auch nie tanzen
gegangen oder irgend zu anderen billigen Veranstaltungen. Und selbst der
verregnete Tag wurde mitbenützt zum Lesen von Literatur. Der kommunistische
Jugendverband hatte eine Bibliothek, und die Bücher wanderten von Hand zu Hand.
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Sprecher:
In der Kommunistischen Jugend bewahrt Bleicher seinen eigenen Kopf. Ihm gefällt
der stalinistische Kurs der KPD nicht, der immer stärker von Moskau vorgegeben
wird. Er schließt sich parteiinternen Dissidenten an, den sogenannten
Oppositionskommunisten. Sie fordern eine Einheitsfront gegen den rasch
erstarkenden Faschismus. Umgehend wird Bleicher aus der KPD ausgeschlossen.
Anfang 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt. Schon bald werden
Funktionäre der Gewerkschaften und linker Parteien verhaftet; sie verschwinden in
"Schutzhaft", wie das die nationalsozialistischen Machthaber nennen. In der
Stuttgarter Arbeitersiedlung Luginsland durchsucht die Polizei auch das Häuschen, in
dem Bleicher und seine Eltern wohnen. Der mittlerweile 25-Jährige taucht unter.
Den 1. Mai 1933 erlebt er in Würzburg, wo er für kurze Zeit Unterschlupf findet. Zum
ersten Mal ist der Tag der Arbeit ein Feiertag. Ausgerechnet das diktatorische
Regime der Nationalsozialisten hat diese alte Forderung der Arbeiter erfüllt. Doch auf
Geheiß der Nazis müssen Arbeitervertreter zusammen mit Unternehmern
marschieren. Der Großdeutsche Rundfunk überträgt eine Hitler-Rede.
OT 05 Hitler-Rede zum 1. Mai 1933:
Nur wenn Ihr alle selbst eins werdet in dem Willen, Deutschland zu retten, kann in
Deutschland auch der deutsche Mensch seine Rettung finden.
Sprecher:
Einen Tag später, am 2. Mai, besetzt das nationalsozialistische Regime die
Gewerkschaftshäuser und entlässt alle Funktionäre. Willi Bleicher flieht in die
Schweiz und von dort weiter nach Frankreich. Erst ein Jahr später wagt er sich nach
Stuttgart zurück. Dort findet er ein Auskommen als Hilfsarbeiter bei einer Baufirma.
Bleicher schließt sich einer Widerstandsgruppe an, die sich "Neckarland" nennt, da
die meisten ihrer Mitglieder in den Stuttgarter Neckarvororten leben. Sie verstecken
eine Schreibmaschine und einen Hektografierapparat in einem Keller, drucken
Flugblätter mit Meldungen, die sie per Kurier aus der Schweiz erhalten. Und sie
sammeln Geld für die Familien verhafteter Nazi-Gegner.
Nachdem ein Spitzel die Gruppe verraten hatte, wird Willi Bleicher verhaftet und
wegen Vorbereitung von Hochverrat zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft
verurteilt. Er sitzt seine Strafe in Ulm ab. Doch danach wird er nicht freigelassen. Die
Geheime Staatspolizei bringt ihn ins Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar,
ohne Angabe, wann er wieder entlassen werden soll. Im KZ trifft Bleicher auf
ehemalige Genossen aus Württemberg. Die politischen Häftlinge schließen sich
heimlich zusammen, um die Willkür des Lagers erträglicher zu machen und sich
gegenseitig zu helfen. Selbst einen Aufstand schließen sie nicht aus. Sie besorgen
Waffen und verstecken sie im Lager. Den 1. Mai feiert die Gruppe, zu der Willi
Bleicher gehört, mitten in der Nacht in einem Versteck.
