taz.die tageszeitung (25.04.2016)

Aktivisten: Die Küche ist links
Gabriele Goettle besucht das Kochkollektiv „Black Wok“ in Dresden ▶ Seite 15, 16
AUSGABE BERLIN | NR. 11002 | 17. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MONTAG, 25. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Ein Hannover-Besucher für TTIP,
Zehntausende dagegen
LIVE Papa Wemba,
Star der kongolesischen
Rumba, ist auf der Büh­
ne gestorben ▶ SEITE 14
BÜROKRATIE Frei­
willige unterstützen
Flüchtlinge und werden
von den Ämtern allein­
gelassen ▶ SEITE 5
BERLIN Aufstand an
der Uni: Studentische
Hilfskräfte wollen Tarif­
vertrag ▶ SEITE 21
WELTHANDELSHAUPTSTADT Bis
zu 90.000 Menschen
demonstrieren gegen das
Freihandelsabkommen, für
das US-Präsident Barack
Obama bei der HannoverMesse werben will ▶ Seite 3
Fotos: reuters und plainpicture(o)
VERBOTEN
Schönen guten Tag,
liebe FDP!
Du hast auf deinem Parteitag
beschlossen, dass du den Majestätsbeleidigungsparagrafen abschaffen willst. Nicht erst
2018, sondern umgehend,
meines Wissen sofort, also spätestens bis zur Sommerpause. Hört, hört! Aber du weißt
schon noch, dass du derzeit
nicht in der Regierung sitzt?
Genauer gesagt: nicht mal im
Bundestag? Jedenfalls nicht
vor 2018? Ach deshalb hast du
gleich noch die „Beta Republik
Deutschland“ ausgerufen, als
Fantasialand für gefallene Liberale? Okay, sparen wir uns jede
Schmähung. Schließlich ist nur
Majestätsbeleidigung
verboten.
Pro-TTIP-Demo: Angela Merkel mit ihrem Besucher Barack Obama am Sonntag im Garten von Schloss Herrenhausen in Hannover Foto: Markus Schreiber/ap
Merkel in Türkei nicht verhaftet FPÖ weit vorn
STAATSBESUCH
Kanzlerin erwähnt Thema Pressefreiheit. Journalistin festgesetzt
ANKARA afp/taz | Wegen kriti­
scher Äußerungen über den
türkischen Präsidenten Recep
Tayyip Erdoğan ist eine niederländische Journalistin in der
Türkei vorübergehend festgenommen worden. Ebru Umar
wurde nach eigenen Angaben
aus ihrer Wohnung von der Po-
lizei abgeführt. Nach Angaben
von Bild wurde zudem einem
­ihrer Fotografen die Einreise in
die Türkei verweigert.
Problemlos ein- und wieder
ausreisen konnte hingegen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie
hat am Samstag ein Lager für
syrische Flüchtlinge in Gazian-
tep besucht und nach eigenen
Angaben mit dem türkischen
Ministerpräsidenten
Ahmet
Davutoğlu auch über Pressefreiheit geredet – konkret etwa über
den ARD-Korrespondenten Volker Schwenck, dem ebenfalls die
Einreise verweigert worden war.
▶ Schwerpunkt SEITE 4
ÖSTERREICH
35 Prozent für Hofer. Grüner auf Platz 2
WIEN ap/taz | Bei der Präsiden-
tenwahl in Österreich liegt der
Kandidat Norbert Hofer von
der rechtspopulistischen FPÖ
weit vorn. Er kam nach vorläufigen Ergebnissen am Sonntag im
ersten Wahlgang auf ca. 35 Prozent der Stimmen. Da er keine
absolute Mehrheit hat, kommt
es am 22. Mai zur Stichwahl. Dabei trifft er wohl auf den früheren Grünen-Chef Ale­xander Van
der Bellen, der laut ORF-Hochrechung gut 21 Prozent bekam
und vor der unabhängigen Kandidatin Irmgard Griss liegt, für
die rund 18 Prozent stimmten.
▶ Der Tag SEITE 2
TAZ MUSS SEI N
Die tageszeitung wird ermöglicht
durch 15.781 GenossInnen, die
in die Pressevielfalt investieren.
