Aktivisten: Die Küche ist links Gabriele Goettle besucht das Kochkollektiv „Black Wok“ in Dresden ▶ Seite 15, 16 AUSGABE BERLIN | NR. 11002 | 17. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 25. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Ein Hannover-Besucher für TTIP, Zehntausende dagegen LIVE Papa Wemba, Star der kongolesischen Rumba, ist auf der Büh ne gestorben ▶ SEITE 14 BÜROKRATIE Frei willige unterstützen Flüchtlinge und werden von den Ämtern allein gelassen ▶ SEITE 5 BERLIN Aufstand an der Uni: Studentische Hilfskräfte wollen Tarif vertrag ▶ SEITE 21 WELTHANDELSHAUPTSTADT Bis zu 90.000 Menschen demonstrieren gegen das Freihandelsabkommen, für das US-Präsident Barack Obama bei der HannoverMesse werben will ▶ Seite 3 Fotos: reuters und plainpicture(o) VERBOTEN Schönen guten Tag, liebe FDP! Du hast auf deinem Parteitag beschlossen, dass du den Majestätsbeleidigungsparagrafen abschaffen willst. Nicht erst 2018, sondern umgehend, meines Wissen sofort, also spätestens bis zur Sommerpause. Hört, hört! Aber du weißt schon noch, dass du derzeit nicht in der Regierung sitzt? Genauer gesagt: nicht mal im Bundestag? Jedenfalls nicht vor 2018? Ach deshalb hast du gleich noch die „Beta Republik Deutschland“ ausgerufen, als Fantasialand für gefallene Liberale? Okay, sparen wir uns jede Schmähung. Schließlich ist nur Majestätsbeleidigung verboten. Pro-TTIP-Demo: Angela Merkel mit ihrem Besucher Barack Obama am Sonntag im Garten von Schloss Herrenhausen in Hannover Foto: Markus Schreiber/ap Merkel in Türkei nicht verhaftet FPÖ weit vorn STAATSBESUCH Kanzlerin erwähnt Thema Pressefreiheit. Journalistin festgesetzt ANKARA afp/taz | Wegen kriti scher Äußerungen über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist eine niederländische Journalistin in der Türkei vorübergehend festgenommen worden. Ebru Umar wurde nach eigenen Angaben aus ihrer Wohnung von der Po- lizei abgeführt. Nach Angaben von Bild wurde zudem einem ihrer Fotografen die Einreise in die Türkei verweigert. Problemlos ein- und wieder ausreisen konnte hingegen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hat am Samstag ein Lager für syrische Flüchtlinge in Gazian- tep besucht und nach eigenen Angaben mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu auch über Pressefreiheit geredet – konkret etwa über den ARD-Korrespondenten Volker Schwenck, dem ebenfalls die Einreise verweigert worden war. ▶ Schwerpunkt SEITE 4 ÖSTERREICH 35 Prozent für Hofer. Grüner auf Platz 2 WIEN ap/taz | Bei der Präsiden- tenwahl in Österreich liegt der Kandidat Norbert Hofer von der rechtspopulistischen FPÖ weit vorn. Er kam nach vorläufigen Ergebnissen am Sonntag im ersten Wahlgang auf ca. 35 Prozent der Stimmen. Da er keine absolute Mehrheit hat, kommt es am 22. Mai zur Stichwahl. Dabei trifft er wohl auf den früheren Grünen-Chef Alexander Van der Bellen, der laut ORF-Hochrechung gut 21 Prozent bekam und vor der unabhängigen Kandidatin Irmgard Griss liegt, für die rund 18 Prozent stimmten. ▶ Der Tag SEITE 2 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.781 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 10617 4 190254 801600 KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ÜBER DIE SELBSTZENSUR DER EU ZUGUNSTEN DER TÜRKISCHEN REGIERUNG B undeskanzlerin Angela Merkel ist zufrieden mit der türkischen Regierung. Erstklassige Arbeit bei der Unterbringung syrischer Flüchtlinge bescheinigte sie Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu nach ihrem Kurzbesuch an der