OT 06 Willi Bleicher:
Wir haben des 1. Mai gedacht, des Weltfeiertages der Arbeit, und wir haben uns
verpflichtet, an der Idee, die diesem Weltfeiertag zugrunde lag, festzuhalten, komme
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was da wolle. Und wir haben Gedichte erarbeitet beziehungsweise wir hatten den
einen oder anderen, der in diesen Sachen recht produktiv sein konnte. Wir haben
dann auch immer jeweils dieses "Brüder zur Sonne" gesungen."
Musik "Brüder zur Sonne zur Freiheit" (3. Strophe):
Brüder, in eins nun die Hände,
Brüder, das Sterben verlacht!
Ewig, der Sklav'rei ein Ende,
heilig die letzte Schlacht!
Sprecher:
Für Willi Bleicher ist dieses Lied, das ein russischer Dissident während der
Zarenherrschaft geschrieben hatte, keine Phrase. Mit anderen Häftlingen zusammen
versucht er, den dreijährigen Stefan Jerzy Zweig zur retten, der 1944 zusammen mit
seinem Vater aus dem Krakauer Ghetto ins KZ eingeliefert wird. In den Augen der
SS ist das Kind ein unnützer Esser – und deshalb ständig in Gefahr, ermordet zu
werden. Familie Zweig war kurz zuvor getrennt worden. Die Mutter und Schwester
des Kleinen hatte die SS nach Auschwitz deportiert, wo sie, wie Vater und Sohn erst
später erfahren sollten, vergast wurden.
In den Nachkriegsjahren spricht Willi Bleicher nur ganz selten über seine KZErfahrungen. Im Ruhestand erst beginnt er häufiger zu erzählen, will vor allem junge
Leute warnen, dass rechter Terror immer wieder aufflackern kann.
Ihm ist klar, dass die Häftlinge mit dem Versuch, Stefan zu retten, ihre
Widerstandsgruppe und ihr Leben riskieren. 1980 berichtet er im überfüllten Saal des
Club Alpha in Schwäbisch Hall:
OT 08 Willi Bleicher:
Ich wusste auch, dass das fürs Lager schlimme Folgen haben könnte. Wegen eines
Jungen mit drei Jahren. Die politische Lagerleitung, die politische Häftlingsleitung in
Gefahr zu bringen. Wegen eines kleinen Jungen mit drei Jahren alles durcheinander
zu wirbeln. Warum?
Sprecher:
Stefan Jerzy Zweig taucht auf einer Todesliste nach Auschwitz auf, wo er zusammen
mit 200 anderen Kindern und Jugendlichen vergast werden soll. Doch es gelingt den
Häftlingen, den Jungen zu retten.
Da die Gestapo Wind von den illegalen Strukturen der Häftlinge bekommen hat, will
sie von Bleicher Namen wissen. Doch der bleibt, trotz Folter, standhaft. Ende April
1945 werden seine Mitgefangenen und er im Erzgebirge von US-Truppen befreit. Am
1. Mai ist er ein freier Mann, abgemagert und gezeichnet von fast zehn Jahren
Gefängnis, Konzentrationslager und Zuchthaus.
OT 09 Willi Bleicher:
Und dann war also mein sehnlichster Wunsch, jetzt schnell nach Stuttgart zu
kommen. Wir fuhren dann auch wieder mit einem Güterzug. Ich fuhr über Heilbronn,
das total zerstört war, und landete auf dem Untertürkheimer Güterbahnhof. Das war
also jener Bahnhof, den ich von Kindheit her kannte. Er war auch zerstört. Und nun
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begann eine eigenartige Situation. Mich hat nichts nach Hause gezogen. Ich hatte
Angst, Furcht vor dem, was da auf mich zukommt. Ich dachte nicht an politische
Dinge jetzt, sondern ich dachte, was ist mit der Familie, wird sie noch leben, wird das
Häuschen noch stehen.
Sprecher:
Seine Familie lebt, und ihr Häuschen in Luginsland steht noch. Bleichers Mutter
macht zur Feier seiner Rückkehr Pfannkuchen und Salat, Bleichers Lieblingsspeise.