Infos unter [email protected]
oder 030 | 25 90 22 13
Aboservice: 030 | 25 90 25 90
fax 030 | 25 90 26 80
[email protected]
Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90
fax 030 | 251 06 94
[email protected]
Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22
tazShop: 030 | 25 90 21 38
Redaktion: 030 | 259 02-0
fax 030 | 251 51 30, [email protected]
taz.die tageszeitung
Postfach 610229, 10923 Berlin
taz im Internet: www.taz.de
twitter.com/tazgezwitscher
facebook.com/taz.kommune
10617
4 190254 801600
KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ÜBER DIE SELBSTZENSUR DER EU ZUGUNSTEN DER TÜRKISCHEN REGIERUNG
B
undeskanzlerin Angela Merkel ist
zufrieden mit der türkischen Regierung. Erstklassige Arbeit bei der
Unterbringung syrischer Flüchtlinge bescheinigte sie Ministerpräsident Ahmet
Davutoğlu nach ihrem Kurzbesuch an
der syrisch-türkischen Grenze am Samstag. Auch über Pressefreiheit wurde bei
dem Treffen mit Davutoğlu gesprochen,
wie immer bei solchen Besuchen allerdings ohne konkretes Ergebnis.
Zu Recht schließen die türkischen Kollegen daraus, dass sich Merkels Engagement für Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei in engen Grenzen
hält. Aber Merkel und die EU insgesamt
tun ja noch weit mehr, um sich das Wohl-
Völkermord, war da was?
wollen des türkischen Präsidenten Recep
Tayyip Erdoğan zu erhalten. Sie schweigen nicht nur zum Demokratieabbau in
der Türkei, sie lassen sich auch ihr Verhalten im eigenen Land vorschreiben.
Jüngstes Beispiel ist ein Projekt der
Dresdner Sinfoniker. Die Musiker haben
zusammen mit armenischen und türkischen Kollegen ein Konzert eingespielt,
das der Erinnerung an den Völkermord
an den Armeniern gewidmet ist. Die EU
fördert das Projekt finanziell. Auf türkischen Protest hin hat sie jetzt den Hinweis auf das Projekt von ihren Websites
gestrichen – und das Orchester gebeten,
im begleitenden Text den Begriff „Völkermord“ nicht mehr zu verwenden.
Seit nunmehr 100 Jahren weigert sich
die Türkei, die Vernichtung der Armenier
im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord anzuerkennen. Ausgerechnet gestern, am 101. Jahrestag des Völkermordes,
wurde die Selbstzensur der EU bekannt.
Zuvor war schon der deutsche Botschafter in Ankara einbestellt worden, weil
Sachsen-Anhalt an seinen Schulen Unterrichtsmaterial zum Thema Völker-
Merkel schweigt nicht nur
– sie lässt sich auch ihr
Verhalten vorschreiben
mord verteilt hatte. Die Türkei will seit
Langem verhindern, dass an deutschen
Schulen über den Völkermord an den Armeniern gesprochen wird. Bislang ist ihr
das auch weitgehend gelungen.
Noch beschämender: Seit einem Jahr
liegt ein Entschließungsantrag auf Eis,
mit dem der Bundestag den Völkermord
als historische Tatsache anerkennen will.
Nach dem bisherigen Verhalten der Bundeskanzlerin gegenüber Erdoğan steht zu
befürchten, dass die Resolution auch in
diesem Jahr nicht verabschiedet werden
wird. Obwohl sich ausnahmsweise alle
Fraktionen einig sind – und der Schritt
historisch lange überfällig ist.
Schwerpunkt SEITE 4
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
FRAN KREICH ZU H I N KLEY POI NT
ISLAM I N DEUTSCH LAN D
Paris unterstützt britisches AKW-Projekt
Türkischer Einfluss
wieder in der Kritik
PARIS | Die französische Regie-
Tritt wieder an: Ministerpräsident
Reiner Haseloff Foto: dpa
Konservativer
89er
W
enn einige Querulanten in der sachsen-anhaltischen CDU nicht
durchdrehen, dann wird Reiner Haseloff heute erneut zum
Ministerpräsidenten des Bindestrichlandes gewählt. Am Freitag hatte ein CDU-Landesparteitag mit 83,6 Prozent für den mit
SPD und Grünen ausgehandelten Koalitionsvertrag gestimmt,
der erstmals die Bildung einer
sogenannten Kenia-Koalition
ermöglicht. Haseloff tritt damit voraussichtlich seine zweite
Amtszeit an, nachdem ihm 2011
auch nur 57 der 67 Abgeordneten der Großen Koalition in
Magdeburg ihre Stimme gegeben hatten.