syrisch-türkischen Grenze am Samstag. Auch über Pressefreiheit wurde bei dem Treffen mit Davutoğlu gesprochen, wie immer bei solchen Besuchen allerdings ohne konkretes Ergebnis. Zu Recht schließen die türkischen Kollegen daraus, dass sich Merkels Engagement für Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei in engen Grenzen hält. Aber Merkel und die EU insgesamt tun ja noch weit mehr, um sich das Wohl- Völkermord, war da was? wollen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu erhalten. Sie schweigen nicht nur zum Demokratieabbau in der Türkei, sie lassen sich auch ihr Verhalten im eigenen Land vorschreiben. Jüngstes Beispiel ist ein Projekt der Dresdner Sinfoniker. Die Musiker haben zusammen mit armenischen und türkischen Kollegen ein Konzert eingespielt, das der Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern gewidmet ist. Die EU fördert das Projekt finanziell. Auf türkischen Protest hin hat sie jetzt den Hinweis auf das Projekt von ihren Websites gestrichen – und das Orchester gebeten, im begleitenden Text den Begriff „Völkermord“ nicht mehr zu verwenden. Seit nunmehr 100 Jahren weigert sich die Türkei, die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord anzuerkennen. Ausgerechnet gestern, am 101. Jahrestag des Völkermordes, wurde die Selbstzensur der EU bekannt. Zuvor war schon der deutsche Botschafter in Ankara einbestellt worden, weil Sachsen-Anhalt an seinen Schulen Unterrichtsmaterial zum Thema Völker- Merkel schweigt nicht nur – sie lässt sich auch ihr Verhalten vorschreiben mord verteilt hatte. Die Türkei will seit Langem verhindern, dass an deutschen Schulen über den Völkermord an den Armeniern gesprochen wird. Bislang ist ihr das auch weitgehend gelungen. Noch beschämender: Seit einem Jahr liegt ein Entschließungsantrag auf Eis, mit dem der Bundestag den Völkermord als historische Tatsache anerkennen will. Nach dem bisherigen Verhalten der Bundeskanzlerin gegenüber Erdoğan steht zu befürchten, dass die Resolution auch in diesem Jahr nicht verabschiedet werden wird. Obwohl sich ausnahmsweise alle Fraktionen einig sind – und der Schritt historisch lange überfällig ist. Schwerpunkt SEITE 4 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN FRAN KREICH ZU H I N KLEY POI NT ISLAM I N DEUTSCH LAN D Paris unterstützt britisches AKW-Projekt Türkischer Einfluss wieder in der Kritik PARIS | Die französische Regie- Tritt wieder an: Ministerpräsident Reiner Haseloff Foto: dpa Konservativer 89er W enn einige Querulanten in der sachsen-anhaltischen CDU nicht durchdrehen, dann wird Reiner Haseloff heute erneut zum Ministerpräsidenten des Bindestrichlandes gewählt. Am Freitag hatte ein CDU-Landesparteitag mit 83,6 Prozent für den mit SPD und Grünen ausgehandelten Koalitionsvertrag gestimmt, der erstmals die Bildung einer sogenannten Kenia-Koalition ermöglicht. Haseloff tritt damit voraussichtlich seine zweite Amtszeit an, nachdem ihm 2011 auch nur 57 der 67 Abgeordneten der Großen Koalition in Magdeburg ihre Stimme gegeben hatten. Der 62-Jährige wurde im Kreis Wittenberg geboren, studierte ab 1973 Physik an der TU Dresden und an der Berliner Humboldt-Uni. Häufig reiste er nach Budapest, um seine spätere Frau Gabriele zu treffen, mit der er zwei Kinder hat. Schon damals war der Katholik Haseloff ein öffentlich engagierter Typ, zum Beispiel als Sprecher der Katholischen Studentengemeinde Dresden. Bereits 1976 war er der CDU-Ost beigetreten, galt aber in der Blockpartei nicht als ein Opportunist. In der CDU begann nach 1990 sein politischer