Der vom Lager traumatisierte Heimkehrer tut sich schwer im zivilen Leben. Seine
Jugendliebe und Parteigenossin Helene Beck hat mittlerweile einen anderen
geheiratet und mit ihm ein Kind. Doch wer nicht kämpft, hat schon verloren. Das war
Willi Bleichers Motto in Buchenwald – und es gilt jetzt erst recht.
Bleicher ist ein Familien-Mensch, sehnt sich nach eigenen Kindern. Er verliebt sich in
Anneliese Metz, die beiden heiraten. 1947 kommt ihr Sohn Gerhard auf die Welt, fünf
Jahre später ihre Tochter Ingeborg.
Willi Bleicher tritt wieder der Kommunistischen Partei bei, der er in den 20er-Jahren
schon einmal angehört hatte. Er kandidiert für die KPD bewusst auf aussichtslosen
Listenplätzen, denn er pflegt eine gewisse Distanz. Schließlich hatte ihn die Partei
wegen seiner kritischen Haltung einst ausgeschlossen.
OT 11 Willi Bleicher:
Ich sollte dann also zur Partei gehen, hauptamtlich. Das war 1947. Ich gehörte zum
Sekretariat des Landesvorstandes der Kommunistischen Partei und ich habe dann
also gesagt: "Ein Parteibrot esse ich nicht." Das war mein absoluter Grundsatz.
Sprecher:
Als die Industriegewerkschaft Metall Willi Bleicher auffordert, hauptamtlich für sie zu
arbeiten, sagt er spontan zu. Er knüpft da an, wo er 1933 aufhören musste.
Musik "Die Internationale":
Völker, hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
erkämpft das Menschenrecht.
Sprecher:
Internationale Solidarität, Menschenrechte, Gerechtigkeit. Dafür will Willi Bleicher
kämpfen. Die baden-württembergischen Metaller treffen sich oft in der Sängerhalle in
Untertürkheim. Der spätere Bosch-Betriebsrat Günther Sauter besuchte hier als
Lehrling zum ersten Mal eine Gewerkschaftskonferenz – organisiert von Willi
Bleicher. Er kehrt für diese Sendung nochmal zurück an den Ort. Sauter erinnert sich
an ein Goethe-Zitat, das über der Bühne hing.
OT 12 Günther Sauter:
Also das Motto, das war über diesem Goldrahmen da oben ist es in großen Lettern
gestanden: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut." Und das hat der Willi auch als
Start für sein Referat genommen. Und das hat uns unheimlich Kraft und
Überzeugung gegeben. Die Aufbruchsstimmung ist hier rausgegangen. Also wir sind
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ganz begeistert heimgegangen und haben gesagt: Mensch, das ist ein Kerle, der
Willi. Und des ließ uns hoffen, dass wir wirklich einen neuen Staat hinkriegen.
Sprecher:
Willi Bleicher will einen Staat, in dem Arbeiter mehr Rechte bekommen,
angemessenen Lohn und kürzere Arbeitszeiten, um am gesellschaftlichen Leben
teilnehmen zu können. Deshalb ist ihm Gewerkschaftsarbeit so wichtig. Er wird Chef
der IG Metall in der Industriestadt Göppingen, 40 Kilometer östlich von Stuttgart.
Hilde Mayr, seine damalige Sekretärin, erinnert sich:
OT 13 Hilde Mayr:
Der hat in Göppingen im Gewerkschaftshaus gewohnt. Und das war eigentlich auch
ganz nett und persönlich und privat. War alles in Butter. Also manchmal hat es auch
gedonnert und geblitzt, also nicht so, dass alles nur blau war. Aber man musste dann
halt denken: Naja, der Mann hat viel mitgemacht. Dadurch hat man schon manches
entschuldigt, wenn er so einen Ausraster kriegte. Da war schon mal einer, den er
fertiggemacht hat, den er gebürstet hat. Wir haben vielleicht anschließend gesagt:
Ach Gott, nimm es nicht so tragisch, man weiß doch, was er alles schon erlebt hat.