Der 62-Jährige wurde im
Kreis Wittenberg geboren, studierte ab 1973 Physik an der TU
Dresden und an der Berliner
Humboldt-Uni. Häufig reiste
er nach Budapest, um seine
spätere Frau Gabriele zu treffen, mit der er zwei Kinder hat.
Schon damals war der Katholik
Haseloff ein öffentlich engagierter Typ, zum Beispiel als Sprecher der Katholischen Studentengemeinde Dresden. Bereits
1976 war er der CDU-Ost beigetreten, galt aber in der Blockpartei nicht als ein Opportunist.
In der CDU begann nach 1990
sein politischer Aufstieg. Haseloff ist ein typischer Vertreter der christlich-bürgerrechtlich geprägten 89er in der DDR.
Begeisterung für die Ideale einer
sozialen Marktwirtschaft und
Konservatismus mischen sich
bis heute mit dem Stolz auf ostdeutsche Eigenheiten und Einflüsse.
Stellvertretender Landrat in
Wittenberg, CDU-Landesvizechef, Direktor des Arbeitsamts
Wittenberg, Staatssekretär und
später Minister im Wirtschaftsministerium – so lauteten die
Stationen seiner Laufbahn, bevor er für die Landtagswahl 2011
zum CDU-Spitzenkandidaten
bestimmt wurde.
Der eher ausgleichende, moderate Haseloff bildet mit dem
lauten Landesvorsitzenden Thomas Webel die Doppelspitze der
Union in Sachsen-Anhalt. In der
Flüchtlingspolitik setzte er sich
wiederholt von Kanzlerin Merkel ab. Nach den Landtagswahlen vom 13. März plädierte er
sofort für die Kenia-Koalition
und zeigte sich konzessionsbereit. Neugierig darf man sein, ob
er bei der heutigen Wahl seinen
Ritterorden vom heiligen Grab
zu Jerusalem tragen wird.
MICHAEL BARTSCH
Der Tag
MONTAG, 25. APRI L 2016
rung bekräftigt ihre Unterstützung für den Ausbau des britischen Atomkraftwerks Hinkley
Point durch den französischen
Staatskonzern EDF. Die endgültige Investitionsentscheidung
„könnte im kommenden September bestätigt werden“, sagte
Wirtschaftsminister Emmanuel
Macron der Sonntagszeitung
Journal du Dimanche.
Ursprünglich war die Entscheidung schon für Mai erwartet worden. Doch hatte der
Versorger EDF am Freitag erklärt, man benötige mehr Zeit
für Gespräche mit den Gewerk-
schaften. Einige von ihnen haben Sorge wegen der Finanzierung des 24 Milliarden Euro teuren Projekts. Macron betonte
jedoch, das Vorhaben dürfe
nicht weiter verzögert werden.
In Hinkley Point in der Nähe
von Bristol im Südwesten Englands gibt es bereits ein Atomkraftwerk, das durch weitere
Reaktoren ergänzt werden soll.
Letztlich soll die Anlage nach
Angaben von EDF sieben Prozent des gesamten britischen
Stroms liefern und 25.000 Jobs
schaffen. Eigentlich sollte die
Stromerzeugung der neuen Reaktoren 2023 starten. (ap)
BERLIN | Der Einfluss der Türkei
auf den Islam in Deutschland ist
erneut in die Kritik geraten. Der
türkisch-islamische Dachverband Ditib, der rund 900 Moscheen in der Bundesrepublik
betreibt, sei „nichts anderes als
der verlängerte Arm des türkischen Staats“, kritisierte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir
in der WamS. Statt zu einer wirklichen Religionsgemeinschaft
zu werden, entwickle sich der
Ditib durch den Einfluss der türkischen Regierung immer mehr
zu einer politischen Vorfeldorganisation. (epd)
TAZ.DE / TZI
WACHSTUMSGARANT
Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.812 Menschen zahlen
freiwillig für taz.de.