Aufstieg. Haseloff ist ein typischer Vertreter der christlich-bürgerrechtlich geprägten 89er in der DDR. Begeisterung für die Ideale einer sozialen Marktwirtschaft und Konservatismus mischen sich bis heute mit dem Stolz auf ostdeutsche Eigenheiten und Einflüsse. Stellvertretender Landrat in Wittenberg, CDU-Landesvizechef, Direktor des Arbeitsamts Wittenberg, Staatssekretär und später Minister im Wirtschaftsministerium – so lauteten die Stationen seiner Laufbahn, bevor er für die Landtagswahl 2011 zum CDU-Spitzenkandidaten bestimmt wurde. Der eher ausgleichende, moderate Haseloff bildet mit dem lauten Landesvorsitzenden Thomas Webel die Doppelspitze der Union in Sachsen-Anhalt. In der Flüchtlingspolitik setzte er sich wiederholt von Kanzlerin Merkel ab. Nach den Landtagswahlen vom 13. März plädierte er sofort für die Kenia-Koalition und zeigte sich konzessionsbereit. Neugierig darf man sein, ob er bei der heutigen Wahl seinen Ritterorden vom heiligen Grab zu Jerusalem tragen wird. MICHAEL BARTSCH Der Tag MONTAG, 25. APRI L 2016 rung bekräftigt ihre Unterstützung für den Ausbau des britischen Atomkraftwerks Hinkley Point durch den französischen Staatskonzern EDF. Die endgültige Investitionsentscheidung „könnte im kommenden September bestätigt werden“, sagte Wirtschaftsminister Emmanuel Macron der Sonntagszeitung Journal du Dimanche. Ursprünglich war die Entscheidung schon für Mai erwartet worden. Doch hatte der Versorger EDF am Freitag erklärt, man benötige mehr Zeit für Gespräche mit den Gewerk- schaften. Einige von ihnen haben Sorge wegen der Finanzierung des 24 Milliarden Euro teuren Projekts. Macron betonte jedoch, das Vorhaben dürfe nicht weiter verzögert werden. In Hinkley Point in der Nähe von Bristol im Südwesten Englands gibt es bereits ein Atomkraftwerk, das durch weitere Reaktoren ergänzt werden soll. Letztlich soll die Anlage nach Angaben von EDF sieben Prozent des gesamten britischen Stroms liefern und 25.000 Jobs schaffen. Eigentlich sollte die Stromerzeugung der neuen Reaktoren 2023 starten. (ap) BERLIN | Der Einfluss der Türkei auf den Islam in Deutschland ist erneut in die Kritik geraten. Der türkisch-islamische Dachverband Ditib, der rund 900 Moscheen in der Bundesrepublik betreibt, sei „nichts anderes als der verlängerte Arm des türkischen Staats“, kritisierte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir in der WamS. Statt zu einer wirklichen Religionsgemeinschaft zu werden, entwickle sich der Ditib durch den Einfluss der türkischen Regierung immer mehr zu einer politischen Vorfeldorganisation. (epd) TAZ.DE / TZI WACHSTUMSGARANT Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.812 Menschen zahlen freiwillig für taz.de. Alles rund um unsere Pay-Wahl unter taz.de/zahlich Anknüpfen im Netz www.taz.de Volkswagen hofft auf China-Markt PEKING | Der VW-Konzern rech- net in diesem Jahr auf seinem wichtigsten Markt in China mit einem Absatzwachstum von mehr als sechs Prozent. Nach der „Trendwende“ seit Ende 2015 entwickle sich der größte Automarkt der Welt im Frühjahr weiter positiv, sagte China-Vorstand Jochem Heizmann vor der Eröffnung der internationalen Automesse in Peking. Kein anderer Automarkt der Welt steigere sich heute in einer solchen Größenordnung. 