Das war reine Männersache dann. Uns Frauen hat er gut behandelt, relativ gut.
Sprecher:
Bleicher kann tatsächlich aufbrausend sein, autoritär. Manche im Gewerkschaftshaus
nennen ihn deshalb den "roten Zar".
Von Anfang an bemüht er sich besonders um die Jugend, denn die müsse die
Zukunft gestalten, meint er – die bessere Welt. Franz Steinkühler gehörte zu seinen
"Zöglingen". Später wird Steinkühler selbst IG Metall-Funktionär, wird zur rechten
Hand von Willi Bleicher, dann sein Nachfolger und zuletzt Vorsitzender der IG Metall
in Deutschland. Begonnen hat alles in den 50er-Jahren in Göppingen. Steinkühler ist
dort in der Jugendgruppe der IG Metall aktiv.
OT 14 Franz Steinkühler:
Auf jedem Jugendlager hat uns Willi Bleicher besucht. Er hat mit uns Fußball gespielt
und er hat wegen der Sonne einen Schlapphut aufgesetzt. Und er saß mitten unter
uns. Ich kann mich daran sehr gut erinnern. Das war immer eine sehr, sehr fröhliche
Zeit. Und Willi Bleicher war einfach, wenn er bei der Jugend war, einer von denen.
Für den wären sie durch Dick und Dünn gegangen.
Sprecher:
In den Jahren des Kalten Krieges nimmt der Druck auf Kommunisten innerhalb der
Gewerkschaften zu. Schließlich verlässt Bleicher die Kommunistische Partei, zu der
sein Verhältnis immer kritischer geworden ist. Nach einigen Jahren tritt er der SPD
bei – eine Voraussetzung für seinen weiteren Aufstieg in der Gewerkschaft.
1959 wird Willi Bleicher Leiter der IG Metall in Baden-Württemberg und bald der mit
Abstand einflussreichste Bezirksleiter in Deutschland. Sein Gegenspieler, der Chef
des Verbandes der Metallindustrie, ist der Daimler-Manager Hanns Martin Schleyer.
Er war schon früh ein überzeugter Nationalsozialist, zuletzt im Rang eines SSOffiziers. Im besetzten Prag hatte er für den "Zentralverband der Industrie"
gearbeitet. Ausgerechnet mit ihm muss Willi Bleicher jetzt verhandeln. Franz
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Steinkühler kannte die beiden Männer und er kannte die politische Einstellung von
Schleyer.
OT 15 Franz Steinkühler:
Die beiden sind sich mit Respekt begegnet. Schleyer war ein ernst zu nehmender
Gegner und er hat auch keinen Hehl daraus gemacht, dass die politische
Entwicklung in der damaligen Bundesrepublik nach Schleyer anders hätte verlaufen
müssen, als sie verlaufen ist. Schleyer war ein Rechter und Willi war ein Linker. Und
sie waren beide durch Gottes Zorn oder durch menschliches Schicksal gezwungen,
miteinander auszukommen, Kompromisse zu schließen, Ergebnisse zu finden.
Sprecher:
1963, mitten im deutschen Wirtschaftswunder, fordert die IG Metall mal wieder
höhere Löhne. Auf einer Gewerkschaftsveranstaltung weist Bleicher das Argument
des Verbandes der Metallindustrie scharf zurück, dies würde die Wirtschaft ruinieren.
OT 16 Willi Bleicher, Rede:
Ich weiß nicht eine einzige Lohnverhandlung, an deren Beginn im Ergebnis unserer
Forderung nicht der Bankrott der schwäbischen Wirtschaft gestanden wäre. Ich weiß
nicht eine einzige Lohnverhandlung, die nicht in ihrem Resultat die Währung
gefährdet, die Preise ins Unendliche getrieben, den Export in Frage gestellt hätte.