Alles rund um unsere Pay-Wahl
unter taz.de/zahlich
Anknüpfen
im Netz
www.taz.de
Volkswagen hofft
auf China-Markt
PEKING | Der VW-Konzern rech-
net in diesem Jahr auf seinem
wichtigsten Markt in China mit
einem Absatzwachstum von
mehr als sechs Prozent. Nach
der „Trendwende“ seit Ende 2015
entwickle sich der größte Automarkt der Welt im Frühjahr weiter positiv, sagte China-Vorstand
Jochem Heizmann vor der Eröffnung der internationalen Automesse in Peking. Kein anderer
Automarkt der Welt steigere sich
heute in einer solchen Größenordnung. 2015 hatte VW in China
ein Minus von 3,4 Prozent hinnehmen müssen. (dpa)
Revolution wenigstens auf dem Papier
LINKSPARTEI Die Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger empfehlen ihrer Partei mehr Radikalität und
gehen auf Distanz zu SPD und Grünen. Die AfD wollen sie in einem „offensiven Kulturkampf“ demaskieren
AUS BERLIN ANNA LEHMANN
Die Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping und Bernd Riexinger, rufen die Revolution aus.
Zumindest auf dem Papier. Mit
den Worten „Revolution für Gerechtigkeit und Demokratie“
ist ein Strategiepapier der linken Doppelspitze überschrieben, das der taz vorliegt. Darin
machen die beiden Parteivorsitzenden Vorschläge, wie die
Linke ihre Rolle neu definieren
kann, um Wähler und Mitglieder zurückzuerobern.
Mit dem Revolutionspapier
empfiehlt sich das Führungsduo
für die Wiederwahl auf dem Parteitag Ende Mai. Dort wird auch
die Frage auf der Tagesordnung
stehen, wie sich die Linke künftig
aufstellen soll, nachdem sie bei
den Landtagswahlen im März all
ihre Wahlziele verfehlt hat. Die
Antwort von Kipping und Riexinger: radikaler werden. Der
Begriff taucht gleich mehrfach
„Es gibt kein
linkes Lager der
Parteien mehr“
AUS DEM POSITIONSPAPIER
auf. „Kleine Kurskorrekturen innerhalb des neoliberalen Kapitalismus reichen nicht“, konstatiert das Führungsduo und ruft
deshalb zur „Konfrontation mit
den Reichen“ und zum Kampf
für eine „radikale Besteuerung
der Profite“, eine „radikale Umverteilung“ und auch für eine
„radikale Kritik an der EU“ auf.
Keine ganz neuen Vorschläge,
aber rhetorisch neu verpackt.
Da ist zum einen das Spiel mit
dem Wort „Revolution“. „Revolution ist heute nicht als Sturm
auf das Winterpalais zu verstehen“, sagt Kipping der taz. Sie
stellt aber klar: „Wir wollen Geg-
„Nicht in der Bittposition“: Katja Kipping setzt nicht länger auf Rot-Rot-Grün Foto: Jutrczenka/dpa
„Von Bernie Sanders lernen“
NACHHILFE
nerschaft klarer benennen.“Als
Gegner machen Kipping und
Riexinger neben den Begüterten und der EU auch die Alternative für Deutschland aus. Gegen die Ideen der AfD von Nation, Familie und Autorität setzt
man auf einen „offensiven Kulturkampf“.
Die AfD hatte bei den jüngsten Landtagswahlen aus dem
einstigen
Stammwählerlager der Linken Zulauf bekommen und wurde bei ArbeiterInnen, Erwerbslosen und gewerkschaftlich
Gebundenen
stärkste Partei. Riexinger und
Kipping wollen einen Teil die-
ser Menschen zurückgewinnen und zugleich Nichtwähler
mobilisieren. „Was wir von Corbyn, Sanders und Podemos lernen können“ ist ein Absatz überschrieben, in dem Kipping und
Riexinger eine Zuhörinitiative
anregen.
Eine Strategie, die Riexinger
selbst im Wahlkampf ausprobiert hat, als er in Stuttgart an
Haustüren klingelte, um mit Bewohnern ins Gespräch zu kommen und sie auf Initiativen aufmerksam zu machen – etwa ein
Mieterfrühstück. Mit solchen
Aktionen will die Partei an ihre
einstigen Erfolge als Kümmerpartei im Osten anknüpfen.
Denn eine der Lehren, die Kipping und Riexinger aus dem
Wahldesaster gezogen haben,
heißt auch: „eben nicht staatstragend aufzutreten“.
Dazu passt, dass die beiden
Parteichefs dem Projekt einer
rot-rot-grünen Bundesregierung erst einmal Adieu sagen.
Die Frage, ob Rot-Rot-Grün auch
im Bund möglich sei, war lange
Zeit diskutiert worden. Riexinger hatte das in der Vergangenheit auch beworben.