2015 hatte VW in China ein Minus von 3,4 Prozent hinnehmen müssen. (dpa) Revolution wenigstens auf dem Papier LINKSPARTEI Die Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger empfehlen ihrer Partei mehr Radikalität und gehen auf Distanz zu SPD und Grünen. Die AfD wollen sie in einem „offensiven Kulturkampf“ demaskieren AUS BERLIN ANNA LEHMANN Die Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping und Bernd Riexinger, rufen die Revolution aus. Zumindest auf dem Papier. Mit den Worten „Revolution für Gerechtigkeit und Demokratie“ ist ein Strategiepapier der linken Doppelspitze überschrieben, das der taz vorliegt. Darin machen die beiden Parteivorsitzenden Vorschläge, wie die Linke ihre Rolle neu definieren kann, um Wähler und Mitglieder zurückzuerobern. Mit dem Revolutionspapier empfiehlt sich das Führungsduo für die Wiederwahl auf dem Parteitag Ende Mai. Dort wird auch die Frage auf der Tagesordnung stehen, wie sich die Linke künftig aufstellen soll, nachdem sie bei den Landtagswahlen im März all ihre Wahlziele verfehlt hat. Die Antwort von Kipping und Riexinger: radikaler werden. Der Begriff taucht gleich mehrfach „Es gibt kein linkes Lager der Parteien mehr“ AUS DEM POSITIONSPAPIER auf. „Kleine Kurskorrekturen innerhalb des neoliberalen Kapitalismus reichen nicht“, konstatiert das Führungsduo und ruft deshalb zur „Konfrontation mit den Reichen“ und zum Kampf für eine „radikale Besteuerung der Profite“, eine „radikale Umverteilung“ und auch für eine „radikale Kritik an der EU“ auf. Keine ganz neuen Vorschläge, aber rhetorisch neu verpackt. Da ist zum einen das Spiel mit dem Wort „Revolution“. „Revolution ist heute nicht als Sturm auf das Winterpalais zu verstehen“, sagt Kipping der taz. Sie stellt aber klar: „Wir wollen Geg- „Nicht in der Bittposition“: Katja Kipping setzt nicht länger auf Rot-Rot-Grün Foto: Jutrczenka/dpa „Von Bernie Sanders lernen“ NACHHILFE nerschaft klarer benennen.“Als Gegner machen Kipping und Riexinger neben den Begüterten und der EU auch die Alternative für Deutschland aus. Gegen die Ideen der AfD von Nation, Familie und Autorität setzt man auf einen „offensiven Kulturkampf“. Die AfD hatte bei den jüngsten Landtagswahlen aus dem einstigen Stammwählerlager der Linken Zulauf bekommen und wurde bei ArbeiterInnen, Erwerbslosen und gewerkschaftlich Gebundenen stärkste Partei. Riexinger und Kipping wollen einen Teil die- ser Menschen zurückgewinnen und zugleich Nichtwähler mobilisieren. „Was wir von Corbyn, Sanders und Podemos lernen können“ ist ein Absatz überschrieben, in dem Kipping und Riexinger eine Zuhörinitiative anregen. Eine Strategie, die Riexinger selbst im Wahlkampf ausprobiert hat, als er in Stuttgart an Haustüren klingelte, um mit Bewohnern ins Gespräch zu kommen und sie auf Initiativen aufmerksam zu machen – etwa ein Mieterfrühstück. Mit solchen Aktionen will die Partei an ihre einstigen Erfolge als Kümmerpartei im Osten anknüpfen. Denn eine der Lehren, die Kipping und Riexinger aus dem Wahldesaster gezogen haben, heißt auch: „eben nicht staatstragend aufzutreten“. Dazu passt, dass die beiden Parteichefs dem Projekt einer rot-rot-grünen Bundesregierung erst einmal Adieu sagen. Die Frage, ob Rot-Rot-Grün auch im Bund möglich sei, war lange Zeit diskutiert worden. Riexinger hatte das in der Vergangenheit auch beworben. Nun konstatieren er und Kipping: „Es gibt kein linkes Lager der Parteien mehr.“ Man lasse die Grünen und die SPD nicht aus der Verantwortung, sagte Kipping. „Aber wir rennen ihnen auch nicht hinterher. Wir sind nicht in der Bittposition.