Und diese Wirtschaft wuchs von Lohnverhandlung zu Lohnverhandlung, die Gewinne
häuften sich von Lohnverhandlung zu Lohnverhandlung. (Applaus)
Sprecher:
Die Unternehmen der Metallbranche wollen eine "Lohnpause" durchsetzen, der
Tarifabschluss sei im Vorjahr zu hoch ausgefallen, argumentieren ihre Vertreter. Die
bereits vereinbarte Arbeitszeitverkürzung stellt Verhandlungsführer Hanns Martin
Schleyer in Frage – und damit auch den weiteren Fahrplan zur 40-Stunden-Woche.
Für die IG Metall ist das unzumutbar. Sie will ihre Tarifziele mit einem Streik
durchsetzen. Etwa 100.000 Metaller treten in Baden-Württemberg in den Ausstand.
Als Antwort darauf sperren die Unternehmen zwei Tage später aus: Keiner der
270.000 Metall-Arbeiter im Tarifbezirk darf mehr an seinen Arbeitsplatz. Hanns
Martin Schleyer sagt in einem Fernseh-Interview:
OT 17 Hanns Martin Schleyer, Fernseh-Interview:
Wir sind der Meinung, dass wir durch die Solidarität der Arbeitgeber diesem
Kampfmittel der Gewerkschaft durch eine Abwehraussperrung begegnen müssen
und damit das unsere tun, um diesen Arbeitskampf im Interesse aller so kurz wie
möglich zu halten.
Sprecher:
Nach zwei Wochen einigen sich Schleyer und Bleicher auf einen Kompromiss: Fünf
Prozent Lohnerhöhung. Die Arbeitszeit wird, wie vorgesehen, weiter verkürzt. Ein
Erfolg, den viele auch Willi Bleicher zuschreiben.
Als Bleicher Anfang der 60er-Jahre die Adresse von Stefan Jerzy Zweig erfährt, lädt
er den jungen Mann, den er im KZ Buchenwald zuletzt als dreijähriges Kind gesehen
hatte, nach Stuttgart ein. Erst jetzt erfährt die Öffentlichkeit die Geschichte des
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"Kindes von Buchenwald". Und die Gedenkstädte Yad Vashem in Jerusalem ehrt
Bleicher als „Gerechten unter den Völkern“.
Obwohl sie während der Nazi-Diktatur Opfer und Täter waren, respektieren sich Willi
Bleicher und Hanns Martin Schleyer. Sie wissen, dass sie sich aufeinander verlassen
können, dass ihr Wort in den eigenen Reihen etwas gilt. Schleyers Sohn HannsEberhard erinnert sich an eine Episode, die ihm seine Mutter erzählt hat.
OT 18 Hanns-Eberhard Schleyer:
Das war, aus welchem Anlass auch immer, ein Abendessen, wo auch Bleicher
anwesend war und eben meine Eltern. Und im Laufe des Abends ist er dann zu
meinem Vater hingegangen und hat gesagt in Anwesenheit meiner Mutter: Also
Schleyer, eine nette Frau haste schon. Ich weiß gar nicht, ob du das verdienst hast.
Auch das sagt etwas aus über das sehr persönliche Verhältnis.
Sprecher:
Als Hanns Martin Schleyer während des "Kalten Krieges" die damals kommunistisch
regierte Tschechoslowakei besuchen will, das Land, in dem er als SS-Offizier
stationiert war, setzt er auf Willi Bleicher, falls ihm dort etwas zustoßen sollte. Willi
Bleichers Hilfe war nicht nötig. Schleyer konnte seine Geschäfte abwickeln und nach
Westdeutschland zurückkehren.
1971 begegnen sich die beiden zum letzten Mal bei einer Tarifauseinandersetzung.
Und wieder kommt es zum Streik. Bei der Kundgebung auf dem Stuttgarter
Karlsplatz spricht Bleicher vor vielen Tausend Menschen.
OT 20 Willi Bleicher, Rede:
Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie haben den
Sturm. Jetzt gilt es, alle Bangigkeit von uns zu tun und uns von niemandem in
diesem unserem gerechten Kampf irritieren zu lassen.