Nun konstatieren er und Kipping: „Es gibt kein linkes Lager
der Parteien mehr.“ Man lasse
die Grünen und die SPD nicht
aus der Verantwortung, sagte
Kipping. „Aber wir rennen ihnen auch nicht hinterher. Wir
sind nicht in der Bittposition.“
Die Linke soll sich künftig als
Motor eines Lagers der Solidarität verstehen. Grüne und SPD
seien herzlich eingeladen, ein
„grundlegender Kurswechsel“
vorausgesetzt.
Meinung + Diskussion SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
Thomas Lohmeier erzählt, warum die Linke genau auf Sanders’ Wahlkampf gegen Hillary Clinton in den USA schaut
taz: Herr Lohmeier, Sie haben
sich in der vergangenen Woche vor Ort die Primarieskampagne für Bernie Sanders in
New York angeschaut. Was für
Erkenntnisse hat Ihnen und Ihrer Partei das gebracht?
Thomas Lohmeier: Interessant
ist, dass sich die Kampagne von
Bernie Sanders nicht darauf beschränkt, dafür zu werben, für
ihn zu stimmen. Sie ist vielmehr
darauf ausgerichtet, Menschen
zu aktivieren. Das beginnt bei
der Ansprache in den Newslettern und geht bis zu der Form,
wie der Haustürwahlkampf ge-
führt wird. Zentrales Element
seiner Kampagnenerzählung ist,
dass Sanders immer wieder betont, dass große politische Veränderungen in den USA nicht alleine zustande kommen, dass er
zum Präsidenten gewählt wird,
sondern dadurch, dass sich viele
Leute politisch engagieren und
involviert bleiben.
Aber Sanders wird ja auch kein
Präsident. Hätten Sie sich für
eine erfolgreiche Wahlkampagne nicht besser die von Hillary Clinton angeschaut?
Nein, denn die politische Ähnlichkeit zwischen uns und San-
ders ist viel größer. Insofern
ist es natürlich viel interessanter, sich seine Kampagne anzuschauen, auch wenn er gegen
Clinton verlieren wird. Eine
kleine Rechnung: Sanders gewinnt knapp die Hälfte der demokratischen Stimmen. Wenn
man die USA politisch aufteilt,
dann repräsentiert die Demokratische Partei ungefähr die
Hälfte der Wahlbevölkerung.
Das bedeutet faktisch, dass Sanders gesamtgesellschaftlich bei
20 bis 25 Prozent liegt. Das ist
ein herausragendes Ergebnis.
Und für uns wäre es bei der kom-
menden Bundestagswahl auch
gar nicht so übel, oder?
Was kann die Linkspartei von
Sanders lernen?
Diese Form des aktivierenden
Wahlkampfs war das, was ich auf
der Ebene des Campaigning als
besonders bemerkenswert empfunden habe. Wir müssen uns
überlegen, wie man eine Kampagne so aufbaut, dass sie ein
Maximum von Menschen involviert und beteiligt. Wie schaffen
wir es, unsere Mitglieder, aber
auch diejenigen, die mit uns
sympathisieren, so einzubinden, dass sie in unseren Wahl-
kampf involviert werden, sie
also selber Teil der Kampagne
werden? Da können wir einiges
von Sanders lernen.
INTERVIEW PASCAL BEUCKER
Thomas Lohmeier
■■44, ist Leiter der Öffentlich-
Foto: privat
keitsabteilung der
Linkspartei. Bis
Mitte letzter
Woche war er
in New York,
um den USWahlkampf zu
studieren.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Der Tag
MONTAG, 25. APRI L 2016
NACH RICHTEN
FRAN KREICH ZU H I N KLEY POI NT
CDU-POLITI KERI N GIOUSOUF
ISLAM I N DEUTSCH LAN D
Paris unterstützt britisches AKW-Projekt
Verfassungsschutz
soll AfD beobachten
Türkischer Einfluss
wieder in der Kritik
HAGEN | Die Integrationsbeauf-
BERLIN | Der Einfluss der Türkei
tragte der Unionsfraktion, Cemile Giousouf, fordert eine Beobachtung der Alternative für
Deutschland (AfD) durch den
Verfassungsschutz. Die AfD entwickle sich von einer rechtspopulistischen zu einer rechtsextremistischen Partei, sagte die
CDU-Politikerin der Westfalenpost. „Die AfD will unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern
und spalten.“ Giousouf stellte
sich damit gegen Innenminister Thomas de Maizière (CDU),
der eine Beobachtung der AfD
abgelehnt hatte. (epd)
auf den Islam in Deutschland ist
erneut in die Kritik geraten. Der
türkisch-islamische Dachverband Ditib, der rund 900 Moscheen in der Bundesrepublik
betreibt, sei „nichts anderes als
der verlängerte Arm des türkischen Staats“, kritisierte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir
in der WamS. Statt zu einer wirklichen Religionsgemeinschaft
zu werden, entwickle sich der
Ditib durch den Einfluss der türkischen Regierung immer mehr
zu einer politischen Vorfeldorganisation. (epd)
PARIS | Die französische Regie-
rung bekräftigt ihre Unterstützung für den Ausbau des britischen Atomkraftwerks Hinkley
Point durch den französischen
Staatskonzern EDF. Die endgültige Investitionsentscheidung
„könnte im kommenden September bestätigt werden“, sagte
Wirtschaftsminister Emmanuel
Macron der Sonntagszeitung
Journal du Dimanche.