“ Die Linke soll sich künftig als Motor eines Lagers der Solidarität verstehen. Grüne und SPD seien herzlich eingeladen, ein „grundlegender Kurswechsel“ vorausgesetzt. Meinung + Diskussion SEITE 12 THEMA DES TAGES Thomas Lohmeier erzählt, warum die Linke genau auf Sanders’ Wahlkampf gegen Hillary Clinton in den USA schaut taz: Herr Lohmeier, Sie haben sich in der vergangenen Woche vor Ort die Primarieskampagne für Bernie Sanders in New York angeschaut. Was für Erkenntnisse hat Ihnen und Ihrer Partei das gebracht? Thomas Lohmeier: Interessant ist, dass sich die Kampagne von Bernie Sanders nicht darauf beschränkt, dafür zu werben, für ihn zu stimmen. Sie ist vielmehr darauf ausgerichtet, Menschen zu aktivieren. Das beginnt bei der Ansprache in den Newslettern und geht bis zu der Form, wie der Haustürwahlkampf ge- führt wird. Zentrales Element seiner Kampagnenerzählung ist, dass Sanders immer wieder betont, dass große politische Veränderungen in den USA nicht alleine zustande kommen, dass er zum Präsidenten gewählt wird, sondern dadurch, dass sich viele Leute politisch engagieren und involviert bleiben. Aber Sanders wird ja auch kein Präsident. Hätten Sie sich für eine erfolgreiche Wahlkampagne nicht besser die von Hillary Clinton angeschaut? Nein, denn die politische Ähnlichkeit zwischen uns und San- ders ist viel größer. Insofern ist es natürlich viel interessanter, sich seine Kampagne anzuschauen, auch wenn er gegen Clinton verlieren wird. Eine kleine Rechnung: Sanders gewinnt knapp die Hälfte der demokratischen Stimmen. Wenn man die USA politisch aufteilt, dann repräsentiert die Demokratische Partei ungefähr die Hälfte der Wahlbevölkerung. Das bedeutet faktisch, dass Sanders gesamtgesellschaftlich bei 20 bis 25 Prozent liegt. Das ist ein herausragendes Ergebnis. Und für uns wäre es bei der kom- menden Bundestagswahl auch gar nicht so übel, oder? Was kann die Linkspartei von Sanders lernen? Diese Form des aktivierenden Wahlkampfs war das, was ich auf der Ebene des Campaigning als besonders bemerkenswert empfunden habe. Wir müssen uns überlegen, wie man eine Kampagne so aufbaut, dass sie ein Maximum von Menschen involviert und beteiligt. Wie schaffen wir es, unsere Mitglieder, aber auch diejenigen, die mit uns sympathisieren, so einzubinden, dass sie in unseren Wahl- kampf involviert werden, sie also selber Teil der Kampagne werden? Da können wir einiges von Sanders lernen. INTERVIEW PASCAL BEUCKER Thomas Lohmeier ■■44, ist Leiter der Öffentlich- Foto: privat keitsabteilung der Linkspartei. Bis Mitte letzter Woche war er in New York, um den USWahlkampf zu studieren. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Der Tag MONTAG, 25. APRI L 2016 NACH RICHTEN FRAN KREICH ZU H I N KLEY POI NT CDU-POLITI KERI N GIOUSOUF ISLAM I N DEUTSCH LAN D Paris unterstützt britisches AKW-Projekt Verfassungsschutz soll AfD beobachten Türkischer Einfluss wieder in der Kritik HAGEN | Die Integrationsbeauf- BERLIN | Der Einfluss der Türkei tragte der Unionsfraktion, Cemile Giousouf, fordert eine Beobachtung der Alternative für Deutschland (AfD) durch den Verfassungsschutz. Die AfD entwickle sich von einer rechtspopulistischen zu einer rechtsextremistischen Partei, sagte die CDU-Politikerin der Westfalenpost. „Die AfD will unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern und spalten.