Sprecher:
Hanns Martin Schleyer, der, wie acht Jahre zuvor, mit Aussperrung droht, wird vor
dem Verhandlungslokal ausgepfiffen. Er wird seine Drohung wenig später
wahrmachen.
Atmo:
Pfiffe, Sprechchor:
"Lieber Willi lass dich sehen, lieber Willi lass dich sehen, lieber Willi lass dich sehen
..."
Sprecher:
Die Metaller stehen geschlossen hinter Willi Bleicher. Noch nie war sein Ansehen so
hoch.
OT 21 Arbeiter:
– Der Willi Bleicher ist ein Mann, der die Rechte der Arbeitnehmer in ganz
konsequenter Weise vertritt. Und ich glaube, wir haben im ganzen Bundesgebiet
keinen besseren Bezirksleiter wie Willi Bleicher.
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– Der ist in Ordnung. Solche sollten wir noch mehr haben.
Sprecher:
Ein Jahr später erreicht der beliebte "Metaller" das Rentenalter und verabschiedet
sich aus der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit. Doch die politische Bildung und
die künftige Entwicklung der Gewerkschaften bleiben ihm Herzensangelegenheiten.
Vor allem vor Jugendgruppen tritt er jetzt auf – als Zeitzeuge. Zu seinen wichtigsten
Themen zählen die Nazi-Zeit und die Lehren, die seiner Ansicht nach daraus zu
ziehen sind. Sieben Städte benennen Straßen nach Willi Bleicher, darunter Stuttgart
und Göppingen. Und einen Tag vor dem 1. Mai 2016 erhält der nach einer langen
Renovierung neu eröffnete Stuttgarter Gewerkschaftsbau den Namen Willi-BleicherHaus.
Was wurde aus den Idealen, für die Bleicher sein Leben lang gekämpft hat? Hat er
kapituliert, weil sich im Westen die soziale Marktwirtschaft – eine mildere Form des
Kapitalismus – durchgesetzt hat, und weil ihm die Entwicklung des Sozialismus in der
DDR auch nicht gefallen konnte? Die Suche nach einer besseren Welt habe Willi
Bleicher trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen nie aufgegeben, erinnert sich
Franz Steinkühler:
OT 22 Franz Steinkühler:
Es war immer so ein Funken Hoffnung, dass da doch noch das zu finden sei, was er
sein Leben lang gesucht hat, Gerechtigkeit, Sozialismus. Das hat er sein Leben lang
gesucht. Und er hoffte, es doch noch in der DDR zu finden. Aber ich habe den
Eindruck, er spürte irgendwann, dass er vergeblich sucht. Er hat’s nicht gefunden.
Sprecher:
Das Ende der DDR wird Willi Bleicher nicht mehr erleben. Seine kritische Distanz zu
diesem Regime des "real existierenden Sozialismus" bleibt. Wenige Monate bevor er
am 23. Juni 1981 in Stuttgart stirbt, tritt er noch einmal öffentlich auf und spricht über
seine Erfahrungen mit dem Terror der Nazis, über seine Visionen und den
Sozialismus.
OT 23 Willi Bleicher:
Liebe Freunde, ich sage euch heute eine für mich unabänderliche Feststellung: Unter
denselben Verhältnissen und Umständen würden wir Menschen zu Hauf finden, die
zu jeder Schandtat fähig und bereit sind. Ob das in Vietnam oder anderswo sei und
ist unter den gegebenen Umständen. Und deshalb sage ich: Der Humanismus, das
kann nur für uns alle miteinander Richtschnur unseres Handelns sein. Und ich meine
immer, dass im Sozialismus der Begriff des Humanismus am sichtbarsten
umschlossen sei. Oder es ist eben kein Sozialismus. Und ich weiß – und das ist die
Erkenntnis jeglicher Philosophie schlechtweg –, dass es nicht darauf ankommt, ob
wir in dieser Welt leben, sondern viel wesentlicher ist, dass wir diese Welt
lebenswerter gestalten.
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