Ursprünglich war die Entscheidung schon für Mai erwartet worden. Doch hatte der
Versorger EDF am Freitag erklärt, man benötige mehr Zeit
für Gespräche mit den Gewerk-
PORTRAIT
schaften. Einige von ihnen haben Sorge wegen der Finanzierung des 24 Milliarden Euro teuren Projekts. Macron betonte
jedoch, das Vorhaben dürfe
nicht weiter verzögert werden.
In Hinkley Point in der Nähe
von Bristol im Südwesten Englands gibt es bereits ein Atomkraftwerk, das durch weitere
Reaktoren ergänzt werden soll.
Letztlich soll die Anlage nach
Angaben von EDF sieben Prozent des gesamten britischen
Stroms liefern und 25.000 Jobs
schaffen. Eigentlich sollte die
Stromerzeugung der neuen Reaktoren 2023 starten. (ap)
TAZ.DE / TZI
Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.812 Menschen zahlen
freiwillig für taz.de.
Alles rund um unsere Pay-Wahl
unter taz.de/zahlich
Anknüpfen
im Netz
www.taz.de
Triumpf für Österreichs Rechte
WACHSTUMSGARANT
Volkswagen hofft
auf China-Markt
PEKING | Der VW-Konzern rech-
net in diesem Jahr auf seinem
wichtigsten Markt in China mit
einem Absatzwachstum von
mehr als sechs Prozent. Nach
der „Trendwende“ seit Ende 2015
entwickle sich der größte Automarkt der Welt im Frühjahr weiter positiv, sagte China-Vorstand
Jochem Heizmann vor der Eröffnung der internationalen Automesse in Peking. Kein anderer
Automarkt der Welt steigere sich
heute in einer solchen Größenordnung. 2015 hatte VW in China
ein Minus von 3,4 Prozent hinnehmen müssen. (dpa)
PORTRAIT
PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL Mehr als 35 Prozent wählen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer.
Erstmals wird der Bundespräsident weder von der SPÖ noch von der ÖVP kommen
AUS WIEN RALF LEONHARD
Wohl in der Stichwahl: Alexander
Van der Bellen Foto: reuters
Der grüne
Professor
E
s wurde knapp für Alexander Van der Bellen. Am frühen Sonntagabend sah es so
aus, als würde der Grüne in die
Stichwahl einziehen. Aber ganz
sicher war das nicht.
Van der Bellen hat im Wahlkampf den Begriff Heimat neu
besetzt. Für das 1944 in Wien geborene Flüchtlingskind ist Heimat auch eine Wahlheimat und
kein Ort, der mit Blut und Abstammung zu tun hat. Die Eltern, die 1917 vor der russischen
Revolution nach Estland geflohen waren, mussten im Zweiten
Weltkrieg vor der Roten Armee
neuerlich fliehen und ließen
sich schließlich in Tirol nieder.
Van der Bellen besuchte das
Gymnasium in Innsbruck und
absolvierte dort auch ein Volkswirtschaftsstudium. Seine Dissertation über gemeinwirtschaftliche Unternehmungen
wies ihn als Querdenker aus.
Der Grüne Peter Pilz entdeckte den Professor, der damals noch ein SPÖ-Parteibuch
besaß, und schlug ihn 1992 als
Rechnungshofspräsidenten
vor. Daraus wurde zwar nichts.
Aber als Nationalratsabgeordneter profilierte sich der bedächtige Wissenschaftler zum Sympathieträger und wurde 1997
zum Parteichef gewählt. In dieser Position führte er die Grünen von Sieg zu Sieg: Von 4,8
Prozent kletterten sie schrittweise auf 11 Prozent. Seine persönlichen Sympathiewerte lagen stets über der der Partei.