“ Giousouf stellte sich damit gegen Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der eine Beobachtung der AfD abgelehnt hatte. (epd) auf den Islam in Deutschland ist erneut in die Kritik geraten. Der türkisch-islamische Dachverband Ditib, der rund 900 Moscheen in der Bundesrepublik betreibt, sei „nichts anderes als der verlängerte Arm des türkischen Staats“, kritisierte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir in der WamS. Statt zu einer wirklichen Religionsgemeinschaft zu werden, entwickle sich der Ditib durch den Einfluss der türkischen Regierung immer mehr zu einer politischen Vorfeldorganisation. (epd) PARIS | Die französische Regie- rung bekräftigt ihre Unterstützung für den Ausbau des britischen Atomkraftwerks Hinkley Point durch den französischen Staatskonzern EDF. Die endgültige Investitionsentscheidung „könnte im kommenden September bestätigt werden“, sagte Wirtschaftsminister Emmanuel Macron der Sonntagszeitung Journal du Dimanche. Ursprünglich war die Entscheidung schon für Mai erwartet worden. Doch hatte der Versorger EDF am Freitag erklärt, man benötige mehr Zeit für Gespräche mit den Gewerk- PORTRAIT schaften. Einige von ihnen haben Sorge wegen der Finanzierung des 24 Milliarden Euro teuren Projekts. Macron betonte jedoch, das Vorhaben dürfe nicht weiter verzögert werden. In Hinkley Point in der Nähe von Bristol im Südwesten Englands gibt es bereits ein Atomkraftwerk, das durch weitere Reaktoren ergänzt werden soll. Letztlich soll die Anlage nach Angaben von EDF sieben Prozent des gesamten britischen Stroms liefern und 25.000 Jobs schaffen. Eigentlich sollte die Stromerzeugung der neuen Reaktoren 2023 starten. (ap) TAZ.DE / TZI Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.812 Menschen zahlen freiwillig für taz.de. Alles rund um unsere Pay-Wahl unter taz.de/zahlich Anknüpfen im Netz www.taz.de Triumpf für Österreichs Rechte WACHSTUMSGARANT Volkswagen hofft auf China-Markt PEKING | Der VW-Konzern rech- net in diesem Jahr auf seinem wichtigsten Markt in China mit einem Absatzwachstum von mehr als sechs Prozent. Nach der „Trendwende“ seit Ende 2015 entwickle sich der größte Automarkt der Welt im Frühjahr weiter positiv, sagte China-Vorstand Jochem Heizmann vor der Eröffnung der internationalen Automesse in Peking. Kein anderer Automarkt der Welt steigere sich heute in einer solchen Größenordnung. 2015 hatte VW in China ein Minus von 3,4 Prozent hinnehmen müssen. (dpa) PORTRAIT PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL Mehr als 35 Prozent wählen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer. Erstmals wird der Bundespräsident weder von der SPÖ noch von der ÖVP kommen AUS WIEN RALF LEONHARD Wohl in der Stichwahl: Alexander Van der Bellen Foto: reuters Der grüne Professor E s wurde knapp für Alexander Van der Bellen. Am frühen Sonntagabend sah es so aus, als würde der Grüne in die Stichwahl einziehen. Aber ganz sicher war das nicht. Van der Bellen hat im Wahlkampf den Begriff Heimat neu besetzt. Für das 1944 in Wien geborene Flüchtlingskind ist Heimat auch eine Wahlheimat und kein Ort, der mit Blut und Abstammung zu tun hat. Die Eltern, die 1917 vor der russischen Revolution nach Estland geflohen waren, mussten im Zweiten Weltkrieg vor der Roten Armee neuerlich fliehen und ließen sich schließlich in Tirol nieder. Van der Bellen besuchte das Gymnasium in Innsbruck und absolvierte dort auch ein Volkswirtschaftsstudium. Seine Dissertation über gemeinwirtschaftliche Unternehmungen wies ihn als Querdenker aus. Der Grüne Peter Pilz entdeckte den Professor, der damals noch ein SPÖ-Parteibuch besaß, und schlug ihn 1992 als Rechnungshofspräsidenten vor. Daraus wurde zwar nichts. Aber als Nationalratsabgeordneter profilierte sich der bedächtige Wissenschaftler zum Sympathieträger und wurde 1997 zum Parteichef gewählt. In dieser Position führte er die Grünen von Sieg zu Sieg: Von 4,8 Prozent kletterten sie schrittweise auf 11 Prozent. Seine persönlichen Sympathiewerte lagen stets über der der Partei. 