2008 gab es erstmals einen
Rückschlag. Van der Bellen trat
zurück. Im Wiener Gemeinderat
und als Beauftragten der Stadt
Wien für Universitäten und Forschung führte er ein Schattendasein, setzte aber Impulse für
die Öffnung und Vernetzung
der Universitäten. Wie beliebt
er noch immer ist, zeigen die
Umfragen, die ihn lange als Favoriten für die Hofburg führten.
Im Wahlkampf polarisierte er
mit dem Versprechen, er würde
eine von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache geführte Regierung
nicht vereidigen. R
ALF LEONHARD
Die
Bundespräsidentenwahl
in Österreich hat einen klaren
Sieger. Mit einem unerwartet
großen Vorsprung hat Norbert
Hofer von der rechten FPÖ die
Sensation geschafft. Hochrechnungen gaben ihm am Sonntagabend mehr als 35 Prozent. Der
grüne Professor Alexander Van
der Bellen, der sämtliche Umfragen angeführt hatte, blieb
mit etwa 21 Prozent zwar unter
seinen Erwartungen, wird aber
am 22. Mai in die Stichwahl einziehen. Die parteiunabhängige
pensionierte Richterin Irmgard
Griss lag lange so knapp dahinter, dass nicht feststand, wer es
in die Stichwahl gegen Hofer
schaffen würde. Sicher ist das
Debakel für die Regierungskandidaten Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und Andres Khol (ÖVP),
die fast gleichauf bei elf Prozent
liegen. Baumeister und RealityShow-Star Richard Lugner blieb
mit 2,3 Prozent unter seinen Erwartungen.
Damit kommt es am 22. Mai zu
einer Stichwahl zwischen Hofer
und Van der Bellen. Der österreichische Bundespräsident hat
zwar vornehmlich nur repräsentative Pflichten. Dennoch wird
der Wahl eine große Bedeutung
beigemessen.
Das historisch beste Ergebnis, das die FPÖ je in einer Bun-
deswahl erreicht hat, wurde in
deren Parteizentrale mit Jubel
begrüßt. „Wir haben heute ein
Etappenziel erreicht“, frohlockte
FPÖ-Generalsekretär Herbert
Kickl. Den Erfolg seines Kandidaten erklärt er damit, er habe
„klare Positionen vertreten“. Vor
allem in der Flüchtlingsfrage
war Hofer auf Konfrontationskurs gegangen. FPÖ-Parteichef
Heinz Christian Strache sah „ein
politisch neues Zeitalter aufgeschlagen“. Hofer stehe für ein
Die Wähler wünschen
einen „Schutzherrn
für die Bevölkerung“
FPÖ-CHEF CHRISTIAN STRACHE
neues Amtsverständnis. Seine
„berechtigte EU-Kritik“ sei auch
gut angekommen. Das Ergebnis
offenbare eine große „Unzufriedenheit mit der Regierung und
deren Kandidaten“. Die Wähler
wünschten sich einen „Schutzherrn für die österreichische Bevölkerung“.
Bei den Grünen herrschte
über das Ergebnis von Van der
Bellen, der als unabhängiger
Kandidat angetreten war, Ernüchterung. Die ersten Trends
seien ein Schock gewesen, sagte
Van der Bellens Wahlkampfleiter Lothar Lockl, bevor noch
klar war, wer es in die Stichwahl schafft: „Mittlerweile ist
dieser Schock dem Kampfgeist
gewichen. Wenn wir das schaffen, in die Stichwahl zu kommen, wollen wir diese Chance
nutzen“. Parteichefin Eva Glawischnig nannte das Ergebnis „absolut respektabel“. Den Abstand
zu Hofer fand sie allerdings „irritierend“.
Die ausgeschiedene Kandidatin Griss selbst gab sich optimistisch. Ob sie für die Stichwahl eine Wahlempfehlung für
Alexander Van der Bellen abgebe, werde sie sich noch überlegen. In jedem Fall sei das Ergebnis „ein ganz großer Erfolg“.
Dass „Parteiinteressen vor Staatsinterssen stehen“, das hätten
die Menschen satt.
Die Zeiten, in denen zwei
Großparteien die Republik und
deren Ämter untereinander aufteilten, sind tatsächlich endgültig Geschichte. Zu lange war das
richtige Parteibuch wichtiger,
als die fachliche Qualifikation.