2008 gab es erstmals einen Rückschlag. Van der Bellen trat zurück. Im Wiener Gemeinderat und als Beauftragten der Stadt Wien für Universitäten und Forschung führte er ein Schattendasein, setzte aber Impulse für die Öffnung und Vernetzung der Universitäten. Wie beliebt er noch immer ist, zeigen die Umfragen, die ihn lange als Favoriten für die Hofburg führten. Im Wahlkampf polarisierte er mit dem Versprechen, er würde eine von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache geführte Regierung nicht vereidigen. R ALF LEONHARD Die Bundespräsidentenwahl in Österreich hat einen klaren Sieger. Mit einem unerwartet großen Vorsprung hat Norbert Hofer von der rechten FPÖ die Sensation geschafft. Hochrechnungen gaben ihm am Sonntagabend mehr als 35 Prozent. Der grüne Professor Alexander Van der Bellen, der sämtliche Umfragen angeführt hatte, blieb mit etwa 21 Prozent zwar unter seinen Erwartungen, wird aber am 22. Mai in die Stichwahl einziehen. Die parteiunabhängige pensionierte Richterin Irmgard Griss lag lange so knapp dahinter, dass nicht feststand, wer es in die Stichwahl gegen Hofer schaffen würde. Sicher ist das Debakel für die Regierungskandidaten Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und Andres Khol (ÖVP), die fast gleichauf bei elf Prozent liegen. Baumeister und RealityShow-Star Richard Lugner blieb mit 2,3 Prozent unter seinen Erwartungen. Damit kommt es am 22. Mai zu einer Stichwahl zwischen Hofer und Van der Bellen. Der österreichische Bundespräsident hat zwar vornehmlich nur repräsentative Pflichten. Dennoch wird der Wahl eine große Bedeutung beigemessen. Das historisch beste Ergebnis, das die FPÖ je in einer Bun- deswahl erreicht hat, wurde in deren Parteizentrale mit Jubel begrüßt. „Wir haben heute ein Etappenziel erreicht“, frohlockte FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl. Den Erfolg seines Kandidaten erklärt er damit, er habe „klare Positionen vertreten“. Vor allem in der Flüchtlingsfrage war Hofer auf Konfrontationskurs gegangen. FPÖ-Parteichef Heinz Christian Strache sah „ein politisch neues Zeitalter aufgeschlagen“. Hofer stehe für ein Die Wähler wünschen einen „Schutzherrn für die Bevölkerung“ FPÖ-CHEF CHRISTIAN STRACHE neues Amtsverständnis. Seine „berechtigte EU-Kritik“ sei auch gut angekommen. Das Ergebnis offenbare eine große „Unzufriedenheit mit der Regierung und deren Kandidaten“. Die Wähler wünschten sich einen „Schutzherrn für die österreichische Bevölkerung“. Bei den Grünen herrschte über das Ergebnis von Van der Bellen, der als unabhängiger Kandidat angetreten war, Ernüchterung. Die ersten Trends seien ein Schock gewesen, sagte Van der Bellens Wahlkampfleiter Lothar Lockl, bevor noch klar war, wer es in die Stichwahl schafft: „Mittlerweile ist dieser Schock dem Kampfgeist gewichen. Wenn wir das schaffen, in die Stichwahl zu kommen, wollen wir diese Chance nutzen“. Parteichefin Eva Glawischnig nannte das Ergebnis „absolut respektabel“. Den Abstand zu Hofer fand sie allerdings „irritierend“. Die ausgeschiedene Kandidatin Griss selbst gab sich optimistisch. Ob sie für die Stichwahl eine Wahlempfehlung für Alexander Van der Bellen abgebe, werde sie sich noch überlegen. In jedem Fall sei das Ergebnis „ein ganz großer Erfolg“. Dass „Parteiinteressen vor Staatsinterssen stehen“, das hätten die Menschen satt. Die Zeiten, in denen zwei Großparteien die Republik und deren Ämter untereinander aufteilten, sind tatsächlich endgültig Geschichte. Zu lange war das richtige Parteibuch wichtiger, als die fachliche Qualifikation. Diese selbstherrliche Praxis hat Irmgard Griss erfolgreich attackiert. Scharenweise liefen bisherige ÖVP-Wähler zur bürgerlichen, aber erfrischend weltoffenen Juristin über. Langjährige SPÖ-Stammwähler verabschiedeten sich entweder nach links zu Van der Bellen, oder nach rechts zu Norbert Hofer. Für die Jungwähler gab es so etwas wie Bgeisterung der der FPÖ-Wahlparty: Mehr als 35 Prozent sind ein neuer Rekord für die FPÖ Foto: Filip Singer/ dpa Parteiloyalität ohnehin nicht. Hätten nur die 16- bis 29-Jährigen abgestimmt, wäre der Sieg von Hofer und Van der Bellen noch deutlicher ausgefallen. „Wir werden sicherlich nicht zur Tagesordnung übergehen“, kündigte ÖVP-Fraktionschef Reinhold Lopatka an. Er warf Medien und Meinungsforschern vor, durch die schlechten Umfrageergebnisse für die Koalitionsparteien die Wahl beeinflusst zu haben. SPÖ-Fraktionschef Andreas Schieder wollte noch keine Wahlempfehlung abgeben, stellte aber klar, dass aus seiner Sicht Norbert Hofer nicht gut für Österreich wäre. Was das Ergebnis für die SPÖÖVP-Koalition bedeutet, ist ungewiss. Beide Parteien haben sich bereits im Vorfeld der Wahlen auf die drohende Niederlage eingestellt und eine Personaldebatte genauso ausgeschlossen wie Neuwahlen. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) sind zwar schwer beschädigt, doch wissen sie nur zu gut, dass sie mit Neuwahlen den Weg für FPÖ-Chef Heinz Christian Strache bereiten würden. In den Umfragen führt die fremdenfeindliche Partei seit vielen Monaten mit deutlichem Abstand. Die Flüchtlingsdebatte hat diesen Vorsprung noch erhöht. In der Stichwahl: Norbert Hofer von der FPÖ Foto: dpa Der sanfte Rechtsaußen S ie werden sich noch wundern, was alles geht“: Diese Bemerkung bei der TV-Elefantenrunde am vergangenen Donnerstag ließ aufhorchen. Er hat schon angedroht, die Regierung zu entlassen, wenn sie nicht spurt. Norbert Hofer, dritter Nationalratspräsident und Kandidat der FPÖ für das Bundespräsidentenamt, verbirgt hinter seiner sanften Stimme und seinem verbindlichen Auftreten eine stramme Ideologie. Als Ehrenmitglied der Burschenschaft Marko-Germania zu Pinkafeld bekennt er sich zu deren Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland!“ Im Wahlkampf setzte er auf das Flüchtlingsthema und warf der Regierung fahrlässige Grenzöffnung vor. Sozialleistungen sollen an die Staatsbürgerschaft geknüpft werden. Vor drei Jahren hatte er sich durch die Forderung nach „Minuszuwanderung“ in die Schlagzeilen gespielt. Das Wort „Lügenpresse“ kommt ihm zwar nicht über die Lippen, doch für Pegida zeigt er Verständnis. Gern bringt Hofer auch die Türkei ins Spiel. Mit einem despotischen Regime, das Journalisten einsperrt und Kurden verfolgt, dürfe man keine Pakte schließen oder ihm gar EU-Beitrittsperspektiven eröffnen, argumentierte er. Der Burgenländer, mit 45 Jahren der jüngste Bewerber um die Hofburg, war als Systemingenieur bei Lauda Air beschäftigt, bevor er in die Politik ging. Einen Absturz mit dem Paragleiter überlebte Hofer 2003 mit einer inkompletten Querschnittslähmung. Er geht am Stock und meidet anstrengende Wahlkampftouren. Dennoch konnte Hofer am Sonntag einen gewaltigen, zuvor nicht erwarteten Sieg einfahren. Sein Wunschgegener für die Stichwahl war Van der Bellen, den er als „grünen Faschisten“ beschimpft hat: „Weil wir beide fair miteinander umgehen, aber völlig unterschiedliche Standpunkte haben“. RALF LEONHARD
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