Diese selbstherrliche Praxis hat
Irmgard Griss erfolgreich attackiert. Scharenweise liefen bisherige ÖVP-Wähler zur bürgerlichen, aber erfrischend weltoffenen Juristin über. Langjährige
SPÖ-Stammwähler verabschiedeten sich entweder nach links
zu Van der Bellen, oder nach
rechts zu Norbert Hofer. Für die
Jungwähler gab es so etwas wie
Bgeisterung der der FPÖ-Wahlparty: Mehr als 35 Prozent sind ein neuer Rekord für die FPÖ Foto: Filip Singer/ dpa
Parteiloyalität ohnehin nicht.
Hätten nur die 16- bis 29-Jährigen abgestimmt, wäre der Sieg
von Hofer und Van der Bellen
noch deutlicher ausgefallen.
„Wir werden sicherlich nicht
zur Tagesordnung übergehen“,
kündigte
ÖVP-Fraktionschef
Reinhold Lopatka an. Er warf
Medien und Meinungsforschern vor, durch die schlechten Umfrageergebnisse für die
Koalitionsparteien die Wahl beeinflusst zu haben. SPÖ-Fraktionschef Andreas Schieder wollte
noch keine Wahlempfehlung abgeben, stellte aber klar, dass aus
seiner Sicht Norbert Hofer nicht
gut für Österreich wäre.
Was das Ergebnis für die SPÖÖVP-Koalition bedeutet, ist ungewiss. Beide Parteien haben
sich bereits im Vorfeld der Wahlen auf die drohende Niederlage
eingestellt und eine Personaldebatte genauso ausgeschlossen
wie Neuwahlen. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) sind zwar schwer beschädigt, doch wissen sie nur zu
gut, dass sie mit Neuwahlen den
Weg für FPÖ-Chef Heinz Christian Strache bereiten würden. In
den Umfragen führt die fremdenfeindliche Partei seit vielen
Monaten mit deutlichem Abstand. Die Flüchtlingsdebatte
hat diesen Vorsprung noch erhöht.
In der Stichwahl: Norbert Hofer von
der FPÖ Foto: dpa
Der sanfte
Rechtsaußen
S
ie werden sich noch wundern, was alles geht“: Diese
Bemerkung bei der TV-Elefantenrunde am vergangenen
Donnerstag ließ aufhorchen.
Er hat schon angedroht, die Regierung zu entlassen, wenn sie
nicht spurt. Norbert Hofer, dritter Nationalratspräsident und
Kandidat der FPÖ für das Bundespräsidentenamt, verbirgt
hinter seiner sanften Stimme
und seinem verbindlichen Auftreten eine stramme Ideologie.
Als Ehrenmitglied der Burschenschaft Marko-Germania
zu Pinkafeld bekennt er sich
zu deren Wahlspruch „Ehre,
Freiheit, Vaterland!“ Im Wahlkampf setzte er auf das Flüchtlingsthema und warf der Regierung fahrlässige Grenzöffnung
vor. Sozialleistungen sollen an
die Staatsbürgerschaft geknüpft
werden. Vor drei Jahren hatte er
sich durch die Forderung nach
„Minuszuwanderung“ in die
Schlagzeilen gespielt. Das Wort
„Lügenpresse“ kommt ihm zwar
nicht über die Lippen, doch für
Pegida zeigt er Verständnis.
Gern bringt Hofer auch die
Türkei ins Spiel. Mit einem despotischen Regime, das Journalisten einsperrt und Kurden
verfolgt, dürfe man keine Pakte
schließen oder ihm gar EU-Beitrittsperspektiven eröffnen, argumentierte er.
Der Burgenländer, mit 45 Jahren der jüngste Bewerber um die
Hofburg, war als Systemingenieur bei Lauda Air beschäftigt,
bevor er in die Politik ging. Einen Absturz mit dem Paragleiter überlebte Hofer 2003 mit einer inkompletten Querschnittslähmung. Er geht am Stock und
meidet anstrengende Wahlkampftouren. Dennoch konnte
Hofer am Sonntag einen gewaltigen, zuvor nicht erwarteten
Sieg einfahren.
Sein Wunschgegener für die
Stichwahl war Van der Bellen,
den er als „grünen Faschisten“
beschimpft hat: „Weil wir beide
fair miteinander umgehen, aber
völlig unterschiedliche Standpunkte haben“. RALF LEONHARD